Schneckentänzer - Manfred Röder - E-Book

Schneckentänzer E-Book

Manfred Röder

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Beschreibung

Bei der Grillhütte des kleinen Westerwalddorfs Atzelgift wird ein junger Mann tot aufgefunden. Niemand weiß, wer der Fremde ist oder wo er herkommt. Kurz darauf findet man ein Mitglied der Apokalyptischen Biker, einer Rockertruppe, die ihr Domizil in einem ehemaligen Gasthaus im Wald zwischen Atzelgift und Nister aufgeschlagen hat, beim Denkmal des französischen Generals Marceau in der Nähe von Höchstenbach auf. Der Mann wurde mit einer alten Wehrmachtspistole erschossen. Die Ermittler Ulla Stein und Christoph Leyendecker stehen vor einem Rätsel. Gehören die beiden Fälle zusammen? Was wollte der junge Mann hier im Westerwald?

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Dies ist ein Roman. Sämtliche Handlungen und Personen sind frei erfunden. Die meisten im Buch erwähnten Orte, Plätze, Straßen oder Gebäude gibt es tatsächlich. Aber die „Morgensonne“ wurde bereits vor Jahren abgerissen und die direkte Verbindungsstraße zwischen Nister und Atzelgift geschlossen. Die Naubergstraße in Nister und die Elsterstraße in Atzelgift sind real. Nicht real sind die Wohnhäuser der Ehepaare Gürtler und Bertram.

Der Autor

Manfred Röder, Jahrgang 1951, sieht sich als Geschichtenerzähler. Das gilt für seine Liedtexte auf Wäller Platt und seine Kriminalromane. Dies ist der dritte Fall für die Ermittler Ulla Stein und Christoph Leyendecker. Die beiden ersten Fälle „Abrechnung“ und „Abgefischt“ wurden in einem Buch zusammengefasst und erschienen 2011.

Manfred Röder lebt mit Frau und Kater, dem eigentlichen Hausherrn, in einer ruhigen Seitenstraße seines Geburtsortes Hachenburg im Westerwald.

Ich sein enn Spinner, enn Schlawiner, sein enn Schwätzer, Schneckedänzer, blosen nur Ferrern enn die Hieh.(Unplugged off Platt)

Für Ingrid

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Mittwoch, 20. Mai 2015

Prolog

Der Sommer des Jahres 1991 ging langsam zu Ende. Aber hier in der Toscana waren die Temperaturen immer noch sehr angenehm, auch wenn es nachts doch schon recht frisch wurde. Die vergangenen Monate waren zweifellos die glücklichsten ihres Lebens. Franziska stammte aus einem kleinen Örtchen in der Nähe Magdeburgs. Gerade erst erwachsen geworden, hatte sie die Ereignisse der Wende hautnah miterlebt. Wie so viele hatte auch sie den Traum von Freiheit und Abenteuer geträumt. Aber anders als bei vielen anderen war es bei ihr nicht beim Träumen geblieben.

Mit ein paar Hundertern in der Tasche, gerade mal einem Rucksack mit Kleidung und einer Isomatte hatte sie ihrem Dorf den Rücken gekehrt. Europa wartete auf sie. Sie war jung und konnte anpacken. So fand sie immer wieder einen Platz, wo sie schlafen oder wo sie sich ein paar Mark, Franc, Peseten oder Lire verdienen konnte, um die nächsten Tage oder Wochen zu überbrücken. Ohne festes Ziel war sie durch halb Europa gezogen.

Auf Fuerteventura schloss sie sich dann einer Gruppe junger Leute an. Es war eine unbeschwerte Zeit. Sie schliefen am Strand oder in irgendwelchen Höhlen. Irgendwie war immer genug Geld für das nächste Essen oder die eine oder andere Flasche Wein da.

Hier lernte sie auch Dirk kennen. Seinen Nachnamen kannte sie bis heute nicht. Dirk verdiente seine Peseten, indem er sich mit seiner Gitarre in die Fußgängerzonen der Touristenorte setzte und melancholische Lieder spielte. Sie verliebten sich ineinander. Irgendwann fanden sie es an der Zeit, Fuerteventura zu verlassen und trennten sich von der Gruppe. Zu zweit zogen sie durch Spanien und Südfrankreich, bis sie schließlich hier in diesem schönen Teil Italiens landeten.

Die Nacht hatten sie im Schlafsack auf einer kleinen Anhöhe verbracht. Der Morgen war recht trübe, aber sie wussten, dass es, wenn die Sonne den Morgennebel erst einmal durchdrungen hatte, ein warmer und freundlicher Tag werden würde. Einige trockene Äste waren genug für ein kleines Feuer. Das Wasser für den Kaffee schöpften sie aus einem kleinen Rinnsal, das noch nicht ganz ausgetrocknet war. Es waren noch Brot, Tomaten und ein Stück Salami vom Vortag da. Das sollte für ein bescheidenes Frühstück ausreichen.

Am Fuß des kleinen Berges lag ein kleiner Bauernhof. Das Krähen eines Hahnes hatten sie bereits in der Dämmerung gehört. Ansonsten schien dort unten alles noch friedlich zu schlafen. „Ein paar Eier zum Frühstück wären jetzt nicht schlecht“, scherzte sie.

„Ich sage den Zimmerservice bescheid“, antwortete er, während er seine Turnschuhe anzog.

„Was hat du vor?“, fragte sie.

„Du sollst deine Eier haben“, erwiderte er lachend.

„Du bist verrückt, du kannst doch nicht …“

„Natürlich kann ich“, unterbrach er sie, „dauert nur ein paar Minuten.“

Halbherzig versuchte sie ihn zurückzuhalten, aber da war er schon auf dem Weg ins Tal. Immer diese Dummheiten, dachte sie, aber gerade wegen dieser spontanen Einfälle liebte sie ihn.

Sie konnte Dirk nicht mehr sehen. Er war zwischen den verschiedenen kleineren Gebäuden verschwunden. Was dann die nächsten Minuten geschah, würde sie ihr ganzes Leben nie wieder vergessen und sie wie ein böser Traum immer wieder einholen. Plötzlich schlug ein Hund an. Dann war da dieser alte Mann mit der Flinte, der irgendetwas in der Sprache der Einheimischen rief. Dann fiel ein Schuss. Der Schuss hallte lange in ihren Ohren nach, ohne dass sie begriff, was da geschehen war. Unfähig sich zu rühren, lag sie reglos da.

Erst als die Carabinieri und kurz danach ein Leichenwagen kamen, fing sie an, das Unfassbare zu begreifen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie sich auf den Weg machte.

Kapitel 1

Dass dies ein beschissener Tag werden würde, war Karl Berger klar, als er morgens schlaftrunken mit dem kleinen Zeh seines linken Fußes gegen die Badezimmertür knallte. Als dann auch noch diese blöde Karre nicht ansprang, und er zu Fuß zur Dienststelle humpeln musste, war er sich dessen ganz sicher. Da war es auch nicht weiter verwunderlich, dass dieser Hohlkörper, der sich selbst Löwe nannte, kurz vor Schichtwechsel unter der 110 anrief. Der Kerl hatte nichts wie Blödsinn im Kopf. Berger war fest davon überzeugt, dass es sich um blinden Alarm handeln würde. Aber leider war dem nicht so.

Der Tote war an die Hütte gelehnt. Rechts von ihm standen einige Kästen Bier. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, als sei er während einer Fete eingeschlafen. Es war noch keine zwei Wochen her, dass man Berger zuletzt zum Atzelgifter Grillplatz gerufen hatte. Damals hatte eine Berufsschulklasse, überwiegend Frauen, ihren Abschluss von vor fünfundzwanzig Jahren gefeiert. Die hatten alles darangesetzt, dass alle Bewohner der anliegenden Straßen die meisten Songs Wolfgang Petrys auswendig lernten. Weit nach Mitternacht hatte dann ein genervter Anwohner die Dienststelle in Hachenburg angerufen und das Gespräch bezeichnenderweise mit „Hölle! Hölle! Hölle!“ begonnen. Als die Streife dann eintraf, hatte es mit den Feiernden keine größeren Probleme gegeben. Sie hatten sofort die überdimensionale Musikanlage leiser gedreht. Bergers Ehefrau hatte sich nur am nächsten Tag beklagt, dass die zahlreichen Lippenstiftspuren so schlecht vom Kragen des Uniformhemdes zu entfernen waren.

Diesmal war es ernster. Obwohl der junge Mann friedlich zu schlafen schien, sah Berger sofort, dass er tot war. Er hatte schon einige Tote gesehen. Hier war kein Notarzt erforderlich.

„Die haben wir dahin gestellt, wir haben heute eine Geburtstagsfeier. Bis dahin seid ihr doch sicher hier fertig.“ Der Dreißigjährige, der das sagte, war eben dieser Löwe. Er deutete dabei auf die Bierkästen. Berger kannte den Mann, war der doch öfter an Schlägereien und Raufhändeln beteiligt. Im Grunde war er alles andere als ein Löwe sondern eher harmlos. Lediglich nach dem übermäßigen Genuss von Alkohol glaubte er, gewaltige Kräfte zu besitzen und legte sich gerne mit welchen an, die einen Kopf größer als er waren, und das waren die meisten, denn Löwe maß gerade mal eins siebzig.

Berger lockerte seinen Hemdkragen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Die erste richtige Hitzeperiode des Jahres und das bereits Anfang Mai. Die Wetterfee hatte irgendetwas von subtropischer Luft erzählt, die aus Südwesten nach Deutschland zog. Vor zehn Minuten hätte seine Schicht geendet. Eigentlich könnte er jetzt in seinem Garten sitzen, ein kühles Bier vor sich. Der Tag war viel zu schön, um ihn mit einem Toten und solchen Idioten zu verbringen. Aber das war schließlich sein Job und eigentlich mochte er den auch. Er war versucht, den nächsten Satz mit Hornochse zu beginnen, fragte jedoch stattdessen lediglich: „Habt ihr irgendetwas angerührt?“ Obwohl sich die Frage eigentlich angesichts der Bierkästen erledigte.

Löwe und seine beiden Begleiter schüttelten den Kopf.. Ein langer Dürrer, den Berger wohl vom Sehen, aber nicht mit Namen kannte, antwortete: „Natürlich nicht. Das sieht man doch in jedem Krimi. Wir haben euch gleich angerufen. Wir sind der Polizei immer gerne behilflich.“ Das hämische Grinsen hätte er sich auch sparen können.

„Und da habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier alles zu kontaminieren?“

„Wir haben hier nichts kontaminiert, was immer das auch bedeuten soll. Wir wollen nur Geburtstag feiern. Können wir schon mal das Holz ausladen und das Feuer anzünden? Nur von der Sonne wird der Spießbraten auch nicht gar.“

„Nichts könnt ihr. Ihr habt schon genug angerichtet. Ihr wartet in mindestens dreißig Metern Entfernung, bis unsere Kollegin da ist. Die hat sicher noch einige Fragen an euch.“

Berger wies seinen jungen Kollegen, der etwas blass um die Nase war, an: „Sperr hier mal großzügig ab! Ich rufe Frau Stein an, die soll sich das hier mal ansehen.“

Ulla Stein, mehr oder weniger das Einmannteam, oder sollte man sagen, das Einfrauteam, der Kripo bei der Polizeiinspektion Hachenburg im nördlichen Rheinland-Pfalz.

Eigentlich gehörte noch ein anderer Kollege, Oberkommissar Otto, zu der Truppe, aber Ulla hatte ihn seit ihrem Amtsantritt vor etwa einem halben Jahr noch nicht zu Gesicht bekommen. Statt dessen hatte man ihr Mark Schneider, einen jungen Anwärter zugewiesen, der seinen Dienst stets gebügelt und geschniegelt antrat, und der von sich überzeugt war, dass die Polizei mit ihm einen großen Fang gemacht hatte und er irgendwann Polizeipräsident werden würde.

So recht hatte sich Ulla noch nicht an ihren neuen Arbeitsplatz gewöhnt, war doch alles für die attraktive Hauptkommissarin ziemlich überraschend gekommen. Es hatte damit angefangen, dass der bisherige Dienststellenleiter seinem Hobby zum Opfer gefallen war. Beim Training zum Londonmarathon hatte er eine Grippe übergangen und war dann, obwohl er dabei war, eine persönliche Bestzeit aufzustellen, kurz vor dem Ziel tot zusammengebrochen. Bei der Obduktion war eine Herzmuskelentzündung festgestellt worden.

Da man solche Posten ungern aus der Dienststelle heraus neu besetzt, war die Stelle ausgeschrieben worden und man hatte Ulla Steins Lebensgefährten Christoph Leyendecker nahegelegt, sich doch zu bewerben, da er ja aus Hachenburg stamme und hier schon mit einigem Erfolg tätig geworden sei. Mehr oder weniger hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass er, falls er sich bewerbe, sehr wahrscheinlich genommen würde. Leyendecker hatte lange gezögert, war er doch schon einmal vom LKA nach Hachenburg gewechselt, nur um dann kurz darauf, zwar mit verbesserten Konditionen, zum LKA zurückzukehren.

Den Ausschlag hatte schließlich gegeben, dass man Ulla Stein Leyendeckers ehemalige Stelle, die immer noch vakant war, unter der Hand zugesagt hatte.

Trotzdem war es beiden nicht leicht gefallen, die Großstadt gegen das beschauliche Landleben einzutauschen. Schließlich hatten sie sich doch beide für den Westerwald entschieden und waren in die Wohnung im Obergeschoss von Leyendeckers Geburtshaus, die sie bisher schon als Ferienwohnung nutzten, eingezogen. Sehr zur Freude von Frau Hein, die immer noch mit ihrem Kater Balboa die untere Wohnung bewohnte, und die endlich wieder jemand hatte, den sie mit ihren deftigen Mahlzeiten versorgen konnte.

Eigentlich fühlten sie sich ganz wohl. Gelegentlich vermisste Ulla Mainz. Bei Leyendecker war das weniger der Fall. Ihm machte mehr zu schaffen, dass er jetzt als Dienstellenleiter häufiger die ungeliebte Uniform tragen musste. Er beschränkte dies jedoch, soweit er dies eben konnte, auf repräsentative Anlässe, was sicher nicht den Vorschriften entsprach.

Kapitel 2

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis Ulla Stein aus ihrem gelben Mini ausstieg. Das Erste, was sie wahrnahm, war das Gezeter der Elstern, die ganz in der Nähe ihre Nester gebaut hatten. Vermutlich in der Hoffnung, dass bei den zahlreichen Feiern auch einiges an Fressbarem für sie abfiel. Die schwarz-weißen Rabenvögel hatten hier sozusagen Heimrecht, waren sie doch die Namensgeber für das kleine Dorf in der Nähe der Abtei Marienstatt, denn Atzel ist wohl das altdeutsche Wort für Elster. Einer der Geburtstagsgäste pfiff anerkennend, als er Ulla wahrnahm, wofür er lediglich ein Kopfschütteln erntete.

„Hallo Ulla“, begrüßte Berger seine Kollegin und hielt ihr das Absperrband hoch. „Schau dir das lieber selbst an.“

Der Tote war wohl nur wenig älter als zwanzig. Schwarze Locken, braune Augen, eigentlich ein recht hübscher Junge. Bekleidet war er mit einem schwarzen T-Shirt und einer verschlissenen Jeans. An den Füßen trug er Sportschuhe, die, wie die drei Streifen auswiesen, von diesem großen Sportausrüster aus Herzogenaurach stammten. Am Hinterkopf konnte man eine offene Wunde sehen, allerdings war kaum Blut geflossen.

So richtig hatte Ulla sich immer noch nicht an den Anblick von Toten gewöhnt, besonders wenn es sich um so junge Menschen wie in diesem Fall handelte. Zwar hatte sich mit der Zeit eine gewisse Routine eingestellt, Ulla war jedoch weit davon entfernt, den Tod als Normalfall anzusehen. Natürlich konnte sie an der Tatsache nichts mehr ändern, aber die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, das konnte sie und deshalb verschaffte ihr der Beruf als Polizeibeamtin nach wie vor eine gewisse Befriedigung. „Wir brauchen das volle Programm“, stellte sie fest. „Gerichtsmedizin, Spurensicherung und so weiter.“ Sie sah von weiteren Untersuchungen an der Leiche ab, wollte sie sich doch nicht den Zorn der Spurensicherer zuziehen.

Nach ein paar Telefonaten wandte sie sich den drei Geburtstagsgästen zu. Allerdings hätte sie sich deren dummes Geschwätz auch ersparen können. Außer irgendwelchen Witzchen, die wohl nur sie lustig fanden, konnten die nichts weiter Erhellendes beitragen. Nein, sie hätten nichts Auffälliges gemerkt. Ob sie denn nun die abendliche Feier vorbereiten können.

„Daraus wird nichts“, nahm sie ihnen den Wind aus den Segeln. „Ich schlage vor, ihr nehmt eure Handys und informiert eure Kumpane, dass die Feier gestrichen ist. Ich habe kein Interesse, dass nachher noch mehr von eurer Sorte auftauchen. Hinterlasst eure Adressen bei den Kollegen und macht euch vom Acker.“

Gerichtsmediziner, ein Dr. Junghans, und das Team der Spurensicherung trafen fast gleichzeitig ein.

Der Arzt untersuchte den Toten eingehend, wobei er leise vor sich hinbrummelte.

„Können Sie schon was sagen?“, drängelte Ulla Stein.

„Immer diese Ungeduld. Sie wissen doch selbst, dass ich ohne genauere Untersuchung nichts sagen kann. Die Wunde am Hinterkopf sehen Sie ja selbst, ob die allerdings die Todesursache ist …“

„Was meinen Sie, wurde er hier getötet?“

„Nein. Er wurde tot transportiert. Das kann man anhand der Leichenflecke feststellen. Außerdem müsste hier dann mehr Blut sein.“

„Das habe ich mir auch schon gedacht“, stimmte Ulla ihm zu. „Todeszeitpunkt?“

„Gestern Abend. Zehn Uhr, Plusminus zwei Stunden. Das wäre zunächst alles.“

„Danke für ihre Hilfe.“

Ulla sah sich um. Warum wurde der Tote gerade an diesen Ort gebracht?

Der Platz hier war gut zu erreichen, aber trotzdem schlecht einzusehen. Jemand hatte es wohl eilig gehabt, die Leiche loszuwerden. Einfach kurz von der Landstraße abfahren. Innerhalb weniger Minuten war alles erledigt. Unauffälliger, als irgendwo in den Wald zu fahren. Ein Auto im Wald erregt immer Aufmerksamkeit. Irgendein Spaziergänger oder Jäger begegnet einem immer. Der erinnert sich dann auch. Ein Auto würde hier jedoch keinem auffallen.

Der Leiter der Spurensicherung, er trug immer noch die obligatorische John-Lennon-Brille, kam auf Ulla zu. „Können wir?“

Sie nickte. „Vielleicht durchsuchen Sie den Toten zuerst. Möglicherweise findet sich ja dort ein Hinweis, mit wem wir es hier zu tun haben.“

Leider war das nicht der Fall. Ein Päckchen Tabak, Zigarettenpapier, ein Einwegfeuerzeug. Mehr befand sich nicht in den Taschen.

„Schade“, stellte Ulla fest. „Möglich, dass wir anhand der Fingerabdrücke die Identität feststellen können, falls die registriert sind. Wenn nicht, kann es schwierig werden. Suchen Sie weiter. Laut Gerichtsmediziner ist der Tote transportiert worden. Vielleicht finden Sie ja Spuren eines Fahrzeugs.“

„Leider kann ich Ihnen da wenig Hoffnung machen. Das hier ist ein Grillplatz. Da wimmelt es von Spuren. Das wäre die Nadel im Heuhaufen.“

„Warten wir ab“, bemerkte Ulla, „wenn es Spuren gibt, dann finden Sie die auch. Da bin ich mir sehr sicher.“

Ulla wandte sich an Berger, der etwas abseitsstand. „Hört euch bitte mal bei den nächsten Anliegern um, ob von denen jemand etwas bemerkt hat.“

Berger nickte und winkte seinem jungen Kollegen.

Ulla wartete noch, bis die Männer mit dem Zinksarg kamen. Dann fuhr sie zurück zur Dienststelle.

Leyendecker erwartete sie bereits. Natürlich hatte es sich längst rumgesprochen, dass sie es wieder einmal mit einem Tötungsdelikt zu tun hatten. Er hörte sich kurz an, was Ulla Stein zu berichten hatte. „Viel ist das ja nun nicht gerade.“

„Wir stehen ja gerade am Anfang. Was erwartest du?“, entgegnete Ulla.

„Du weißt schon, dass eigentlich die Kollegen aus Koblenz zuständig sind?,“ gab er zu bedenken.

„Die werden sich nicht gerade um den Fall reißen. Ein unbekannter Streuner. Da kräht doch kein Hahn danach.“

„Da magst du schon recht haben. Trotzdem muss ich sie informieren. Bis dahin kannst du ja erst einmal weiter ermitteln.“

„Fragt sich nur wie und wo“, seufzte sie.

„Du machst das schon. Zur Not müssen wir die Presse einschalten und das Foto des Toten veröffentlichen. Aber warten wir zunächst einmal ab. Vielleicht hat ja Karlchen etwas erfahren. Ich sehe, da kommt er bereits über den Parkplatz.“

Kurze Zeit später betrat Karl Berger die Stube des Dienstellenleiters. „Ganz schön heiß da draußen,“ brummelte er. „Die hatten sich schon den richtigen Tag für ihr Grillfest ausgesucht.“

„Daraus wird wohl jetzt nichts,“ stellte Leyendecker fest. „Konntet ihr irgendwas in Erfahrung bringen?“

Berger schüttelte die schwarzen Locken. „Keiner will irgendetwas gesehen oder gehört haben. Es ist wie mit den drei Affen, aber im Ernst, wer soll schon was merken, wenn da nachts irgendjemand etwas ablädt.“

„Überhaupt nichts was uns weiter hilft?“

„Nun ja, irgendwer glaubt, ein schweres Motorrad gehört zu haben. Vielleicht eine Harley, aber sicher ist er sich da auch nicht, und an die Uhrzeit kann er sich auch nicht erinnern. Keine wirkliche Hilfe.“

„Vielleicht doch“, warf Leyendecker ein. „Da gibt es doch zwischen Atzelgift und Nister das Klubhaus von diesen Rockern.“

„Ach ja, die Morgensonne, mein Gott, ist das lange her. Früher war dort einmal richtig was los,“ erinnerte sich Berger. „Das war allerdings in grauer Vorzeit. Dann ist es mit der Kneipe immer weiter bergab gegangen. Es hieß, sie sollte abgerissen werden. Auf einmal waren diese Motorradfahrer da. Sind bisher nicht weiter auffällig geworden. Ab und zu sieht man sie auf ihren schweren Maschinen. Aber sonst …“ Er zuckte die Achseln.

„Das interessiert mich. Die sehen wir uns mal an. Kommst du mit, Karlchen?“

Berger folgte Ulla. „Lass uns den Streifenwagen nehmen. In deiner Sardinenbüchse habe ich viel zu wenig Platz.“

„Der Mini ist sehr geräumig. Ich glaube du musst dringend ein paar Kilos abspecken.“

Kapitel 3

In den letzten Jahren hatte es hier immer wie Kraut und Rüben ausgesehen. Diesmal wirkte alles viel aufgeräumter. Außerdem hatte man der alten Morgensonne ein paar Liter Farbe gegönnt. Es war noch Nachmittag, und der helle Sonnenschein verlieh dem alten Gemäuer tatsächlich einen gewissen einladenden Glanz. Vermutlich gingen die meisten Biker auch einer geregelten Beschäftigung nach. Deshalb standen auch nur wenige Motorräder auf dem Hof. Berger sah ein altes BMW-Gespann, mehrere Harleys und eine Münch Mammut TTS.

Karlchen zeigte auf die Mammut. „Erinnert mich an meine Jugend.“

„Sag bloß, du hättest eine solche Maschine gefahren? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Das nicht gerade, die hätte ich mir gar nicht leisten können, aber mein erstes Auto, ein zehn Jahre alter NSU, hatte denn gleichen Motor.“

Ulla klingelte.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. „Dies ist ein Klub. Zutritt nur für Mitglieder.“

Ulla zeigte ihren Dienstausweis: „Meine Mitgliedskarte!“

Der dicke Kerl mit verfilztem Bart und verfilzten Haaren öffnete. Gekleidet war er wie man sich so landläufig das Mitglied einer Rockergruppe vorstellt. Schwere Stiefel, schwarze Lederhose, schwarze ärmellose Lederweste. „Kommen Sie doch herein, wenn ich Ihren Begleiter in Uniform eher gesehen hätte, hätte ich gleich geöffnet“, schnaufte er.

„Ist mir auch noch nicht passiert, ich bin ja nun wirklich nicht zu übersehen“, amüsierte sich Berger.

Der Dicke ging voraus. Die Rückseite seiner Weste zierte Dürers Holzschnitt Ritter, Tod und Teufel. Nur dass die drei Reiter nicht auf Pferden, sondern auf schweren Motorrädern saßen. Darüber stand in Rot: Apokalyptische Biker.

Sie folgten in den ehemaligen Schankraum. Aus den schweren Lautsprechern erklang Stairway to Haeven. Ulla mochte diesen Song von Led Zeppelin. Besonders den langsamen Teil. Das letzte Drittel empfand sie eher als Geschrei und Krach.

Die Möbel schienen noch aus der Zeit zu stammen, als die Morgensonne noch eine gut florierende Gaststätte war. Zumindest kam das Berger so vor, aber sicher war er sich da auch nicht. Im fahlen Licht konnten sie sechs Personen wahrnehmen. Vier Männer, zwei vor der Bar, einer dahinter. Ein weiterer saß an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes an einem Laptop. Alle trugen die Uniform der Apokalyptischen Biker. Die beiden Frauen waren ebenfalls in schwarzes Leder gekleidet, Dürers Holzschnitt fehlte jedoch.

Die beiden Frauen kamen gleich auf Karlchen zu. „Was für ein schöner stattlicher Mann. Trinkst du etwas mit uns?“

Karlchen lächelte. „Ein andermal gerne. Aber wie ihr seht, bin ich im Dienst. Aber ich komme gerne auf euer Angebot zurück.“

„Ludo, dein Typ wird verlangt!“ rief der Dicke.

Der Mann am Tisch erhob sich und mit ihm ein schwerer Rottweiler, den sie erst jetzt bemerkten. „Bleib liegen Hannes, Freunde.“ Gehorsam legte sich der Hund wieder hin und schloss die Augen.

Ludo, wie ihn der Dicke genannt hatte, war schon eine beeindruckende Erscheinung. Sicher genauso groß wie Karlchen, breite Brust und muskulöse Arme. Die blonden lockigen Haare und der rötliche Bart waren ordentlich frisiert. Am meisten faszinierten Ulla jedoch die wasserblauen Augen, irgendwie unergründlich.

Mit einer Handbewegung wies er den Mann hinter der Theke an, die Musik leiser zu stellen. „Bring uns bitte drei Tee!“

„Sie mögen doch Tee, Frau Stein?“ fragte er und reichte Ulla die Hand.

Ulla Stein wunderte sich. „Kennen wir uns?“

Lächelnd antwortete er: „Leider bisher nicht persönlich, aber damals nach der Schießerei am Dreifelder Weiher waren Sie in allen Gazetten. Ich muss sagen, die Fotos in den Zeitungen werden Ihnen in der Wirklichkeit nicht gerecht.“

Ulla ersparte sich eine Antwort auf die Schmeicheleien. „Mein Kollege Oberkommissar Berger“, stellte Sie Karlchen vor.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, wie ich sehe, kommt der Tee schon. Was kann ich für die Polizei tun?“

„Sagen Sie uns erst mal Ihren Namen.“

„Selbstverständlich, mein vollständiger Name ist Ludo Behrmann, aber nennen Sie mich doch Ludo, wie alle anderen hier.“

„Ich bleibe doch lieber bei Herr Behrmann. Sie haben es sicher schon gehört. Bei der Grillhütte in Atzelgift gab es einen Todesfall.“

„So was spricht sich schnell herum, wir haben davon gehört. Und da kommen Sie gleich zu den gefährlichen Rockern?“

„Einer der Zeugen glaubte, ein schweres Motorrad gehört zu haben. Vielleicht hat ja einer Ihrer Leute etwas gesehen.“

„Schwere Motorräder gibt es viele. Erwähnt hat jedenfalls keiner etwas. Ich kann mich ja erkundigen. Dafür müsste ich natürlich wissen, von welchem Zeitraum wir reden.“

„Irgendwann am gestrigen Abend. Wir können uns da nicht so genau festlegen. Alles kann wichtig sein.“ Ulla rief auf Ihrem I-Phone das Bild des Toten auf. „Haben Sie den jungen Mann schon mal gesehen?“

Ludo besah sich das Foto eingehend. „Nicht dass ich wüsste, aber ich kann ja meine Leute fragen. Am besten Sie mailen mir das Foto, dann kann ich es ausdrucken. Heute Abend sind sicher mehr Leute da. Ich werde es aufhängen. Vielleicht kann Ihnen ja doch einer von uns behilflich sein.“ Während er das sagte, holte er eine Visitenkarte aus der Tasche. „Hier finden Sie meine Mailadresse.“

AB-Securitas war da zu lesen. „Sie betreiben eine Sicherheitsfirma?“, erkundigte sich Ulla. „Sind Sie da der Chef?“

Ludo lächelte. „So kann man das wohl ausdrücken. Tatsächlich betreiben wir einige Firmen. Hauptsächlich im Bereich der Sicherheit. Wachdienst, Leibwächter, Ordnungsdienst. Sie verstehen sicher. Außerdem ein paar Fitnessstudios und eine Inkassofirma.“

„Apokalypse-Inkasso“, rutschte Berger raus.

„Sicher alles sehr einträglich“, stellte Ulla fest.

Ludo verlor sein freundliches Lächeln nicht. „Wir können nicht klagen. Besuchen Sie doch mal eins unserer Fitnessstudios. Sie sind eingeladen. Sie selbstverständlich auch, Herr Oberkommissar.“

Berger schüttelte sich wie ein Neupfundländer, der gerade aus dem Wasser kommt. „Mir reicht der Dienstsport.“