Der Lebber - Manfred Röder - E-Book

Der Lebber E-Book

Manfred Röder

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Beschreibung

Ein Lebber ist ein junger Stier. Manchmal nennt man auch einen Menschen so. Meist ist der aufbrausend, ungestüm und wild. Leyendecker ist immer noch dienstunfähig. Er trifft einen Mann, der vor mehr als zwanzig Jahren wegen Mordes verurteilt wurde. Es ist wohl Langeweile, dass er in dem alten Fall ermittelt. Unterdessen versuchen Ulla Stein und Lars Höbel den Mord an einem Globetrotter aufzuklären, den man tot in seinem Fahrzeug auffindet.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Dies ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden.

Von Manfred Röder sind bisher erschienen:

Abrechnung – Abgefischt

Schneckentänzer

Offene Rechnung

Obolus

Markolwes

Wer der Katz die Schell anhängt

Das Vermächtnis der Mona Seelbach

Manfred Röder, Jahrgang 1951, war lange bei einer Kommunalverwaltung beschäftigt. Zuletzt leitete er die Ordnungs- und Sozialabteilung.

2011 erschienen seine ersten Romane um das Ermittlerduo Ulla Stein und Christoph Leyendecker.

Manfred Röder lebt mit Frau und Kater in seinem Geburtsort Hachenburg im Westerwald.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Vor mehr als zwanzig Jahren Koblenz, Karmeliterstraße

Der Angeklagte stand reglos da. Sein Gesicht sah aus, als sei es aus Stein gemeißelt. Lediglich in seinen dunklen Augen glomm ein wildes Feuer.

„… und so war der Angeklagte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.“

Erst als der Vorsitzende diese Worte sagte, zeigte der junge Mann so etwas wie eine Regung. Über sein Gesicht glitt ein spöttisches Lächeln, und es war, als habe er leicht mit den Achseln gezuckt. Er sprach kein einziges Wort. Als die Wärter kamen, ließ er sich widerstandslos fortführen.

Vor ein paar Wochen

Die Übertragung war nicht besonders deutlich auf dem Bildschirm des Laptops zu sehen. Es waren so an die hundert Personen zu erkennen. Die meisten trugen dunkle Anzüge oder Kostüme. Zwischen den Anwesenden wuselten Kellner, die Tabletts mit Sekt vor sich trugen und jedem Anwesenden ein Glas reichten. Sitzgelegenheiten gab es keine. Wie es schien, befand man sich in einer Art Höhle, die aber wohl vor langer Zeit von Menschenhand in den Fels gehauen worden war. Irgendwie wurde man an eine alte Religionsstätte erinnert. Alles war hell erleuchtet. Es war das leichte Surren von Generatoren zu hören, die für die für Strom und frische Luft sorgten.

Die Augen der Anwesenden waren nach vorn auf einen Mann gerichtet, der hinter einem steinernen Tisch stand, auf dem so etwas wie ein alter ritueller Dolch lag.

„Sehr verehrte Damen und Herren.“ Der Mann sprach in englischer Sprache. „Ich darf Sie hier und an den Bildschirmen in der ganzen Welt herzlich zu unserer jährlichen Zusammenkunft willkommen heißen. Vorab möchte ich Ihnen mitteilen, dass unsere Loge wieder sehr erfolgreich war. Dies liegt an der guten Zusammenarbeit unserer Mitglieder. Aber vergessen wir nicht, dass wir das hauptsächlich dem Segen des Sohns der Sonne zu verdanken haben. Er schenkt uns sein Wohlwollen, seit wir das Symbol seiner Macht in unseren Händen halten. Wie in jedem Jahr wollen wir uns zunächst an seinem Anblick erfreuen.

Zwischen den Anwesenden bildete sich eine Gasse, und man zerrte eine Ziege nach vorne. Der Redner ging mit zwei anderen Männern in den hinteren Teil der Höhle, wo eine Stahltür eingelassen war, die allerdings aus der Neuzeit stammen musste, erinnerte sie doch an die Tür eines hochmodernen Banktresors. Die drei Männer steckten jeweils einen Schlüssel in die vorgesehenen Schlösser und drehten sie nach links. Dann stellte sich der Vorsitzende vor eine Tastatur und gab eine Zahlenkombination ein. Die Tür öffnete sich, und die drei Männer schritten in den Raum dahinter. Kurz darauf waren aufgeregte Rufe zu hören. Das Licht flackerte, und der Bildschirm erlosch.

Kapitel 1

Wie in Zeitlupe fiel das Messer in Richtung Küchenboden. Leyendecker konnte gerade noch den Fuß zurückziehen, ehe es mit der Spitze noch vorne scheppernd auf den Fliesen landete und eine hässliche Furche hinterließ.

Schmeling schreckte hoch. Dann hörte man nur noch den Knall der Katzenklappe,. und der rote Kater war verschwunden.

Leyendecker hob das Messer auf und hätte es am liebsten in eine Ecke geworfen. Aber das Messer, das sie vor einigen Jahren in Toledo, der ehemaligen spanischen Hauptstadt, die ja schon immer bekannt für die Klingen aus Damaststahl war, gekauft hatten, konnte ja nichts dafür, dass er noch nicht einmal in der Lage war, ohne Probleme die Zwiebeln für das Gulasch zu schneiden.

Die Scharte, die sich das Messer bei dem Aufprall zugezogen hatte, konnte man sicher problemlos ausbessern. Ein Messer- und Scherenschleifer kam regelmäßig auf den Parkplatz eines Hachenburger Supermarktes.

Leider nicht so problemlos war es, Leyendeckers Schulter wieder in einen gebrauchsfähigen Zustand zu versetzen.

Es war nun schon lange her, dass Christoph Leyendecker, der Leiter der hiesigen Polizeiinspektion, bei der Befreiung einer Geisel niedergeschossen worden war, und sich schwerste Verletzungen zugezogen hatte. Das hatte ihn schließlich zu einer Odyssee durch verschiedene Kliniken und Reha-Einrichtungen geführt. Man hatte ihn inzwischen so einigermaßen wieder zusammengeflickt. Zu den alten Narben von den Schussverletzungen in der Abteikirche Marienstatt hatten sich einige neue hinzugesellt. Die schmerzten zwar hier und da, wenn sich das Wetter änderte. Aber das war zu ertragen. Nur die rechte Schulter bereitete ihm nach wie vor Schwierigkeiten. Die Ärzte hatten sich geweigert, ihm wieder seine volle Einsatzfähigkeit zu bescheinigen. Sie könnten nicht gewährleisten, dass er jederzeit seine Dienstwaffe ordnungsgemäß gebrauchen könnte. Er könne seine Tätigkeit allerdings wieder aufnehmen, wenn er sich bereit erkläre, lediglich Innendienst zu verrichten, ansonsten stelle er eine Gefahr für seine Kollegen dar. Hierzu war Leyendecker nicht bereit gewesen, hoffte er doch noch immer, dass sich das irgendwann einmal ändern werde. Einer der vielen Ärzte hatte ihm nämlich etwas von einer Frozen Shoulder erzählt, die sich irgendwann ganz plötzlich wieder bessern würde. Aber es tat sich wenig, und er verlor so langsam die Geduld. Man verschrieb ihm immer neue Anwendungen, egal ob es sich um Massagen oder Krankengymnastik handelte. Es besserte sich nichts.

„Hallo Ulla. Wir haben gerade eine kurze Pause. Starck meinte, er sei völlig unterzuckert und müsste unbedingt etwas essen. Er hat noch ein Stück Fleischwurst im Kühlschrank liegen. Da wollte ich mich kurz erkundigen, wie es Christoph geht.“

Ulla Stein sah den riesigen Streifenpolizisten an, der gerade ihr Zimmer bei der Polizeiinspektion Hachenburg betreten hatte. Karl Berger, der von allen nur Karlchen genannt wurde, war ein guter Freund Leyendeckers, mit dem er in früherer Zeit so manchen Abend in einer der heimischen Kneipen verbracht hatte.

Er war ihr und Leyendecker bei der Lösung ihrer Fälle in der Vergangenheit stets eine große Hilfe gewesen, da er so gut wie jeden Hachenburger kannte und ein wandelndes Wikipedia von Hachenburg und Umgebung war. Aber in erster Linie konnte er auch hinlangen und zupacken, was so mancher Gauner leidvoll erfahren musste.

Kriminalhauptkommissarin Ulla Stein, Leyendeckers Lebensgefährtin, war damals, genau wie Leyendecker, vom Landeskriminalamt nach Hachenburg gekommen. Sie war für die Kriminalverbrechen zuständig, allerdings nur für die leichteren Delikte. Soweit es um Mord und Totschlag ging, war sie gehalten, die Kollegen aus Koblenz zu informieren.

Zu der Zeit, als Leyendecker noch hier der Chef war, hatten sie das nicht so genau genommen und gemeinsam einige spektakuläre Erfolge erzielt.

„Wie wird es ihm schon gehen. Er ist unzufrieden und langweilt sich. Seit seine Mieterin in die Nähe ihrer Tochter gezogen ist, hat er nur noch Schmeling als Gesellschaft. Er ist unterfordert. Ihm fällt buchstäblich die Decke auf den Kopf. Da ist es kein Wunder, dass er manchmal das Arme Deer hat, so sagt ihr Westerwälder doch.“

„So sagen wir“, bestätigte Berger. „Sag ihm, er solle mal wieder unter Leute gehen. Er soll mich einfach anrufen. Einen Würfelbecher wird er ja noch mit seinem beschädigten Flügel bedienen können. Es nützt nichts, wenn er zu Hause versauert. Schmeling, das ist doch wohl einer der Kater. Ist es der graue oder der rote?“

„Es ist der rote. Der andere hieß Balboa. Der hat sich im Alter von siebzehn Jahren in die ewigen Kleintierjagdgründe verabschiedet.“

„Wie dem auch sei, es wird Zeit, dass Christoph bald wieder hier erscheint. Den Wichtigtuer, den sie uns an seiner Stelle geschickt haben, war ich bereits nach einer Woche leid. Nicht auszudenken, wenn ich den bis zu meiner Pensionierung ertragen müsste.“

Die Tür ging auf, und der Angesprochene betrat wie auf Stichwort das Zimmer. Vermutlich haben ihm die Ohren geklingelt, dachte Ulla. Kai Peters, der die Polizeiinspektion Hachenburg kommissarisch leitete, war etwa fünfunddreißig Jahre alt, schlank und mittelgroß. Seine braunen Haare waren kurz geschnitten. Im Gegensatz zu Leyendecker trug er immer Uniform, die, darauf hätte Ulla gewettet, war maßgeschneidert und immer frisch gebügelt. Nach seiner Ausbildung bei der Polizei hatte er noch Jura studiert, war aber dann zur Polizei zurückgekehrt. Ulla war sich nicht so ganz sicher, ob er die Absicht hatte, im Eiltempo bei der Polizei Karriere zu machen, oder ob er sich parteipolitisch engagieren wollte, um da als Sicherheitsfachmann aufzusteigen und irgendwann einen Regierungsposten zu ergattern. Möglicherweise war für ihn ja beides eine Option. Jedenfalls war seine jetzige Tätigkeit für ihn nur eine Durchgangsstation.

Peters sah Karlchen kritisch an. „Liegt etwas an Herr Berger?“

„Nichts weiter.“ Berger zuckte betont gleichgültig die Achseln. Er nickte Ulla zu. „Ich bin dann mal weg. Und grüß mir Christoph.“ Er drängelte sich an Peters vorbei durch die Tür.

Erst als Berger Platz gemacht hatte, sah Ulla, dass Peters noch jemand im Schlepptau hatte.

Die Frau mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Sie war schlank, vielleicht eins siebzig groß und hatte blonde, mittellange Haare. Bekleidet war sie mit einem hellgrauen Trenchcoat, einer beigen Wollhose und einem gleichfarbigen Kaschmirpulli. Insgesamt eine elegante Erscheinung.

„Kommen Sie,“ bat Peters. „Nehmen Sie doch hier Platz. Das ist Frau Stein. Bei der sind Sie in guten Händen. Sie kann Ihnen sicher weiter helfen.“

Ulla wartete, bis die Besucherin auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Lisa Ortwein. Irgendwie komme ich mir etwas blöd vor. Gleichzeitig bin ich aber auch beunruhigt.“

„Erzählen Sie,“ forderte Ulla sie auf.

„Es ist so eher ein Gefühl. Irgendetwas geht bei uns vor. Mir ist so, als würde uns jemand beobachten. Da geht abends die Außenbeleuchtung an. Die wird über Bewegungsmelder gesteuert. Ich weiß, das könnte auch ein Tier sein. Aber es ist nichts zu sehen. Mein Mann sagt, ich bilde mir das alles ein. Er weiß nicht, dass ich hier bin.“

„Und sonst ist da nichts? Nur so ein Gefühl?“

Lisa Ortwein schüttelte den Kopf. „Ich weiß, das klingt hysterisch.“

Ulla war sich darüber im Klaren, dass sie der Frau wohl kaum weiterhelfen konnte. Aufgrund eines vagen Gefühls war ein größerer Polizeieinsatz nicht gerechtfertigt. Zwar musste die Polizei nach Möglichkeit präventiv tätig werden, aber dies war eher theoretisch. Meist konnten sie nur eingreifen, wenn bereits etwas geschehen war. „Vermutlich gibt es eine harmlose Erklärung“, beschwichtigte sie. „Trotzdem werden wir Ihre Gegend öfter einmal abfahren. Aber Sie werden verstehen, dass ich aufgrund eines bloßen Gefühls nicht mehr für Sie tun kann. Wir bräuchten da doch etwas Konkretes. Aber bleiben Sie trotzdem aufmerksam. Wenn irgendetwas sein sollte, zögern Sie nicht, die 110 zu wählen.“

Frau Ortwein wartete. Man merkte ihr an, dass Ullas Antwort sie nicht zufriedenstellte. Schließlich erhob sie sich doch und verabschiedete sich.

Als die Frau gegangen war, rief Ulla Berger auf seinem Handy an. „Seid ihr noch im Haus?“, fragte sie, als Karlchen sich meldete.

„Nein“, antwortete der, „Starck hat seinen Hunger gestillt. Wir sind wieder unterwegs, aber wir können miteinander reden. Starck fährt.“

„Sagt dir Ortwein in der Freiherr-vom-Stein-Straße etwas.“

„Ist mir bekannt. Was ist mit dem?“

Was frage ich, dachte Ulla. Karlchen kennt doch jeden. „Seine Frau war hier. Es ist nichts Bestimmtes. Sie sagt, sie fühle sich beobachtet. Vermutlich ist da nichts. Aber fahrt bitte öfter mal die Gegend ab. Sag auch den Kollegen von der Nachtschicht bescheid.“

„Alles klar, Ulla. Aber unter uns gesagt, passieren kann da nichts. Das Haus ist besser gesichert als Fort Knox. Zumindest nehme ich das an. Der hat eine wertvolle Kunstsammlung. Teile sollten mal in der Stadthalle ausgestellt werden. Das ist daran gescheitert, dass die Versicherung enorme Sicherheitsvorkehrungen forderte. Das war der Stadt dann doch zu teuer. Soweit mir bekannt ist, handelt er auch mit Kunstgegenständen.“

Leyendecker hatte das Gulasch schließlich doch noch hinbekommen und einen Teil mit ein paar Nudeln zu Mittag gegessen. Aber es blieb noch genug für Ulla, die es sich am Feierabend wieder aufwärmen konnte.

Zwar war er, bis auf die Probleme mit seiner Schulter, weitgehend wieder hergestellt, aber er war konditionell noch nicht wirklich fit. Allerdings war es auch vor seiner Verletzung damit nicht weit her, war er doch dem Dienstsport stets aus dem Weg gegangen. Aber inzwischen hatte er sich ausgiebige Spaziergänge angewöhnt. Als Nächstes wollte er dann zum Joggen übergehen, aber das schob er immer wieder vor sich her. Diesmal war am Tretbecken vorbei über Gehlert gegangen. Der Heimweg führte ihn dann über die Lange Schneise, die er kurz nach Überquerung der Steinebacher Straße verließ. Über den Hebeberg und die Bergstraße ging sein Weg zurück ins Dorf. So dachte er immer noch. Altstadt, der jetzige Stadtteil von Hachenburg, war früher ein selbstständiges Dorf gewesen. Gegen Ende der Bergstraße, kurz bevor die auf die Steinebacher Straße trifft, lag ein altes, kleines Häuschen, das schon jahrelang nicht mehr bewohnt war.

Diesmal glaubte Leyendecker, trotz der ziemlich verdreckten Fenster, darin eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Neugierig trat er näher. Er wusste schon, dass er da nichts zu suchen hatte, zumal er sich nicht im Dienst befand. Aber wen sollte das schon kümmern, wenn er sich das einmal näher besah. Er spähte durch eins der kleinen verwitterten Holzfenster, konnt aber nicht viel entdecken. Die Scheiben waren zu schmutzig. Lediglich die Spinnweben waren deutlich zu erkennen. Soweit er sehen konnte, waren die Tapeten weitgehend abgerissen. Beim Fußboden fehlten einige Holzdielen.

Ein Fensterflügel schien erstaunlicherweise von Spinnweben verschont geblieben zu sein. Als er leicht dagegen drückte, gab dieser zu seiner Überraschung nach und öffnete sich nach innen. Leyendecker reckte Kopf und Teile des Oberkörpers durch die Öffnung, um so besser sehen zu können. Er wusste nicht, was ihm da geschah. Er spürte plötzlich eine Faust im Nacken, die ihn am Kragen packte und ihn durch das schmale Fenster nach innen zerrte. Leyendecker war beileibe kein Leichtgewicht. Aber man zog ihn scheinbar mühelos durch die Öffnung. Er war so überrascht, dass er kaum Widerstand leistete und sich plötzlich auf dem Boden im Inneren des Gebäudes wiederfand.

Leyendecker wollte sich aufrichten, aber kräftige Hände drückten ihn nach unten. Er spürte, wie etwas um seine Handgelenke geschnürt wurde. Dann zerrte man ihn in eine sitzende Position. „Was fällt Ihnen ein?“, zeterte er. „Das ist Freiheitsberaubung.“

Leyendecker sah sich einem Mann gegenüber, der etwa vierzig bis fünfzig Jahre alt war. Er hatte dunkle, gelockte Haare und Ansätze von Geheimratsecken. Er war wohl etwas kleiner als Leyendecker, aber er schien weitaus fitter zu sein. In seinen Bewegungen konnte man Kraft und Beweglichkeit erkennen. So bewegte sich ein Kampfsportler.

Bekleidet war er mit einer dunklen Jeanshose, einem T-Shirt und einer ebenfalls dunklen Jeansjacke. Seine auffälligsten Merkmale waren die dunklen Augen und die etwas schiefe Nase. Offensichtlich war die einmal gebrochen gewesen. Aber er sah trotzdem recht gut aus. Sie gab den sonst regelmäßigen Gesichtszügen etwas Verwegenes. Es gab ja auch einen französischen Schauspieler, der mit gebrochener Nase ein ausgesprochener Frauenliebling gewesen war.

„Stell dich nicht so an“, sagte der Mann leichthin. „Du bist hier eingedrungen. Brauchst du dafür nicht einen Durchsuchungsbeschluss? Oder hat sich das inzwischen auch geändert?“

„Kennen wir uns?“, fragte Leyendecker. „Dieses Gebäude ist seit Jahren unbewohnt, und ich glaubte, irgendwas gesehen zu haben. Da wollte ich mich lediglich vergewissern. Ich nehme an, dass Sie sich illegal hier aufhalten?“

„Ob wir uns kennen? Wenn, dann eher flüchtig. Aber da wo ich herkomme, liest man auch Zeitung. Und wer sagt Dir, dass ich mich illegal hier aufhalte.“

Das kleine Häuschen hatte schon länger leer gestanden. Aber Leyendecker erinnerte sich noch an das ältere Ehepaar, das hier gewohnt hatte. Zuerst war der Mann gestorben, vor ein paar Jahren dann die Frau. So ganz dunkel erinnerte er sich, dass in seiner Jugendzeit ein Enkel bei Ihnen gelebt hatte. So langsam dämmerte ihm, wen er da vor sich hatte. Dieser Enkel war immer ein wildes Kind gewesen, unbändig und voller Zorn, sodass er frühzeitig nur der Lebber genannt wurde.

Auch als Leyendecker von Hachenburg weggezogen war, hatte er die Heimatzeitung weiter bezogen. Darum wusste er, dass besagter Enkel später das Boxen begonnen hatte. Er wurde recht früh Profiboxer. Sein Stil war wild und ungestüm und er hatte durchaus Erfolg. Die Zeitungen nahmen seinen Spitznamen nur allzu gerne auf und zogen gerne Parallelen zu dem Film „Wie ein wilder Stier“ mit Robert De Niro, der vom Leben des Boxers Jake LaMotta handelte. Schlagzeilen wie Der Lebber eilt von Sieg zu Sieg waren an der Tagesordnung. Es war wohl kurz vor seinem ersten Kampf um die deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht gewesen, als man ihn wegen Mordverdachts verhaftete und später auch verurteilte. Er sollte eine Frau getötet haben.

Da Leyendecker nicht mehr in Hachenburg wohnte, hatte er sich nicht weiter mit dem Fall befasst. Er wusste lediglich, was in der Zeitung gestanden hatte. „Lebber, bist du das?“, fragte er ungläubig.

„Ein Lächeln ging über das Gesicht des Mannes. „Du hast mich tatsächlich erkannt.“ Er beugte sich herab und löste Leyendeckers Handfesseln. Dann zog er zwei klapprige Stühle heran. „Setz dich“, bat er, „ich komme sofort wieder.

Er eilte kurz in ein anderes Zimmer und kam mit zwei dieser gedrungenen kleinen Bierflaschen zurück, die er mit den Zähnen öffnete. „Trink ein Feldhuhn mit. Es ist zwar nicht richtig kalt, der Strom ist abgeklemmt. Aber man sagt ja, dass ein gutes Bier auch warm schmeckt.“ Er stieß mit Leyendecker an.

Leyendecker wusste nicht so recht, wie er das Gespräch führen sollte, aber das brauchte er nicht, denn sein Gegenüber hatte offenbar das Bedürfnis, mit jemand zu reden.

„Ich weiß ja nicht, inwieweit du mit meinem Fall vertraut bist. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn du damals schon der Chef der Hachenburger Polizei gewesen wärst.“

„Viel weiß ich nicht, ich weiß nur; dass du wegen Mordes verurteilt wurdest. Du willst doch wohl nicht sagen, dass du unschuldig warst. Da bist du nicht der Einzige.“

Der Lebber winkte ab. „Ich weiß, das sagen viele. Das spielt auch jetzt keine Rolle mehr. Ich habe die Tat nie zugegeben. Deshalb wurde ich auch erst vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Uneinsichtig nennen die das wohl. Dass ich keine Reue zeige. Was sollte ich bereuen. Das Einzige, was ich mir vorwerfen muss, ist Naivität, man kann auch sagen große Dummheit. Ich habe diese Frau geliebt, aber ich habe sie nicht umgebracht. Wie dem auch sei, ich habe meine Strafe abgesessen. Das ist jetzt alles Schnee von gestern.“

„Hast du denn mal versucht, ein Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen?“

„Das hat mein Verteidiger mehrfach probiert. Nichts ist dabei herausgekommen. Ich habe mich damit abgefunden. Reden wir nicht mehr davon. Der Schuldige wird sich wohl kaum freiwillig melden.“

Leyendecker wusste nicht, was er von den Ausführungen seines Gegenübers halten sollte. Aber was kümmerte ihn ein alter, abgeschlossener Fall. Oder vielleicht doch? Hatte er soviel Langeweile?

„Wohnst du jetzt hier?, erkundigte er sich. „Du warst ja vermutlich der einzige Erbe.“

„Wahrscheinlich schon. Meine Großeltern hatten wohl auch ein Sparbuch. Aber ich habe nie einen Erbschein beantragt. Wahrscheinlich hätte man mir doch alles abgenommen. Du weist schon, Schadensersatz und so.“

„Ich nehme an, du wohnst nicht offiziell hier?“

„Ich habe ein Zimmer in einem Wohnheim in Koblenz. Dafür hat mein Bewährungshelfer gesorgt. Aber ich bin die meiste Zeit hier. Vielleicht aus alter Sentimentalität. Nenn es, wie du willst. Hier habe ich Platz und meine Ruhe. Ich war lange genug mit vielen Menschen auf engstem Raum. Und das waren nicht immer die Angenehmsten.“

Leyendecker erhob sich und reichte dem Lebber die leere Flasche. „Ich muss dann mal wieder. Vielleicht sieht man sich ja noch mal.“ Er ging in Richtung Haustür.

„Die ist noch zu. Sie hat ein besseres Schloss als die Fenster. Öffnen kann ich es nicht. Du müsstest schon die Tür aufbrechen.“

„Hat man dir nicht beigebracht, wie man ein Schloss öffnet? Das solltest du doch im Gefängnis gelernt haben. Soll das heißen, ich muss aus dem Fenster krabbeln?“

„Dieser Fortbildungskurs wurde im Gefängnis nicht angeboten, obwohl es da viele begabte Kursleiter gegeben hätte. Es bleibt dir wohl nichts anderes übrig. Stell dich hier auf den Stuhl. Ich helfe dir. Wenn du willst, lass dich noch mal hier sehen. Klopf einfach ans Fenster.“

Als Leyendecker nach Hause ging, überlegte er, wie der Lebber eigentlich mit bürgerlichem Namen hieß. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hieß Rudi, Rudolf Herz.

Nadine joggte ziemlich regelmäßig. Meist ging es der Nister entlang. Manchmal zum Kloster Marienstatt oder weiter bis zur Nistermühle und zurück. Manchmal Richtung Limbach und dann entlang der Kleinen Nister. Aber meist lief sie die Strecke bis zum sogenannten Deutschen Eck, wo die Kleine in die Große Nister mündet. Das war auch heute ihr Ziel. Es war kein so schöner Tag, man merkte, dass der Herbst bevorstand. Die Tage wurden spürbar kürzer und nachts war es doch deutlich kälter. Es war trübe, und einzelne Nebelschwaden trieben über dem Wasser des kleinen Flusses.

Das Monstrum stand immer noch da. Nadine hatte den alten Lkw schon die letzten beide Male dort stehen sehen, aber es schon wieder vergessen. Ein alter sandfarbener Magirus. Er schien zu einer Art Wohnmobil umgebaut zu sein. Man hatte das Fahrzeug einfach so hier abgestellt. Jetzt fiel ihr auch auf, dass die Nummernschilder entfernt worden waren. Hatte hier irgendjemand seinen Lkw entsorgt? Bei den heutigen Metallpreisen hätte er doch sicher noch etwas dafür erhalten, wenn er ihn ordnungsgemäß verschrottet hätte. Irgendwie ging etwas Bedrohliches von dem klobigen, schweren Fahrzeug aus. Bisher hatte Nadine das nicht so empfunden, heute aber schon. Sie fühlte sich unwohl. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Sie spähte, ob sie vielleicht jemand sehen könnte. Aber das Führerhaus schien unbesetzt, Sie traute sich aber nicht, näher zu treten und vielleicht gegen die Tür zu klopfen. Aber irgendwer musste sich doch darum kümmern. Vielleicht die Müllabfuhr. Aber es war vermutlich sinnvoll, zunächst einmal die Polizei zu informieren. Sollten die das Notwendige veranlassen.

„Hier muss es doch irgendwo sein“, meinte Starck.

„Fahr rechts ran, da vorne, da steht er“, sagte Berger. Er stieg aus dem Streifenwagen. „Ich schau mir das mal an. Du sicherst mich.“ Vorsichtig näherte er sich. Irgendwie erinnerte der Truck ihn an die Begleitfahrzeuge der Rallye Paris Dakar. Ein wuchtiges sandgelbes Fahrzeug mit schweren, grobstolligen Reifen. „Hallo!“, rief er. „Hier ist die Polizei!“



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