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Eine junge Frau findet auf dem Dachboden eine alte E-Gitarre. Es gibt Hinweise, dass die einem bekannten Rockstar gehört hat. Nachdem darüber in der Zeitung berichtet wurde, wird kurze Zeit später bei der jungen Frau eingebrochen und die Mitbewohnerin entführt und ermordet. Handelt es sich hier um eine Verwechslung? War die Gitarre der Grund für das Verbrechen? Wer verübt schon einen Mord wegen einer Gitarre, deren Authentizität noch nicht einmal bewiesen ist? Und wer hat die Gitarre dort deponiert? Erst als Ulla Stein und Christoph Leyendecker in die Familiengeschichte der jungen Frau eintauchen, werden ihnen nach und nach die Hintergründe der Tat klar.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Dies ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden.
Von Manfred Röder sind bisher erschienen:
Abrechnung – Abgefischt
Schneckentänzer
Offene Rechnung
Obolus
Markolwes
Wer der Katz die Schell anhängt
Manfred Röder, Jahrgang 1951, war lange Jahre bei einer Kommunalverwaltung beschäftigt. Zuletzt leitete er die Ordnungs- und Sozialabteilung.
2011 erschienen seine ersten Romane um das Ermittlerduo Ulla Stein und Christoph Leyendecker.
Manfred Röder lebt mit Frau und Kater in seinem Geburtsort Hachenburg im Westerwald.
30.10.1966
Dissy schläft inzwischen. Aber ich kann das jetzt nicht. Zu aufregend war der gestrige Abend, sodass ich die Ereignisse erst einmal niederschreiben muss.
Vor zehn Tagen habe ich Dissy kennengelernt. Das muss wohl mein Glückstag gewesen sein, denn am gleichen Tag fand ich in einem Koffer, der auf dem Bahnsteig von Charring Cross herumstand, diese moderne Filmkamera, die ich seit dieser Zeit nicht mehr aus der Hand gelegt habe. Mit dieser Kamera habe ich Dissy bei jeder sich bietenden Gelegenheit gefilmt. Genau wie ich ist Dissy noch nicht lange in London. Aber im Gegensatz zu mir hat er dort eine kleine Wohnung. Ich bin noch am gleichen Tag zu ihm gezogen.
Dissy ist Musiker. Er spielt Gitarre. Er hat auch schon eine eigene Band gegründet.
Gestern hatten sie ihren ersten Auftritt. Genauer gesagt war das kein wirklicher Auftritt, sondern so etwas wie eine öffentliche Probe.
Das Konzert fand in einem dieser Lagerhäuser unten am Hafen statt. Hier in London gibt es Hunderte unbekannter Bands. Deshalb war ich total erstaunt, dass sich jede Menge Zuhörer eingefunden hatten.
Ich habe von Anfang an alles gefilmt. Irgendwie habe ich mich trotz aller Vorfreude auf Dissys Musik unwohl gefühlt. Es war so eine unerklärliche Spannung zu spüren, die ich allerdings sofort vergessen habe, als Dissys Gitarre einsetzte. So etwas hatte ich nie zuvor gehört. Ich habe ja nun wirklich nicht viel Ahnung von Musik, aber ich hätte nie geglaubt, dass man einer Gitarre solche Töne entlocken könnte. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Das Instrument wimmerte und jaulte, verbunden mit einem mitreißenden Rhythmus und nie gehörten Akkorden. Ich kann diese Musik mit Worten nicht wirklich beschreiben.
Plötzlich entstand Unruhe im Publikum. Einige Männer schlugen sich. Es wurden immer mehr. Es schien, als ob auf einmal jeder auf jeden einschlug. Ich habe versucht, möglichst viel von dem Tumult aufzunehmen. Dann war da plötzlich Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete. Offenbar waren die dort gelagerten Waren leicht brennbar. Ich konnte gerade noch Kamera und Filme ergreifen und die Tonbandspule an mich nehmen, die das Konzert aufzeichnete, ehe ich die Halle hastig durch einen Hintereingang verließ. Später kam dann auch Dissy. Er blutete aus einer Platzwunde an der Stirn. Er hatte lediglich seine Gitarre retten können. Das übrige Equipment war wohl den Flammen zum Opfer gefallen. Auch der Gitarre hatte das Feuer übel mitgespielt. Sie wird wohl nicht mehr zu gebrauchen sein. Ich werde ihm eine neue kaufen. Das Geld werde ich mir bei den Touristen besorgen, die ja zahlreich diese Stadt besuchen. Ich bin inzwischen sehr geschickt darin.
Hier endeten die Aufzeichnungen. Lisa legte das letzte der drei Hefte beiseite, in denen diese Frau, sie war sicher, dass es sich um eine Frau handelte, in loser Folge einige ihrer Gedanken eingetragen hatte. Wer mochte diese Frau wohl sein? Lisa hatte keine Idee. Sie wusste auch nicht, wen sie hätte fragen können.
Sie hatte heute zum ersten Mal diesen alten Schrank auf dem Spitzboden des Hauses ihrer Großeltern geöffnet und diesen Überraschungsfund gemacht. Neben drei handgeschriebenen Heften fand sie auch einige Kleidungsstücke, die augenscheinlich aus den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts stammten. Dann waren da eine alte Super 8 Kamera, zahlreiche belichtete Filmspulen und eine Tonbandaufnahme. Drei der Filme und das Tonband waren mit dem Datum vom 29.10.1966 versehen. Vermutlich waren das Aufnahmen von dem Konzert, über das die junge Frau geschrieben hatte.
Außerdem fand sie noch eine Elektrogitarre, der wohl ein Feuer heftig zugesetzt hatte. Das konnte nur die Gitarre sein, die dieser Dissy bei dem beschriebenen Konzert benutzt hatte. Warum hatte man dieses alte Ding denn so lange aufbewahrt?
Die junge Frau, die die Tagebücher geschrieben hatte, hatte die ganzen Sachen wohl hier deponiert. Vermutlich lagen diese Sachen schon sehr lange hier oben.
Aber wer war diese Unbekannte? Gehörte sie irgendwie zur Familie, oder hatten ihre Großeltern nur erlaubt, dass sie die Sachen hier aufbewahren durfte? Warum hatte sie die denn nie abgeholt? Warum hatten weder ihre Großeltern noch ihre Mutter je von dieser Frau gesprochen? Lisa hatte Zweifel, ob sie je etwas über die Fremde erfahren würde.
Vielleicht sah sie ja klarer, wenn sie sich die Filmaufnahmen angesehen und das Band abgehört hatte. Entsprechende Wiedergabegeräte würden ja wohl aufzutreiben sein.
Lisa Stahl aus Hachenburg hat auf dem Dachboden eine alte Elektrogitarre gefunden, die offenbar durch einen Brand beschädigt wurde. Sie glaubt, dass es sich hierbei um eine Gitarre des 1970 verstorbenen Dissy Watkins handelt, der mit seinem virtuosen Gitarrenspiel Weltruhm erlangte.
Neben der Gitarre fand sie so eine Art Tagebuch einer Unbekannten, in dem diese von einem Auftritt eines Gitarristen namens Dissy berichtet. Weiterhin stützt sie sich auf Filmaufnahmen und einen Tonbandmitschnitt, auf dem der Song „Dark Birds“ zu hören ist, mit dem Dissy Watkins damals der große Durchbruch gelang. Filmrollen und Tonband sind mit dem Datum 29.10.1966 beschriftet. „Dark Birds“ erschien aber erst im Dezember 1966. Es wäre also das erste Mal, dass dieser Song in der Öffentlichkeit gespielt wurde, und es wäre der erste öffentliche Auftritt von „The Dissy-Watkins-Project“.
Falls es sich wirklich um keine Fälschung handelt, wäre das Instrument sicher mehr als eine halbe Million Euro wert.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Epilog
Christoph Leyendecker legte die Zeitung beiseite und schüttelte den Kopf.
„Warum schüttelst du den Kopf?“, erkundigte sich Ulla Stein.
Christoph Leyendecker war der Leiter der Polizeiinspektion Hachenburg. Er wohnte gemeinsam mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin Ulla Stein in seinem Elternhaus in Hachenburg. Ulla Stein war für die Kriminalfälle zuständig. Allerdings war sie bei schwereren Verbrechen gehalten, die Kripo Koblenz hinzuzuziehen.
„Es ist nicht zu glauben. Da behauptet jemand, eine Gitarre von Dissy Watkins auf dem Dachboden gefunden zu haben. Wie soll die denn ausgerechnet hier in den Westerwald kommen?“ Er reichte die Zeitung über den Kaffeetisch. „Sieh selbst.“
Ulla legte das Marmeladenbrötchen beiseite. „Das ist doch dieser weltberühmte Gitarrist, der bereits in jungen Jahren verstorben ist.“
„Genau der ist gemeint. Aber soweit mir bekannt ist, hatte der nie eine Beziehung zum Westerwald. Er ist zwar auch in Deutschland aufgetreten. Ich glaube zuletzt bei einem Festival in Norddeutschland. Kurz darauf ist er wohl verstorben.“
Ulla las den Artikel. „Die schreiben hier, dass die vielleicht eine halbe Million wert ist. Viel Geld für eine angebrannte Gitarre.“
„Wenn das wirklich seine erste Gitarre ist, die angebrannt wurde, reicht möglicherweise eine halbe Million nicht. Das würde den Mythos erklären, der sich um die Verbrennung dieser Gitarren rankt. Er hat ja öfter am Ende eines Konzerts Benzin über seine Gitarre gegossen und die angezündet. Es wird alles Mögliche in dieses Ritual hineininterpretiert, weshalb er das gemacht haben soll. Es sind Hunderte dieser Gitarren in Umlauf, natürlich alles Fälschungen. Viele, die eine alte defekte Fender besitzen, schütten Spiritus oder Benzin darüber und behaupten dann, sie sei von Dissy Watkins.“
„Wenn ich mich recht erinnere, war dieser Watkins doch Linkshänder. Diese Gitarre ist aber eindeutig für Rechthänder.“
„Es gibt nicht so viele Gitarren für Linkshänder. Auch Watkins hat zunächst eine für Rechtshänder benutzt, aber die Saiten andersherum aufgezogen.“
„Die Saiten kann man hier auf dem Foto nicht wirklich erkennen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Lisa Stahl so einfach beschließt, eine Gitarre von Dissy Watkins zu fälschen.“
„Das hört sich so an, als würdest du sie kennen.“
„Nicht näher, nur so vom Sehen. Sie ist Lehrerin an der Grundschule hier in Altstadt. Sie wohnt in dem ehemaligen Forsthaus am Ende der Steinebacher Straße.“
„Vermutlich ist das Anjas Tochter und die Enkelin vom alten Erwin. Der war früher mal Förster hier. Die ist also jetzt hier Lehrerin. Da sollte sie doch ihr Auskommen haben, ohne gefälschte Gitarren verkaufen zu müssen.“
„Ich glaube ja nicht, dass sie die Gitarre gefälscht hat. Vielleicht hat ja irgendjemand, der früher in dem Haus gewohnt hat, sich die Mühe gemacht, so etwas zu fälschen. Aber warum hat derjenige dann nicht versucht, sie zu Geld zu machen, und sie liegt immer noch auf dem Dachboden? Man müsste die Eltern oder die Großeltern einmal fragen.“
„Ich wüsste nicht, wer das gewesen sein sollte. Wenn ich richtig orientiert bin, leben sowohl Eltern als auch Großeltern nicht mehr. Die kann man also nicht mehr fragen.
Wie dem auch sei. Wenn wir heute Abend vom Dienst zurückkommen, wird oben der Speicher gründlich inspiziert. Vielleicht liegt da ja noch ein da Vinci oder Picasso. Wenn den die Mäuse nicht längst gefressen haben.“
Schon als sie die Treppe hinaufging, hatte sie so ein seltsames Gefühl. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie die Haustür aufschloss. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Herz verkrampfte sich, und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Im gleichen Augenblick sah sie, dass die Schubladen des Dielenschrankes aufgezogen waren und der Inhalt wahllos im Flur verstreut lag.
Das war für sie Grund genug, die Haustür wieder zuzuschlagen und die Treppe hinunter zu eilen. Im Hof blieb sie schwer atmend stehen und griff mit zitternden Händen zum Handy.
„Wo seid ihr gerade, Karlchen?“
„Wir kommen gerade von Marienstatt hoch“, antwortete der hünenhafte Streifenpolizist Karl Berger, den alle, die ihn näher kannten, Karlchen nannten.
„Das trifft sich gut. Da habt ihr es ja nicht weit. Eine Lisa Stahl hat angerufen. Sie sei gerade nach Hause gekommen. Es sähe so aus, als sei bei ihr eingebrochen worden. Sie hat das Haus sofort wieder verlassen. Möglicherweise sind die Einbrecher noch in dem Gebäude. Ich habe ihr gesagt, sie solle das Haus nicht betreten, wir würden Hilfe schicken. Sie wohnt in der Steinebacher Straße. Das letzte Haus links.“
„Das ehemalige Forsthaus. Das kenne ich. Wir sind schon unterwegs.“
Berger nickte seinem Kollegen Starck aufmunternd zu. „Du hast es gehört. Du musst nicht über den Hebeberg fahren. Die Bauarbeiten in der Ortsdurchfahrt sind ja inzwischen weitgehend abgeschlossen. Hat ja lange genug gedauert.“
Das Haus war mit rotbraunen Brettern verkleidet. Ein älteres Haus, das aber wohl einige Male modernisiert worden war. Eine Treppe führte zur Eingangstür im ersten Stock. Am Fuße dieser Treppe konnten sie im Lichtkegel ihres Streifenwagens eine junge Frau erkennen, die ihnen aufgeregt zuwinkte.
„Das muss diese Lisa Stahl sein“, sagte Starck und hielt den Streifenwagen an.
Die junge Frau kaum auf sie zu gelaufen. „Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Irgendwas stimmt da nicht. Kommen Sie bitte mit.“
„Warten Sie, Sie bleiben ohnehin zurück. Diese beiden Autos dort im Hof gehören die Ihnen?“
„Der Golf gehört mir und der Astra meiner Mitbewohnerin Christina. Es fällt mir erst jetzt auf, dass ihr Wagen dort steht. Seltsam, dass ich nichts von ihr gehört habe.“
„Sie glauben, dass sie im Haus ist?“
„Ich weiß nicht. Ihr Auto steht jedenfalls da. Also müsste sie auch zu Hause sein.“
„Wir gehen jetzt in das Gebäude“, meldete Starck der Zentrale ins Funkgerät.
Sie rechneten nicht wirklich damit, dass sie auf die Einbrecher treffen würden. Die hätten wohl Lisa Stahls Kommen bemerkt. Aber spätestens beim Eintreffen des Streifenwagens hätten sie doch das Weite gesucht. Trotzdem waren sie vorsichtig. Mit gezogenen Waffen öffneten sie mit Lisa Stahls Schlüssel die Haustür. Bereits im Flur stellten sie fest, dass alles eilig durchsucht worden war. Nach und nach schauten sie in alle Zimmer. Sie waren ständig darauf gefasst, dass sie in einem der Räume Christina, die Mitbewohnerin, vorfinden würden. Aber die war nirgends zu sehen. In sämtlichen Räumen bot sich das gleiche Bild. Irgendetwas hatten die Einbrecher gesucht.
Eine Treppe führte nach oben in das ausgebaute Dachgeschoss. Hier fanden sie ein weiteres Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Bad vor. Sie nahmen an, dass das die Räume der Mitbewohnerin waren. Auch hier war alles durchwühlt worden. Aber keine Spur von dieser Christina.
Sie gingen nach draußen und winkten die junge Frau zu sich. „Es ist niemand mehr im Haus. Alles wurde durchsucht. Ob etwas verschwunden ist, können wir natürlich nicht feststellen.“
„Was ist mit Christina?“
„Von ihr war nichts zu sehen. Vermutlich war sie nicht zu Hause.“
„Warum steht denn das Auto dort?“, zweifelte Lisa.
„Sie haben doch sicher ihre Nummer. Warum rufen Sie sie nicht einfach an.“
„Eine gute Idee.“ Lisa Stahl holte ihr Smartphone aus der Tasche und wählte. Sie hielt es ans Ohr. „Sie meldet sich nicht.“
„Hört ihr das?“, fragte Berger.
„Das kommt von drinnen“, antwortete Starck.
„Das ist ihr Telefon.“ Während Lisa Stahl das sagte, eilte sie ins Gebäude.
Im Flur lag auf einem kleinen Tisch neben dem Festnetztelefon ein Smartphone, das läutete.
„Das gehört Christina. Ihr muss etwas passiert sein. Sie geht nie ohne ihr Handy aus dem Haus.“
„Ich rufe Ulla an“, erklärte Berger.
Ulla Stein war auch gleich am Telefon.
„Ein Einbruch hier in Hachenburg“, meldete Berger. „Bei einer Lisa Stahl hier in der Steinebacher Straße. Frau Stahl vermisst ihre Mitbewohnerin. Warte einen kurzen Moment.“
Er wandte sich an Lisa Stahl: „Wie heißt sie mit Nachnamen“, erkundigte er sich.
„Ihr Nachname ist Schreiner“, antwortete sie.
„Hallo Ulla. Hier bin ich wieder. Die Frau heißt Christina Schreiner. Ihr Wagen steht im Hof. Ihr Handy liegt hier vor uns, aber von ihr ist nichts zu sehen.“
„Ich bin in fünf Minuten bei euch. Last vorerst alles so, wie es ist.“
„Musst du noch mal weg?“, erkundigte sich Leyendecker.
„Ein Einbruch in der Steinebacher Straße. Wir haben doch neulich in der Zeitung diesen Artikel über die Gitarre gelesen. Bei dieser jungen Frau wurde eingebrochen. Aber noch etwas ist seltsam. Eine Mitbewohnerin scheint verschwunden zu sein. Das scheint kein normaler Einbruch zu sein.“
„Ich komme mit“, erklärte Leyendecker.
„Du bist der Chef“, erwiderte Ulla und musste innerlich lächeln. Hätte sie Christoph nicht so gut gekannt, hätte sie sich möglicherweise geärgert, dass er sich schon wieder einmischte. Aber sie wusste ja, wie gern er seinen üblichen Arbeitsablauf für die Ermittlungen in einem Kriminalfall unterbrach.
„Das hätte ich mir ja denken können“, begrüßte sie Karlchen. „Ihr kommt wieder einmal zu zweit.“
„Du kennst doch Christoph. So etwas lässt er sich nicht entgehen“, antwortete Ulla.
Leyendecker sah sich um. Neben dem Durcheinander fielen ihm die vielen gerahmten Zeichnungen auf, die an den Wänden hingen. Einige der Motive kannte er. Sie stammten alle aus der näheren Umgebung.
Lisa Stahl fielen Leyendeckers Blicke auf. „Sie sind alle von meinem Großvater. Er war hier Revierförster. Nachdem er pensioniert wurde, hat er seine Waffen gegen Stift und Zeichenblock vertauscht und ist damit und mit einem kleinen Hocker bewaffnet auf die Pirsch gegangen. So fand man ihn auch. Er hatte gerade wieder eine Zeichnung fertiggestellt und war wohl friedlich eingeschlafen. Ich habe Hunderte davon.
Erst jetzt fiel Leyendecker auf, wie attraktiv die junge Frau war. Schwarze Locken, dunkelbraune Augen und strahlend weiße Zähne. Obwohl der Sommer längst hinter ihnen lag und es schon auf den Winter zuging, war ihre Haut sonnengebräunt. „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Leyendecker. Ich bin der Leiter der hiesigen Polizeidienststelle. Das ist die Kollegin Stein. Sie sollten eine Ausstellung machen“, schlug er vor. „Die Zeichnungen werden die Leute mit Sicherheit interessieren.“
„Wir sollten nicht vergessen, warum wir hier sind“, mahnte Ulla.
„Du hast natürlich recht“, zeigte Leyendecker sich einsichtig.
Ulla schaute Berger fragend an.
„Es sieht im ganzen Haus so aus wie hier“, berichtete er. „Irgendetwas scheinen die gesucht zu haben. Ob sie es gefunden haben, wissen wir natürlich nicht.“
„Wie sind sie hereingekommen?“, erkundigte sich Ulla.
„Offensichtliche Einbruchspuren haben wir nicht festgestellt.“
„War die Haustür verschlossen, als Sie kamen?“, erkundigte sich Ulla bei der jungen Frau.
„Ich habe sie mit dem Schlüssel geöffnet. Aber abgeschlossen war nicht. Das machen wir eigentlich immer, wenn wir das Haus verlassen.“
Ulla ging zur Haustür. „Ein paar Kratzer am Schloss, mehr nicht. Die haben ihr Handwerk verstanden. Die Fenster sind alle verschlossen. Also sind sie auch hier wieder raus.“
Die Treppe, die sie hochgekommen waren, führte in den Hof zur Anliegerstraße, die hier endete. Der gegenüber ging eine weitere Treppe in den hinteren Bereich des Grundstücks. Dorthin, wo es an den Wald grenzte. Ulla ging die Treppe nach unten und leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Boden. „Da sind Fußspuren. Es kommen welche aus dem Wald und es führen auch welche dahin.“
„Irgendwo müssen die ja geparkt haben. Vielleicht oben an der Straße“, vermutete Leyendecker, der inzwischen hinzugetreten war. „Wir müssen uns erkundigen. Vielleicht hat jemand einen geparkten Wagen gesehen.
Stellen wir uns doch einmal das folgende Szenario vor: Die Mitbewohnerin kommt nach Hause und überrascht die Einbrecher. Da sie sie gesehen hat, können die Einbrecher nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen. Sie nehmen sie mitsamt der Beute mit.“
„Falls sie gefunden haben, was sie gesucht haben“, gab Ulla zu bedenken. „Da sind kleinere Fußabdrücke, die nicht zum Haus führen, sondern lediglich davon weg. Sie könnten von dieser Christina Schreiner stammen. Es kann sein, dass sie sie an den Händen gefesselt haben. Vielleicht hat man sie auch geknebelt, damit sie nicht um Hilfe rufen kann. Wir müssen die Nachbarn fragen, ob sie etwas bemerkt haben. Das hier ist eine recht einsame und stille Ecke. Da fällt jedes Geräusch auf.“
Ulla bat Berger und Starck, die Nachbarn zu befragen. „Ich glaube, wir wissen beide, wonach die Einbrecher gesucht haben“, sagte sie zu Leyendecker.
„Du meinst die Gitarre. Irgendjemand hat also offenbar die Geschichte geglaubt. Ob sie Erfolg gehabt haben?“
„Das wird uns Frau Stahl sagen können.“
„Die Gitarre konnten sie nicht finden“, erklärte Lisa Stahl. „Die ist sicher untergebracht. Ich habe sie im Tresorraum der Sparkasse einschließen lassen.“
„Wusste Frau Schreiner das?“, fragt Leyendecker.
„Sie wusste es nicht. Ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen. Aber das ist reiner Zufall. Ich hätte kein Problem damit gehabt, ihr das zu erzählen. Warum auch. Natürlich wusste sie von der Gitarre und unter welchen Umständen ich sie gefunden habe.“
„Kennen Sie sie gut?“, erkundigte sich Ulla.
Lisa Stahl schaute sie erstaunt an. „Sie ziehen doch nicht ernsthaft in Erwägung, dass sie etwas damit zu tun hat. Das ist ausgeschlossen. Sie wohnt seit fast einem Jahr hier. Ich selbst bin nach Abschluss meines Studiums vor zwei Jahren hierher zu meinem Großvater gezogen, um ihn nicht alleine zu lassen. Glücklicherweise war die Stelle bei der Grundschule Altstadt frei. Als Großvater vor einem Jahr starb, kam ich mir einsam und verlassen vor und habe sie daher als Mitbewohnerin aufgenommen. Seitdem sind wir gute Freundinnen geworden.“
Ulla kam da plötzlich ein Gedanke. „Wie sieht Frau Schreiner aus?“
Lisa Stahl zögerte einen kurzen Moment. „Sie ist mittelgroß, schlank und hat dunkle halblange Haare.“
„Diese Beschreibung könnte auch auf Sie passen. Sahen Sie sich ähnlich?“
„Oberflächlich gesehen ja. Meinen Sie, wir beide seien verwechselt worden?“
„Zumindest kann man das nicht ausschließen.“
„Dann ist sie in höchster Gefahr“, erklärte Leyendecker. „Wenn die Gangster ihren Irrtum bemerken, ist sie völlig wertlos für sie. Zumal sie nicht weiß, wo sich die Gitarre befindet. Ich werde sofort veranlassen, dass nach ihr gefahndet wird. Haben Sie ein Foto von ihr?“
„Geben Sie mir ihre Handynummer. Ich schicke Ihnen eine Mail.“
„Die Spurenlage scheint eindeutig zu sein“, erklärte Ulla. „Trotzdem können wir nicht ausschließen, dass es eine ganz normale Erklärung gibt. Wo könnte sie denn sein? Hat sie einen Freund? Vielleicht hat der sie abgeholt?“
„Ihr Freund wohnt in Bad Marienberg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der sie abgeholt hat. Sie hat zwar gestern gesagt, dass sie heute ihren Daniel besuchen wird. Aber sie wäre selbst gefahren. Ich rufe ihn gleich mal an.“
Da läutete Christina Schreiners Handy.
„Hallo“, meldete sich Ulla.
„Wer ist da?“, hörte sie eine männliche Stimme. „Ich habe Christina angerufen. Sie sind nicht Christina.“
„Hier spricht die Polizei. Mit wem spreche ich?“, erwiderte Ulla.
„Ich heiße Daniel Klein. Christina wollte zu mir kommen. Sie müsste längst bei mir sein. Ist ihr etwas geschehen?“
„Das wissen wir nicht. Es wurde in das Haus, in dem sie wohnt, eingebrochen. Ihr Auto steht hier. Aber sie ist nirgends zu finden. Wir haben angenommen, dass sie vielleicht bei Ihnen ist. Frau Stahl sagte uns, dass sie heute zu Ihnen kommen wollte.“
„Wie ich schon sagte, ich habe vergeblich auf sie gewartet. Ich komme sofort zu Ihnen.“
„Sie können hier nichts tun. Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie können hier ohnehin nicht rein, bevor die Spurensicherung alles untersucht hat. Ich notiere Ihre Handynummer. Falls sich irgendetwas Neues ergibt, werden wir Sie benachrichtigen.“
Nach einer knappen Stunde traf die Spurensicherung auch schon ein, die Leyendecker benachrichtigt hatte, nachdem er die junge Frau zur Fahndung ausgeschrieben hatte.
Sie wurde wieder von dem Mann mit der John-Lennon-Brille geleitet, der Ulla und Leyendecker freundlich grüßte. Sie waren ja alte Bekannte. „Ich habe mich schon gewundert, weil ich länger nichts von Ihnen gehört habe. Wieder einmal ein Mord? Darunter machen Sie es ja nicht.“
„Zunächst geht es nur um einen Einbruch“, sagte Leyendecker.
„Wie langweilig.“
„Möglicherweise geht es auch um eine Entführung“, ergänzte Ulla.
„Hatte ich mir doch gedacht, dass Sie es nicht bei einem gewöhnlichen Einbruch belassen. Aber jetzt raus hier! Ich nehme an, Sie haben schon viel zu viel angetatscht. Lassen Sie uns unsere Arbeit tun!“
Andreas Quast und seine beiden siebenjährigen Zwillingssöhne Oliver und Leo verließen den Waldweg und begaben sich in die Fichtenschonung. Hier konnte man kurz vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum in Selbstwerbung schlagen. Bis zu diesem Fest waren es zwar noch einige Wochen hin, aber es schadete ja nichts, wenn man sich bereits jetzt nach einem gut gewachsenen Baum umsah, um diesen zu markieren, damit man ihn zu einem späteren Zeitpunkt wiederfand, und um so seinen Besitzanspruch zu dokumentieren. Zu diesem Zweck trug Leo ein blaues Stoffband mit sich. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Zwillinge zu einem Ausflug in den Wald zu bewegen, denn die beiden waren richtige Stubenhocker und einem Computerspiel eher zugetan, als sich an der frischen Waldluft zu bewegen. Aber Quast hatte ihnen erzählt, dass sie dann den schönsten Weihnachtsbaum im ganzen Dorf hätten und alle ihre Freunde sie beneiden würden. Das hatte sie letztlich überzeugt, und jetzt waren sie mit Feuereifer bei der Sache.
Sie hatten den Weg gerade eben verlassen, da war Oliver auch schon verschwunden. Wo war der Kerl den nun schon wieder hin? Das fing ja gut an. „Du bleibst jetzt hier bei mir“, erklärte er