Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ulla Stein und Christoph Leyendecker genießen ein Konzert auf dem Alten Markt Hachenburgs. Da wird in ihrer unmittelbaren Nähe eine Frau erstochen. Der Täter kann trotz der vielen Konzertbesucher unerkannt entkommen. Der Verdacht fällt zunächst auf den Ehemann der Toten. Aber der hat ein Alibi. Außerdem können sie kein Motiv erkennen. Der entscheidende Hinweis kommt diesmal von Siggi und Fred, den beiden stadtbekannten Tagedieben. Er führt Lars Höbel, den jungen Kollegen von der Kripo Koblenz, bis nach Rumänien in die Vorkarpaten. Am Ende fällt es schwer, ein Urteil zu fällen. Täter sind Opfer und Opfer sind Täter.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dies ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden.
Von Manfred Röder sind bisher erschienen:
Abrechnung – Abgefischt
Schneckentänzer
Offene Rechnung
Obolus
Markolwes
Manfred Röder wurde 1951 in Hachenburg (Westerwald) geboren. Mit Frau und Kater lebt er heute noch dort.
Er war lange bei einer Kommunalverwaltung beschäftigt. Zuletzt leitete er die Ordnungs- und Sozialabteilung.
Manfred Röder sieht sich als Geschichtenerzähler. Zunächst schrieb er Songtexte auf Wäller Platt. Seit 2011 veröffentlicht er die Westerwaldkrimis um das Ermittlerduo Ulla Stein und Christoph Leyendecker.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zwei Wochen später
Sie hatte es immer gewusst. Irgendwann bekam sie ihre Chance. Aber sie hatte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Doch jetzt lag die Schrotflinte in ihrer Hand.
Der Mann wollte nicht wahrhaben, dass sie wirklich abdrücken könnte. Er sah sie nur abfällig an und grinste überlegen. Das Grinsen verschwand auch nicht aus seinem Gesicht, als sie den Hahn spannte. Es verwandelte sich erst in fassungsloses Erstaunen, als sie die Waffe abfeuerte. Der Rückstoß hätte sie fast umgehauen.
Die Hexe, die sie gemeinsam mit ihrem Mann so lange gequält hatte, kam aus dem Haus gerannt, als sie den Schuss hörte. Sie schwang drohend ein Messer, das sie sonst zum Schlachten der Lämmer benutzte.
Die junge Frau zögert keinen Augenblick. Sie hob völlig emotionslos die Schrotflinte an die Schulter und drückte ab.
Die Ladung Schrot verfehlte ihre Wirkung nicht. Ihre Peinigerin lag reglos am Boden.
Der riesige Hund, der ihre beiden bisherigen Fluchtversuche praktisch im Keim erstickt hatte, sprang kläffend und tobend gegen den Maschendrahtzaun des Pferchs, in dem er eingesperrt war.
Sie griff in die Tasche des toten Mannes, holte zwei weitere Schrotpatronen hervor und lud die Flinte neu. Danach richtete sie die Waffe auf den Hund. Aber dann zögerte sie. Sie hatte sich zwar immer vor dem Tier gefürchtet, aber jetzt ging davon keine Gefahr mehr aus. Was konnte der Hund schon dafür, was ihr alles widerfahren war? Er war doch lediglich ein willenloses Werkzeug seines Herrn gewesen.
Sie senkte die Waffe. Dann ging sie ins Haus. Sie hatte keine Eile. Es war zwar möglich, dass man drunten im Tal die Schüsse gehört hatte, aber man würde dem keine Bedeutung beimessen, denn hier oben wurde öfter geschossen. Sie durchsuchte die Schränke und fand etwas Geld. Es war nicht viel und konnte sie in keiner Weise für das Erlittene entschädigen. Auch den Ausweis, den man ihr bereits bei der Ankunft abgenommen hatte, konnte sie wieder in Besitz nehmen. In einer Tasche verstaute sie eine Flasche Wasser und ein paar Lebensmittel. Danach ging sie wieder nach draußen.
Sie musste hier weg. Aber wie und wohin? Darüber hatte sie sich vorher keine Gedanken gemacht. Sie wusste ja nicht einmal genau, wo sie sich tatsächlich befand. Man hatte ihr nie erlaubt, sich weiter von dem Haus zu entfernen. Die größte Entfernung waren etwa tausend Meter zu den Meilern gewesen, wo er die Holzkohle erzeugte. In Säcke gefüllt war die seine Haupteinnahmequelle. Den Rest seiner Einkünfte machte wohl die illegale Schnapsbrennerei aus. Die kleine Landwirtschaft fiel da weniger ins Gewicht, denn landwirtschaftliche Geräte gab es kaum, und jedes Korn oder jede Kartoffel musste mühsam dem Boden abgerungen werden.
Unten im Tal standen ein paar Häuser, die man von hier oben sehen konnte. Aber man hatte sie nie dorthin gelassen. Es war Nacht gewesen, als sie damals angekommen war, und man hatte sie sofort von dem Minibus zu dem geländegängigen Kleinlaster gebracht, mit dem er sie abgeholt hatte. Der Laster stand auch jetzt im Hof. Aber sie hatte nie gelernt, ein Auto zu fahren. Sie musste wohl zu Fuß diesen Ort verlassen.
Wenn sie jetzt in dem kleinen Dorf dort unten auftauchte, brachte man sie früher oder später mit dem Geschehen hier in Verbindung. Sie durfte sich nicht in den Orten der näheren Umgebung sehen lassen. Ansonsten glaubte sie, dass man keine Verbindung zu ihr herstellen konnte, da niemand von ihr bisher Notiz genommen hatte. Für die Bewohner dieser Gegend existierte sie praktisch nicht. Sie musste lediglich ihre Spuren beseitigen.
In einem kleinen Schuppen, der an das Hauptgebäude angebaut war, befand sich allerlei Krimskrams. Hier stand auch ein Kanister, mit dem er seine Motorsägen nachfüllte. Den holte sie hervor und übergoss zunächst die beiden Leichen mit dem Inhalt und legte dann eine Spur der Flüssigkeit ins Haus. Mit einem Feuerzeug, das sie ebenfalls aus dem Haus mitgebracht hatte, entzündete sie ein Blatt Papier und warf es in das Benzin. Sie sah noch kurz zu, wie die Flammen immer mehr Nahrung fanden. Zweifellos würde man den Schein des Feuers weithin sehen. Aber es würde einige Zeit dauern, bis man in diesem unwegsamen Gelände bis hierher kam. Dann würde sie längst nicht mehr hier sein.
Sie machte sich auf den Weg. Es war zwar Nacht. Aber das fahle Licht des Mondes bot ausreichend Sicht. Sie folgte dem kleinen Bach, ohne ein festes Ziel zu haben. Nur fort von hier.
Zu beiden Seiten der Bühne vor der Schlosskirche hingen gelbweiße Fahnen. Ein Hinweis auf das morgige Fronleichnamsfest. Ansonsten hatten die dargebotenen Musikstücke recht wenig mit diesem Fest der katholischen Kirche zu tun.
Normalerweise lief die Veranstaltungsreihe auf dem Alten Markt der kleinen Westerwaldstadt Hachenburg unter dem Motto Treffpunkt Alter Markt. Nur jeweils für diesen einen Tag im Jahr hatte man sich mit Treffpunkt Heimat ein anderes Motto ausgedacht. Das mochte wohl daran liegen, dass es sich bei diesem Tag um einen Mittwoch handelte, während ansonsten die Konzerte immer donnerstags stattfanden. Gemeinsam hatten beide Veranstaltungsreihen, dass sie für die Besucher kostenlos waren. Der Alte Markt, die sogenannte gute Stube von Hachenburg, bot mit dem Schloss, den beiden Kirchen und den zahlreichen anderen historischen Gebäuden einen hervorragenden Rahmen für jede Art Veranstaltung.
Noch nie hatte Leyendecker bei einem dieser Konzerte einen solchen Andrang erlebt. Lediglich die Proklamation der jährlichen Kirmes zog noch mehr Menschen auf den Markt. Der Besucherandrang mochte daran liegen, dass die heimische Coverband, die da aufspielte, eine größere Anzahl ihrer Anhänger mobilisiert hatte. Aber der Hauptgrund für diesen Menschenauflauf war wohl das herrliche Wetter. Das Thermometer hatte an diesem Tag an die dreißig Grad erreicht. Ein Wert, der hier im Westerwald nicht gerade alltäglich war. Viele der Besucher hatten wohl die angenehmen Temperaturen genutzt, um wieder einmal einen Abend im Freien zu verbringen. Und da bot es sich an, dies mit einem Konzertbesuch zu verbinden. Inzwischen hatte sich die drückende Hitze etwas gelegt und einer angenehmen abendlichen Kühle Platz gemacht. Ulla hatte sich bereits eine Weste übergezogen.
Christoph Leyendecker war der Leiter der örtlichen Polizeidienststelle. Ulla Stein war für die Kriminalfälle zuständig, wobei die größeren Verbrechen eigentlich in die Zuständigkeit der Kollegen aus Koblenz fielen. Aber das nahmen sie beide nicht so genau. Gemeinsam waren sie damals vom Landeskriminalamt in das beschauliche Hachenburg, den Geburtsort Leyendeckers, gewechselt und hatten seitdem doch einige spektakuläre Fälle aufgeklärt.
Leyendecker hatte bereits vor Tagen zwei Plätze vor der Pizzeria reserviert, denn ansonsten hatte man bei dieser Art Veranstaltung kaum eine Chance, einen Sitzplatz vor einer der verschiedenen Kneipen zu ergattern.
Die beiden genossen den Abend. Den hatten sie sich auch redlich nach der ganzen Aufregung der letzten Wochen verdient. Inzwischen war wieder etwas Ruhe in Hachenburg eingekehrt und Leyendecker war froh, dass alles wieder seinen gewohnten Gang ging.
Hier unten in der rechten Ecke des Marktes war die Musik noch dröhnend laut. Die Lautstärke vor der Bühne musste fast unerträglich sein. Aber das gehörte nun einmal dazu, und Leyendecker gefiel das. Das Repertoire der Band reichte von Blues über Rock bis zu Country, und diese Art Musik musste halt laut gehört werden.
Leyendecker aß die letzten Bissen seiner Pizza Hawaii und bestellte sich noch ein Pils. Heute Abend hatten weder Ulla noch er die Absicht, Auto zu fahren. Der Fußweg war ja nicht allzu beschwerlich, denn es ging immer bergab. Sie wohnten im Ortsteil Altstadt, von den Hachenburgern seit jeher despektierlich als Jammertal bezeichnet.
Ulla schenkte sich Gianti aus der kleinen Karaffe nach, als sie plötzlich den Eindruck hatte, dass in die Zuschauermenge vor der Bühne eine Bewegung entstanden war, die ihr unnatürlich vorkam. „Da scheint etwas passiert zu sein.“
Leyendecker sah genauer hin. Wie es schien, hatte sich die Aufmerksamkeit einiger Zuschauer von der Bühne abgewandt und richtete sich auf etwas, was in ihrer Mitte geschehen war. Es hatte sich so eine Art Kreis gebildet, und die Augen der Besucher sahen auf dessen Mittelpunkt. Was da vor sich ging, war von hier unten nur schwer zu erkennen.
Der Frontmann der Band gab ein Zeichen, und die Musik ebbte ab. Dann eilte er an den vorderen Rand der Bühne und sah angestrengt hinab. Kurz darauf eilte er zurück zum Mikrofon. „Ist hier ein Arzt im Publikum? Er wird gebeten, hier vor die Bühne zu kommen.“
„Anscheinend ist da etwas passiert. Sollen wir nachsehen, was da los ist?“, erkundigte sich Ulla.
Leyendecker schüttelte den Kopf. „Wir müssen uns nicht überall einmischen. Wir wären da nur im Weg. Ich nehme an, jemand hat einen Schwächeanfall erlitten. Als er nach einem Arzt fragte, hat ein Mann die Hand gehoben. Der wird das Notwendige schon veranlassen.“
Es dauerte etwa fünf Minuten, da hörten sie in der Ferne schon das Signal des Rettungswagens.
Ulla meldete sich, als ihr Handy vibrierte. Sie hörte dem Anrufer aufmerksam zu. „Der Chef und ich sind vor Ort. Wir kümmern uns um alles“, erklärte sie dann.
„Anscheinend ist das doch kein normaler Notfall. Fast vor unseren Augen scheint ein Verbrechen geschehen zu sein “, sagte sie zu Leyendecker. „Wir müssen uns das ansehen.“
Leyendecker winkte dem Kellner zu. „Wir zahlen später!“, rief er. Die beiden waren hier recht gut bekannt, sodass das kein Problem darstellte.
Sie hatten etwas Mühe, sich durch das Spalier der Konzertbesucher zu drängeln. Schließlich erreichten sie ihr Ziel dann doch. Auf dem Boden unweit der Treppenstufen, die auf die Bühne führten, lag eine etwa vierzigjährige blonde Frau in einer Blutlache. Sie trug eine blaue Caprihose, eine weiße Bluse und hochhackige Sandaletten. Eine weiße Handtasche hielt sie noch in der Hand. Man konnte sie durchaus als schön bezeichnen.
Leyendecker hatte die Frau vorher noch nie gesehen. Ansonsten hätte er sich erinnert. Auf den ersten Blick war keine Verletzung zu erkennen.
Der Arzt, der bis dahin Erste Hilfe geleistet hatte, erhob sich und schüttelte den Kopf. „Da ist nichts mehr zu machen. Ich habe sie herumgedreht, damit ich sie wiederbeleben konnte“, erklärte er, als er Ulla und Leyendecker erkannte. „Eine Verletzung am Rücken. So wie es aussieht ein Einstich. Höchstwahrscheinlich wurde das Herz getroffen. Sie war schon tot, als ich hier eintraf.“
Leyendecker griff zum Handy und rief bei der Dienststelle an. „Mobilisiert alle verfügbaren Streifenwagen, und sperrt so weit wie möglich alle Zugänge zum Alten Markt!“, befahl er.
„Ich weiß, dass wir den Markt nicht vollständig absperren können, dafür gibt es zu viele Ausgänge. Und vermutlich ist der Täter ohnehin schon abgehauen. Er wird wohl nicht seelenruhig auf die Polizei warten“, erläuterte er Ulla. „Aber wir müssen so viele Besucher wie möglich befragen und von ihnen die Personalien aufnehmen.“
Der Notarztwagen kam mit laufender Sirene über den Schlossberg und hielt vor dem Weißen Ross.
„Sie war nicht zu retten, Herr Kollege“, erklärte der Mann, der Erste Hilfe geleistet hatte, als es dem Notarzt gelungen war, sich bis zu ihnen durchzudrängen. Die folgende kurze Untersuchung bestätigt diese Aussage.
Leyendecker bat, das Alarmsignal auszuschalten. Dann stieg er auf die Bühne und ließ sich ein Mikrofon aushändigen. „Guten Abend, mein Name ist Leyendecker“, sprach er hinein. „Für diejenigen, die mich nicht kennen: Ich bin der Leiter der örtlichen Polizeiinspektion. Die meisten von Ihnen werden ja mitbekommen haben, dass hier ein Verbrechen geschehen ist. Ich bitte Sie, den Alten Markt vorläufig nicht zu verlassen und sich bei meinen Kollegen, die bald an den Ausgängen erscheinen werden, registrieren zu lassen. Diejenigen, die glauben, irgendetwas beobachtet zu haben, bitte ich, sich im Hotel zur Krone zu melden. Alle die in unmittelbarer Nähe des Geschehens gestanden haben, kommen bitte ebenfalls zum Hotel zur Krone. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und für Ihre Geduld.“
Sie hörten ein Handy klingeln. „Das kommt aus der Tasche der Toten“, stellte Ulla fest. „Soll ich dran gehen?“
Leyendecker nickte.
Ulla hatte diesmal keine Gummihandschuhe dabei. Schließlich war ja nicht zu erwarten gewesen, dass sie noch zu einem Einsatz gerufen wurden. Die Kollegen von der Spurensicherung würden zwar wieder meutern, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie nahm das I-Phone der neusten Generation aus der Tasche. „Hallo“, meldete sie sich.
„Karin, bist du das?“, hörte sie eine männliche Stimme. „Sie sind nicht Karin. Was machen Sie am Handy meiner Frau?“
„Hier ist die Polizei“, erwiderte Ulla. „Mit wem spreche ich bitte?“
„Mein Name ist Bernhard Westermann. Warum sind Sie und nicht meine Frau am Telefon? Ist ihr irgendetwas geschehen?“
„Wir müssen mit Ihnen reden, Herr Westermann. Von wo rufen Sie an?“
„Wenn Sie bei meiner Frau sind, bin ich nicht weit von Ihnen entfernt. Wir wohnen im ersten Stock des Gebäudes eingangs der Friedrichstraße. Meine Frau befindet sich auf dem Alten Markt. Mir ist das einfach zu laut. Ich höre noch genug durch die verschlossenen Fenster.
Als ich die Durchsage Ihre Kollegen hörte, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich kann von hier aus auf den Alten Markt sehen. Ich sehe allerdings nicht, was am Boden vor sich geht. Da ist mir die Sicht durch die Mauer versperrt. Wenn Sie die Hand heben, werde ich erkennen, wo Sie sind.“
Ulla folgte der Aufforderung und blickte zu dem Haus. Sie sah einen Mann im ersten Stock hinter dem Geländer am Fenster stehen.
„Ich sehe Sie. Ich komme sofort zu Ihnen“, kündigte Westermann an.
„Bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich komme zu Ihnen“, bat Ulla. „Es kann ein paar Minuten dauern.“
Ulla unterrichtete Leyendecker von dem Gespräch.
„Geh zu dem Mann“, forderte der sie auf. „Ich kümmere mich hier um alles andere.“
Inzwischen waren drei Streifenwagen eingetroffen. Einer hielt am Schlossberg, einer zu Beginn der Friedrichstraße und der andere in der Wilhelmstraße. Man hatte die Poller eingangs der Fußgängerzone herabgelassen. Leyendecker erkannte Karl Berger und winkte ihn heran.
Die Konzertbesucher machten dem Hünen in Uniform ehrfürchtig Platz.
„Errichtet hier um die Frau eine Absperrung mit Sichtschutz. Ein Kollege soll hier Wache halten, bis die Spurensicherung und der Rechtsmediziner aufgetaucht sind. Ich gehe rüber in die Krone, um diejenigen zu befragen, die irgendetwas gesehen haben könnten. Von den anderen haltet bitte die Personalien fest, bevor sie den Markt verlassen. Ich weiß, dass der Markt nicht wirklich abgesperrt ist, und wenn man will, kann man jederzeit durch eine der Gassen verschwinden. Aber das können wir im Moment nicht verhindern. Wenn der Mörder verschwinden wollte, ist das ohnehin längst geschehen. Wenn der Kollege Schneider auftaucht, ich hoffe doch, dass man ihn informiert hat, er soll mir in der Krone helfen.“
Bevor er ging, befragte er noch den Frontmann der Band, von dessen Position das Geschehen wohl am besten zu beobachten war. Dieser erwies sich jedoch als schlechter Zeuge. Er erklärte, dass seine Aufmerksamkeit eher den Songs gelte. Er erkenne zwar einzelne bekannte Gesichter im Publikum und bekomme mit, wie das Konzert ankomme, aber was dort unten vorging, nehme er nicht wirklich war. Auch die anderen Mitglieder der Band gaben an, nichts mitbekommen zu haben. Als sie etwas wahrgenommen hätten, habe die Frau bereits am Boden gelegen.
Vor dem Eingang des Hotels hatten sich bereits etwa zehn Personen versammelt, die auf Leyendecker zu warten schienen. Er bat um etwas Geduld und ging in die Gaststube.
Die Wirtin kam ihm entgegen. „Ich habe bereits vernommen, dass Sie unser Haus requiriert haben.“
„Tut mir leid. Das war eine Spontanentscheidung. Können die Leute in einem Teil der Gaststube warten? Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie denen ein Bier ausschenken. Ist das Femestübchen frei? Und hätten Sie etwas Papier und einen Kuli für mich, damit ich mir Notizen machen kann?“
„Das war ein Scherz von mir. Hier drinnen ist nicht soviel Betrieb. Am meisten verdienen wir an solchen Tagen ohnehin mit dem Ausschank draußen. Die Leute können also hier warten. Das Femestübchen ist noch frei. Gehen Sie schon mal nach oben. Ich bringe Ihnen einen Block und einen Kugelschreiber. Möchten Sie etwas trinken?“
Leyendecker lehnte dankend ab. Es hätte keinen guten Eindruck gemacht, wenn er die Leute beim Bier befragt hätte.
Er bat die potenziellen Zeugen, in der Gaststube zu warten. Er würde sie einzeln aufrufen. Dann ging er nach oben.
Das Femestübchen war ein Erkerzimmer im ersten Stock, von wo man einen guten Blick über den gesamten Markt hatte. Schade, dass niemand hier gewesen war. Derjenige wäre möglicherweise ein guter Zeuge gewesen.
Bevor er wieder nach unten ging, erledigte er einige notwendige Telefonate. Gerichtsmedizin, Spurensicherung und die Koblenzer Kollegen mussten ja informiert werden.
Als Ulla klingelte, ertönte das schnarrende Geräusch des Türöffners. Im ersten Stock erwartete sie ein etwa sechzigjähriger Mann mit grau melierten Haaren. Er trug legere, aber elegante Freizeitkleidung. Trotz der nur zu verständlichen Aufregung machte er einen durchaus beherrschten Eindruck.
Ulla stellte sich vor.
„Mein Name ist Bernhard Westermann“, antwortete er. „Kommen Sie doch bitte herein.“ Er ging voran und führte sie in ein etwa zwölf Quadratmeter großes Zimmer, aus dessen Fenster man auf den Alten Markt blicken konnte. Ulla konnte sehen, dass die uniformierten Kollegen bereits mit der Erfassung der Besucher begonnen hatten. Auf einer Anrichte sah sie ein Foto, das Westermann mit einer Frau zeigte. Ulla erkannte, dass es sich um die Tote handelte.
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, bat er. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Danke nein. Machen Sie sich keine Umstände“, erwiderte Ulla und nahm an einem runden Tisch mit vier Stühlen Platz.
„Was ist nun mit Karin? Ist ihr irgendwas geschehen?“
Ulla zögerte einen Moment. Es war ihr nach wie vor unangenehm, den Angehörigen die Nachricht vom Tod einer nahestehenden Person mitzuteilen. Aber es gehörte nun einmal auch zu ihren Aufgaben. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Ihre Frau ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Sie wurde erstochen.“
Westermann stockte sichtbar der Atem. Aber nach einem kurzen Augenblick hatte er die Fassung wieder gewonnen. „Ich hatte schon so etwas befürchtet, als Sie am Telefon meiner Frau waren und der Notarzt unverrichteter Dinge wieder davon gefahren ist. Was ist denn um Gottes Willen passiert?“
„Das wissen wir auch noch nicht. Sie wurde in den Rücken gestochen. Die genaueren Umstände sind unklar.“
„Da waren doch Hunderte bei der Veranstaltung. Und da hat niemand etwas bemerkt? Das kann doch nicht sein.“
„Wir sind ja gerade dabei, eventuelle Zeugen zu ermitteln. Haben Sie vielleicht eine Ahnung über mögliche Hintergründe?“
„Ich habe keine Ahnung. Wir sind doch erst seit wenigen Wochen hierher gezogen. Wir kennen doch kaum jemanden hier. Wer sollte ihr denn so etwas antun?“
Ulla fragte sich, ob es Gründe für den Umzug gegeben hatte und ob die vielleicht mit dem Tod der jungen Frau zusammenhängen konnten. „Die Ursache des Verbrechens muss ja nicht hier in Hachenburg liegen. Darf ich Sie fragen, warum Sie erst kürzlich nach Hachenburg gezogen sind? Gab es einen besonderen Grund, und wo haben Sie vorher gewohnt?“
„Ich war früher Leiter des Jugendamtes Essen. Karin war meine zweite Frau. Sie war ebenfalls dort beschäftigt. Mein Haus in Essen wurde bei der Scheidung meiner ersten Frau zugesprochen. Wir wohnten da in einem Haus mit sehr vielen Mietparteien. Es war dort sehr laut. Als ich nun pensioniert wurde, wollten wir so eine Art Schlussstrich ziehen. Andere gehen in den Süden. Mir ist es ehrlich gesagt im Sommer dort zu heiß. Wir waren im letzten Jahr schon einmal ein paar Tage hier in Ihrer Stadt, und es hat uns gefallen. Als dann im Internet diese Wohnung angeboten wurde, haben wir nicht lange gezögert und kurz entschlossen zugeschlagen. Wer hätte denn gedacht, dass man sie kurz darauf umbringen würde.“
„Mir scheint, dass Ihre Frau nicht zufällig zum Opfer wurde. Es war mit Sicherheit kein Amokläufer, der wahllos Menschen niedersticht. Ihre Frau wurde gezielt ausgewählt, zumindest sieht es im Moment so aus. Es muss also Gründe geben. Sie haben da gar keine Vorstellung? Auch keinen noch so vagen Verdacht?“
Westermann breitete hilflos die Arme aus. „Ich habe wirklich keine Ahnung. Meine Frau hat niemandem etwas getan. Es gibt keinen Grund, ihr so etwas anzutun.“
„Ich nehme nicht an, dass irgendjemand bestätigen kann, dass Sie die ganze Zeit hier waren?“
„Ich verstehe“, sagte Westermann. „Sie wollen ein Alibi von mir. Das ist nur allzu verständlich. Aber wer sollte das bestätigen können? Ich war die ganze Zeit allein. Aber halt, warten Sie, ich habe telefoniert. Das war genau zu der Zeit, als die Musik abbrach und ich die Durchsage gehört habe, dass man einen Arzt sucht. Da habe ich dann das Gespräch abgebrochen.“
„Haben Sie über Festnetz telefoniert, oder mit dem Handy?“
„Ich telefoniere fast ausschließlich über das Festnetz. Das Handy nutze ich meist nur für irgendwelche Kurzmitteilungen.“
„Darf ich fragen, mit wem Sie telefoniert haben?“
„Das war der örtliche Jagdpächter. Der wird das bestätigen können. Der hat sicher mitbekommen, dass die Musik abbrach und nach einem Arzt verlangt wurde. Ich habe mit ihm über einen Begehungsschein, heute sagt man wohl Jagderlaubnisschein, gesprochen.“
Er ist Jäger, ging es Ulla durch den Kopf, da hat er sicher auch ein brauchbares Messer. Aber ein Messer hatte ja wohl jeder zur Verfügung. Wenn die Frau erschossen worden wäre, hätte man wohl Westermanns Waffen untersuchen müssen.
„Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, beenden wir das Gespräch für heute. Wir werden sicher noch öfter miteinander sprechen müssen. Ich lasse Ihnen meine Karte da. Zögern Sie nicht, mich anzurufen.“
„Was geschieht jetzt mit meiner Frau?“
„Man wird eine Obduktion machen, um die genaue Todesursache festzustellen. Sie erhalten Nachricht, wann Sie sie bestatten können.“
Als Ulla nach draußen kam, stellte sie verwundert fest, dass sich der Markt schon recht geleert hatte. Lediglich an den Ausgabestellen für Getränke waren noch dichte Menschentrauben. Vermutlich wurde da und in den umliegenden Gaststätten intensiv über des Geschehene diskutiert. Ohnehin würde morgen die ganze Stadt wissen, was hier vorgefallen war. „Das ging aber zügig. Wie habt ihr das denn so schnell hingekriegt?“, fragte sie einen der unformierten Kollegen.
„Wir haben uns nicht lange mit der Registrierung aufgehalten“, erhielt sie zur Antwort. „Wir haben die Besucher zunächst gefragt, ob sie etwas gesehen hätten. Wenn sie das verneinten, haben wir ihnen eingeschärft, sich unbedingt zu melden, wenn ihnen noch etwas einfällt und ihre Ausweise fotografiert. Das ging alles recht zügig ab.
Zwei hatten ihre Geldbörse verloren, aber die kannten wir persönlich und haben die Namen aufgeschrieben.“
„Da hattet ihr eine gute Idee, die den gewünschten Zweck erfüllte und die Bürger nicht allzu sehr verärgerte“, fand Ulla.
Leyendecker ging wieder nach unten in die Gaststube. Inzwischen hatten sich zwölf Personen eingefunden. Leyendecker bat, dass sie bitte nacheinander zu ihm ins Femestübchen im ersten Stock kommen sollten.
Keiner der Zeugen konnte einen konkreten Täter benennen. Leyendecker konnte sich allerdings einen recht guten Eindruck vom Ablauf des Geschehens machen.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: