Das vergessene Museum - Andreas Suchanek - E-Book

Das vergessene Museum E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Vom Fahrradkurier zum Magier. Ein Vermächtnis, das ihn alles kosten könnte. Liam hat es nicht leicht. Aufgewachsen in eher ärmlichen Verhältnissen, hält er sich in London als Fahrradkurier über Wasser. Als er ein Paket zu einem Privatmuseum liefert, wird er dort Zeuge eines Überfalls. Er kann nichts mehr für den sterbenden Kurator tun, doch dieser überträgt ihm ein Symbol aus schwarzer Tinte auf seine Haut – und macht ihn somit zum neuen Siegelwahrer des Museums. Liam wird in die Welt eines international agierenden Museumsnetzwerks katapultiert, welches magische Artefakte sicher verwahrt – denn mit diesen lassen sich gefährliche Kräfte kanalisieren. Doch die Museen werden von einem gefährlichen Gegner bedroht und schnell wird klar: Liams eigene Vergangenheit ist eng mit den Geschehnissen verknüpft.

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Liam hat es nicht leicht. Aufgewachsen in eher ärmlichen Verhältnissen, hält er sich in London als Fahrradkurier über Wasser. Als er ein Paket zu einem Privatmuseum liefert, wird er dort Zeuge eines Überfalls. Er kann nichts mehr für den sterbenden Kurator tun, doch dieser überträgt ihm ein Symbol aus schwarzer Tinte auf seine Haut – und macht ihn somit zum neuen Siegelwahrer des Museums. Liam wird in die Welt eines international agierenden Museumsnetzwerks katapultiert, welches magische Artefakte sicher verwahrt – denn mit diesen lassen sich gefährliche Kräfte kanalisieren. Doch die Museen werden von einem gefährlichen Gegner bedroht und schnell wird klar: Liams eigene Vergangenheit ist eng mit den Geschehnissen verknüpft.

Andreas Suchanek

Das vergessene Museum

Der Siegelwahrer von London

Roman

Der Snob des Hauses

Ein Mittwoch

 

Der Hund war schuld.

Zumindest redete ich mir das ein, während ich meine schlammverschmierten Finger an den Jeans abwischte. Glücklicherweise überbrachte ich als Fahrradkurier keine Lebensmittel, wie die Mehrheit meiner Kollegen, sondern Päckchen. Und zwar von der gut verpackten, robusten Sorte, deren Zustellung trotzdem nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Etwas Verdauliches wäre jetzt unter mir zerquetscht worden wie die englischen Rosen, auf denen ich hier im Beet gelandet war und die winterfest ihr Dasein gefristet hatten.

Ich rappelte mich auf, stellte das Fahrrad auf und klappte den Ständer aus. Es schien auf den ersten Blick unbeschädigt. Ein Glück, denn eine Reparatur hätte mein derzeitiges Budget gesprengt. Das Ende des Monats war noch weit entfernt, mein Konto aber bereits leer.

Ich betrachtete vorwurfsvoll den Hund, der im Dunkeln saß und sich unbeeindruckt die Pfoten leckte. Ein reinrassiger Irgendwas mit dem Blick eines Snobs. »Hast du ein Glück, dass ich für Vierbeiner bremse.«

Nicht zu vergessen meine hervorragenden Reflexe, die das überhaupt möglich gemacht hatten. Das hier war dann mein dritter Unfall diese Woche (Es war erst Mittwoch!), aber das musste ich dem Kerlchen ja nicht auf die Nase binden.

Möglicherweise war ich in diesem Fall sogar selbst schuld. Erst kurz vor Schichtende war der letzte Expressauftrag hereingekommen. Als ich losfuhr, hatte sich über London bereits die typische Winterdunkelheit ausgebreitet, der Wind pfiff und ein eisiger Sprühregen schlug mir ins Gesicht. Ich zitterte dezent vor Kälte und wollte auf dem schnellsten Weg nach Hause, mir den Magen vollschlagen und bei einem heißen Tee alle viere von mir strecken.

Stattdessen raste ich durch den Berufsverkehr, schlängelte mich an parkenden Autos und Fußgängern vorbei und erreichte auf diese Art Earls Court, genauer: Harrington Gardens. Prachtvolle georgianische Bauten säumten die Straße. Bleiglasfenster, in Stein gehauene Figuren und Ziselierungen schmückten die Gebäude. Hier und dort ein warmes Licht und Silhouetten hinter schweren Vorhängen. Das typische Idyll von Menschen, die sich über ihre täglichen Ausgaben keine Sorgen machen mussten. Doch die Hausnummer auf dem Paket passte zu keinem der Häuser. Ich fuhr die Straße zweimal rauf und wieder runter.

Meine Laune verbesserte das nicht unbedingt.

Endlich fand ich den Durchgang zwischen zwei Häusern, der gerade groß genug war, dass ich samt Fahrrad hindurchpasste.

Ein schmales Metalltor tauchte vor mir auf, ich musste absteigen, um es zu öffnen. Ein Quietschen erklang. Ich zog es hinter mir zu, stieg wieder auf und fuhr weiter. Es roch nach nassem Stein und Erde. Vor mir erhob sich ein Herrenhaus, das so gar nicht an das Ende der Gasse passen wollte. Es sah aus, als hätte jemand Downton Abbey verkleinert und zwischen all die Bauten ringsum gequetscht. Das Haus war von einem Dickicht aus Büschen und Bäumen umrankt. Nur die Rosenbeete, die den Weg zur Haustür säumten, waren ordentlich und gepflegt.

Ich fuhr auf die Tür zu und schrak zusammen, als eine Laterne neben mir abrupt aufleuchtete. Genauer: eine Gaslaterne. Innerhalb des bauchigen Glaszylinders tanzte tatsächlich eine Flamme, die vermutlich durch eine Art Zeitschaltuhr entzündet worden war.

Ein protestierendes Bellen vor mir verdeutlichte, dass ich wohl eher auf den Weg hätte schauen sollen, anstatt mich von nostalgischen Laternen ablenken zu lassen. Ich riss den Lenker herum. Die Folge war bereits bekannter Sturz, die Rosenbüsche unter mir, von feuchter Erde verschmierte Finger. Ich sagte ja: Der Hund war schuld.

Immerhin war dieses verborgene Haus durch die Umrahmung der anderen Gebäude windgeschützt. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Regen vom Gesicht und schlug die Kapuze meines Hoodies zurück. Es war immer besser, Menschen im Dunkeln nicht im vermummten Zustand gegenüberzutreten. Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete ich die Fassade. Sie verströmte jenen georgianischen Charme, der hier überall zu finden war. Backsteinflächen wuchsen symmetrisch in die Höhe, Ornamente lugten hier und da hervor, deren Details im Schatten jedoch nicht auszumachen waren. Pilaster zogen sich an den Hausecken hinauf und rundeten das Gebäude auf diese Art ab; über der Tür verlief ein Rundbogen.

Das gesamte Bauwerk verströmte den Hauch von altenglischem Adel.

Der Kontrast dazu war ich in meinen verwaschenen Jeans, den ausgetretenen Turnschuhen und dem Hoodie, darüber eine verschlissene Jacke. Ein Blick auf meine Kleidung verriet jedem, dass ich in einem anderen Londoner Viertel beheimatet war.

Im Vorbeigehen streichelte ich den Hund, dessen Blick milder wurde, doch nichts von seinem Hochmut verlor. »Ich wette, du trägst den Namen von irgendeinem König. Bist du vielleicht Charles?« Ein Knurren folgte, ich zog blitzartig die Hand zurück.

Bevor sich zu meinem Sturz noch eine Bisswunde gesellte, trat ich an die Tür und betätigte die Klingel. Ein sanfter Gong erklang gedämpft im Inneren. Einige Sekunden später wurden Riegel zurückgezogen, ein Schlüssel gedreht, die Tür geöffnet.

»Ja, bitte?« Vor mir stand ein Mann in den späten Fünfzigern, dessen lichtes Haar wild in alle Richtungen abstand. Er hielt eine Lesebrille in der Hand, ich hatte ihn eindeutig von seiner Lektüre weggeholt. Dass er zu dieser Zeit im eigenen Heim Hemd und Weste trug, sogar Schuhe, sprach Bände. Bei mir wären das eher Jogginghose und Shirt.

»Guten Abend, ich habe eine Lieferung für Sie.« Ich hielt ihm das Paket entgegen.

»Was … aber … für mich?«

»Falls Sie R. Bradford sind.« Ich wackelte ein wenig mit dem Paket, denn ewig wollte ich es nicht halten.

»Rupert. Also ja. Das bin wohl ich.« Er nahm es an.

»Ich bräuchte noch Ihre Unterschrift.« Ich zog mein Smartphone aus der Tasche und öffnete die App.

»Augenblick. Ich habe keinen Stift bei mir. Aber kommen Sie doch herein.« Er wandte sich um und ging.

»Sie brauchen keinen …« Er schritt einfach weiter und ich ließ mein Smartphone sinken, das ich in die Höhe gehalten hatte. »… Stift.« Wozu gab es Touchscreens und Apps? Ich blickte auf das Display.

Und runzelte verwirrt die Stirn. Hatte ich nicht gerade die App des Lieferdienstes geöffnet, für den ich arbeitete? Stattdessen blickte ich auf die Benutzeroberfläche meiner Dating-App. »Ich brauche dringend Feierabend.«

Ein aufforderndes Bellen hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. Ich trat also ein, machte dem Hund Platz, der erhobenen Hauptes an mir vorbeischritt, und schloss die Tür. Es war behaglich warm und trocken, ich gönnte mir ein paar Sekunden, um durchzuatmen.

Rechts der Eingangstür gab es einen Garderobenständer, links hing ein Spiegel an der Wand. Ein Blick hinein ließ mich zusammenzucken. Mein welliges dunkles Haar hatte sich in eine Sturmfrisur verwandelt. Gepaart mit meinen müden Augen, dem Dreitagebart und den Schrammen, die vom Sturz herrührten, sah ich nicht länger aus wie ein siebenundzwanzigjähriger Mann in der Blüte seines Lebens. Eher wie ein Höhlenmensch am Ende davon.

»Sie kommen?«, erklang die Stimme von Rupert Bradford.

Was auch sonst? Im Gehen fuhr ich mir durchs Haar, um zumindest ein wenig grundlegende Ordnung hineinzubringen. Erst nach ein paar Schritten nahm ich meine Umgebung richtig wahr und blieb verblüfft stehen. Das hier wirkte nicht wie das Herrenhaus einer Privatperson, nicht aus dieser Perspektive.

Vor mir breitete sich ein weiter Raum mit Schaukästen aus. Durch das Fenster fiel Mondlicht herein und tauchte alles in schattenhafte Facetten. Es hätte mich keinen Augenblick gewundert, wäre jemand hinter den schweren Vorhängen hervorgetreten, die nicht zugezogen waren.

Der Boden war mit edlem Parkett ausgekleidet, das frisch gebohnert anmutete. Sofort fühlte ich mich schuldig, da meine Schuhsohlen feuchte Erde hinterließen.

Durchgänge in Sichtweite führten zu noch mehr Ausstellungskästen. Eine ausladende Treppe aus Stein ging nach oben auf eine Galerie, wo schwere Gemälde die Wände zierten. Dort waren Wandlampen angebracht, die einen warmen Schein verströmten. Ich kam mir vor wie in einem Museum. »Wow.«

Der Hund kommentierte das mit einem »Wuff«.

Alle paar Schritte wuchs einer der Schaukästen in die Höhe; ein Glaskubus auf einem Steinsockel. Ich trat an eine Vitrine heran und betrachtete den Gegenstand im Inneren. Auf einem roten Samtkissen lag eine Drahtgestellbrille. Eines der beiden Gläser war zersprungen, das herausgebrochene Glasstück lag ebenfalls auf dem Kissen. Davor war eine bräunliche Karteikarte mit geschwungenen Tintenlinien beschriftet. »Brille von Julius Robert Oppenheimer.«

Mein Blick glitt zur Seite, wo auf einem identischen Kissen hinter Glas eine Holzpuppe lag. Sie stellte einen Jungen dar, der einfache Stoffkleidung trug; Augen, Mund und rudimentäre Mimik waren eingeritzt worden. Auf dem Kärtchen stand »Mentalpuppe von Grigori Jefimowitsch Rasputin«.

Etwas Dunkles schien den Ausstellungskasten zu umgeben und ich wich instinktiv davor zurück.

War das ein Scherz?

Ich ging durch die Reihen und fand weitere gleichartige Gegenstände, die Personen des öffentlichen Lebens der vergangenen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zugeordnet wurden. Dazwischen jedoch seltsame Konstruktionen aus Holz und Metall, die der modernen Kunst von Händen einer vierjährigen Person glichen. Auf diesen Kärtchen standen lediglich die Fundorte, nichts darüber hinaus.

Möglicherweise war das hier ein Museum für den Geek von Welt, der mittlerweile in die Jahre gekommen war. Es hätte mich nicht gewundert, im nächsten Raum eine Replik der Tardis vorzufinden, was meinen Mitbewohner Harry in einen Freudentaumel versetzt hätte. Die große blaue Telefonzelle, mit der Doctor Who durch Raum und Zeit reiste, war sein ganz persönliches Lieblingsartefakt. Die Fernsehserie begleitete ihn seit seiner Teenagerzeit und das Weihnachtsspecial war längst zu unserer gemeinsamen Tradition geworden.

»Da fragt man sich doch, was in dem Paket wohl eingepackt war«, richtete ich meine Worte an den Hund und lachte.

Die Erwiderung bestand in einer hochgezogenen Augenbraue.

»Du bist hier eindeutig der Snob des Hauses, was?« Ich kraulte ihn hinter dem Ohr.

Immerhin, das typische Schwanzwedeln setzte ein und ich wurde nicht länger angestarrt. In jedem snobistischen Fellknäuel steckte eben doch ein weicher Hundekern.

Etwas krachte zu Boden.

Ich fuhr in die Höhe, jeder meiner Sinne war zum Zerreißen gespannt. Wenn ich ein solches Geräusch in der Vergangenheit gehört hatte, endete es meist mit einem Faustkampf, blauen Flecken und dem hämischen Grinsen der anderen Jungs. Doch was hatte so etwas in einem Museum zu suchen?

Der Hund schoss die Treppe hinauf und ich schloss mich an. Möglicherweise war Mister Bradford gestürzt.

Am oberen Treppenabsatz wandte das Tier sich auf der Galerie nach links, wo zwischen zwei Gemälden eine unscheinbare Tür zu erkennen war. Ich drückte die Klinke hinunter, stürmte hindurch und begriff auf einen Blick, dass es sich hier um private Räumlichkeiten handelte. Eine Couch, ein Schreibtisch, ein Kamin. Im Zentrum rang Mister Bradford gerade mit einer Gestalt, die von oben bis unten in schwarzen Stoff gekleidet war. Der Kopf des Angreifers zuckte herum, ich spürte den Blick auf mir ruhen. Er trug eine weiße Maske, die lediglich die Augen freiließ; doch da war nur Schwärze.

Mister Bradford bot all seine Kraft auf, um den Arm seines Gegners abzublocken. In der rechten Hand hielt dieser ein Messer, mit dem er auf die Kehle des alten Mannes zielte.

Das Paket lag offen am Boden und im Gegensatz zu vorher hatte sich ein Armreif aus Eisen um Mister Bradfords rechtes Handgelenk geschlossen.

Ich stürzte mich auf den Schatten, rammte meine Schulter frontal gegen die Brust des Angreifers. Einer Backsteinwand Hallo zu sagen, musste sich ähnlich anfühlen.

Mein Glück war, dass ich schon recht früh verstanden hatte, dass es zwei wichtige Dinge gab, die für das Leben unabdingbar waren. Muskelkraft und Wissen. Je nachdem, in welcher Lebensphase man sich befand, mit unterschiedlicher Priorisierung. Seit meiner Teenagerzeit besteht meine Morgenroutine daraus, joggen zu gehen. Jeden zweiten Abend sitze ich im Fitnessstudio und stemme Gewichte, einmal die Woche steht ein Selbstverteidigungskurs auf dem Programm.

Der Schatten trat aus und die Schuhsohle donnerte mir gegen die Brust. Ich flog rückwärts durch den Raum, krachte mit dem Rücken auf den Teppichboden und starrte benommen zur Zimmerdecke.

Mister Bradford rannte an mir vorbei, er hatte den Fluchtkurs in Richtung Tür angetreten und warf sich soeben hinaus auf die Galerie. Der Schatten setzte ihm nach, aber ich packte sein Fußgelenk und riss ihn auf diese Art zu Boden. Die Klinge zuckte heran und ging so nah an mir vorbei, dass ich den Luftzug spürte. Der Schatten holte erneut aus, doch zwei Reihen messerscharfer Zähne schlossen sich um seinen Arm. Ein schmerzhaftes Keuchen erklang. Das mit den Schattenaugen mochte ein toller Trick sein, aber unter der Kutte befand sich ein Körper, der Schmerzen verspürte.

»Du hast was gut bei mir, Hund.« Ich rollte mich herum, kam auf die Beine und hechtete ebenfalls zur Tür.

Mit etwas Glück hatte Mister Bradford die Polizei bereits alarmiert. Wir mussten also lediglich durchhalten. Wenn ich die Tür hinter mir schloss, war der Schatten eingesperrt, leider auch der Hund.

Keine Option!

Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn ich war kaum durch die Tür, da warf sich der Angreifer erneut auf mich. Wir taumelten beide in Richtung Geländer und im nächsten Augenblick wurde oben zu unten.

Ich fiel.

Was war das nur für eine beschissene Woche!

Tinte und Blut

Ich prallte auf.

Es mochten etwa vier Meter gewesen sein und ich landete auf meinem Gegner, doch mir wurde die Luft aus den Lungen gepresst, jeder Nerv feuerte Schmerzwellen. Wenigstens lag ich oben und ersparte mir damit einen Schädelbruch und allerlei andere Dinge, die zum unweigerlichen Tod führen.

Ich rollte mich seitlich von meinem menschlichen Landeplatz und betrachtete diesen. Das mehrfache Knacken hatte ich mir nicht nur eingebildet. Der rechte Arm und das linke Bein standen in unnatürlichem Winkel ab. Das Maskengesicht blickte zur Decke. Da die Augen aber nach wie vor schwarz waren, konnte ich nicht erkennen, ob sie blicklos ins Leere starrten. Obwohl ich auch das Geräusch von platzender Haut wahrgenommen hatte, gab es keine Blutlache, die sich irgendwo ausbreitete.

Es reizte mich ja, die Maske abzuziehen und einen Blick auf das Gesicht zu werfen. Doch während ich dalag, stöhnte und diese Woche verfluchte, knackte es. Im ersten Augenblick war ich mir absolut sicher, dass das Geräusch von meinem Körper stammte und es das war; innere Blutung, Schmerzen, Tod. Als ich nach einer zehnsekündigen Ewigkeit begriff, dass ich noch immer da war, atmete ich auf. Was zu einem erschrockenen Keuchen wurde, als ich begriff, woher das Geräusch tatsächlich stammte. Die Knochen des Schattens krachten zurück in ihre ursprüngliche Form, das Bein, der Arm, seine Schulter renkten sich ein, falsche Winkel wurden korrigiert. Es klang, als würde der Reißverschluss eines Fleischsacks wieder geschlossen werden, ein matschiges Geräusch, das ich niemals mehr vergessen würde.

Hatte das Paket seltsam gerochen? War ich irgendwie mit einem Halluzinogen in Berührung gekommen?

Das musste es sein, denn in diesem Augenblick tauchte Rupert Bradford wieder auf. Ich hatte ja gehofft, dass er hier irgendwo eine Waffe für den Fall eines Einbruchs versteckt hatte; Pistole, Elektroschocker, von mir aus einen Regenschirm zum Zuschlagen. Stattdessen hielt er einen Füllfederhalter in die Höhe.

Echt jetzt?

Noch während ich einfach nur starrte, sprang der Schatten wieder auf. An mir besaß er eindeutig weniger Interesse als an Mister Bradford. Ich wollte folgen, doch ein schmerzhafter Stich in meinem Bein ließ mich aus der halb aufgerichteten Position in die Knie brechen.

»Was tun Sie denn da, Mister Bradford?! Verschwinden Sie!«, brüllte ich.

Der Schatten glitt mit gekrümmtem Rücken auf ihn zu, ein Raubtier, das seine Beute erlegen wollte. In der rechten Hand funkelte ein Dolch. Im Gegensatz zum Obergeschoss war hier unten alles in Düsternis getaucht, lediglich die Gaslaterne von draußen warf ihren Lichtschein ins Museum.

Mister Bradford parierte den nächsten Schlag des Angreifers mit dem Füllfederhalter, tauchte unter dem folgenden weg und stach zu. Die Spitze des Schreibgeräts durchdrang Stoff und Haut, Tinte traf auf Blut. Auf das Gesicht des überraschend agilen Mannes trat ein triumphierender Ausdruck.

War ich hier in einem Irrenhaus gelandet?

Neben mir purzelte der Hund die letzten Treppenstufen herab, die er mittlerweile – viel zu schnell – genommen hatte.

»Keine Sorge, Shakespeare«, sagte Mister Bradford. »Die Tinte von Virginia Woolf hat noch jeden Mann erledigt.«

Doch der Schatten schien von der Attacke nicht weiter beeindruckt zu sein.

Shakespeare bellte, das Gesicht von Rupert Bradford verzog sich in stillem Entsetzen und der Dolch des Schattens fuhr durch die Luft. Ein Blitzen, nicht mehr, doch es genügte. Die Klinge durchdrang Weste und Hemd.

»Nein!«, brüllte ich.

Mister Bradford sah an sich herab auf das Heft des Dolches, das aus seiner Brust ragte. Er schien mehr verwirrt als ängstlich.

Dann kippte er um.

Der Schatten blickte in meine Richtung. Ich spürte den mittlerweile vertrauten Blick. Taxierend, lauernd, bösartig. In meinem aktuellen Zustand konnte ich mich kaum gegen ihn verteidigen.

Shakespeare knurrte.

Der Schatten warf sich herum, rannte zum nächstgelegenen Fenster und öffnete es. Mit einem Satz verschwand er in die Nacht. Stille legte sich über das Museum, nur unterbrochen von den schweren Atemzügen Rupert Bradfords.

Ich robbte zu ihm hinüber, meinen Beinen vertraute ich momentan nicht. Auf dem Weg zog ich mein Smartphone hervor und betätigte den Notrufknopf. Mister Bradford hatte vermutlich von hier unten schon einen Anruf getätigt, aber ich musste denen mitteilen, dass hier Sanitäter benötigt wurden, ein Notarzt und obendrein war ein Einbrecher auf der Flucht.

Am anderen Ende wurde abgenommen. »Santa Maria Pizza«, erklang eine männliche Stimme.

»Was?« Ich blickte auf das Display.

Tatsächlich, ich war mit einem Restaurant verbunden worden. Das letzte Update musste irgendeinen Bug in das Betriebssystem des Gerätes eingespielt haben. In diesem Fall einen lebensbedrohlichen. Ich beendete die Verbindung, robbte weiter und erreichte Bradford.

»Es wird alles gut.« Ein dämlicher Satz für Außenstehende, doch nachdem ich selbst bereits einmal im Urlaub nach einem Quad-Unfall auf der Straße gelegen hatte, wusste ich, dass die Worte halfen.

Normalerweise.

»Nonsens«, erwiderte Mister Bradford. »Diese Klinge wird meinen Körper erst wieder verlassen, wenn mein Herz nicht mehr schlägt. Die Blutung ist nicht zu stoppen.«

»Ärzte vollbringen Wunder. Bleiben Sie einfach liegen.«

»Ich fürchte, da stecken wir in einem Dilemma«, erklärte er. »Denn exakt das kann ich keinesfalls tun. Können Sie gehen?«

»Ich?«

»Oh, Sie sind verwirrt. Der Sturz?«

»Ich?« So eine Unverschämtheit. »Nein, ich bin nicht verwirrt. Aber Sie.«

»Mitnichten, ich sterbe lediglich. Helfen Sie mir auf.«

»Auf gar keinen Fall!«

»Wollen Sie einem sterbenden Mann den letzten Wunsch abschlagen?«

Versuchte dieser Pseudolord gerade, mir ein schlechtes Gewissen zu machen? »Ja! Nein. Warum wollen Sie aufstehen? Die Polizei ist doch bestimmt gleich da und der Krankenwagen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Haben Sie die denn nicht angerufen?«

»Das hätte nichts gebracht«, kam die trockene Antwort.

Ab diesem Punkt wollte ich ihn durchschütteln, aber er war ja schon fast tot. Kurzerhand tippte ich auf meinem Smartphone die Nummer des Notrufs ein.

»Pilgrims Pizza«, erklang die Stimme einer Frau.

»Warum werde ich ständig mit einer Pizzeria verbunden!«, blaffte ich und legte auf.

»Die Technik wird durch die ganzen Artefakte gestört«, erklärte Mister Bradford, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. »Bei der Sache mit der Pizza verdächtige ich meinen Vorgänger, er hat wohl zu oft bei einem Pizzadienst angerufen. Von der Hauptleitung aus, die funktioniert. Das Echo hat sich dann festgesetzt und seitdem … nun ja.«

»Sie meinen das Festnetz? Sie haben eines?«, brachte ich seine Worte auf den lebenswichtigen Punkt.

»Korrekt. Und genau dort bringen Sie mich jetzt hin.«

»Ich sollte das allein machen«, entgegnete ich. »Geht schneller.«

»Es ist mit einem Code geschützt. Hören Sie auf, mit mir zu diskutieren, ich sterbe hier.«

»Der Punkt geht an Sie.« Ich stützte mich mit meinen Händen ab und kam endlich in die Höhe. Gelenke knackten, diverse Stellen schmerzten, aber ich stand.

Mister Bradford erwies sich als überraschend zäh. Er kam unter Stöhnen ebenfalls auf die Beine und ließ sich von mir stützen. Seine Weste war längst blutgetränkt, die Wunde pulsierte unaufhörlich.

»Wo ist der nächste Apparat?«, fragte ich.

»Dort vorne.« Er deutete auf eine Holztür, die mir bisher nicht aufgefallen war.

Vom Hauptraum gingen insgesamt vier Durchgänge in andere Bereiche ab. Über einem davon hing ein Schild, auf dem Archiv stand, über einem anderen Index. Unser Ziel war jedoch unbeschriftet.

Mister Bradfords Gewicht jagte bei jedem Schritt Schmerzwellen durch meinen Körper, doch ich schwieg. Shakespeare trottete schweigend neben uns her, winselte nicht einmal. Ob ihm klar war, dass sein Herrchen auf der Schwelle des Todes stand?

»Ich hätte der Pizzeria sagen sollen, dass sie den Notruf kontaktieren müssen«, sagte ich.

»Zweifellos eine famose Idee, die allerdings für einen Streich gehalten worden wäre«, kommentierte Mister Bradford. »Halt, nicht die Klinke anfassen.«

»Warum? Vergiftet?« Was als Scherz gemeint war. Der Blick, der mir erwidert wurde, ließ mich meine Hand jedoch ruckartig zurückziehen. »Was ist das hier für ein Laden?«

»Ich dachte wirklich, das hätten Sie mittlerweile begriffen«, entgegnete Mister Bradford. »Ein Museum.«

»Sie sind so lustig.«

»Das war nicht meine Absicht.«

»Und ironieresistent«, sagte ich nachdrücklich, während er die Klinke drückte und die Tür öffnete.

Im Inneren ging es ein paar Treppenstufen hinab in einen weiten Raum. Steinfragmente unterschiedlicher Größe wuchsen aus dem Boden, einige glatt, andere schartig. Das Ganze erweckte den Eindruck eines alten Tempels, dessen Ruine hierhergeschafft worden war. Im Zentrum stand ein einfacher Holztisch, darauf eine Schale mit einer schwarzen Flüssigkeit, ein Bogen Pergament und ein Federkiel. Letzterer bestand aus einer schwarzen Feder, die in einen silbernen Schaft mit Ziselierung überging.

Bis ich die Wahrheit erkannt hatte, waren wir schon am Tisch und Mister Bradford ließ sich auf den Stuhl sinken.

»Hier ist kein Telefon«, sagte ich.

»Das benötigen wir auch nicht.«

»Eine Brieftaube sehe ich ebenfalls nirgends.«

Er seufzte schwer. »Diese Situation ist alles andere als gewöhnlich.«

»Ach?«

»Normalerweise durchlaufen die Nachfolger eine Ausbildung, die viele Jahre währt«, sprach er weiter. »Bedauerlicherweise haben wir keine Zeit mehr. Sehen Sie, die Tür, durch die wir gegangen sind, lässt sich nur einmal von jedem Siegelwahrer öffnen. Wenn der Tod näher rückt, niemals davor. Wie war gleich Ihr Name?«

»Liam«, erwiderte ich im Reflex. »Liam Relish.«

Mister Bradford tunkte den Federkiel in die Schale und schrieb auf das Pergament. Das Kratzen hallte überlaut durch die Ruine. In einem Anflug von Panik erkannte ich, dass er meinen Namen notierte. »Was machen Sie da?«

Er räusperte sich. »Verzeihen Sie mir.«

»Wofür? Aua!« Ich starrte verdattert auf meine Hand. »Sie haben mir in den Finger gestochen.«

»Es ist stets ein Austausch. Tinte zu Blut, dafür Blut zu Tinte.«

Mit einer schwungvollen Bewegung setzte er seine Signatur auf das Papier und ich hätte schwören können, dass die Farbe nun einen Rotstich besaß.

»Seien Sie so nett und legen das Pergament auf diesen schartigen Stein, der wie ein Altar aussieht.«

Ich hatte mir den Finger in den Mund geschoben und lutschte daran. Er hatte mich gestochen! Mit einer antiken Füllerfeder. Das konnte Infektionen geben, von denen ich nicht mal wusste, dass die Erreger existierten. »Sie können mich mal! Ich gehe jetzt zurück und rufe die Polizei, den Notarzt und notfalls auch den Pizzaboten.«

»Und Ihre Worte ergeben für Sie vermutlich Sinn.« Er tätschelte meinen Arm. »Aber legen Sie zuerst das Pergament dort vorne ab.«

Ich riss ihm den Fetzen aus den Fingern und knallte ihn auf den Altar. »Zufrieden?«

»Oh ja.« Bradford lächelte traurig. »Und noch einmal, es tut mir leid.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, spürte ich ein Brennen auf meinem rechten Unterarm, als steche jemand mit einem Brandeisen auf mich ein. Gleichzeitig explodierte mein Schädel. Die Umgebung verging in Schwärze.

Sie sind nicht der Pizzabote

Mein Schädel war nicht explodiert, fühlte sich aber so an. Ich blinzelte, und selbst das schmerzte höllisch. Nur langsam ebbte das Gefühl von Metall in meinem Kopf und Feuer auf der Haut wieder ab.

Wieso befand sich die Decke so weit entfernt?

Ich zuckte zusammen. Das hier waren nicht die Katakomben, es war der Hauptraum des Privatmuseums im Erdgeschoss. Aber wie kam ich hierher? Ein Hund jaulte neben mir.

»Shakespeare.« Ich starrte ihn an. Er starrte zurück.

Sein Blick war an mir vorbei gerichtet, und als ich den Kopf drehte, robbte ich mit einem Aufschrei rücklings davon. Neben mir lag Rupert Bradford. Unter ihm hatte sich eine Blutlache ausgebreitet, die Augen hatte er geschlossen. Zwar gab es einen Riss in der Weste, wo der Dolch sie durchstoßen hatte, doch die Waffe selbst war verschwunden. Er musste sie am Ende herausgezogen und mich dann hierhergeschleift haben.

Mein Körper begann zu zittern, Tränen rannen mir über die Wange. Ein Mensch war gestorben, und ich hatte es nicht verhindert.

Shakespeare bellte.

»Richtig, die Polizei.« Ich zog mein Smartphone hervor, schob es aber direkt wieder in die Tasche. »Wo ist das verdammte Festnetztelefon?!«

Der Hund sprang auf und trabte davon.

Ich unterstellte an diesem Punkt, dass er mich verstanden hatte und mir den Weg weisen wollte. Möglicherweise stand ich auch gleich vor der Futterschüssel und bekam einen fordernden Blick ab, alles war möglich.

Wie sich herausstellte, gab es tatsächlich ein Telefon hier im Erdgeschoss. Es war eines jener altmodischen Wählscheibentelefone aus Bakelit; schwarz und klobig. Es stand auf einem Holztischchen in einem Nebenraum. Ich wählte also die Nummer des Notrufs und endlich – endlich! – wurde ich korrekt verbunden.

Mit zittriger Stimme schilderte ich dem Mann am anderen Ende der Leitung, was hier vorgefallen war. Es muss ein wenig verrückt geklungen haben, aber die Adresse bekam ich hin und die Information, dass jemand gestorben war. Genug Stichworte, um alle möglichen Personen in Hektik zu versetzen.

Sechs Minuten später erklang der weiche Klang der Klingel. Vor der Tür standen zwei Männer und eine Frau in den Uniformen der Met, dahinter Sanitäter in den Uniformen des NHS. Ich nahm kaum noch richtig wahr, mit welchen Namen sie sich vorstellten oder was ich erwiderte. Alle eilten an mir vorbei, Blaulicht durchzuckte die Nacht. Allerdings waren die Autos nicht direkt vor dem Haus geparkt worden, es gab ja nur den schmalen Durchgang.

Ich kehrte zurück in den Hauptraum und setzte mich auf die Treppe, die nach oben führte. Shakespeare kam zu mir und beobachtete argwöhnisch all die Menschen. Ich streichelte ihn im Reflex.

Die Spurensicherung tauchte auf, sperrte ab, ließ niemanden mehr ohne entsprechende Schutzkleidung in den Bereich des Tatorts. Irgendwer stellte mir ein paar Fragen, jemand anderes kam und nahm Fingerabdrücke ab. Ein Mann in meinem Alter ging mit mir zur Seite, wo ein Areal freigegeben worden war. Hier sollte ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehen, ich bekam ersatzweise eine unifarbene Jogginghose und einen Pulli, mit der Bitte, beides gewaschen zurückzugeben. Die Spurensicherung hatte zu diesem Zeitpunkt bereits im Obergeschoss alles abgesperrt, nahm auch dort Spuren und machte Fotos. Die Stelle, an der ich auf dem Boden aufgekommen war, wurde ebenfalls genau untersucht.

Irgendwann stand eine Frau vor mir. Sie war höchstens Anfang dreißig, trug das dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und wirkte in ihren Jeans, Boots und dem Pulli viel zu alltäglich, um an einem Tatort zu stehen. Sie reichte mir einen Tee. »Den Abend haben wir uns alle anders vorgestellt, was?«

Ich nickte und trank.

»Sie sind da wohl in etwas hineingeraten, Mister Relish. Das Opfer …«

»Bradford. Rupert Bradford.«

»Sie kannten sich?« Ihre Braue wanderte in die Höhe.

»Sein Name stand auf dem Paket, das ich geliefert habe«, entgegnete ich. »Er war sehr freundlich.«

»Übergibt man Pakete nicht an der Tür?«

»Er hat mich hineingebeten.« Ich erklärte die Situation mit dem Smartphone, der elektronischen Unterschrift und die folgenden Ereignisse.

»Hm.«

Ich runzelte die Stirn und mir wurde erstmals bewusst, in welcher Situation ich mich gerade befand. »Glauben Sie mir etwa nicht? Werde ich verdächtigt?!« Panik erfasste mich. Der Gedanke, irgendwo eingesperrt zu werden, war mein persönlicher Albtraum.

»Mister Relish …«

»Liam ist okay.« Man wollte ja Nähe aufbauen.

»Mister Relish«, wiederholte die Frau. »Ich bin Detective Inspector Brown. Mittlerweile konnten wir uns einen Überblick verschaffen. Sehen Sie, es gibt im ganzen Haus keinerlei Spuren einer weiteren Person, nur von Ihnen und Mister Bradford. Keine anderen Fasern, kein Blut, keine Fingerabdrücke.«

»Er war vollkommen in Schwarz gekleidet«, erklärte ich.

Sie ignorierte meinen Einwurf und sprach weiter: »Dafür haben wir im Obergeschoss das Paket gefunden, das Sie hierhergebracht haben.« Sie hielt meinen Blick fest. »Es ist leer, doch die Aussparung darin deutet auf den Armreif hin, der auf ziemlich grausame Weise an Mister Bradford befestigt worden ist. Auf der Innenseite befinden sich Eisendornen, die ihm ins Fleisch geschnitten haben.«

Gemessen an dem Gewicht, das ich hatte tragen müssen, kam das hin. »Ich hatte keine Ahnung, was sich im Paket befand.«

»Es finden sich Blutspuren von Mister Bradford im Haus, er wurde eindeutig erstochen.« Sie seufzte schwer. »Aber die Tatwaffe ist leider nicht auffindbar. Die Behauptung, dass ein Schwerverletzter Sie durch das halbe Erdgeschoss geschleift haben soll, ergibt auch wenig Sinn. Außerdem haben wir hier unten keinen Raum gefunden, der auf Ihre Beschreibung mit den Ruinen zutrifft.«

Hatte ich das alles erzählt? Ich konnte mich nur noch schemenhaft erinnern, der Schock hatte ganz schön zugeschlagen. »Ich verstehe das alles nicht.«

»Da sind wir bereits zwei.« DI Brown trank von ihrem Tee und betrachtete mich eingehend, so als wartete sie nur darauf, dass ich zusammenbrach und gestand.

In Sichtweite verließ gerade ein Mann mit Klarsichtbeutel das Erdgeschoss und trat hinaus in die Nacht. Im Inneren des Beutels erkannte ich den Füllfederhalter, mit dem Mister Bradford gegen den Schatten gekämpft hatte. Was hatte er gerufen? Die Tinte von Virginia Woolf … Das Ganze kam mir immer abstruser vor.

»Nehmen Sie aktuell irgendwelche Medikamente?«, fragte DI Brown. Konnte sie Gedanken lesen?

»Nein«, entgegnete ich. »Ich bin nicht high, wenn Sie das meinen.«

»Wollte ich nicht unterstellen, aber wo Sie es schon mal ansprechen …«

»Ich nehme nichts, grundsätzlich. Trinke höchstens mal ein Bier und war noch nie betrunken.« Warum das so war, ging sie nichts an. Selbst das schien sie mir aber nicht zu glauben, wie ihr skeptischer Blick vermuten ließ. »Kann ich jetzt gehen?«

Sie taxierte mich von oben bis unten, wirkte nachdenklich, als wäge sie gerade ab, ob ein Richter die Untersuchungshaft genehmigen würde.

Das durfte doch alles nicht wahr sein.

Sie nickte schließlich und reichte mir eine Visitenkarte. »Verlassen Sie nicht die Stadt, und falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich.«

»Klar.« Ich verstaute das Ding in der Tasche der Jogginghose und wandte mich in Richtung Ausgang. »Was ist mit Shakespeare?«

Ich bin mir sicher, dass DI Brown in diesem Moment darüber nachdachte, mich auf direktem Weg in eine Klinik zu bringen. »Der ist tot. Schon länger.«

»Haha. Ich spreche von dem Hund!«

Sie runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«

Ich schaute mich um. Shakespeare war nirgends zu sehen.

»Aber Sie müssen ihn doch gesehen haben«, stotterte ich herum.

»Wenn uns ein Hund über den Weg laufen sollte, kümmern wir uns darum, dass er versorgt wird.« Sie lächelte mich an, jetzt mit einem Ticken mehr Freundlichkeit. »Versprochen.«

Damit war ich entlassen.

Ich verließ das Privatmuseum, schob mein Fahrrad durch die Gasse, wobei ich Männern und Frauen der Spurensicherung ausweichen musste, die schwer aussehende Metallkoffer in Richtung Herrenhaus trugen, und fuhr schließlich in die Nacht davon.

Rupert Bradford war tot und DI Brown verdächtigte eindeutig mich, der Täter zu sein. Konnte diese Woche noch schlimmer werden?

Überraschungsbesuch

Erst als ich die Tür hinter mir ins Schloss drückte, fielen Stress und Hektik von mir ab. Keine Bremslichter im strömenden Regen mehr, keine Silhouetten unter Regenschirmen, die durch die Nacht huschten.

Keine blutige Weste.

Ich streifte meine Sneaker ab und hängte die Jacke auf. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und lief in Schlieren über das Glas.

Das Appartement war nicht größer als ein Schuhkarton, doch in meinen eigenen vier Wänden fühlte ich mich umgehend sicher. Besagter Schuhkarton bestand aus dem Hauptraum, den wir als Wohnzimmer nutzten; eine Küche ging davon ab, in der man sich gerade so um die eigene Achse drehen konnte. Hinzu kamen zwei Schlafzimmer, eines für mich, eines für meinen besten Freund Harry, und ein Bad. Da seine Tür geschlossen war, saß er vermutlich vor dem PC, trug Kopfhörer und zockte mit seinen Freunden irgendein Game.

Ich verschwand in meinem Zimmer und schlüpfte in eine bequeme Jogginghose und einen Hoodie. Die Kleidung der Spurensicherung warf ich zu Boden.

Ich holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und zog mich endgültig zurück. Normalerweise war der Standardablauf ein gemeinsames Bier mit Harry, bei dem wir unsere Tagesrouten verglichen und herausfanden, wer die größere Strecke zurückgelegt hatte. Der Verlierer musste den Kühlschrank mit Flaschennachschub füllen.

Heute nicht.

Ich tippte mit dem Finger auf den Smartspeaker und die Standardeinstellung ließ meine Lieblingsplaylist ablaufen. Aus dem Fenster blickte ich auf das nächtliche Whitechapel. Die Straßen waren wie leer gefegt. Normalerweise waren selbst zu dieser Zeit noch Menschen unterwegs, die im Schein der Laternen durch die Nacht eilten. Manchmal nahm ich mir meinen Tee, blickte hinaus und überlegte, zu welchem Zuhause sie unterwegs waren. Welche Leben sie führten. Waren sie glücklich?

Die Fassaden in Sichtweite waren eher heruntergekommen, der Putz bröckelte ab oder Graffitis »verschönerten« sie. Georgianische Architektur suchte man vergebens.

Ich wandte mich wieder meinem Zimmer zu und atmete langsam ein und aus.

Mein altersschwacher Laptop lag auf einem dreibeinigen Hocker und war mit der Steckdose verbunden. Auf dem Schreibtisch wäre kein Platz gewesen, der war nämlich randvoll mit Notizen, Stiften, einem Teller … Ich musste dringend aufräumen.

Damit Harry mich nicht störte, löschte ich das Licht. Mein Zimmer wurde nur noch vom Schein der Straßenlaternen erhellt. Ich brauchte Ruhe.

Ein Mensch war gestorben!

Im Verlauf meines Erwachsenwerdens hatte ich mehr als einen Faustkampf bestritten, das brachte es so mit sich, wenn man ohne Eltern in einem Waisenhaus aufwuchs. Da wurde der Kampf der anderen Jungs um eine Zigarette schon mal mit Gewalt ausgetragen, oder Eifersucht führte zu einer blutigen Lippe. Man schloss nur wenige Freundschaften, jeder konnte einen verraten. Die meisten Gesichter der Jungs von damals waren längst im Nebel des Vergessens verschwunden. Doch den wichtigsten Kampf von allen, den um das Leben eines anderen Menschen, hatte ich verloren. Rupert Bradford war vor meinen Augen getötet worden, erstochen.

Es war eine Sache, von so etwas zu lesen, es als Teil eines Films zu sehen oder davon zu hören. Das Erlebnis war in seiner endgültigen Wahrhaftigkeit jedoch so grausam, dass keine Worte es einfangen konnten.

Ein Mensch mit Träumen, Bedürfnissen, einem Leben war von einer anderen Person all dessen beraubt worden. Und wozu? Für ein paar Ausstellungsstücke? Hätte irgendeine Diebesbande das Museum ausgeräumt, wenn ich nicht da gewesen wäre? Selbst unter Sammlern konnte das Zeug doch nicht so viel wert sein. Nichts konnte das.

Von meiner Playlist erklang Jack Harlow mit Lovin On Me und erfüllte das Zimmer mit vertrauten Klängen. Das Gefühl, das sich normalerweise damit einstellte, blieb jedoch aus.

Die umgebende Wärme und das Prasseln des Regens als Hintergrundgeräusch zur Musik ließen mich trotzdem langsam wegdämmern, der Stress durch die Erlebnisse forderte seinen Tribut. Ich rollte zur Seite, umschlang mein Kissen und kratzte mir über den juckenden Unterarm.

 

Ich sank in die Wärme und saß im nächsten Augenblick in einem Tempel an einem Holztisch. Mir gegenüber hatte Shakespeare Platz genommen, bellte einmal laut auf und schlabberte Tee aus einer Schüssel. Vor mir stand ebenfalls eine Tasse, doch im Inneren befand sich Tinte, die erst schwarz war, sich aber bei genauerer Betrachtung rot verfärbte. Rupert Bradford trat soeben mit einem beschrifteten Pergament an einen schartigen Stein heran und legte es ab. Eine Stichflamme loderte auf, das Papier wurde zu weißem Rauch. »Hervorragend, Sie wurden akzeptiert, Liam. Obgleich wir uns in einer prekären Situation befinden, war das nicht selbstverständlich.«

»Aber ich möchte ein Biskuit.« Wieso verstand er das nicht?

»Natürlich. Ich nehme einen Sherry.«

Daraufhin kam ein Schatten herein, der eine Butleruniform trug und uns das Gewünschte servierte.

»Nun nimmt alles seinen Gang.«

»Was meinen Sie damit?«, wollte ich wissen. »Mister Bradford, das ist ein …«

»Notfall«, unterbrach er. »Ich fürchte, was nun weiter geschieht, kann keiner von uns aufhalten. Glauben Sie an Magie?«

Shakespeare schlug mit der Tatze auf den Tisch.

»Magie?«, fragte ich. »Nur in Büchern.«

Rupert nickte, die Lippen zu einem Schmunzeln verzogen. Auf seinem Hemd bildete sich ein größer werdender Blutfleck. »So dachte ich einst ebenfalls.«

Shakespeare knallte die Tatze erneut auf den Tisch und bellte: »Aufwachen.«

 

Ich schoss in die Höhe.

Mein Smartspeaker spielte Now and Then von den Beatles und Tageslicht stach mir ins Gesicht. Im Schlaf hatte ich das Kissen aus dem Bett gekickt und die Decke hinterhergeworfen.

Wieder erklang das Klopfen. »Liam?«

»Bin wach!«, rief ich.

»Du hast verschlafen«, kam es dumpf durch die Tür.

Ich schnappte mir mein Smartphone und fluchte. Akku leer. Ich knallte es auf die Ladestation und blaffte in Richtung Smartspeaker: »Hey, Tardis, nenn mir die Uhrzeit.«

Bis heute hatte ich keine Ahnung, wie Harry das gelungen war. Als absolutes IT-Genie streifte er allnächtlich nicht nur durch Gaming-Welten, sondern auch das Dark-Web. Er gehörte in die Rubrik »White-Hat«-Hacker, also zu jenen, die ihr Können für Gutes einsetzten. Er spürte Schlupflöcher in Firewalls auf und meldete diese dann Firmen oder suchte für die großen Softwarehersteller nach Zero-Day-Exploits, also Sicherheitslücken, die mit einem Update gefixt werden konnten. Das brachte ihm hin und wieder recht hohe Beträge ein, doch er war die Art von Mensch, die mit einer geregelten Struktur nicht umgehen konnte. Deshalb musste er als Fahrradkurier die Gehaltslücken füllen. Aus Spaß hatte er den Chip meines Smartspeakers ausgelesen und den Aktivierungssatz in Gedenken an seine Lieblingsserie verändert. Ich bekam also die Uhrzeit genannt.

9:40 Uhr.

Verdammt!

Ich stürmte zur Tür, meine Füße verhedderten sich in der Decke und ich stolperte nach vorne, krachte gegen mein Ziel. Schmerzwellen rasten durch die Stelle meines Körpers, mit der ich gestern auf dem Boden des Museums aufgeprallt war.

»Liam?« Harrys Stimme klang besorgt.

Ich entriegelte die Tür und trat ins Wohnzimmer. »Morgen.«

»What the Fu… Was ist denn mit dir passiert?« Harry ließ die Schale mit seinem morgendlichen Matcha sinken und musterte mich von oben bis unten.

Harry war das Paradebild eines Iren: rotes Haar, grüne Augen und eine helle Haut, was ihn im Sommer regelmäßig zum Fluchen brachte. Die Sommersprossen verliehen ihm einen beständig jugendlichen Touch, den er mit einem Bart neutralisieren wollte. Zwar verbrachte er eine Menge Zeit am Rechner, aber mindestens ebenso viel auf dem Fahrrad oder im Ruderboot. Das hatte ihm eine bullig muskulöse Statur eingebracht.

Meine nächste Kurierschicht begann um zehn Uhr. Während ich mir also hektisch ein Rührei zubereitete, berichtete ich stichwortartig, was gestern geschehen war. Mit der ersten Gabel kam der Heißhunger. Nachdem ich den Teller geleert hatte, schickte Harry mich ins Bad. Eine heiße Dusche später tupfte ich Sportcreme gegen die geschwollenen Stellen auf meiner Haut. Der Sturz hatte im Nachgang doch für etliche Hämatome auf meiner Schulter und Hüfte gesorgt. Auch meine linke Wange wies Schrammen auf. Der Spiegel verriet mir, dass es mehr als eine Schwellung gab, die sich violett verfärbte.

Nicht zu vergessen mein rechter Unterarm. Es gab diese nebulöse Erinnerung an den Raum mit den Steinen. Rupert hatte etwas auf ein Papier geschrieben und mein Unterarm hatte zu brennen begonnen. Aber da war nichts zu sehen.

Ich putzte meine Zähne, schlüpfte in frische Unterwäsche, Jeans und Hoodie. Das Haar konnte an der Luft trocknen.

»Ich habe Josh angerufen«, verkündete Harry. »Du hast heute frei und er wünscht dir gute Besserung.«

»Du …«

»Fang gar nicht erst an, du kannst nicht einen Tag nach so einem Ereignis einfach in die Arbeit spazieren.« Er schaufelte mehr Rührei und frisch gebratene Würstchen auf meinen Teller. »Ab auf die Couch. Essen und verarbeiten. Sonst hast du am Ende noch ein Trauma und wirst von irgendwelchen Albträumen geplagt.«

Wieso kam mir in diesem Augenblick ein Tee schlürfender Shakespeare in den Sinn?

»Denkst du, die halten mich wirklich für einen Mörder?«, fragte ich leise.

Versagt zu haben, war eine Sache, aber dass die Polizei mich für einen Schuldigen hielt, drehte mir den Magen um.

»Diese Detective Brown hat dir bestimmt auf einen Blick angesehen, dass du keiner Fliege etwas zuleide tun kannst.« Harry sank neben mich auf die Couch und tätschelte meine Schulter.

»Detective Inspector«, korrigierte ich instinktiv.

»Und dass du ein Streber bist, hat sie garantiert auch gleich erkannt.«

Ich verpasste ihm einen Rippenstoß.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich von meinem Essen aufblicken. Harry schickte mir einen bedeutungsschweren Blick. »Sie will bestimmt deine Aussage noch mal aufnehmen. Schockfrei.« Er sprang auf und öffnete.

Ein älterer Herr stand im Türrahmen, einen Hut samt Aktentasche in der einen Hand, die andere erhoben, um erneut zu klopfen. »Guten Morgen. Verzeihen Sie mein überraschendes Eintreffen, doch Sie waren telefonisch nicht zu erreichen. Mister Liam Relish?«

Harry deutete in meine Richtung. »Er.«

»Mein Name ist Irwin Hawk von Irwin Hawk Solicitors«, stellte er sich vor. »Wir verwalten den Nachlass von Rupert Bradford. Dürfte ich eintreten?«

Ich war zu verblüfft, als dass ich hätte antworten können.

Harry weniger. »Klar, rein mit Ihnen.«

Irwin Hawk trat gemessenen Schrittes ein.

Und mein Leben veränderte sich für immer.

Frühstück mit einem Solicitor

Ein Donnerstag

 

Der Blick, mit dem Irwin Hawk unser Wohn- und Esszimmer begutachtete, erinnerte mich an Shakespeare. Dass der Anwalt kein Desinfektionsspray aus seiner Aktentasche zog, um den Raum erst einmal zu säubern, war ein Wunder.

»Möchten Sie etwas trinken?«, besann sich Harry seiner Manieren.

»Danke.«

»Danke ja oder Danke nein?«

»Kein Getränk für mich«, präzisierte Irwin Hawk.

Ich nahm seinen Mantel entgegen, die Schuhe ließ er an. Auf dem Weg zur Couch achtete Mister Hawk sorgfältig darauf, nichts zu berühren. Normalerweise hätte mich diese Art von snobistischem Verhalten geärgert, nicht jedoch heute.

Irgendwie saßen wir schließlich alle gemeinsam am Couchtisch.

»Mein Beileid für Ihren Verlust«, begann Mister Hawk.

»Ich verstehe nicht.«

»Der Tod von Rupert Bradford, einem geschätzten Mandanten der Kanzlei«, sprach der Anwalt weiter. »Wir sind mit seinem Nachlass betraut, wie es auch bereits bei seinen Vorgängern der Fall war.«

»Sterben Museumswärter so häufig?«, platzte es aus Harry heraus.

Die Stirn von Mister Hawk warf für wenige Sekunden Runzeln, dann saß die Maske der Professionalität wieder perfekt. »Unsere Kanzlei existiert bereits seit mehreren Generationen. Aber mit diesen Details möchte ich Sie nicht behelligen. Für den Fall seines Ablebens hat Mister Bradford klare Anweisungen hinterlegt.«

»Bitte, behelligen Sie«, sagte Harry.

Ich räusperte mich und warf ihm einen »Hör-auf-damit«-Blick zu. »Was hat das mit mir zu tun?«

Das brachte Mister Hawk nun tatsächlich aus dem Konzept. »Sie sind der Erbe.«

»Ich bin …« Stille. »Das ist unmöglich. Ich habe Mister Bradford gestern zum ersten Mal in meinem Leben getroffen. Minuten später war er tot. Das kann man wohl kaum eine innige Freundschaft nennen.«

Harry schürzte die Lippen. »Vielleicht war er irgendwie mit dir verwandt?«

Ich wollte die Worte rundheraus zurückweisen. Wäre das möglich? In der Zeit im Waisenhaus hatte man mir erklärt, dass meine Eltern tot seien. Andere Verwandte gab es nicht. Oder doch?

»Möglicherweise gibt das Testament von Mister Bradford Aufschluss.« Irwin Hawk zog eine Mappe aus der Aktentasche. »Ich werde es nun verlesen.« Er öffnete sie, betrachtete das enthaltene Papier und räusperte sich.

Harry und ich lauschten gebannt.

»Ich, Rupert Thaddeus Bradford, vermache meinen gesamten irdischen Besitz meinem treuen Schüler Liam Relish, den ich nun seit etlichen Jahren ausbilde. Er ist dazu bestimmt, mein Nachfolger zu werden und das Museum hauptverantwortlich zu führen. Ihm vertraue ich die wertvollsten Schätze an, die über viele Generationen gesammelt wurden. Neben dem Grundstück und dem Gebäude erhält Mister Relish eine monatliche Auszahlung aus dem Museumsfonds in Höhe von viertausend Pfund. Er wird das Museum beschützen und allen Aufgaben eines Kurators nachkommen, wie sie im Manifest festgehalten sind. Voraussetzung für die Annahme des Erbes ist, dass er innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden die Räumlichkeiten bezieht. Die Jahre des Dienstes waren ein Privileg. Gezeichnet, Rupert Thaddeus Bradford.« Mister Hawk sah auf. »Haben Sie Fragen?«

»Schüler?«, fragte ich fassungslos.

»Viertausend Pfund?!« Harry klang genauso, wenn auch aus anderem Grund.

»Mister Bradford hat Sie und Ihre Arbeit wohl sehr geschätzt«, erklärte mir Mister Hawk.

»Meine Arbeit!«, fuhr ich auf. »Ich bin Fahrradkurier! Und dummerweise habe ich das Paket gebracht, durch das er gestorben ist. Da glaube ich kaum, dass er mich oder gar meine Arbeit geschätzt hat!«

Harry tätschelte meinen Arm. »Wir meditieren nachher und dann trinkst du Matcha. Oder Bier.«

»Ich kann Ihnen lediglich das sagen, was im Testament und den Unterlagen steht«, erklärte Mister Hawk. »Ich habe das mehrfach geprüft. Es ist Ihre Anschrift, Ihr Name, Ihr Geburtsdatum. Alles hat seine Richtigkeit.«

»Ich kann das auf keinen Fall annehmen«, flüsterte ich. »Das käme mir schäbig vor.« Mein rechter Unterarm begann zu jucken. Ich kratzte die Stelle durch den Stoff.

»Mister Relish«, sagte der Solicitor. »Ich weiß nicht, was hier vorgefallen ist, doch Sie wirken auf mich wie ein Mann, der erschüttert ist vom Tod eines guten Freundes. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Niemand zwingt Sie dazu, das Erbe anzutreten.«

»Was geschieht, wenn ich mich weigere?«

Der Anwalt atmete schwer aus. »In diesem Fall wurden weitere Instruktionen hinterlegt, die ich allerdings nicht mit Ihnen teilen darf.« Er erhob sich und verdeutlichte damit, dass das Ende des Gesprächs erreicht war. »Sie haben achtundvierzig Stunden, um die genannten Räumlichkeiten zu beziehen. Tun Sie dies und lassen Sie es mich wissen, dann haben Sie das Erbe offiziell angetreten.« Er beförderte ein weiteres Kuvert hervor, das deutlich ausgebeult war, und legte es auf den Tisch.

Harry begleitete ihn hinaus, während ich auf der Couch sitzen blieb. Erst das Zuschlagen der Eingangstür holte mich in die Realität zurück.

»Soll ich für dich anrufen und kündigen?«, fragte Harry. »Du musst nie wieder Fahrradkurier spielen.«

»Ich kann das nicht annehmen.«

»Liam, Liam, Liam.« Harry warf sich neben mich auf die Couch. »Du kannst. Und du musst. Einem Toten verweigert man nicht den letzten Wunsch.«

Unweigerlich stiegen die Bilder in meiner Erinnerung empor. Mein Erwachen, der traurige Blick von Shakespeare. Sein Herrchen Rupert Bradford, der tot neben mir lag. »Er hat mich an diesem Abend kennengelernt und ist kurz darauf gestorben. Wie kann mein Name in den Unterlagen bei Irwin Hawk Solicitors stehen? In einem handgeschriebenen Testament – ich habe die Schrift gesehen.«

»Tja, das ist ein Rätsel«, gab Harry zu, griff nach dem ausgebeulten Kuvert und riss es auf. Schlüssel plumpsten in seine Handfläche. »Ich finde, du solltest deinem besten Freund den Ort des Geschehens zeigen.«

Ich barg mein Gesicht in den Händen. Detective Inspector Brown hatte davon gesprochen, dass die Tür nicht gefunden worden war. Jene, durch die ich mit Mister Bradford in den Raum gegangen war, in dem er mir mit der Füllerfeder in den Finger gestochen hatte. »Normalerweise wird ein Nachfolger jahrelang ausgebildet.«

»Was?«

»Irgend so etwas hat er gesagt. Und dann hat er meinen Namen auf dieses Pergament geschrieben.« Wieder juckte die Stelle auf meinem Unterarm. »Verdammt noch mal!« Ich schob den Ärmel in die Höhe.

Darunter kam ein Tattoo zum Vorschein, das vorhin im Bad nicht da gewesen war. Eine liegende Acht, von der Strahlen in alle Richtungen gingen und in unterschiedlichen Symbolen endeten. Ein Kreis fasste die Objekte ein.

»Du hast ein …«, begann Harry.

»Dieser Mistkerl!«, rief ich. »Er hat mir ein Tattoo gestochen? Wieso sticht ein sterbender Mann mir ein Tattoo?!« Ich sah auf. »Wenn er dafür diesen antiken Füller genommen hat, bekomme ich sicher eine Blutvergiftung. Aber warum habe ich es vorhin nicht gesehen?« Meine Sympathie für Mister Bradford schwand zunehmend. »Hätte er mich einfach den verdammten Notruf wählen lassen, würde er noch leben.«

Harry griff nach meinem Handgelenk und betrachtete die Tätowierung. »Eine liegende Acht steht für Unendlichkeit. Und diese Symbole am Ende der Strahlen … Das eine ist ein Kelch. Und eine Krone. Und …«

»Das ist mir doch jetzt egal!« Ich schob den Ärmel wieder nach unten. »Diese beschissene Woche. Drei Unfälle, ein Mord, ein Tattoo und ein Erbe.«

»Geht fast als Buchtitel durch.«

»Harry«, sagte ich müde.

»Tut mir leid.« Er nickte schwer. »Schon klar, das ist alles übel. Ich war nicht dabei und habe keine Ahnung, was hier abgeht, aber die Sache mit dem Erbe steht. Du musst dich entscheiden, ob du es annimmst.«

Es kam mir noch immer falsch vor. »Ich weiß. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Leben seit gestern zu einer Achterbahn geworden ist.«

»Tardis im Sturzflug.«