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Ein Neurowissenschaftler und eine Verkaufsexpertin verraten die unbewussten Regeln aller Verhandlungen. Verhandlungen wie etwa Verkaufsgespräche sind deutlich komplexer und mehr als das reine Abwägen der Argumente, Zahlen und Fakten, die für oder gegen eine Einkaufsentscheidung sprechen. Neben dem sichtbaren Teil einer Verhandlung – der Geldübergabe oder der Vertragsunterzeichnung – spielen vor allem Gedanken und intuitive Entscheidungen im Hintergrund eine entscheidende Rolle. Diese werden von den Beteiligten nicht bewusst gesteuert, bestimmen jedoch maßgeblich über den Erfolg einer Verhandlung. Gabriele Rehbock und Kai-Markus Müller nennen diesen Teil einer Verhandlung »das unsichtbare Spiel« und erklären, wie man lernt, aktiv Einfluss darauf auszuüben. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und Verhaltensökonomie dient das Buch als praktischer Leitfaden, um dieses unsichtbare Spiel besser zu verstehen, gezielt zu beeinflussen und am Ende zu gewinnen.
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2023
Kai-Markus Müller und Gabriele Rehbock
Das unsichtbare Spiel
GABRIELE REHBOCK KAI-MARKUS MÜLLER
DAS UNSICHTBARE SPIEL
DIE VERBORGENE PSYCHOLOGIE VON VERHANDLUNGEN UND KAUFENTSCHEIDUNGEN
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1. Auflage 2023
© 2023 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89
D-80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
© 2023 by Kai-Markus Müller and Gabriele Rehbock
Die englische Originalausgabe erschien 2022 bei Wiley unter dem Titel The Invisible Game.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Redaktion: Christiane Otto
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: Copyright der »Haftnotizen«-Illustrationen © Luna Margherita Cardilli und Ljudmilla Socci, Black Fish Tank Ltd. 2022
Copyright Foto Kai-Markus Müller © SEVN Agentur GmbH
Copyrights Foto Gabriele Rehbock © Emma Gollor
Satz: ZeroSoft, Timisoara
eBook by tool-e-byte
ISBN Print 978-3-86881-932-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-507-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-508-0
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Einleitung
Aus heiterem Himmel
»Ja, Jim, wir haben dieses Geschäft verloren, und ich habe keine Ahnung, warum.«
Ich hatte es mir gerade auf meinem Platz auf dem Flug von New York nach Frankfurt gemütlich gemacht und angefangen, in meinem Buch zu lesen, als dieser Satz durch das Flugzeug dröhnte. Ich versuchte, höflich zu sein und das Gespräch einfach zu ignorieren. Aber der Mitreisende telefonierte in einer Lautstärke, die mich spontan an die Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt erinnerte, den ich vor ein paar Jahren besucht hatte.1*
»Ich habe gehört, dass ein Newcomer das Geschäft gewonnen hat«, sagte der Mann und rückte einen seiner Airpods zurecht. »An der Produktspezifikation hat sich wohl im Grunde nichts geändert ... Ja, die liefern im Grunde das gleiche Produkt wie wir vorher, aber stell dir vor, angeblich haben sie sogar zu einem höheren Preis abgeschlossen. Und das bei einem Kunden, der sonst so auf seine Einkaufspreise achtet... Das muss mir erstmal jemand erklären.«
Als die Flugbegleiterin ihm ein Getränk reichte, hielt er einen Moment inne. Sie begrüßte den Mitreisenden mit »Mr. Henderson«. Er gehörte also offensichtlich zu den Vielfliegern und das war sicher nicht das erste Verhandlungsergebnis, über das er an seine Zentrale berichtete.
»Ich habe mich genau an das Kunden-Briefing gehalten«, sagte Henderson. »Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Wir sind davon ausgegangen, dass die Vertragsverlängerung eine reine Formsache ist. Ja, diese Entscheidung gegen uns kommt aus heiterem Himmel. Ich bin total am Boden zerstört und enttäuscht.«
Ich konnte das spontan nachempfinden. Nach mehr als zwei Jahrzehnten an internationalen B2B-Verhandlungstischen konnte ich mich ebenfalls an so manche verlorene Ausschreibung erinnern. Und genau wie Henderson kannte ich Situationen, in denen ich mir nicht erklären konnte, warum eine Verhandlungsentscheidung zu meinen Ungunsten ausgefallen war.
Aber in diesem Flugzeug und an diesem Tag war ich glücklich und zufrieden, weil ich - im Gegensatz zu Henderson - mit einem großartigen Deal in der Tasche nach Hause fuhr. Mein Team und ich hatten eine wichtige Ausschreibung, bei der uns - zumindest auf dem Papier - anfänglich nur Außenseiterchancen eingeräumt worden waren, gewonnen!
Und schon wieder riss mich Hendersons Stimme aus meinen Gedanken: »Ja, ja. Das wird es sein. Aurelio wollte einfach eine Veränderung. Wir haben alles richtig gemacht. Aber gegen diese Entwicklung waren wir machtlos. Nichts, was wir getan oder nicht getan haben, hätte diese Entscheidung verhindert.«
Als der Name »Aurelio« fiel, war ich plötzlich hellwach und wie elektrisiert. Wie groß sind die Chancen, dass ein Einkaufsmanager namens Aurelio am selben Tag eine Entscheidung gegen einen Mr. Henderson trifft, an dem wir zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen waren und das mit einem Einkaufsmanager namens ... Aurelio?
So langsam dämmerte mir, dass Henderson, der Mann zwei Reihen vor mir, seinem Chef über ein Geschäft berichtete, das er gerade an mein Team verloren hatte.
Während das Flugzeug abhob, konnte ich ein zufriedenes Schmunzeln nicht unterdrücken. Ich lehnte mich zurück und dachte darüber nach, wie wir Aurelio und sein Team davon überzeugt hatten, in Zukunft mit uns - dem Newcomer - zu arbeiten.
________
* Gaby berichtet über einen Erfolg im unsichtbaren Spiel.
Warum wir gewonnen hatten?
Mir war klar, dass Henderson versuchte, sich seinem Chef gegenüber zu rechtfertigen. Trotzdem war seine Aussage, dass ein Kunde aus heiterem Himmel nach Veränderung suchen könnte, ein eklatanter Fehlschluss. Henderson hatte sich entweder noch nie mit den psychologischen Unwägbarkeiten, die Entscheidungen beeinflussen, befasst oder diese Gesetzmäßigkeiten zumindest in diesem konkreten Fall einfach außer Acht gelassen. Damit meine ich nicht nur die Art und Weise, wie professionelle Einkäufer entscheiden, welcher Lieferant einen Millionenauftrag erhält. Es geht um die Art und Weise, wie Menschen - ob im privaten oder im beruflichen Umfeld - generell zu Entscheidungen kommen.
Natürlich konnte ich nicht wissen, ob Henderson und sein Team sich dieser Komplexität von Entscheidungen überhaupt bewusst waren oder sich vielleicht nur in diesem einen konkreten Fall verschätzt hatten. Am Ende spielte das auch keine Rolle.
Henderson und sein Team hatten sicher viel in diesen Kunden investiert und sie hatten in diesem Wettbewerb sicher vieles richtig gemacht, aber wir hatten am Ende gewonnen.
Mein Team hatte sich durchgesetzt und ein Geschäft gewonnen, das oberflächlich betrachtet nichts anderes war als ein Wettbewerb zwischen zwei gleichartigen Produkten und zwei verschiedenen Lieferanten, ein für Aurelio berechenbarer Partner und eine unbekannte neue Alternative. Da Aurelio nicht wissen konnte, worauf er sich mit uns einließ, hatten wir darauf geachtet, dass die Mitglieder unseres Teams sich persönlich bei Aurelio und seinem Team bekannt machten. Wir ergänzten das Briefing um vertrauensbildende Maßnahmen, mit denen wir dem Kunden Sicherheit vermittelten. Und da wir auf keine gemeinsame Vergangenheit verweisen konnten, setzten wir auf das erzählerische Element des »Aufbruchs zu neuen Ufern« und bauten »vielversprechende Zukunftsaussichten« in unsere Geschichte ein.
Wir wussten nämlich um die Verhaltensweisen, die sich aus dem sogenannten Besitztumseffekt ergeben. Richard Thaler, der 2017 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Studien »über menschliches Verhalten in der realen Welt« erhielt, hatte hierfür bereits 1980 den Begriff Endowment Effect geprägt. Dieser beschreibt die Situation, in der Menschen viel mehr verlangen, um ein Objekt aufzugeben, als sie bereit sind, für den Erwerb zu zahlen.2 Mein Team und ich würden deshalb nie unterschätzen, wie schwierig es sein konnte, irgendeinen Kunden, und das galt auch für Aurelio, dazu zu bewegen, sich von einem etablierten Lieferanten abzuwenden. Veränderung war wahrscheinlich das Letzte war, wonach Aurelio und seinem Team der Sinn stand.
In der gerade gewonnenen Ausschreibung setzte unsere Kommunikationsstrategie deshalb zunächst vor allem auf Kontinuität, Vertrauen und gemeinsame Unternehmenswerte. Unser Team konzentrierte sich darauf, Aurelios Team zu vermitteln, dass unser Unternehmen die Kapazitäten und die Erfahrungen für ein Geschäft ihrer Größe hatte, ihr Geschäft bei uns deshalb in verlässlichen Händen wäre und ein Wechsel kein Risiko für sie darstellte.
Da wir für den Kunden eine unbekannte Größe waren, suchten wir auf vielen Ebenen den persönlichen Kundenkontakt, um uns vorzustellen und »persönlich erlebbar« zu machen. Unsere Sprache, unsere Kleidung, unser gesamtes Auftreten zielten darauf ab, den Eindruck von Vertrautheit, von »Wir gehören zu euch« zu vermitteln. Und tatsächlich entdeckten wir in diesen Gesprächen immer mehr Gemeinsamkeiten, sodass wir glaubwürdig und authentisch auf unsere neuen Gesprächspartner wirkten.
Wir ließen uns von der vermeintlichen Übermacht des etablierten Wettbewerbers nicht einschüchtern und machten uns frühzeitig daran, den ursprünglich vom Einkauf gesetzten Rahmen, das Spielfeld dieser Verhandlung, zu erweitern. Natürlich wussten wir genau, dass wir im Grunde ein vergleichbares, ein Me-too-Produkt verkauften und versuchten gar nicht erst, dem Kunden etwas anderes vorzugaukeln. Stattdessen brachten wir die Idee der Co-Innovation auf, einer gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsinitiative, die dem Kunden neue Wachstumschancen eröffnen würde.
Und nicht zuletzt half uns auch unser Wissen über Choice Architectures (Entscheidungsarchitekturen), ein Angebot zu gestalten, das Aurelio und sein Team überzeugte. Unser Angebot stellte drei Alternativen vor. Aurelio entschied sich für die Variante mit einem etwas höheren Preis, die allerdings zu mehr Resilienz in seiner Lieferkette führen würde. Das war offensichtlich etwas, das unser Konkurrent nicht angeboten hatte oder nicht mit derselben Glaubwürdigkeit anbieten konnte.3
Als ich zu Hause angekommen war, rief ich meinen damaligen Berater, Kai, an, um ihm von unserem Erfolg und meinem Erlebnis im Flugzeug zu berichten.
Ich hatte Kai während meiner schwierigsten Zeit als Key-Account-Managerin kennengelernt. Das war in der Zeit nach der Finanzkrise, die die Amerikaner die Große Rezession nennen. Für mich war die Zeit zwischen 2008 und 2011 eine wirkliche Herausforderung. Einkaufsabteilungen, die sich vorher vornehmlich mit produktbezogenen Beschaffungsthemen befassten, wurden jetzt auf Kostenreduzierung getrimmt und beschäftigten sich vornehmlich damit, die Ausgaben ihres Unternehmens für Materialeinkäufe und externe Dienstleistungen zu drücken - jetzt sofort und ohne Rücksicht auf zukünftige Verwerfungen.
Das Instrumentarium an Verkaufstechniken, das ich über die Jahre erworben und verfeinert hatte, war dagegen eher auf beziehungsorientiertes Verkaufen und meine Verhandlungstechniken waren eher auf Langfristigkeit angelegt. Beides war in diesem neuen Umfeld plötzlich obsolet: Was hilft einem der edelste Hammer, wenn das Problem kein Nagel mehr ist?4
In dieser Zeit hatte ich viele schlaflose Nächte, in denen mich eine diffuse Angst vor dem Verlust meines Geschäftes wachhielt und ich nach Auswegen suchte, um den Margenverfall meines Geschäftes aufzuhalten. Mir wurde klar, dass ich mit meiner gewohnten Herangehensweise und meinen herkömmlichen Methoden bald keinen Blumentopf mehr gewinnen würde. Dieses neue Umfeld brauchte dringend neue Antworten.
In Kais erstem Buch NeuroPricing5 stieß ich auf diese faszinierend neuen Ideen und seine Studien zum Thema Preisgestaltung samt B2C-Anwendungen. Als Kai und ich uns dann trafen, führte er mich in die Welt der Neurowissenschaften ein. Er zeigte mir, wie die Verhaltensökonomie dazu beitragen kann, besser zu verstehen, wie sich Menschen in Verhandlungen verhalten und auf welchem Wege man auf dieses Verhalten und damit auf ihre Entscheidungen einwirken kann.
Ich wusste sofort, dass hier Lösungen für meine Probleme zu finden waren.
Nach und nach habe ich dann diese Erkenntnisse in meine Arbeit integriert und zusammen mit meinen Teams viele Ideen im B2B-Kontext empirisch getestet. Es dauerte nicht lange, bis sich unsere Ergebnisse wieder verbesserten und ich mein Selbstvertrauen zurückgewann.
Diese ersten Erfolge machten mir Lust auf mehr.
Zeit ist Geld ..., aber nicht so, wie Sie denken
Heureka-Momente entstehen in der Regel aus alltäglichen oder langweiligen Ereignissen, oft auch ganz einfach durch Zufall. Meiner* kam nicht aus einer verschimmelten Petrischale, in der Alexander Fleming das Penicillin entdeckte.6 Auch habe ich nicht versehentlich eine Mischung aus Kautschuk und Schwefel auf eine heiße Herdplatte fallen lassen und so nebenbei vulkanisiertes Gummi erfunden, wie es Charles Goodyear tat.7 Nein, meine Geschichte begann mit einer ziemlich nervigen Marktforschungsaufgabe, nämlich der elaborierten Befragung einer Expertin der Pharmaindustrie, die ich im Interesse aller Leser an dieser Stelle kürze und zusammenfasse.8
Nach zehn Jahren akademischer Grundlagenforschung hatte ich einen Doktortitel in den kognitiven Neurowissenschaften in der Tasche, mein Name stand auf mehreren wissenschaftlichen Studien, und ich hatte kurz zuvor dahin gewechselt, was Akademiker die dunkle Seite nennen - in die reale Geschäftswelt. Ich arbeitete damals an einem Projekt, das einem Pharmaunternehmen bei der Festlegung des Preises für ein neues Medikament helfen sollte.
»Wäre ein Preis von, sagen wir, 1,50 Euro pro Tagessatz für dieses Medikament für Sie in Ordnung?«, fragte ich die Expertin.
»Auf jeden Fall«, sagte sie. Ich fuhr mit der Befragung fort.
»Und wie wäre es mit einem Tagessatz von 2,00 Euro?«
»Sicher.«
»Wäre ein Tagessatz für das Medikament von 2,50 Euro auch noch in Ordnung?«
Im Gegensatz zu vorher erhielt ich keine spontane Antwort mehr. Ihr Zögern war nur kurz, aber damals hat es mich doch stutzen lassen.
»Hmmm ... 2,50 Euro? Das ist eine schwierige Frage«, sagte sie. »Hmmm ... Wahrscheinlich nicht? Hmmm ... sagen wir mal nein, okay?«
Mein Fragebogen enthielt noch ein paar weitere Preispunkte, die über 2,50 Euro hinausgingen. Es war zwar klar, dass sie auch diese ablehnen würde, aber das Verfahren erforderte, sie trotzdem danach zu fragen. Dies geschah nicht nur, um die restlichen Zellen in meiner Excel-Tabelle zu füllen, sondern um zu beobachten, wie sie die Fragen im Detail beantworten würde.
»Nun gut, wie sähe es mit einem Tagessatz von 3,00 Euro aus?«
»Hmmm ... dieses Medikament hat einige beeindruckende Eigenschaften«, sagte sie. »Aber 3,00 Euro? Nun, ich habe bereits zu einem Preis von 2,50 Euro Nein gesagt, oder? Dann muss es also hier auch ein Nein sein.«
»Wie wäre es mit 3,50 Euro?«
»Nein!«, sagte sie sofort.
»Käme ein Euro-Preis von ...«
»Auf keinen Fall«, unterbrach sie mich, noch bevor ich meinen Satz beenden konnte.
Haben Sie die Veränderung im Antwortmuster der Befragten bemerkt? Wenn sie der Meinung war, der Preis sei zu niedrig oder zu hoch, antwortete die Expertin ohne zu zögern mit »Ja« oder »Nein«. Aber sie zögerte bei den Preisen von 2,50 Euro und 3,00 Euro.
Diese Erfahrung weckte meine Neugierde. Ich vermutete, dass die signifikante Verzögerung bei den Preispunkten von 2,50 Euro und 3,00 Euro etwas mit ihrer unterbewussten Entscheidungsfindung zu tun hatte. Ich fühlte mich schlagartig in mein erstes Studienjahr in der Psychologie an der Universität Tübingen zurückversetzt, als ich einen Kurs in Mentaler Chronometrie belegt hatte. In diesem Forschungsansatz wird Software eingesetzt, um bei bestimmten Aufgaben die Reaktionszeiten von Menschen zu messen. Diese werden dann mithilfe von mathematischen und statistischen Modellen analysiert, um daraus Rückschlüsse auf die Gehirntätigkeit zu ziehen. Vorlesungen zur Mentalen Chronometrie sind in den Universitäten sicher keine Veranstaltungen, die wegen Überfüllung geschlossen werden müssen, mich aber faszinierte das Thema so sehr, dass ich einen Studentenjob im Reaktionszeitlabor des Psychologischen Instituts annahm.
Abbildung 0.3 Drei unterschiedliche Aufgaben. Bitte laut vorlesen!
Um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, woran wir gearbeitet haben, wollen wir ein Experiment mit drei Aufgaben durchführen (siehe Abbildung 0.3).
Mit hoher Wahrscheinlichkeit mussten Sie sich bei der dritten Aufgabe bewusst bemühen, Ihren ersten Impuls, nämlich das Wort zu lesen, zu unterdrücken. Diese Anstrengung - zusammen mit dem Wechsel der Aufgabe vom Lesen eines Wortes zur Identifizierung eines Attributs - führt nicht nur zu längeren Antwortzeiten, sondern auch zu mehr Fehlern.9 Generell gilt: Je schwieriger die mentale Aufgabe oder die Entscheidung, desto länger die Reaktionszeit. In seinem Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken beschreibt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman dies als einen Prozess, bei dem das analytische System 2 unseres Geistes die automatisierte, schnelle Reaktion von System 1 unterdrückt.10
Die Befragung der Pharma-Expertin war mein ganz persönlicher Heureka-Moment. Wenn man durch die Untersuchung der Antwortzeiten näher an die Wahrheit herankommen kann als durch die Untersuchung der expliziten Antworten einer Person auf eine Frage, dann sollte dies wertvolle praktische Anwendungsmöglichkeiten im Marketing bieten. Techniken aus der experimentellen Psychologie und der Hirnforschung könnten einem Unternehmen auf diese Weise dabei helfen, zwei der verwirrendsten und rätselhaftesten Fragen des Marketings zu beantworten: Welchen Wert messen Kunden einem Produkt bei und wie viel sind sie tatsächlich bereit, dafür zu zahlen?
In Bezug auf Preise bedeutet dies, dass, je näher man an den Wohlfühlpreis eines Käufers herankommt - also an den höchsten Preis, der immer noch eine angenehme, positive Reaktion bei ihm hervorruft -, desto länger wird er brauchen, um ein Urteil zu fällen (teuer, günstig und so weiter) und eine Kaufentscheidung zu treffen.
Mein persönlicher Heureka-Moment inspirierte mich dazu, tiefer in diese Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft einzutauchen. Ich verließ die Unternehmensberatung und gründete mein eigenes Unternehmen mit dem Ziel, Neurotechnologie zur Untersuchung der Verbraucherwahrnehmung von Werbung, Produkten und Preisen einzusetzen. Im Laufe der Zeit wurden mein Ansatz und die von mir entwickelten Algorithmen und Analysen, die unter dem Namen NeuroPricing™ bekannt sind, zu einem wertvollen Marktforschungsinstrument, das von zahlreichen Unternehmen genutzt wird.11
Als Gaby und ich uns kennenlernten, war sie auf der Suche nach neuen B2B-Verkaufsstrategien und -techniken. Damals wurde Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie gerade zu einem beliebten und faszinierenden Thema in der Wirtschaft, was Bestseller (Predictably Irrational, Nudge und Schnelles Denken, langsames Denken) und ein Nobelpreis (Kahneman) belegen. Aber weder diese bahnbrechenden Ideen noch das aufstrebende Gebiet der Neurowissenschaften waren zu dem Zeitpunkt schon ein Gesprächsthema für die Millionen von Geschäftsleuten, die nach wie vor weltweit das Rückgrat vieler Branchen und Lieferketten bilden: B2B-Verkäufer wie Gaby.
Als wir uns kennenlernten, forderte Gaby mich mit einer dieser zentralen Fragen heraus, die bald zu unserer gemeinsamen Passion wurde: »Können wir diese Erkenntnisse und die sich immer weiter entwickelnden Forschungsergebnisse aus der Konsumentenforschung auf meine Welt, die riesige und vielfältige Welt des B2B-Verkaufs, übertragen?«
Meine klare Antwort: »Ja, das können wir!«
________
* Kai erzählt von seinem Heureka-Moment.
Das unsichtbare Spiel: wo Wirtschaft auf Wissenschaft trifft
Auch für einen Verkäufer ist es wichtig, in Kundengesprächen auf Zeitverzögerungen in der Reaktion seines Kunden zu achten. Erfolgsentscheidend aber ist, dass ein Verkäufer auch den Grund für diese Zeitverzögerung erkennt und Antworten auf die brennende Frage findet: Was geht im Kopf des Käufers vor? Worüber denkt er nach? Was beeinflusst sein Urteil?
Wir waren uns schnell darüber einig, dass das vorhandene Angebot an konventionellen Trainings für den professionellen Verkauf bestenfalls zu unvollständigen Antworten auf diese Fragen führen würde. Die klassische Ökonomie lehrt uns, dass professionelle Einkäufer alle Argumente, die für oder gegen eine Einkaufsentscheidung sprechen, objektiv gegeneinander abwägen. So funktioniert es doch, oder? Werden berufliche Kaufentscheidungen so getroffen? Sind Verkaufsverhandlungen wirklich nur ein simpler, seelenloser Austausch von Daten und Fakten, die bald jeder bessere Roboter und Algorithmus besser durchführen kann? Wägen Käufer wirklich so akribisch zwischen allen Angeboten ab? Immer?
Je mehr wir uns mit dem Hintergrund professioneller Verkaufsverhandlungen beschäftigten, desto mehr erkannten wir, dass Kaufentscheidungen weitaus vielschichtiger sind als das reine Abwägen von Zahlen, Daten und Fakten. Verkaufsverhandlungen laufen nämlich auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig ab, und jede dieser beiden Ebenen hat ihre ganz eigenen Regeln. Wir sprechen von diesen zwei Ebenen als dem sichtbaren Spiel und dem unsichtbaren Spiel, um das Geschehen auf beiden Ebenen damit intuitiv zugänglich zu machen.
Beim bekannten sichtbaren Spiel legen Käufer und Verkäufer ihre Einsätze auf den Tisch, sodass jede Partei verschiedene Optionen anhand einer Reihe vordefinierter, eindeutiger Kriterien analysieren kann. Diese Vergleiche führen im besten Fall zu einer Entscheidung zugunsten der Option, die den Kaufkriterien am besten entspricht. Dies ist eine einfache und offensichtliche Wahl. In Ermangelung anderer Unterscheidungsmerkmale spielt der Preis oft eine wichtige Rolle als Entscheidungskriterium. Dies sind Entscheidungsprozesse, die sich gut automatisieren lassen, weil Algorithmen das menschliche Gehirn bei der Analyse großer Datenmengen übertreffen.
So einfach ist das leider nicht immer.
In der Regel machen Verkäufer schon früh in ihrem Berufsleben zwei wichtige Erfahrungen. Erstens: Die meisten Entscheidungen - vor allem im B2B-Bereich - lassen sich nicht auf ein simples Auswahlverfahren reduzieren. Es handelt sich nicht um Entscheidungen, die ein Unternehmen einfach automatisieren kann. Und zweitens lernen sie, dass der Versuch, Kunden mit immer mehr Informationen, immer mehr Zahlen, Daten, Fakten zu füttern, nicht automatisch zu einer schnellen Entscheidung führt.
Und was geschieht, wenn es komplex wird und sich keine einfache Wahl und keine offensichtliche Lösung anbietet? Der Mensch denkt nach. Er versucht in diesem Fall, alle aktuellen und zukünftigen Aspekte, die eine Rolle spielen könnten, zu bewerten, und trifft dann eine Ermessensentscheidung, weil das menschliche Gehirn von Natur aus nicht darauf ausgelegt ist, sich durch den Dschungel großer Datenmengen zu kämpfen. Im Gegenteil: Auf Komplexität reagiert es mit simplen Entscheidungsmechanismen und greift zugunsten schneller Entscheidungen auf Faustregeln und Standardrezepte zurück.
Eine Fülle von Theorien und Modellen versucht, zu erklären, wie solche Entscheidungen entstehen. Viele dieser Theorien und Modelle konzentrieren sich auf zwei Prozesse, die parallel ablaufen, wobei einige Autoren hierfür akademische Fachausdrücke verwenden, während andere bunte Metaphern benutzen. Chaiken12 schlug die Unterscheidung zwischen heuristischer und systematischer Verarbeitung vor. Petty und Cacioppo erklärten in ihrem Elaboration Likelihood Model, dass Einstellungsänderungen auf zwei verschieden Wegen erreicht werden, dem zentralen und dem peripheren Weg.13 Auf der einfacheren - und gleichzeitig eleganteren - Seite hat Jonathan Haidt die Metapher des Elefanten und des Reiters vorgeschlagen.14 Das bekannteste Modell der letzten Jahre ist jedoch die Unterscheidung zwischen System 1 und System 2, zunächst von Stanovich und West vorgeschlagen, in der Folge aber von Kahneman populär gemacht und weiter ausgearbeitet.15 System 1 und System 2 sind zu einer Grundlage für das Verständnis der Verhaltensökonomie geworden, weshalb wir uns in diesem Buch auch häufig auf dieses Modell beziehen.
Darüber hinaus haben zahlreiche Experimente gezeigt, wie tatsächliches Verhalten von dem abweicht, was man unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten erwarten würde. All diese wissenschaftlich gut belegten Erkenntnisse bilden die Grundlage dieses Buches. Heuristiken, Verzerrungen und Denkfehler - zum Beispiel hyperbolische Diskontierung, der Sandwich-Effekt, Ankern, Ködern oder die Vernachlässigung der Basisrate - beschreiben, wie das Gehirns dem Drang nach Einfachheit, Schnelligkeit nachgibt und das eigene Überleben wortwörtlich oder metaphorisch allen anderem voranstellt. Falls Ihnen diese Fachbegriffe noch nicht geläufig sein sollten - keine Sorge! Wir kommen noch auf all die Begriffe zurück.
Willkommen im Dschungel der Ermessensentscheidungen
Der Begriff Ermessensentscheidung bedeutet, »nach eigenem Ermessen, nach eigenem Urteil zu entscheiden«, und bereits das Wort impliziert ein hohes Maß an Subjektivität. Und trotzdem haben auch diese subjektiven Entscheidungen einen starken, doch im Allgemeinen wenig beachteten, gemeinsamen Nenner, nämlich eine Reihe von Verhaltensweisen, die universeller sind, als es den meisten Menschen bewusst ist.
Für solche Ermessensentscheidungen greift das Gehirn zunächst auf seinen eigenen Erfahrungshorizont zurück. Dabei spielen evolutionäre Erfahrungen eine Rolle, aus denen sich Grundverhaltensweisen herausgebildet haben, die tief in unserer Spezies verankert sind. Der Impuls Angriff oder Flucht (Fight or Flight) ist vielleicht eine der bekanntesten dieser evolutionär geprägten situativen Reaktionen. Das Ziel dieser Millisekundenentscheidungen aus der Zeit der Säbelzahntiger ist, noch heute, das eigene Überleben zu sichern. Ein anderer starker universeller Antrieb unserer menschlichen Spezies ist das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Ergänzt werden diese evolutionären Erfahrungen durch unsere individuellen Lebenserfahrungen, die sehr persönlich sind und in unserem Gehirn mit den Attributen Erfolg oder Misserfolg versehen sind.
Zusammen bilden diese evolutionären Erfahrungswerte und die in unserem Gehirn verankerten universellen Denkmuster die Grundlage für die Ermessensentscheidungen, die unser Gehirn in Sekundenschnelle trifft und die für andere Mitspieler weitgehend unsichtbar bleiben.
Genau dort findet das unsichtbare Spiel statt. Verborgene, unterschwellige Verhaltensweisen wirken darauf ein, wie zwei oder mehr Menschen interagieren, die ein Geschäft abschließen oder eine Vereinbarung erzielen wollen. Im Takt von Millisekunden findet zwischen ihnen ein Wettstreit von Gedanken und Entscheidungen statt, den die meisten Spieler weder bewusst erkennen noch aktiv steuern können. Und doch entscheiden gerade diese Aktionen und Reaktionen oft über Sieg oder Niederlage in einer Verhandlung. Deshalb geht es im unsichtbaren Spiel darum, elegant »unter dem Radar« der anderen Spieler zu agieren und sich diese weitgehend unbekannten Effekte zunutze zu machen.
Doch warum haben wir den Begriff unsichtbares Spiel geprägt, anstatt einen etablierten Begriff aus der Verhaltensökonomie zu verwenden? Ganz einfach: Das unsichtbare Spiel bezieht zwar bedeutende Aspekte der Verhaltensökonomie ein, es unterscheidet sich aber durch eine ganze Reihe von Faktoren:
Das unsichtbare Spiel findet in einem professionellen Verkaufsumfeld statt, das gemeinhin auch unter dem Begriff B2B-Verkauf zusammengefasst wird. Es handelt sich also um eine strategische Anwendung, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet ist, und nicht um eine wissenschaftliche Theorie an sich.
Das unsichtbare Spiel verbindet etablierte Wissenschaftstheorien und jahrzehntelange praktische Verkaufserfahrung zu einer neuartigen Verkaufsstrategie und einem einzigartigen Handwerkskasten, in dem alle Strategien, Taktiken, Regeln und Techniken auf das unsichtbare Spiel ausgerichtet sind. In diesem Sinne handelt es sich weder um ein neues theoretisches Konstrukt wie System 1 oder System 2 noch um persönliche Memoiren mit anekdotenhaften Erfolgsgeschichten aus dem B2B-Verkauf.
Das unsichtbare Spiel greift auf psychologische und neuroökonomische Prinzipien zurück, die das Verhalten von Einzelpersonen untersucht haben. Diese Erkenntnisse werden auf reale Geschäftsbeziehungen und die Interaktion von mindestens zwei Spielern übertragen.
Das unsichtbare Spiel berücksichtigt neben den in allen Menschen verankerten Denkfehlern auch, dass alle Spieler ihre eigenen persönlichen Lern- und Erfahrungsgeschichten in ihre geschäftlichen Interaktionen einbringen. Alle Spieler, die auch diese Effekte verstehen, können und werden versuchen, daraus Nutzen zu ziehen.
Das unsichtbare Spiel beschreibt viele Spielzüge, die mit Erkenntnissen aus der menschlichen Evolutionsgeschichte begründet werden und eine enge Verbindung zur Evolutionspsychologie aufweisen. Denn unser Handeln wird auch heute noch durch archaische Reaktionen geprägt, die aus einer Zeit stammen, in der der Mensch noch Teil der Nahrungskette war. So gesehen sind wir »Steinzeitmenschen in Designerkleidung«.
Das unsichtbare Spiel kennt keine Unterbrechungen. Es findet immer statt. Bei jeder Verhandlung und jeder geschäftlichen Interaktion. Ob wir es wollen oder nicht. Ob wir aktiv mitspielen oder nicht.
Um das unsichtbare Spiel erfolgreich zu spielen, braucht man drei grundlegende Fähigkeiten. Die erste Fähigkeit ist ein geschultes Situationsbewusstsein. Das bedeutet, dass der Verkäufer sich der vielen Effekte bewusst ist, die die Verhaltensökonomie, Psychologie und Neurowissenschaften auf eine Verhandlung ausüben. Die zweite ist ein geschultes Defensivverhalten: Der Verkäufer kann die Taktik des Käufers kontern und lernt, sich gegen seine eigenen Denkfehler zu schützen. Die dritte Fähigkeit basiert auf einem guten Verständnis dafür, wie man erfolgreich in die Offensive geht: Der Verkäufer weiß, wie er dabei, ganz bewusst, den Verhandlungsrahmen gestaltet und aktiv Einfluss auf den Ausgang des unsichtbaren Spiels nehmen kann. Denn wenn es um die Verhandlungen der Zukunft geht, dann wird es nicht reichen, dass moderne Verkäufer die Technologien des digitalen Zeitalters beherrschen, die das sichtbare Spiel bestimmen. B2B-Verkäufer werden auch weiterhin in komplexen Verhandlungen, die Ermessensentscheidungen verlangen und ein hohes Maß an qualitativem Urteilsvermögen erfordern, die Nase vorn haben. Dafür müssen sie wissen, welchen Einfluss grundlegende menschliche Verhaltensweisen, die sich seit der letzten Eiszeit kaum weiterentwickelt haben, auf Verhandlungen haben, und wie sie diese Einflüsse im unsichtbaren Spiel beherrschen können.
Denn evolutionär betrachtet ist jeder Spieler in einer Verkaufsverhandlung im Grunde genommen immer noch ein Steinzeitmensch, dessen Entscheidungen starken, unbewussten Einflüssen unterliegen, egal wie schick seine Designeranzüge und wie ausgeklügelt die elektronischen Geräte, die er verwendet, sind oder wie sehr er sich mit Zahlen, Daten, Fakten bewaffnet.
Auf der Grundlage empirischer Wissenschaften ist Das unsichtbare Spiel ein praktischer Leitfaden für alle, die die Spielregeln dieser »Verhandlung auf zwei Ebenen« besser verstehen, insbesondere aber besser beherrschen wollen.
Erfolg im unsichtbaren Spiel
Das unsichtbare Spiel besteht aus drei Teilen, wobei jeder Teil auf den Erkenntnissen des vorhergehenden aufbaut.
Teil I
: Situationsbewusstsein vom Feinsten
Im ersten Teil vermittelt das Buch Bewusstsein für und das Wissen über das unvermeidbare, unterschwellige, unsichtbare Spiel zwischen den Parteien, das bei jeder Verhandlung stattfindet. Denn am Ende eines jeden Verkaufsgesprächs, sei es ein kurzes Online-Meeting, ein E-Mail-Austausch oder ein längeres persönliches Treffen, hat ein Verkäufer Hunderte oder sogar Tausende von Eindrücken seiner Gesprächspartner aufgenommen und wahrscheinlich ebenso viele Eindrücke bei ihnen hinterlassen. Aber nur wenige Menschen können sich danach an ihre Wahrnehmungen erinnern - die meisten bleiben im Unbewussten verborgen.
Der erste Teil des Buches legt den Grundstein dafür, dass Verkäufer ihr Situationsbewusstsein entwickeln können, um diese Informationen besser aufzunehmen und zu verarbeiten und dabei zu lernen, welche Auswirkungen sie auf ihr eigenes und das Verhalten der anderen Spieler haben. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und Verhaltensökonomie werden in ihren wesentlichen Teilen erklärt und zeigen, wie das Gehirn Entscheidungen trifft und wodurch Verhalten beeinflusst wird.
Für einen Verkäufer ist sein eigener Mindset - im wahrsten Sinne des Wortes - der entscheidende Schlüssel zum Erfolg.
Teil II
: Das Defensivspiel und die Macht des »Nein!-Sagens«
Warum sind Preise bei fast jeder Verhandlung ein so heikles Thema? Das liegt sicher nicht daran, dass Verkäufer nicht rechnen können. Es liegt daran, dass nur wenige Menschen erkennen - Verkäufer eingeschlossen -, dass Preise weit mehr als nur einen Geldbetrag darstellen. Preise erklären sich aus dem Zusammenhang, in dem sie auftauchen, und lösen bei Käufern und Verkäufern intensive sensorische und emotionale Erfahrungen aus. Das gilt für alle, egal ob Sie eine Tasse Kaffee, ein Glas Wein, eine Lkw-Ladung Industriegüter oder eine ganze Produktionsanlage kaufen oder verkaufen.
Der zweite Teil beschreibt, welchen Einfluss das unsichtbare Spiel auf das eigene Verhalten und damit auch auf die eigenen Verhandlungsergebnisse ausübt. Verkäufer erkennen ihre eigene Rolle im unsichtbaren Spiel und lernen, das eigene Verhalten und Denken (System 1) so zu trainieren, dass es den unsichtbaren, sowohl den zufälligen als auch den gesteuerten, Spieleinflüssen des Verhandlungsgegners gegenüber widerstandsfähiger wird.
Teil III
: Offensiv spielen und die Kunst, Einfluss zu nehmen
Wenn ein Verkäufer seine Preise anpassen oder erhöhen muss, basiert der Erfolg in der Regel eher auf seinem Einfluss auf das Geschehen als auf seinen Rechenkünsten. Wie stark sein Einfluss ist, hängt wiederum davon ab, welchen Heimvorteil er sich aufgebaut hat. Dafür braucht er persönliche Autorität genauso wie eine realistische Einschätzung seiner Marktposition. Es gibt buchstäblich Hunderte von Möglichkeiten für Verkäufer, diesen Einfluss geltend zu machen.
Der dritte Teil des Buches zeigt Verkäufern, wie sie selbst als Spielende im unsichtbaren Spiel aktiv werden und die Wahrnehmung ihrer Verhandlungspartner steuern können. Sie lernen, die Komplexität ihres Geschäftes zu ihrem Vorteil zu nutzen und den unsichtbaren Teil des Spiels durch ihr eigenes Verhalten aktiver und gezielter zu beeinflussen. Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie werden in praktische Handlungsempfehlungen umgesetzt und zeigen, wie Kaufentscheidungen durch ein entsprechendes Portfolio- und Angebotsdesign beeinflusst werden können.
Bevor Sie anfangen....
Bevor Sie jetzt weiterlesen, möchten wir Sie noch um Verständnis dafür bitten, dass wir der Einfachheit halber in diesem Buch, unabhängig vom Geschlecht, den Begriff »Verkäufer« als generischen Sammelbegriff für alle Personen verwenden, die ihre Waren und Dienstleistungen an ein anderes Unternehmen verkaufen oder versuchen, eine Verhandlung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Und jetzt noch einige praktische Hinweise:
Wie immer, wenn es darum geht, etwas Neues zu lernen, geht es auch beim unsichtbaren Spiel darum, neue Einsichten zu gewinnen und dann durch Übung zu verstärken. Deshalb enthält unser Buch einige Elemente, die diesen Lernprozess anstoßen:
Auszeiten und kleine Quizspiele:
Wir werden in diesem Buch viel Neuland betreten und einige Abschnitte werden intensiver sein als andere. Deshalb werden wir Ihnen ab und an kleine mentale Verschnaufpausen gönnen. Manchmal handelt es sich dabei um reine Auszeiten, während wir bei anderen Gelegenheiten zum Beispiel ein kleines Quiz einbauen, um den Einstieg in ein neues Thema zu erleichtern.
Situationen:
Das unsichtbare Spiel
enthält 14 Praxissituationen, die beispielhaft zeigen, wie sich die Ideen des Buches auf reale Verkaufssituationen, die viele Verkäufer aus eigenem Erleben kennen, anwenden lassen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären dagegen rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Haftnotizen:
Wir haben die wichtigsten neun Schlüsselideen aus dem Buch in Merksätzen zusammengefasst, auf Notizzetteln festgehalten und über das ganze Buch verteilt, um diese Ideen zu verstärken und einprägsamer zu machen. Wir laden Sie herzlich ein, unseren neun Merksätzen viele eigene Notizen hinzuzufügen.
Kommen wir nun noch zu einer weiteren Aufgabe, bei der wir Ihre eigenen Erfahrungen ansprechen möchten. Denken Sie nochmal an Gabys Flugzeuggeschichte mit Mr. Henderson zurück. Wir laden Sie ein, eine ähnliche Nachbesprechung durchzuführen. Wenn Sie ein B2B-Verkäufer sind, schlagen wir vor, dass Sie an ein paar Geschäftsabschlüsse denken, an denen Sie kürzlich beteiligt waren. Nehmen Sie sich bitte ein Blatt Papier und schreiben Sie auf, warum Sie gewonnen oder verloren haben. Notieren Sie auch, was Sie anders machen würden, wenn Sie die Verhandlung noch einmal neu aufrollen könnten. Wenn Sie dagegen noch neu im Verkauf sind oder wenn Verkaufen vielleicht nur ein kleiner Teil Ihrer Arbeit ist, dann schreiben Sie vielleicht einige Ihrer Fragen auf oder halten die Aspekte fest, die Sie derzeit besonders frustrierend finden. Vielleicht verwenden Sie diesen Zettel als Lesezeichen, um von Zeit zu Zeit einen Blick darauf zu werfen und zu sehen, wie sich Ihre Antworten verändern.
Das Stadion tobt. Der Schiedsrichter hat auf Foulspiel entschieden. Auf den Rängen und vor den TV-Geräten wird seine Entscheidung heftig diskutiert. »Fehlentscheidung«, sagen die einen, »Vollkommen korrekt«, meinen die anderen. Beide Seiten sind überzeugt, die Situation auf dem Feld richtig gesehen zu haben. Selbst Zeitlupenaufnahmen und unterschiedlichste Perspektiven führen zunächst zu keiner eindeutigen Antwort. Sie befeuern die hitzigen Diskussionen nur noch mehr. Die Augenzeugen im Stadion und die Sportfans vor den Fernsehern beharren weiterhin auf ihrer persönlichen Einschätzung der Spielsituation. Diese Situation ist ein typisches Beispiel für individuelle Ermessensentscheidungen. Wenn solche Entscheidungen aber so starken subjektiven Einflüssen ausgesetzt sind, wie schaffen es dann professionelle Schiedsrichter, unter dem immensen Druck eines laufenden Spieles und in Sekundenbruchteilen doch überwiegend objektiv richtig zu entscheiden?
Bill Belichick, der als Cheftrainer der New England Patriots in der NFL, der höchsten Liga im American Football, mit seinem Team beeindruckende sechs Super Bowls gewonnen hat, bricht eine Lanze für die Schiedsrichter und deren Fähigkeiten, in dem er hervorhebt, dass die Zuschauer am Spielfeldrand stehen, sich die Wiederholungen ansehen und jede Situation Millisekunde für Millisekunde analysieren, wonach dann jeder individuell für sich zu wissen glaubt, was passiert oder eben auch nicht passiert ist. »Doch die Schiedsrichter stehen draußen auf dem Platz und fällen ihre Entscheidungen live und in Echtzeit. Und sie treffen so viele erstaunlich richtige Entscheidungen. Dabei sind einige der Spielzüge so verdammt knapp: Es geht um wenige Zentimeter und manchmal nur um Sekundenbruchteile.«16
Was für American Football gilt, gilt auch für den Sport, der in Europa alles beherrscht: Fußball. Erinnern Sie sich noch an ein Ereignis, das im Juni 2004 international für Aufregung sorgte? Schauplatz war das Viertelfinale der Europameisterschaft in Lissabon. Eine Minute vor Ende der regulären Spielzeit stand es 1:1 zwischen England und Portugal.
Nach einem Foul entschied Urs Meier, der Schweizer Weltklasse-Schiedsrichter, auf Freistoß für England in der portugiesischen Hälfte. David Beckham schlug den Ball in den gegnerischen Strafraum, und sein Teamkollege Sol Campbell versenkte ihn im portugiesischen Netz.17 Dieses Tor in der letzten Minute bescherte England den 2:1-Sieg und damit den Einzug ins Halbfinale.
So war es doch damals? Oder etwa doch nicht?
Was sich bei diesem Spiel in diesen wenigen Sekunden abspielte, war Situationsbewusstsein vom Feinsten. Meier musste in der Hitze des Gefechts eine Entscheidung treffen, inmitten des ohrenbetäubenden Lärms Zehntausender schreiender Fans im Stadion und vor den kritischen Augen von Millionen von Fernsehzuschauern weltweit. Vielleicht ahnte er zum damaligen Zeitpunkt sogar schon, dass man seinen Pfiff heftig diskutieren und dass dieser Zuschauer und Medien lange beschäftigen würde.18
Meier hatte den Torschuss von Campbell nämlich abgepfiffen: kein Tor! Er entschied auf Foulspiel und Freistoß für Portugal.
Diese mutige Entscheidung brachte Meier innerhalb weniger Stunden den Ruf ein, »der meistgeschmähte Mann im Fußball« zu sein. Berichten zufolge erhielt er 16.000 Hassmails, 5000 beleidigende Anrufe und sogar Morddrohungen. Die Einzelhandelskette Asda brachte den Frust der englischen Fans mit typisch britischem Humor auf den Punkt und bot allen Schweizer Staatsangehörigen eine kostenlose Augenuntersuchung in einem ihrer 68 Optikzentren an.19
Und Meier? Bis heute steht er nicht nur zu seiner damaligen Entscheidung, sondern auch zu dem Denkprozess, der ihn damals so entscheiden ließ. Und was dabei - zumindest, solange man seine Erklärung nicht kennt - umso erstaunlicher ist: Urs Meier hatte das Foul, das ihn zur Annullierung des Tores veranlasste, nicht einmal gesehen!
Wie er in seinem Buch DU Bist Die Entscheidung20 schreibt, spürte Meier sofort, als der Ball im Netz landete, dass etwas nicht stimmte. Sein Bauchgefühl, ja sein ganzer Körper hätten ihm, so Meier, entsprechende Signale gesendet, ausgelöst durch eine kleine Unstimmigkeit, die den Zuschauern im Stadion und vor dem Fernseher verborgen blieb. Meier beobachtete nämlich, dass der englische Stürmer John Terry sich nicht so verhielt, wie man es von einem Spieler unmittelbar nach einem so wichtigen Tor erwarten würde. Anstatt zu dem Torschützen oder seinen Mannschaftskameraden zu schauen und mit ihnen zu jubeln, sah Terry zu Meier hinüber. Dieser eine Augenblick, dieser kurze direkte Blickkontakt, gab dem erfahrenen Schiedsrichter den entscheidenden Hinweis. Terry hatte gefoult. Und tatsächlich zeigte die Zeitlupe später, dass Meiers intuitive, blind getroffene Entscheidung korrekt war: Terry hatte den portugiesischen Torhüter Ricardo Pereira behindert.
Meiers Beispiel aus dem Spiel England gegen Portugal im Jahr 2004, das Portugal danach übrigens im Elfmeterschießen gewann, ist ein beeindruckendes und lehrreiches Beispiel für ein geschultes Situationsbewusstsein: das intuitive Erkennen geringfügiger Abweichungen zwischen dem situativ zu erwartenden und dem tatsächlichen Verhalten einer Person. Meier erkannte unterbewusst, was passiert war, ohne dass sein Bewusstsein aktiv eingreifen musste. In nicht eindeutigen oder unklaren Situationen stützte Meier seine Entscheidungen also auf seine durch Erfahrung geschulte Intuition.
Ganz ähnliche Situationen erleben die Beteiligten in Verkaufsverhandlungen. Sekundenschnell intuitiv richtig und erfolgversprechend entscheiden zu können, ist deshalb auch hier eine wichtige Fähigkeit, um im unsichtbaren Spiel erfolgreich mitzuspielen. Im Vergleich zu Sportveranstaltungen gibt es allerdings einige wesentliche Unterschiede, die es für die Beteiligten noch schwieriger machen. Deshalb spielt diese Fähigkeit in beruflichen Verhandlungen vielleicht eine sogar noch größere Rolle.
Der erste wesentliche Unterschied: Geschäftsverhandlungen werden üblicherweise nicht aufgezeichnet. Entscheidungen werden immer live und in Echtzeit getroffen. Man kann nicht auf »replay« drücken und minutenlang prüfen, welche Partei was gesagt oder getan hat, und ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Und es gibt nur selten die Möglichkeit, die Uhr zurückzudrehen und Entscheidungen vor Ort zu revidieren, wenn man einen Fehler gemacht hat.
Zweitens: Schiedsrichter sind unparteiisch. Bei Geschäftsverhandlungen aber gibt es keine neutrale dritte Partei, die Verstöße der anderen Seite aufdeckt und sanktioniert. Alle Akteure müssen allein darauf hinarbeiten, das Ergebnis zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Der dritte signifikante Unterschied besteht darin, dass Geschäftsverhandlungen nur wenige allgemeingültige Spielregeln kennen. Natürlich wird ein ethisch und moralisch korrektes Verhalten vorausgesetzt. Aber die Verantwortlichen verbringen meistens wenig Zeit damit, miteinander darüber hinausgehende, konkrete Spielregeln zu vereinbaren. Häufig entsteht dadurch Unsicherheit und beide Seiten verbringen viel Zeit damit, über das Verhalten der jeweils anderen Partei zu spekulieren.
Immer wenn Urs Meier in seiner langen Schiedsrichterkarriere das Spielfeld betrat, hatte er keine Ahnung, was während des Spiels passieren würde. Er hatte aber den Vorteil, dass die grundlegenden Regeln des Fußballs klar definiert sind. Zu Beginn des Spiels gibt es immer elf aktive Spieler pro Team, die um einen Ball kämpfen. Die Länge und Breite des Spielfelds kann von Stadion zu Stadion etwas variieren, aber die Tore, die Strafraumgrenzen und die Torkästen haben immer die gleichen festgelegten Maße. Schade nur, dass solch klare und feste Regeln in der Verkaufsverhandlung fehlen. Die für eine Verkaufsverhandlung Verantwortlichen nehmen sich im Allgemeinen zu wenig Zeit dafür, ihre Rahmenbedingungen und Fragen wie »Wie wollen wir miteinander verhandeln?« zu diskutieren.
Diese drei wichtigen Unterschiede - keine Pausentaste, kein unparteiischer Schiedsrichter und keine festen Spielregeln - führen zu einem ganzen Katalog von Fragen, denen sich Verkäufer stellen müssen: Woran können sie sich in solch volatilen Situationen orientieren, um ihre Verhandlungen zum Erfolg zu führen? Wie erkennen sie die Grenzen ihres Spielfeldes? Darüber hinaus stellen sich wichtige Fragen zu den intuitiven Prozessen, auf die sich Menschen wie Meier verlassen, wenn sie spontane, intuitive Urteile oder blitzschnelle Entscheidungen treffen. Was steckt hinter dieser Intuition? Und wie können Verkäufer und Verkäuferinnen lernen, diese zu ihrem Vorteil zu nutzen? Wie kann Intuition ihnen helfen, ihr situatives Verhandeln zu verbessern und ihre Leistungen so zu steigern, dass sie zu unverzichtbaren Führungsspielern werden?
Ein Wissenschaftler der Universität Växjö befragte über 200 Manager schwedischer Unternehmen, wie sie Entscheidungen treffen. Eine knappe Mehrheit der Manager gab an, sich auf ihr Gespür zu verlassen: 32 Prozent sagten, sie entschieden intuitiv, und 19 Prozent gingen nach ihrem Gefühl. 26 Prozent meinten, ihre Entscheidungen seien situativ mit einem »Auge für Details«, und 23 Prozent bestanden auf einem analytischen Hintergrund.21
Wir haben uns von diesen interessanten Ergebnissen zu diesem Buch inspirieren lassen. Sie weisen uns den Weg zu einem wesentlichen Faktor menschlichen Denkens, denn: Wir alle sind - immer und überall - Spieler im unsichtbaren Spiel, ohne dass wir uns dieser Mechanismen bewusst wären, oder benennen könnten, welche automatisierten Reaktionen und Routinen in unseren Gehirnen fest verankert sind. Wir können uns diesen Mechanismen nicht entziehen. Doch wir sind ihnen auch nicht hilflos ausgeliefert. Ganz im Gegenteil! Wie aktiv und wie gut wir das unsichtbare Spiel spielen, liegt ganz in unseren Händen.
In diesem Kapitel beschreiben wir die Kräfte, die auf unser Situationsbewusstsein einwirken. Wir dekodieren tief verankerte Verhaltensweisen und zeigen Ihnen, wie Sie diese zu Ihrem Vorteil nutzen können.
Das Situationsbewusstsein von erfolgreichen Verkäufern basiert auf drei wichtigen psychologischen Faktoren: erstens »System 1 und System 2«, zweitens »Relativität« und drittens »Ankern«.
Bevor wir in konkrete Beispiele von Verhandlungssituationen einsteigen, lassen Sie uns zunächst darauf eingehen, wie unser Gehirn grundsätzlich funktioniert. Evolutionär betrachtet und ganz vereinfacht gesagt: Unser Gehirn ist immer und vorrangig vor allem darauf bedacht, unser Überleben zu sichern.
Wir beginnen unsere Erklärung mit einem Zitat des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, der zwischen schnellem und langsamem Denken unterscheidet: »Ich verwende die Termini, die ursprünglich von den Psychologen Keith Stanovich und Richard West eingeführt wurden, und ich werde entsprechend zwei kognitive Systeme unterscheiden, System 1 und System 2.« System 1 steht für schnelles und System 2 für langsames Denken.22
System 2
Im Geschäftsleben des 21. Jahrhunderts ist System-2-Denken das Maß aller Dinge. Es ist ein Sammelbegriff für die Art und Weise, wie unser Gehirn Daten verarbeitet, Zahlen auswählt, mit ihnen jongliert, sie gegeneinander abgleicht und sich mit den finanziellen Aspekten von Angeboten und Gegenangeboten auseinandersetzt, also all das bewertet, was »auf dem Papier« steht. System 2 dient als unser hoch entwickelter Problemlöser im sichtbaren Spiel. Es liefert gute Ergebnisse in komplexen Entscheidungssituationen, die analytisches und breites, kreatives Denken erfordern. System 2 wird aktiv, wenn man auf der Suche nach einer innovativen Idee ist, Verbindungen zwischen scheinbar nicht zusammengehörenden Dingen finden muss oder nach unkonventionellen »Out-of-the-Box«-Ideen sucht. System 2 funktioniert gut bei ergebnisoffenen Fragen, bei denen die Antworten überraschend oder mehrdeutig sein können oder bei längerem und tieferem Nachdenken besser werden.
Im Denkmodus System 2 brüten Verkäufer und Verkäuferinnen über neuen Vertriebskonzepten, entwerfen detaillierte Angebote oder feilen an einem schwierigen Kundenbrief. Angenehmerweise ist diese kognitive Anstrengung mit einem inneren An-Aus-Schalter versehen; System 2 ermüdet nämlich schnell, unsere Konzentration lässt nach und uns fällt einfach nichts mehr ein. Das erklärt, warum Kreativteams häufige Pausen oder einen Tapetenwechsel brauchen, um neue Impulse zu erhalten und Gedanken weiterzuentwickeln. Das »Abschalten« von System 2 bezeichnen die Amerikaner mit dem Begriff »vegging« (dt. vegetieren) und die Niederländer mit »niksen« (dt. Nickerchen). Es ist die Kunst des absoluten Nichtstuns mit dem Ziel, die inneren Batterien wieder aufzuladen.
Jedem, der öfter an Konferenzen teilnimmt, wird folgende Situation bekannt vorkommen:
Situation 1.1: Time out! Ein Konferenzraum im Suppenkoma
Als die helle Sonne den überfüllten Konferenzraum erwärmt, schwindet die Energie zusehends. Die Luft ist raus. Die Zeit scheint bei 14:45 Uhr stehen zu bleiben. Sie klicken auf die nächste Folie, die Nummer 37 Ihrer Präsentation, und verlieren plötzlich für einen Moment den Faden ... Worauf wollten Sie noch einmal hinaus? Sie sind sich nicht mehr sicher, und wenn Sie Ihre Zuhörer fragen würden, dann wären die meisten ebenso ratlos. Wer sich per Zoom zugeschaltet hat, tut sein Bestes, um vor der Kamera wach zu bleiben und schafft es dennoch kaum, aufmerksam zu wirken. Für einen kurzen Moment blitzt in Ihnen der Gedanke auf, dass im Raum eine Atmosphäre von Winterschlaf herrscht. Was für eine peinliche Situation! Was können Sie bloß tun? Sie kommen doch alle gerade erst vom Mittagessen und die nächste Pause ist eigentlich erst in 45 Minuten eingeplant.
Viele von uns saßen schon mindestens einmal in einem solchen Meeting mit einer unerträglich langen PowerPoint-Präsentation. Grundsätzlich neigen wir alle dazu, unser gesamtes Wissen und all unsere Informationen zeigen zu wollen und setzen uns damit der Gefahr aus, unser Publikum mit zu vielen Informationen und mit zu vielen Worten zu überfordern. Denn es gibt im menschlichen Gehirn - und das bezieht sich insbesondere auf System 2 - einen Sättigungspunkt für die Verarbeitung von Informationen, und wenn wir diesen erreichen oder gar überschreiten, dann werden unsere Zuhörer unruhig, angespannt, ärgerlich und letztlich einfach ... müde.
Dazu sagt die Wissenschaft: