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Markolwes - Wächter der Mark So nennt man in Teilen des Westerwaldes den Eichelhäher, der über die Bewohner des Waldes wacht. In einem modernen Staat ist das die Aufgabe der Frauen und Männer der Polizei. Ein älterer Herr, dessen Gruppe das Landschaftsmuseum Westerwald besucht, setzt sich ab und findet in einem Schuppen die Leiche einer jungen Frau. Ulla Stein und Christoph Leyendecker stoßen in einem ehemaligen Hotel auf eine seltsame Vereinigung, die sich "Neues Licht" nennt. Die Tote hat für diese Gemeinschaft gearbeitet. Ulla misstraut dem charismatischen Leiter, den sie aus der Schulzeit kennt. Hat er etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun? Welchen Grund sollte er dafür haben?
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Dies ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden.
Von Manfred Röder sind bisher erschienen:
Abrechnung – Abgefischt
Schneckentänzer
Offene Rechnung
Obolus
Manfred Röder, Jahrgang 1951, war jahrelang bei einer Kommunalverwaltung beschäftigt. Zuletzt leitete er die Ordnungs- und Sozialabteilung.
Zunächst schrieb er Liedtexte auf Wäller Platt. Einige werden sich wohl noch an „Det Läppchen“, „Meistens ränt et“ und andere Titel von Unplugged off Platt erinnern.
2011 erschienen die ersten Westerwaldkrimis um das Ermittlerduo Ulla Stein und Christoph Leyendecker.
Manfred Röder lebt mit Frau und Kater in seinem Geburtsort Hachenburg im Westerwald.
Markolwes – Wächter der Mark
So nennt man in Teilen des Westerwaldes den
Eichelhäher, der über die Bewohner des Waldes
wacht. In einem modernen Staat ist das die Aufgabe der Frauen und Männer der Polizei.
Jo! Ich sein werrer do.
Wend en den Hoor,
Lehmen onner den Schoh.
Ich kann den Rän spiern,
den Markolwes rofen hiern.
Ich fehlen mich wohl.
Ich sein werrer do.
Unplugged off Platt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Der Hund, der bis dahin vor dem Sofa geschlafen hatte, hob den Kopf, spitzte aufmerksam die Ohren und sprang dann auf. Ein dunkles Knurren war aus seiner Kehle zu hören. Die Nackenhaare sträubten sich.
Vermutlich lief wieder ein Fuchs über den Hof. Es konnte auch ein Marder sein. Aber die Hühner waren sicher im Stall eingesperrt. Da konnte nicht viel passieren. Gelegentlich verirrten sich auch andere Wildtiere, wie Rehe oder Wildschweine, hierher. Das war nichts Besonderes. Aber der Hund gewöhnte sich wohl nicht daran.
Der alte Bauer lebte seit Jahren allein auf dem kleinen Bauernhof. Ein paar Hühner, drei Kühe und der alte Traktor genügten ihm, um sich weitgehend autark zu versorgen. Seine Tochter machte sich Sorgen um ihn und hatte ihn mehrfach gebeten, zu ihr in die Stadt zu ziehen, aber das hatte er immer abgelehnt, denn er wollte seine Selbstständigkeit nicht aufgeben. Er kam noch ganz gut allein zurecht.
Der Hund knurrte erneut.
Der Bauer schaute aus dem Fenster. Draußen war es wie immer. Er konnte nichts Auffälliges erkennen. „Ruhig“, beschwichtigte er und streichelte über den Kopf des Hundes. „Was soll schon da draußen sein. Da ist nichts. Leg dich doch wieder hin.“
Aber der Hund gab keine Ruhe. Er rannte aufgeregt zu Tür und bellte.
„Also gut, sehen wir nach. Sonst gibst du ja den ganzen Abend keine Ruhe.“ Der Bauer rappelte sich auf. Er nahm die Leine vom Haken und legte sie sich um die Schulter, bevor er den Hund anleinte. Das machte er zur Sicherheit des Hundes, der vor drei Jahren mit einer Bache aneinandergeraten war, die Junge führte. Das war damals für den Hund nicht gut ausgegangen. Der Tierarzt hatte ihn damals mühsam zusammenflicken müssen. Das sollte nicht noch einmal passieren.
Im Besenschrank stand seine alte Schrotflinte, die er manchmal noch nutzte, um ein paar Kaninchen zu schießen. Er nahm zwei der Schrotpatronen aus der Packung und lud damit die Flinte. Eine Stabtaschenlampe, die er aus einer Schublade nahm und überprüfte, ob die Batterien noch genügend Saft hatten, vervollständigte seine Ausrüstung.
Als er nach draußen kam, schaute er sich sorgfältig um. Aber es schien alles ruhig zu sein. Er konnte nichts entdecken. Doch der Hund zog ihn zielgerichtet in Richtung des alten Renaults, den er vor der Scheune geparkt hatte. Bevor er etwas sah, hörte er das holprige, hustende Geräusch des anspringenden Motors. Er war sich aber sicher, dass der Autoschlüssel oben auf dem Wohnzimmertisch lag.
Eilig rannte er zur Fahrertür des Wagens und riss diese auf. Im ersten Moment war er erstaunt, dass eine Frau in der Lage war, einen PKW kurzzuschließen. Dann nahm er jedoch wahr, dass ihn die junge Frau mit weit aufgerissenen Augen völlig verängstigt anstarrte. Sie und das etwa sechsjährige Kind boten einen jämmerlichen Anblick. Beide waren spärlich bekleidet und zitterten am ganzen Körper. Ob das nun wegen der Kälte oder der Angst, die in ihren Augen stand, geschah, konnte er nur vermuten.
Er hatte eine leise Ahnung, woher die beiden kamen. In einem Chalet, das etwa drei Kilometer entfernt lag, lebten seit ein paar Jahren Fremde, die der einheimischen Bevölkerung suspekt erschienen, und um die sich einige aberwitzige Geschichten rankten. Wenn man einem der Bewohner begegnete, grüßte der freundlich, aber einen näheren Kontakt gab es nie. Kein Wunder, dass über die Fremden getuschelt wurde, und dass viele Gerüchte die Runde im Dorf machten. Die abenteuerlichsten Vermutungen wurden geäußert. Aber was in Wahrheit dort vorging, wusste keiner genau.
„Sie bringen alle um! Aber doch nicht die Kinder! Wir konnten glücklicherweise gerade noch fliehen. Ich muss uns in Sicherheit bringen! Lassen Sie uns bitte fahren!“, flehte die junge Frau verzweifelt.
Der Alte war einen kurzen Moment fassungslos. Er war nicht in der Lage einzuordnen, was die junge Frau ihm da sagen wollte. Doch ihre Angst war spürbar. Einen Moment war er verwirrt und wusste nicht, was er tun sollte. Aber dann fing er sich wieder. Schließlich hielt er ja die Flinte in der Hand. Von der jungen Frau ging für ihn keine unmittelbare Gefahr aus.
„Kommen Sie doch mit ins Haus, wärmen Sie sich auf, Sie sind ja ganz durchgefroren. Eine heiße Milch wird Ihnen und dem Kind guttun“, schlug er vor. „Vielleicht finden wir auch ein paar Kleidungsstücke, die Ihnen und dem Kind einigermaßen passen. Ich habe Telefon im Haus, damit können wir auch die Polizei verständigen. Die kann in wenigen Minuten hier sein. Dann sind Sie und das Kind in Sicherheit. Kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand. Ich helfe Ihnen aus dem Auto.“
„Keine Polizei“, bat sie mit erstickter Stimme. „Die kann uns auch nicht helfen. Wir müssen für immer verschwinden. Sie dürfen uns nicht finden.“
Er sah die Verzweiflung und Todesangst in den Augen der Frau und überlegte einen kurzen Augenblick. Dann senkte er langsam die Waffe. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Möge Gott Sie beschützen“, sagte er und schloss leise die Autotür.
Er stand lange da und schaute dem Wagen hinterher. Als die Rücklichter des alten Renaults verschwunden waren, drehte er sich um und ging zurück ins Haus.
Später sah er dann das Feuer, das den Nachthimmel erleuchtete.
Das Auto wurde ihm nach einigen Tagen zurückgebracht. Er fragte sich noch Jahre später, was wohl aus der Frau und dem Kind geworden war.
Als die alten Frauen in den hinteren Reihen mit ihren dünnen Stimmchen Wir wollen zum Land ausfahren anstimmten, wäre Albert Glückstadt am liebsten wieder ausgestiegen. Am frühen Morgen konnte er diese aufgesetzte Fröhlichkeit, zumindest empfand er das so, nur schwer ertragen. Aber was hatte er auch erwartet? Die meisten Teilnehmer an diesen Tagesfahrten mit dem Reisebus der Firma Kleiber aus Siegburg waren nun einmal ältere Damen oder Ehepaare. Glückstadt als alleinstehender Mann war da eher eine Ausnahme. Eigentlich gefielen ihm diese Fahrten auch nicht besonders, aber irgendwie musste er seine Zeit ja totschlagen, und seit seine Esther vor drei Jahren verstorben war, fiel ihm zu Hause allzu häufig die Decke auf den Kopf. Spätestens um elf Uhr hatte er die Zeitung dreimal gelesen und mehrere Sudoku-Rätsel gelöst. Ein Hund hätte ihm sicher gutgetan, aber damit wäre Eberhard, der alte schwarze Kater, nicht einverstanden gewesen. Etwas Abwechslung brachten diese Ausflüge dann doch, und die Firma Kleiber war ein seriöses Unternehmen, bei dem er nicht Gefahr lief, in irgendeinem renovierungsbedürftigen Wirtshaussaal zu landen, wo man ihm irgendwelche Heizdecken oder anderes überteuertes Zeug andrehen wollte.
Diesmal führte die Fahrt in den Westerwald. Sie hatten Glück. Bis auf ein paar Wölkchen wurde es ein sonniger Tag, was bisher in diesem Frühjahr durchaus öfter der Fall war, sodass die Natur zwei Wochen voraus war. Einige Rapsfelder zeigten sich schon in strahlendem Gelb.
Zunächst begaben sie sich auf die Spuren Friedrich Wilhelm Raiffeisens, was sie unter anderem nach Hamm und Weyerbusch führte. Die Lebensgefährtin des Busfahrers, die den Tross als Reiseleiterin begleitete, hatte ihre Hausaufgaben recht gut gemacht, denn sie konnte einiges aus dem Leben des Erfinders der Genossenschaften berichten.
Später ging es dann weiter, und nach etwas mehr als einer halben Stunde Fahrt erreichten sie die Zisterzienserabtei Marienstatt. Das gesamte Areal des Klosters war in einem ausgezeichneten Erhaltungszustand, wie Glückstadt bei einer etwa einstündigen Führung feststellen konnte. Anscheinend war das doch kein so schlechter Tag, dachte er. Aber diese Einschätzung musste er wenig später revidieren.
Schließlich war es an der Zeit, zu Mittag zu essen. Das Essen war im Reisepreis enthalten. Am Morgen hatte man sich in eine Liste eintragen können, in der man zwischen drei verschiedenen Gerichten wählen konnte. Glückstadt hatte sich für Schweinebraten mit Püree und Kraut entschieden, und er freute sich schon auf die deftige Mahlzeit. Allzu oft bekam er so etwas ja nicht mehr. Ohnehin rentierte sich das Kochen für eine Person nicht. Gelegentlich lud ihn seine Nachbarin zu einer ausgiebigen Mahlzeit ein, die er dann auch genoss.
Das dunkle Bier kam zügig und schmeckte ausgezeichnet. Aber dann verfestigte sich der Eindruck, dass heute nicht gerade sein Glückstag war. Statt des erwarteten Schweinebratens stand nämlich ein großer gemischter Salat vor ihm. Während sich alle über ihr Essen hermachten, versuchte Glückstadt vergeblich, die Kellnerin herbeizurufen, um den Irrtum aufzuklären, denn die hatte sich inzwischen einem anderen Tisch zugewandt.
Schließlich konnte er dann doch ihre Aufmerksamkeit gewinnen. „Ich habe einen Schweinebraten bestellt“, reklamierte er.
Die junge Dame schaute ihn vorwurfsvoll an. „Das ist nicht meine Schuld,“ verteidigte sie sich kurz angebunden. „Ich habe die Essen geliefert, die telefonisch bestellt wurden. Mehr kann ich wirklich nicht tun. Da müssen Sie sich schon untereinander einig werden.“
Glückstadt hatte sie ja nicht direkt beschuldigt, aber irgendwo musste man doch reklamieren. Er wurde langsam ungehalten. Zum einen hatte er jetzt tatsächlich Hunger, zum anderen ging es ihm nun ums Prinzip.
Die junge Reiseleiterin schaltete sich ein: „Es kann ja sein, dass etwas schief gelaufen ist, aber Sie sehen doch, dass alle anderen zufrieden sind. So nehmen Sie halt den Salat. Er sieht doch sehr gut aus.“
„Da liegt der feine Unterschied“, erklärte er. „Wenn alle anderen zufrieden sind, nützt mir das gar nichts. Ich bin es jedenfalls nicht. Es kann ja sein, dass der Salat sehr gut aussieht, ich will ihn aber nicht heiraten. Ich verlange meinen Schweinebraten!“, beharrte er auf seinem Recht, wofür ein kollektives Kopfschütteln erntete.
„Obwohl ich keine Schuld bei unserem Reiseunternehmen sehe, wollen wir doch, dass unsere Kunden zufrieden sind. Sie sollen Ihren Schweinebraten haben“, lenkte die Freundin des Busfahrers schließlich ein.
Damit hatte sie ihm nun den Wind aus den Segeln genommen.
Viele der Mitreisenden sahen ihn mitleidig an. Einige der Damen fingen an zu tuscheln. Irgendein notorischer Nörgler sei ja bei jeder Fahrt dabei.
„Das wird etwas dauern, bis der Braten fertig ist“, informierte die Bedienung, und damit hatte sie noch untertrieben.
Als dann endlich der einsame Schweinebraten kam, waren alle anderen mit dem Essen fertig, sodass Glückstadt uneingeschränkt die volle Aufmerksamkeit seiner Reisegruppe genießen konnte. Jeder seiner Bissen wurde aufmerksam beobachtet. Einige schauten demonstrativ auf die Uhr, andere raschelten mit ihren Mänteln. Der Appetit war ihm längst vergangen. Aber diese Genugtuung wollte er denen doch nicht geben. Er zwang sich, den Teller komplett zu leeren.
„Wir haben etwas Zeit verloren“, meldete sich die Reiseleiterin. In ihren Worten schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit. Selbstverständlich gab sie Glückstadt die Schuld an der Verzögerung. „Wir müssen uns beeilen. Wir werden im Landschaftsmuseum Westerwald erwartet.“
Natürlich blieb ihm keine Zeit mehr, die obligatorische Zigarette zu rauchen, was seiner Laune nicht gerade zuträglich war.
Aber es dauerte gerade einmal zehn Minuten, da hielt der Bus auch schon wieder. Glückstadt war der Erste, der draußen war, und zündete sich eine Zigarette an.
Das Museum lag offenbar in einem größeren Park mit altem Baumbestand. Man konnte mehrere Fachwerkgebäude erkennen.
„Wenn Sie mir bitte folgen würden!“, rief die Lebensgefährtin des Busfahrers. Sie winkte mit einem Schirm und eilte durch eine Lücke in der Mauer, die den Park einfasste.
Glückstadt hatte erst einmal genug von den anderen. Es brodelte immer noch in ihm. Er folgte zwar bis in den Park, hielt dann aber kurz inne und zündete sich eine weitere Zigarette an. Danach wandte er sich nach rechts und ließ die Gebäude des Museums links liegen. Sein Weg führte ihn in einen Abschnitt, den man anscheinend mit Absicht etwas verwildern ließ, denn hier zeigte sich unter den großen Laubbäumen mehr Unterholz, als in den anderen Teilen. Im Sommer war dort sicher alles zugewachsen. Auch waren hier die Wege nicht geteert, wie in den anderen Bereichen des Parks. Er fand das eigentlich eine gute Idee. Es musste nicht überall übertriebene Ordnung herrschen.
Er folgte dem schmalen Pfad und landete zu seiner Überraschung kurz darauf vor einem mehrere Meter hohen Zaun, der ihn an den Käfig erinnerte, in dem Charly Baumann seine Tigergruppe vorgeführt hatte, wenn er in seiner Jugend zusammen mit seinem Vater den Zirkus Roland besucht hatte.
Hier einen solchen Zaun vorzufinden, war schon seltsam. Der Sinn dieses Zaunes erschloss sich ihm nicht. Aber heutzutage war es ja in Mode gekommen, Zäune zu bauen. Das Geschäft mit Zäunen und Mauern florierte. Je nach Perspektive dienten diese dazu, jemanden ein oder jemanden auszusperren. Es lag auch immer daran, auf welcher Seite des Zaunes man sich gerade befand.
Glückstadt hing diesen Gedanken nicht weiter nach, die ihm dann doch zu philosophisch erschienen. Kurz darauf kam er an einen weiteren Durchbruch in der Mauer. Noch im Inneren des Parks stand ein alter vergammelter Holzschuppen. Dessen Tor war zwar mit einem Vorhängeschloss verschlossen, aber in der Seitenwand fehlten einige Bretter, sodass man ihn leicht betreten konnte. Eigentlich schenkte er dem alten Schuppen keine Beachtung. Aber als er vorbeiging, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was das war, konnte er nicht sagen. Möglicherweise hatte er etwas aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Er hielt inne und ging dann ein paar Schritte zurück. Er hatte tatsächlich etwas gesehen. Zuerst sah er nur diesen Turnschuh. Heutzutage würde man wohl eher Sneaker sagen.
Vorsichtig trat er etwas näher. Im Halbdunkel konnte er erkennen, dass zu dem Turnschuh ein Bein gehörte. Dann bemerkte er die Frau, die reglos dalag. Sei erster Gedanke war, einfach weiter zu gehen. Vielleicht war das jemand, der seinen Rausch ausschlief. Was ging ihn das alles an? Warum sollte er sich da einmischen? Für heute hatte er schon genug Unannehmlichkeiten gehabt. Aber dieser Gedanke war nur kurz. Glückstadt war sein ganzes Leben ein korrekter Mann gewesen, und das sollte auch so bleiben. Vielleicht benötigte jemand seine Hilfe. „Hallo! Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er nach, erhielt jedoch keine Antwort.
Es kostete ihn erhebliche Überwindung. Trotzdem machte er zögernd zwei Schritte in das Innere der Hütte, um genauer nachzuschauen, was denn nun da los war. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Die Frau lag völlig verrenkt da. Er konnte sofort erkennen, dass sie nicht mehr lebte. Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, machte er eilig kehrt und wählte mit zitternden Fingern die 110.
„Sie haben den Polizeinotruf gewählt. Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihren Standort. Was können wir für Sie tun?“, meldete sich eine ruhige männliche Stimme.
„Glückstadt, Albert Glückstadt, ich komme ursprünglich aus Siegburg“, stammelte er, „aber ich befinde mich in Hachenburg am Rande dieses Parks, unweit des Landschaftsmuseums Westerwald. In einem Schuppen, da liegt eine tote Frau.“
„Bleiben Sie ganz ruhig. Es kommt gleich jemand zu Ihnen. Können Sie genauer beschreiben, wo Sie sich befinden?“
„Ich kenne mich doch hier nicht aus.“
„Was sehen Sie?“
„Hier ist ein Ausgang aus diesem Park. Links ist ein Gebäude, das ich für ein altes Sägewerk halten würde, aber das ist nur eine Vermutung. Dann ist da ein relativ großer Parkplatz, auf dem zahlreiche Autos stehen. Dahinter liegt ein großes Gebäude, eine Schule, ein Heim oder etwas Ähnliches. Können Sie damit etwas anfangen?“
„Alles klar. So groß ist Hachenburg ja auch nicht. Sie sehen auf das Forstliche Bildungszentrum. Bleiben Sie vor Ort. Die Kollegen sind gleich bei Ihnen.“
„Hallo Karlchen, wo befindet ihr euch?“
„Wir fahren gerade durch Gehlert“, erwiderte der mächtige Streifenpolizist.
„Wir haben einen Notruf. Angeblich eine tote Frau in einem Schuppen in der Nähe der Waldarbeiterschule. Ihr fahrt am besten auf den Parkplatz dahinter. Der Anrufer, ein Albert Glückstadt, müsste da auf euch warten.“
„Alles klar, wir sind schon unterwegs. Verständigt trotzdem noch den Notarzt! Man kann nie wissen.“ Berger schaltete das Warnsignal ein. „Du hat alles gehört, gib Gummi!“, sagte er zu seinem Kollegen Starck.
„Da vorne, der Mann mit dem Mario-Basler-Gedächtnishut. Das muss er sein“, vermutete Berger und deutete auf einen kleinen älteren Mann in einem blauen Trenchcoat, der heftig gestikulierte.
„Von einem solchen Hut habe ich bisher noch nichts gehört“, erwiderte Starck. „Ist das wieder so eine Erfindung von dir?“
„Du bist doch Fan des 1.FC Kaiserslautern. Das solltest du eigentlich wissen. Du musst dich doch erinnern, dass Mario Basler sich einen solchen Pepitahut aufgesetzt hat, und wollte mit dem Hut auf dem Kopf eine Ecke schießen. Der Schiedsrichter hat das unterbunden. Das ging damals durch alle Gazetten.“
Starck schüttelte lediglich den Kopf. Wieder eine dieser Geschichten, wie sie Berger so häufig erzählte. Starck hatte immer wieder Mühe zu unterscheiden, ob das nun die Wahrheit oder Bergers Erfindungen waren.
Sie hatten kaum angehalten, da stand der kleine Mann auch schon an der Fahrertür und versuchte, die zu öffnen. „Kommen Sie schnell, da drüben in dem Schuppen liegt sie!“
Inzwischen war Berger auf der anderen Seite ausgestiegen. „Warten Sie bitte hier, wir sehen uns das an“, bat er, denn der Mann eilte voraus und wollte erneut in den Verschlag stürmen. Vermutlich hatte er bereits Spuren vernichtet. Aber das konnte man ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Immerhin hatte er nachgesehen und die Polizei gerufen.
Starck war den beiden gefolgt. Er trat an die Öffnung an der Seite heran und schaltete eine Stablampe ein, die er aus dem Kofferraum geholt hatte. Auch aus der Entfernung war zu erkennen, dass die junge Frau nicht mehr lebte. Sie hatte auffallend blonde mittellange Haare und trug eine dunkle Jeans und eine schwarze Jacke. Der dunkle Streifen an ihrem Hals legte den Schluss nahe, dass sie keines natürlichen Todes gestorben war. „Das ist ein Tatort, den darf keiner mehr betreten“, stellte er fest. „Wir verständigen am besten Frau Stein. Sie soll den Chef gleich mitbringen.“
Berger griff zum Handy. Bevor er aber telefonieren konnte, musste er eine Schar älterer Leute aufhalten, die aus Richtung des Museums herangeeilt kamen und versuchten, sich an ihm vorbei zu drängen. Er wunderte sich, warum die hier plötzlich auftauchten.
Aber Glückstadt lieferte sofort die Lösung. „Das ist meine Reisegruppe“, erklärte er. „Ich habe die Reiseleitung telefonisch verständigt. Nicht dass die ohne mich abfahren.“
Für die Reisegruppe schien Glückstadts Entdeckung eine spannende Begleiterscheinung der Reise zu sein, denn einige versuchten immer wieder, wenigstens einen Blick auf die Leiche zu werfen.
Als Berger ihnen lauthals Einhalt gebot, hatten sie doch Respekt vor dem Hünen in Uniform und gingen auf seine Aufforderung einige Schritte zurück.
Hauptkommissarin Ulla Stein war bei der Polizeiinspektion des Westerwaldstädtchens Hachenburg für Kriminalfälle zuständig. Eigentlich bestand die Abteilung nur aus ihr. Sie hatte zwar noch einen Kollegen. Aber den hatte sie seit Längerem nicht mehr gesehen. Es hieß, dass er demnächst pensioniert werden sollte. Sie hoffte, dass man dann Ersatz für ihn schicken würde. So half ihr lediglich ein junger Anwärter, der der Dienststelle zugewiesen worden war. Der junge Mann war durchaus hilfreich, insbesondere wenn es um Ermittlungen im Internet ging.
Aber da war ja noch ihr Lebensgefährte Christoph Leyendecker, der Leiter der Dienststelle, mit dem sie vom Landeskriminalamt nach Hachenburg gekommen war. Christoph war in Hachenburg geboren. Man hatte ihm den Posten damals angeboten, als der bisherige Amtsinhaber bei einem Marathon verstorben war. Er hatte ihn aber nur unter der Bedingung angetreten, dass Ulla mit ihm nach Hachenburg kommen konnte. Eine entsprechende Planstelle war vorhanden. Trotzdem war es eine Überraschung gewesen, dass man diese Bedingung akzeptiert hatte. Gemeinsam wohnten sie im Obergeschoss seines Elternhauses. Im Untergeschoss lebte immer noch Frau Hein, eine ältere Rentnerin, die sie gelegentlich bekochte, mit ihren beiden Katern Balboa und Schmeling.
Irgendwie fühlte sich Christoph durch seine weitgehend administrative Tätigkeit nicht ausgelastet und schaltete sich bei interessanten Fällen immer wieder ein. Gemeinsam hatten sie schon einige spektakuläre Fälle gelöst. Was ihnen bei den vorgesetzten Behörden einen gewissen Ruf eingebracht hatte, die ihnen häufig freie Hand ließen.
Ulla hatte bereits gehört, dass man angeblich eine tote Frau gefunden hatte. So war sie nicht weiter erstaunt, als sich der uniformierte Kollege Karl Berger bei ihr meldete, mit dem sie und Christoph eine herzliche Freundschaft verband.
„Hallo Karlchen, ist da etwas dran mit der toten Frau?“, erkundigte sie sich gleich.
„Definitiv“, erwiderte Berger, „und das ist kein normaler Todesfall. Wir benötigen wieder einmal das volle Programm, Spurensicherung, Gerichtsmediziner etc. Aber das weißt du ja besser als ich. Ich wette, Christoph wird auch wieder mitspielen wollen.“
Ulla lachte. „Mitspielen ist ein lustiger Ausdruck, aber er passt. Christoph lässt sich doch eine solche Gelegenheit nicht entgehen. Der hat auch schon gehört, dass es angeblich eine Tote gibt, und scharrt schon mit den Hufen. Ich werde alles veranlassen. Wir sind in wenigen Augenblicken bei euch.“
Als sie auf den Parkplatz abbogen, sahen sie schon Karl Berger, der die anderen deutlich überragte. Er war bemüht, einige Schaulustige zurückzudrängen. Es war immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Nachrichten dieser Art verbreiteten. Ulla nahm an, dass es sich überwiegend um Schüler oder Personal des Forstlichen Bildungszentrums handelte.
Mit den Worten: „Polizei, gehen Sie bitte zur Seite!“, bahnten sie sich den Weg zu ihm.
„Der Notarzt ist schon wieder weg“, unterrichtet Berger sie. „Hier sei nichts mehr für ihn zu tun, hat er erklärt. Ich habe noch einen weiteren Streifenwagen angefordert, sonst bekommen wir das hier nicht in den Griff. Starck ist oben im Burggarten mit einer Reisegruppe aus Siegburg, die das Museum besucht hat. Die sind kaum zurückzuhalten. Einige erklärten, dass sie das Recht zu einem kurzen Blick auf die Tote hätten. Schließlich habe einer von ihnen die Leiche ja entdeckt. Vermutlich nehmen die an, die Besichtigung sei im Reisepreis mit enthalten.“
„Die haben hier nichts verloren“, erklärte der ältere Herr im Pepitahut. „Die waren lediglich mit mir im Bus, aber ansonsten haben die nichts mit allem zu tun.“
„Das ist Herr Glückstadt“, stellte Karlchen den Mann vor. „Er hat die Tote entdeckt.“
„Mir ist der Schreck ganz schön in die Glieder gefahren, als ich sie da in dem Schuppen habe liegen sehen. Man findet ja nicht jeden Tag eine Tote“, sagte der kleine Mann. Man merkte ihm einen gewissen Stolz an. Falls er mit den anderen zurückfahren würde, wäre er wohl sozusagen der Hahn im Korb.
„Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld. Ich komme gleich zu Ihnen“, bat Ulla und ging in Richtung des Fundortes.
Leyendecker folgte ihr.
Sie vermieden es, das Innere des Gebäudes zu betreten. Die Kollegen von der Spurensicherung würden ohnehin maulen, dass davor so viele herumgetrampelt waren.
Starck reichte ihnen seine Stablampe.
“Eine ausgesprochen schöne Frau“, stellte Leyendecker fest. „Noch sehr jung. Sie hatte das ganze Leben noch vor sich. Ob man sie hier umgebracht hat?“