Das Vaterunser — Wort für Wort - Viktor Horatczuk - E-Book

Das Vaterunser — Wort für Wort E-Book

Viktor Horatczuk

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Beschreibung

Was ist so faszinierend an den 54 Worten des Vaterunser, dass es seit 2000 Jahren von Menschen verschiedener Kulturen gebetet wird? Trotz der inneren Widersprüche und der zahlreichen Auslegungsmöglichkeiten geht von diesen Worten eine Kraft aus, die mystische Botschaften vermuten lassen. Nach einer Darstellung des Wesens spiritueller Erfahrungen deutet der Autor die einzelnen Worte und Gebetsbitten im Lichte dieses spirituellen Wissens und führt den Leser auf eine Reise durch das Gebet über lyrische Reflexionen und Sinnbilder. Dabei informiert er über den aktuellen Stand der Exegese und Theologie zum Vaterunser und gibt Hinweise auf philosophische und psychologische Aspekte der einzelnen Abschnitte. Dr. iur. Viktor Horatczuk, geb. 1957, Vater von drei Kindern, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Mystik und Kontemplation. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Vaterunser war für ihn eine Übung der Achtsamkeit und als Studienarbeit ein Teil seines Studiums der Philosophie. Schlüsselwörter des Textes sind: Vaterunser, Vater unser, Mystik, Meditation, Kontemplation, Erleuchtung, Gebet, Gottesbild, Menschenbild, Reich Gottes, tägliches Brot, Vergebung, Versuchung, Erlösung.

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Seitenzahl: 129

Veröffentlichungsjahr: 2025

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für Alexander, Katharina und Christopher

Viktor Horatczuk

ןודאה תליפת

Das Vaterunser – Wort für Wort Betrachtungen im Lichte des Humanismus und der Mystik

Studienarbeit

am Institut für Philosophie der Universität Wien

Tredition

© 2025 Viktor Horatczuk

Coverdesign: Horatczuk

Covergrafik: Höhlen von Qumran, Israel, © Pixabay Verlagslabel: Horatczuk

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

Dr. Viktor Horatczuk, Dr.-Natterer-Gasse, 1020 Wien, Austria .

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

ISBN Softcover 978-3-384-64926-3; (E-Book 978-3-384-64)

INHALTSVERZEICHNIS

1. Begriffe: Humanismus, Mystik, Gebet, Meditation und

Kontemplation .......................................................................2

2. Das Vaterunser als Gebet ................................................. 18

3. Vater … ........................................................................... 41

4. … unser … ...................................................................... 53

5. ...im Himmel,… ............................................................... 57

6. Vater unser im Himmel … ............................................... 61

7. ... geheiligt werde … ........................................................ 65

8. … Dein Name, … ............................................................ 71

9. … geheiligt werde Dein Name, ….................................... 75

10. … Dein Reich … ........................................................... 79

11. … Dein Reich komme … ............................................... 83

12. …dein Wille … .............................................................. 87

13. …Dein Wille geschehe, … ............................................. 95

14. …wie im Himmel … ...................................................... 99

15. … so auf Erden … ....................................................... 103

16. … Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im

Himmel so auf Erden. ........................................................ 107

17. … Unser tägliches Brot … ........................................... 111

18, … gib uns heute … ...................................................... 115

19. … und vergib uns … .................................................... 119

20. … unsere Schuld … ..................................................... 123

21. …wie auch wir vergeben … ......................................... 127

22. … unsern Schuldigern … ............................................. 135

23. … und führe uns nicht in Versuchung… ....................... 139

24. … sondern erlöse uns… ............................................... 145

25. … sondern erlöse uns von dem Bösen. ......................... 149

26. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit

in Ewigkeit. ....................................................................... 157

27. Amen ........................................................................... 161

Nachwort ........................................................................... 164

Zusammenfassung ............................................................. 169

Literatur: ............................................................................ 172

Bildnachweis ..................................................................... 181

Stichwortverzeichnis .......................................................... 187

Vorwort

Der Inhalt dieses Buches ist vordergründig eine Auseinandersetzung mit dem biblischen Gebet des Vaterunser; seinem Wesen nach ist es jedoch eine Übung in Achtsamkeit und Kontemplation vor dem Hintergrund einer humanistisch-aufgeklärten Weltsicht und der Darstellung mystischer Erfahrungen, aber auch eine mit dem Gebet innewohnenden Widersprüchen.

Dem Leser gebe ich die Anregung, den Text nicht kontinuierlich zu lesen, sondern nach jedem Kapitel eine längere Pause einzulegen, sonst könnte die karteiartige Aneinanderreihung der Aussagen und Gedanken zum Text und eine gewisse Eindringlichkeit insultierend und herablassend wirken.

Das Schicksal hat mir fast meine gesamte körperliche Beweglichkeit genommen. Dies bedeutete für mich nicht nur den Gefährlichkeiten diverser Sportarten zu entgehen, sondern auch, neben regelmäßigem Fasten zur Vermeidung von Übergewicht, die Verlagerung der Interessen auf geistige und geistliche Inhalte. Während andere um Kontemplation ringen, erhielt ich diese Lebensform gleichsam als Geschenk. In Verbindung mit meinem frühzeitigen Interesse an Philosophie, Spiritualität und Religion blicke ich auf über 30 Jahre autogenes und mentales Training, Meditation und die Auseinandersetzung mit Mystik zurück. Die im nachfolgenden Text beschriebenen spirituellen Erfahrungen hatten sich hinsichtlich ihrer Umsetzung an den Herausforderungen von Beruf, Partnerschaft, Kindererziehung und gesellschaftlichem Engagement zu bewähren. Sowohl das Bemühen um Achtsamkeit als auch das Bestreben, jedes unnötige Geplapper zu vermeiden, führten unter anderem zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Vaterunser als dem Grundgebet christlichen Glaubens.

Es drängt mich jenen zu danken, die den Text einer fruchtbringenden Kritik unterzogen beziehungsweise ihn lektoriert haben. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang ao. Univ.-Prof. i.R. Dr. Herbert Hrachovec, Obst i.R. Dr. Bernhard Kaiser, Bischof Mag.Dr. Johannes Okoro und Militärsuperintendent DDr. Reinhard Trauner.

Wien, 26. Oktober 2025

Dr. Viktor Horatczuk

Einleitung

Sowohl Verständnis als auch Kritik über nachfolgende Aussagen zum Vaterunser, dem „Herrengebet“, bedürfen eines Hinweises der Weltsicht und Vorurteile des Autors als auch der gewählten Methode zur geistigen Durchdringung des Inhalts des Textes.

Ich sehe mich eines humanistischen Weltbildes im Sinne Pico

della Mirandolas1verpflichtet, wonach Wissen und Tugend die im Menschen angelegten Fähigkeiten zur weitgehenden Autonomie und Selbstmächtigkeit entfaltet. Meine liberal-demokratische Ausprägung in Verbindung mit der Erkenntnis der Verantwortung für die Natur und „den Anderen“ gehen vom Prinzip des „leben und leben lassens“ aus.

Meine relevante Lesart des Textes (Bedeutungsexplikation im Sinne einer hermeneutisch-objektiven Textanalyse) entstand nach der Auseinandersetzung mit der Exegese der beiden Texte des Vaterunser in der Heiligen Schrift nach Matthäus und

Lukas: Mt 6,9-13 und Lk 11,2-4, im Lichte anerkannter

1Giovanni Pico della Mirandola, Zathammer Stefan, et al.: De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen,

Lateinisch/Deutsch, Reclam 2023

1 mystischer Erfahrungen von Frauen und Männern und eigener Erkenntnisse zu den einzelnen Aspekten des Gebets sowie aus einem Gebetsverständnis, welches der Stufe fünf der

„ 2 Entwicklungstheorie des religiösen Urteils “ nach Fritz Oser entspricht.

1. BEGRIFFE: HUMANISMUS, MYSTIK, GEBET, MEDITATION UND KONTEMPLATION

Unter „Humanismus“ verstehe ich eine vom Renaissance-Humanismus ausgehende Überzeugung der Sinnhaftigkeit von Bildung („studia humanitatis“) und der grundsätzlichen Gestaltbarkeit von Menschen durch tubendhaftes Vorbild, Übung und Erkenntnis, wodurch Menschen über Vernunft, Selbstverantwortung und autonomes Denken zu moralischem Handeln und gesellschaftlichem Fortschritt fähig seien. Die Würde des Menschen liegt im Sinne Kants in seiner Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung (Autonomie) unter Betonung von Toleranz, Freiheit, Menschenrechten.

2Fachstelle für Religionspädagogik Zürich: Religiöse Entwicklungstheorien,

https://www.bing.com/search?q=stufen+religi%C3%B6ser+entwickl

ung, abgefragt am 31.1.2021

2

„Gebet“ wird hier als Oberbegriff aller Formen der Zuwendung zu Gott verstanden und schließt die Technik der religiösen Meditation als Mittel der inneren Öffnung für den Empfang von Erfahrungen mit dem Göttlichen ein. Die meisten Gebete stammen aus religiösen Traditionen und sind gleichsam kirchliche bezeihungsweise kultische Vermittler zur Kommunikation mit den transzendenten Kräften. Sobald Gebete zu unmittelbaren spirituellen Erfahrungen mit dem Göttlichen führen (dem „Numen“), handelt es sich um einen Teilaspekt der Mystik.

Im Gegensatz zu den sehr unterschiedlichen Ausprägungen von Religionen weisen mystische Erfahrungen jedoch auffällige

Gemeinsamkeiten über Zeiten und Kulturen hinweg, auf. 3Dies lässt entweder auf die Identität des Göttlichen oder die Gleichartigkeit der geistigen beziehungsweise psychologischen Voraussetzungen von Menschen hinsichtlich spiritueller Empfindungen schließen. Im Übrigen glaube ich nicht, dass man – von Ausnahmen abgesehen – einzelne Stufen der religiösen und spirituellen Entwicklung überspringen könne. Ich halte die herkömmlichen Methoden zur Betrachtung wie zum Beispiel die vierstufige „Lectio Divina“, die „Lumko- oder Sieben-Schritte-Methode“, die vierwöchigen Exerzitien nach

3Peter R. Lipsett: Wege zur Tranzendenzerfahrung, Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag 1992 3

Ignatius von Loyola oder die Methode des Heiligen Franz von Sales für außerordentlich fruchtbringende Reflexionen und Übungen als Vorstufe der Übung zur Freiheit von Gedanken und Emotionen und damit als eine Stufe zur inneren Öffnung zum unmittelbaren Empfang erleuchtender Einsichten in das Göttliche. Diese Übungen können Teil einer kontemplativen Lebensführung sein, stehen allerdings immer noch außerhalb mystischen Erlebens.

Ich will auch die Bedeutung jener Gebetsformen nicht entwerten, bei denen man, wie zum Beispiel beim Rosenkranzgebet, bei der Rezitation bestimmter Psalmen aber auch beim Vaterunser, die Gebete zwar spricht, den Inhalt aber nicht wahrnimmt, so lange diese Methode als eine Art Mantra dabei hilft, den Geist auf das Göttliche zu lenken.

„Meditation“ ist eine Technik, bei der man unter weitgehender körperlicher Entspannung den Gedankenfluss auf lediglich ein Objekt einengt oder versucht, diesen überhaupt über einen längeren Zeitraum aufzulösen. Somit zielt Meditation auf Gedankenleere ab, während die rationale oder emotionale Auseinandersetzung mit einem Gedanken, einem Text oder einer Situation im Bereich der Philosophie mit der von Edmund

4

Husserl beschriebenen „Wesensschau“, im Bereich der Theologie mit dem Begriff „Betrachtung“ bezeichnet wird.

„Achtsamkeit“, die bewusste Konzentration auf alle Sinneseindrücke des gegenwärtigen Moments ohne über die jeweiligen Sinneseindrücke und Empfindungen sofort zu urteilen, muss immer wieder geübt werden, da sich die Fähigkeiten der Achtsamkeit nicht automatisch erhalten. Es gibt Menschen, denen diese Fähigkeiten des meist unterbewussten (vorbewussten) „Multitasking“ in die Wiege gelegt wurde: sie überblicken eine Gesamtsituation sehr rasch, bilden sich allerdings meist sofort ein Urteil und reagieren entsprechend, wenngleich sich das rasche Reagieren im Nachhinein oft als Unsinn herausstellt. Das bewusste Wahrnehmen einer Gesamtsituation stellt eher die Ausnahme dar, der Gebrauch des rationalen Geistes ist anstrengend und kommt aufgrund der Kritikorientiertheit nur langsam zu stimmigen Urteilen. Im Kern bezweckt die Übung der Achtsamkeit das bewusste Wahrnehmen von Gesamtsituationen und führt zur Entwicklung der Freiheit eines Menschen: „Allein im Bereich des Bewusstseins ist der Mensch frei, Bewusstsein wiederum ist nur im jeweils gegenwärtigen Augenblick möglich“ (Lev Tolstoy).

5

Mystik

Ich unterscheide mystische Erfahrungen 4 („ Numen “) in: - kurzfristige Erleuchtungserlebnisse (Gipfelerfahrungen im

Sinne Maslows5);

- transzendente Resonanzen6, die in Form eines meist kurzfristigen und oberflächlichen Aufblitzens von Erfahrungen mit dem Göttlichen bestehen; und

-„in der Gnade Gottes leben“, ein Gefühl des „Getragenseins von einer übernatürlichen Kraft“, das sich durch ein grundsätzlich dauerhaftes spirituelles positives Empfinden unabhängig von situativen oder emotionalen Schwankungen auszeichnet.

Von diesen drei Erfahrungen gilt es die „Geistesblitze“ wissenschaftlicher Erkenntnis („Heureka-Erfahrung“), die ästhetische Verzückung im Angesicht dert Harmonie von

4 Numinos bezeichnet ein intensives, oft körperliches Gefühl von

etwas Göttlichem, Überirdischem oder Jenseitigem. Der Begriff

wurde von dem evangelischen Theologen Rudolf Otto geprägt und

beschreibt das Letztendliche, das außerhalb unserer Realität steht und

für die Sphäre des Heiligen steht (Numinose: Bedeutung, Herkunft |

fremdwort.de vom 20. 10. 2024)

5 Abraham Maslow, Religions, Values and Peak-experiences, Ohio State University Press 1964

6 Karl F. Stifter, Philosophie der Mentalenergie, unveröffentlichte Dissertation (phil.) an der Universität Wien 2009

6

Kunstwerken oder Szenerien in der Natur („das Erhabene“) und

die Erfahrungen von Ekstase 7 einerseits, den krankhaften religiösen Wahn, imaginatives Erleben psychologischer Phänomene (Esoterik, Schamanismus, Voodoo, Engelskult, Geisterbeschwörung etc.), psychedelische Wahrnehmungen nach Drogenkonsum und jene Selbstheilungskräfte der Psyche, die schwierige Situationen und Traumata durch Umdeutungen erträglich zu machen suchen, andererseits, zu unterscheiden. Diese Erlebnisse ziehe ich in den folgenden Darstellungen nicht als „mystisch“ in Betracht. Ich spreche niemandem etwaige auf diesem Wege gewonnene „Erleuchtungen“ ab und ich anerkenne auch manche Nützlichkeiten diversen „Aberglaubens“, jedoch beziehe ich sie aufgrund ihrer besonderen und subjektiven Vielfalt sowie meiner ausgeprägten Skepsis nicht in die nachfolgenden Ausführungen mit ein. Ich lasse auch jene religiöse Inbrunst außer acht, die als Mechanismus zur Bewältigung außerordentlicher emotionaler Zustände wie Angst, Verzweiflung oder Hass gedeutet werden

7Peter Handke beschreibt diese Empfindung in seinem „Versuch über die Jukebox“folgendermaßen: Es „scholl von dort aus der Tiefe eine Musik, bei der er zum ersten Mal im Leben, und später nur noch in den Augenblicken der Liebe, das erfuhr, was in der Fachsprache ‚Levitatation‘ heißt, und das er selbst mehr als ein Vierteljahrhundert später wie nennen sollte: ‚Auffahrt?‘, ‚Entgrenzung?‘, ‚Weltwertung?‘“; zitiert in Wolfgang Kos, 99 Songs, Brandstätter, Wien 2017, S. 142

7 kann und die regelmäßig jeden rationalen und kritischen Zugang zu diesem Phänomen unterbindet. Als wissenschaftlicher Fachterminus für alle oben beschriebenen Phänomene hat sich „altered state of conciosness“ etabliert.

Mystische Erleuchtung zeichnet sich regelmäßig durch

folgende Eigenschaften aus: 8

- mystische Erleuchtungen („peak experiances“ nach

Maslow) stellen sich spontan ein, es lassen sich zwar Rahmenbedingungen hierfür aufbereiten und sicherstellen, sie lassen sich aber nicht mit der Sicherheit eines naturwissenschaftlichen Gesetzes entwickeln;

- mystische Erleuchtungen werden als existenzielle

Erlebnisse empfunden, die über rationale Erkenntnis weit hinausreichen, emotionell aufwühlen und die gesamte Lebensverfasstheit betreffen;

- im Zustand kurzfristiger Erleuchtungserlebnisse ist das

Bewusstsein insofern leer, als es keine Objekte beinhaltet, wodurch die Empfindung entstehen kann, dass sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst wird;

8 Louann Stahl, Reise zum Mittelpunkt der Seele, das mystische Erleben in Zeugnissen aus mehr als sieben Jahrhunderten, Frick 1998

8

- im Zustand kurzfristiger Erleuchtungserlebnisse heben

sich das Raum- und Zeitgefühl auf, auch ein Körpergefühl ist kurzfristig nicht wahrnehmbar.

Die folgenden Aspekte mystischer Erfahrung stellen sich auch bei jener dauerhaften Form ein, die regelmäßig als ein Gefühl des „in der Gnade Gottes leben“ oder eines „Getragenenseins durch eine göttliche Kraft“ charakterisiert wird:

- bei dieser „Wesensschau des Göttlichen“ handelt es

sich um ein intuitives Erfassen des Verbundenseins von

Allem 9(Interdependenz oder das Intersein nach Thich Nhat Hanh), es stellt sich ein Einheitserlebnis in Bezug auf die ganze Schöpfung ein, eine Ganzheit über religiöse, zeitliche und menschliche Grenzen hinweg wird erkannt;

- Widersprüche lösen sich auf, ein Verlangen auf

logische Widerspruchsfreiheit wird hinfällig;

9 Diese Erkenntnis entspricht auch dem derzeitigen überwiegend holistischen Selbstverständnis philosophischer und naturwissenschaftlicher Forschung; siehe hierzu Robert Nozick, Vom richtigen guten und glücklichen Leben, Hansen 1991, S. 309 und 337 9

- das Göttliche zeigt sich als bildlose, überrationale, vom

menschlichen Geist nicht erfassbare, unbeschreibbare,

aber erfahrbare und machtvolle Existenz10;

- mystische Erfahrungen sind beglückend, oft werden

besondere Freude, Schönheit, Frieden und helles Licht empfunden;

- oft wird eine alles umfassende (kosmische) Liebe als

bestimmende Kraft des Universums erfasst;

- das Ergebnis mystischer Erfahrung ist die Erkenntnis

von „existenziell Wesentlichem“ und führt in ein Urvertrauen, in eine grundsätzliche Angstfreiheit und Entscheidungssicherheit, in eine Festigung des Charakters sowie in eine Relativierung der Probleme des Alltagslebens; es stellt sich ein tiefes Wissens um die Zusammenhänge des Leben und ein „Alles ist gut-Gefühl“ ein;

- Kennzeichen von Menschen, die von längerfristigen

mystischen Erfahrungen begleitet werden, sind

10 Zur Kritik an der Gotteserkenntnis durch Theologen siehe auch das Alte Testament, Hiob 42,7: im Prolog wird eine Form der Selbstoffenbarung Gottes kritisiert. Eine Aussage über Gott lässt sich nach dieser Stelle weder über menschliches noch über göttliches Reden von Gott erschließen, sondern nur über das Reden mit ihm, dem Gebet. Hiob 42,7: „Mein Zorn ist über dich und deine Freunde entbrannt, denn ihr habt nicht recht zu mir geredet wie mein Knecht Hiob“. Das Buch Hiob erteilt damit dem „Disputare de Deo“ eine Absage.

10

regelmäßig heitere Gelassenheit, das Fehlen von jeglichem Fundamentalismus, eine angenehme und bereichernde Ausstrahlung, ein hohes Resilienzvermögen, eine überdurchschnittliche Fähigkeit, Leid zu ertragen und die Fähigkeit, klare Entscheidungen zu treffen.

Ich nenne diese Menschen „Ο Αναστημένος/ho anastimenos“ – „Der Auferstandene“, Sowohl im Gegensatz zum „Ecce homo“, dem Bild des geknechteten, angstvollen und grundsätzlich sündigen Menschen als auch zum selbstmächtigen, autonomen Humanisten.

Mystiker neigen überwiegend den Aussagen der „Negativen

Theologie“ zu.11

Im Gegensatz zu Mystik ist „Kontemplation“ eine Lebensform, die Rahmenbedingungen kultiviert, um spirituelle Erfahrungen und Erleuchtungserlebnisse wahrscheinlicher zu machen, sie will durch Beschaulichkeit und Unaufgeregtheit dem Wirken

11 Dionysius Areopagita, ein Mystiker um etwa 500 n.Chr., begründet aus dieser Erkenntnis eine „negative“ bzw. „aphantische“ Theologie, ausgehend von der Grundeinsicht, dass nichts über Gott als der „überwesentliche Eine“ von unserer Sprache ausgesagt werden kõnne.

11 göttlicher Kräfte einen Weg bereiten. Ein kontemplatives Leben ist für sich selbst bereits eine Spezialform des Gebets, ohne Worte zwar, aber durch ein auf die Kommunikation mit Gott gerichtetes Verhalten. Kennzeichen einer kontemplativen Lebensführung sind Achtsamkeit, überlegtes Reden und Handeln und die Ausrichtung der täglichen Routine auf spirituelle Entwicklung, maßvoller Lebensgenuss abwechselnd

mit asketischen 12Übungen, spirituell orientierter Meditation, Reflexion über – und die Betrachtung von – religiösen, literarischen und philosophischen Texten, die Erhaltung von körperlicher Fitness, die Verfeinerung des Lebensstils, die Übernahme von Aufgaben und Verantwortung mit Engagement und Akkuratesse im profanen Leben.

Von Kontemplation ist „Askese“ zu unterscheiden, welche die Ausrichtung auf Gott durch strenge Enthaltsamkeit von körperlichen Genüssen und Annehmlichkeiten erreichen will. Askese kann Teil einer kontemplativen Lebensform sein, muss

12 https://www.mystica.tv/sufismus-mystik/ abgefragt am 8.5.2021: gemäß Annemarie Schimmel habe der Sufi-Meister Dschami (Jami) den Unterschied zwischen den Asketen und den echten Mystikern treffend geschildert: „Die Asketen betrachten die Schönheit des Jenseits mit dem Lichte des Glaubens und der Gewissheit und verachten die Welt; doch sind sie noch durch ein sinnliches Vergnügen verschleiert, nämlich den Gedanken an das Paradies, während der echte Sufi von beiden Welten abgeschirmt ist durch die Schau der urewigen Schönheit und der wesenhaften Liebe.“

12 es aber nicht. Dauerhaft asketisches Leben wird jedoch vom Standpunkt der Mystik aus als Irrweg betrachtet, da es das Wesen der Schöpfung und der menschlichen Körperlichkeit nicht als grundsätzlich gut anerkennt.