Das Vorleben der Delfine - Kirmen Uribe - E-Book

Das Vorleben der Delfine E-Book

Kirmen Uribe

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Beschreibung

Uri und Nora ziehen mit ihren Kindern von Bilbao nach Manhattan, um dort ein besseres Leben zu beginnen. Genau wie die feministische, pazifistische Vordenkerin Rosika Schwimmer, die in den 1920-er Jahren aus Budapest kam, um die von Patriarchat und Rassismus geprägten Vereinigten Staaten friedlich zu revolutionieren. Über Rosika will Uri eine Biografie schreiben, wie sie Worte gegen politische Gewalt setzte – ein Thema, das ihm und Nora als Basken nur allzu vertraut ist. Doch genau wie vor 100 Jahren ist New York eine Stadt, die sich jungen Zuwanderern gegenüber vor allem feindselig zeigt …

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Für Nerea, Unai, Arane und Aitzol

Übersetzung aus dem Spanischen von Stefan Kutzenberger

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel La vida anterior de los delfines bei Seix Barral, Barcelona

© Kirmen Uribe, 2022, by agreement with Pontas Literary & Film Agency.

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Planeta Arte & Diseño

Covermotiv: The New York Public Library

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Erstes Buch

(2018–2019)

1

2

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4

5

6

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8

9

10

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20

Zweites Buch

(2020)

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DRITTES BUCH

(2022)

PHOTO-BOOTH-VIDEO

DANKSAGUNGEN

Die geheime Sprache der Lamias

Zitatnachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Die Geschichte hat uns im Stich gelassen.

Aber das spielt keine Rolle.

Min Jin Lee

Erstes Buch

(2018–2019)

»Es gibt nichts, was du tun könntest«, wurde mir gesagt.

»Du bist nur ein Mädchen. Frauen können nichts tun.«

Rosika Schwimmer

1

Die alten Basken glaubten, wer sich in eine Lamia verliebte – ein mythologisches Wesen ähnlich einer Meerjungfrau –, würde sich in einen Delfin verwandeln. Der Preis, den die Liebhaber der Lamias für ihre Kühnheit zu zahlen hatten, war also die Verwandlung in ein Meereswesen, dem Menschen so fremd wie nur vorstellbar, verbannt in die unbekannten Tiefen der Ozeane. Eine radikale Veränderung, die sich über Nacht vollzog, wie der Beginn einer Reise, ob widrige Odyssee oder glückliches Abenteuer, in jedem Fall eine Reise bar jeder Routine, eine Expedition an ein ungewisses Ziel. Was die als Delfine wiedergeborenen Menschen erwartete, wusste niemand, aber, sei es nun Glück oder Schwermut, das Wesentliche war, dass es kein Zurück gab. Der Wandel war endgültig und unwiderruflich.

Nach dem, was mir Nora erzählte, konnten sich die Lamias in ihrer eigenen Sprache verständigen. Natürlich sprachen sie auch Baskisch, aber es gefiel ihnen, eigene Wörter zu erfinden und die Sprache in ein Spiel zu verwandeln, wie es auch ungewöhnlich intelligente Kinder machen, wenn sie in den Wörterbüchern nicht die Ausdrücke finden, die genau wiedergeben können, was sie sich vorstellen oder was ihnen widerfährt, und die dann einfach ihren eigenen Wortschatz schaffen. So sagten die Lamias zu »sich verlieben« izurdau (»sich delfinisieren«). Die Definition einer Metamorphose – Strafe oder Segen –, die Männer und Frauen in marine Liebende verwandelte.

Diese Legende über Delfine ist mir wieder eingefallen, weil sich das Leben auch für uns Migranten ändert, wenn wir eine Grenze überschreiten. Sobald wir uns auf den Weg machen, wird dieser ein anderer, völlig anders, als wir ihn uns vorgestellt haben, und die Träume, die unseren Aufbruch nährten, entpuppen sich wie die Lamia selbst als pure Fantasie. Bei jedem Schritt stößt man auf Unerwartetes, weder besser noch schlechter, nur anders. Selbst das Heimatland wird einem fremd oder – besser gesagt – die Wahrnehmung, die man als Migrant von ihm hat. Man bewegt sich nicht nur örtlich in die Ferne, sondern verlässt auch die Zeit, wie man sie in ihrem alltäglichen Ablauf gekannt hatte. Jede Vorstellung verliert an Präsenz, verwandelt sich in eine Beschwörung, in ein Bild, in Erinnerung … und schließlich in Fiktion.

Wir Migranten wissen nicht, was uns die Zukunft bescheren wird, aber wir wissen sehr wohl, dass die Vergangenheit nie wieder so sein wird, wie sie war.

Es gibt kein Wort, das diese Gewissheit beschreiben würde.

Vielleicht in der Sprache der Lamias.

Als im Morgengrauen eines Januartages des Jahres 1920 ein kleiner Dampfer mit einer unter einer Plane versteckten Frau von Budapest Richtung Wien aufbrach, flussaufwärts, trieben auf der Wasseroberfläche mächtige Eisschollen. Die Donau bewegte sie in großen Blöcken, die sich an den Pfeilern der Kettenbrücke spalteten und enge Kanäle freigaben, durch die das Schiff mit Vorsicht navigierte, die eisigen Mauern vermeidend.

Die Frau, die versteckt zwischen den Segeltuchplanen jenes Schiffs emigrierte, war Rosika Schwimmer, eine der bedeutendsten Intellektuellen ihrer Zeit, die erste entsandte Botschafterin ihres Landes, angesehene Vortragende und bekannte Aktivistin für soziale Rechte. Dieselbe Frau, die vor geraumer Zeit im majestätischen Parlament an den Ufern der Donau das Frauenwahlrecht verteidigt hatte, wo sie als blutjunge Kämpferin die gesamte politische Szene mit ihrer Rede verblüffte, und die durch ihre bügellose Brille berühmt geworden war – ein Bild, das durch alle Zeitungen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ging. Dieselbe Frau, die in London den Weltbund für Frauenstimmrecht leitete und die Bewegung gegen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs angeführt hatte. Eine brillante und entschlossene Frau, die trotzdem keine andere Wahl hatte, als sich 1920 als blinde Passagierin ins Exil zu begeben.

Die Republik Ungarn war viel zu früh gescheitert. Nur fünf Monate hatte sie ihren Posten als Botschafterin in der Schweiz innegehabt. Der rote Terror des Kommunisten Béla Kun war schnell in den weißen Terror der Ultrarechten unter Admiral Horthy übergegangen, und Schwimmer war beiden Extremen verdächtig – den dogmatischen Kommunisten als Bürgerliche, den ungarischen Faschisten als Jüdin. So war Flucht ihr einziger Ausweg.

Wien war nur eine Zwischenstation am Weg in die Vereinigten Staaten, wo sie sich nach der warmen und wohlverdienten Anerkennung sehnte, die ihr das instabile Europa verwehrt hatte. Eine Sehnsucht, eine gewisse Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die alle Migranten seit Anbeginn der Zeit teilen.

Neun Jahre später, genauer gesagt, am 24. Mai 1929, machte Rosika Schwimmer ihr Recht auf die amerikanische Staatsbürgerschaft geltend und erschien vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der höchsten juristischen Instanz des Landes. Hier war ihre Klage, der Fall »Schwimmer gegen die Vereinigten Staaten«, nach einer Reihe von Berufungen und dreizehn vorangegangenen Urteilen, in denen sieben Richter gegen sie und sechs für sie entschieden hatten, schließlich gelandet.

»Ich bin überzeugt«, fuhr einer der Beisitzenden fort, »dass dieses Land niemals seine Frauen in den Krieg schicken wird, es gibt ja nicht einmal ein Regiment für sie.«

»Hoffentlich ist es so, wie Sie sagen«, stimmte Rosika Schwimmer zu.

»Aber vielleicht müssen wir die Frauen als Krankenschwestern an die Front schicken, damit sie unsere Soldaten pflegen. Würden Sie es akzeptieren, wenn die Regierung der Vereinigten Staaten Sie mit dieser Mission betraute?«

»Ich bin bereit, jede Pflicht zu erfüllen, die man einer amerikanischen Frau auferlegen würde, außer der zu kämpfen.«

»Nun, unsere Frauen kämpfen nicht, also erwarten wir auch nicht von Ihnen, dass Sie eine Waffe tragen.«

»Ich für meinen Teil bekräftige meine vollständige Bereitschaft, die für die Bürger dieses Landes geltenden Gesetze einzuhalten.«

»Sind Sie sicher, dass Sie bereit sind, alles zu erfüllen, was von einer amerikanischen Frau verlangt wird? Ich meine damit eine mustergültige amerikanische Staatsbürgerin.«

»Ja, so ist es. Ich glaube nicht, dass meine Überzeugungen gegen die Rechtstaatlichkeit verstoßen. Nur bin ich einfach nicht bereit zu kämpfen! Ich gebe zu, dass ich gegen das Gesetz verstoßen würde, wenn es von den amerikanischen Frauen verlangen würde zu kämpfen.«

»Sie sind also eine unbeugsame Pazifistin.«

»Ja.«

»Und wie weit reicht Ihre Überzeugung? Betrifft diese nur Sie persönlich?«

»Ja, so ist es.«

»Sie verzichten auf die Anwendung von Gewalt.«

»Genau so ist es.«

»Verurteilen Sie aber auch die Anwendung von legitimer Gewalt durch die Regierung?«

»Ich möchte nur festhalten, dass eine Regierung mich nicht zwingen kann zu kämpfen.«

»Sie beziehen sich auf einen physischen Kampf?«

»Ja, physisch.«

»Und Sie sind auch der Auffassung, dass die Regierung Sie nicht zwingen kann, eine Waffe zu tragen?«

»Jawohl.«

»Sie beziehen sich auf nichts anderes?«

»Auf sonst nichts.«

»Nun, um die Wahrheit zu sagen, niemand von uns will einen Krieg.«

»Natürlich nicht.«

»Wenn aber ein Krieg ausbrechen würde, der unser Land gefährdet, dann würden die meisten von uns sich freiwillig melden.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Und wir würden kämpfen, um die Grundfesten dieser Nation zu verteidigen.«

»Ja.«

»Und wären Sie bereit, dasselbe zu tun?«

»Es tut mir sehr leid, Sir, ich fürchte, ich habe den Sinn Ihrer Frage nicht verstanden.«

»Was ich sagen will, ist, dass Sie meinten, niemals zur Waffe greifen zu wollen, um dieses Land zu verteidigen.«

»Das ist richtig.«

»Natürlich, Sie fühlen sich durch das Gesetz geschützt, denn alles deutet darauf hin, dass der Tag nie kommen wird, an dem amerikanische Frauen zum Wehrdienst müssen.«

»Schauen Sie, ich sage nur, dass ich nicht bereit bin, zur Waffe zu greifen. Was aber meine Verpflichtungen als amerikanische Staatsbürgerin betrifft, so bin ich voll und ganz bereit, dem Gesetz zu folgen. Ohne jeden Zweifel. Deshalb beharre ich darauf, dass ich diesem Land die Treue schwören kann und dass es meiner Meinung nach, und auch nach der Meinung meiner Anwältin, nichts gibt, wozu ich gesetzlich verpflichtet bin, das ich nicht erfüllen könnte. Die amerikanischen Frauen ziehen nicht in den Krieg, also sollte auch niemand von mir verlangen, das zu tun.«

»Sie sind die Einzige, die sich vor diesem Gericht verantworten muss. Es ist Ihrer Anwältin sicherlich egal, was Sie in Ihrem Herzen verbergen.«

»Mein Herz steht sperrangelweit offen, da ich nichts zu verbergen habe. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kein Gesetz zwingt mich, zur Waffe zu greifen, also gibt es kein Hindernis, mir die amerikanische Staatsbürgerschaft zu verleihen.«

»Wollen Sie damit also sagen, dass Ihre Überzeugung eine persönliche Entscheidung ist.«

»Ganz genau.«

»Und dass das nur Sie angeht?«

»Ich kann nur für mich selbst sprechen.«

»Also hätten Sie nichts dagegen, wenn andere Frauen kämpfen?«

»Das geht mich nichts an. Ich glaube, dass es eine persönliche Entscheidung ist, die man mit dem eigenen Gewissen ausmachen muss. Wenn es Frauen gibt, die in den Krieg ziehen wollen, dann ist das ihre Sache.«

»Sie machen aber bei anderen Frauen Propaganda für Ihre Überzeugungen.«

»Ich weiß nicht, auf welche Propaganda Sie sich beziehen.«

»Welche werde ich schon meinen? Sie verbreiten, Pazifistin zu sein und niemals für Ihr Land kämpfen zu wollen.«

»Das ist kein Geheimnis.«

»Wie verbringen Sie ihre Zeit?«

»Ich bin Schriftstellerin und Vortragende.«

»Und sprechen Sie in Ihren Schriften und Vorträgen über Krieg und Pazifismus?«

»Wenn ich darum gebeten werde …«

»Sie wissen, dass Amerika Ihnen eine Menge zu bieten hat.«

»Ja, das weiß ich.«

»Wenn wir Menschen aus anderen Ländern die Staatsbürgerschaft verleihen, geben wir ihnen viel mehr als nur ein Dokument.«

»Dem stimme ich zu.«

»Im Gegenzug vertrauen wir darauf, dass sich diese neuen Bürger an unsere Sitten und Gebräuche anpassen, das ist eine Frage des Respekts. Damit meine ich nicht, dass man nicht über alles schreiben kann, was man will. In diesem Land gibt es viele Bürger, die glauben, dass ein neuer Krieg bevorsteht, und sie verurteilen ihn. Sie stellen sich gegen den Krieg. Es gibt viele pazifistische Amerikaner, aber wenn der Moment käme, an dem sie zur Musterung müssten, würden sie ihre Meinungen und ihre Schriften beiseitelegen und für diese Nation kämpfen. Man kann nicht nur teilweise, wenn es einem gerade passt, Amerikaner sein. Man ist Amerikaner mit allen Konsequenzen, nicht nur, um hier leben zu können, nicht nur, um seine Rechte zu genießen, sondern auch, um seine Pflichten zu erfüllen, wie jeder, der unter dem Schutz dieser Flagge lebt.«

»Ich verstehe Sie vollständig, Sir. Ich kann nur auf das bereits Hingewiesene bestehen: Es gibt kein Gesetz und keine Verpflichtung, die ich nicht bereit wäre zu erfüllen.«

Der Richter ergriff das Wort:

»Vertrauen wir darauf, dass es nie dazu kommt, aber sagen Sie mir, Frau Schwimmer, wenn Sie für eine der Arbeiten einberufen werden würden, die in einem Krieg besser von Frauen als von Männern ausgeübt werden, zum Beispiel als Krankenschwester, und zu einem bestimmten Augenblick des Kampfes würden Sie einen feindlichen Soldaten überraschen, der die Absicht hat, einen unserer Männer zu töten, und Sie hätten eine Waffe in Griffweite, um ihn zu verteidigen, würden Sie den feindlichen Soldaten erschießen?«

»Nein, ich würde nicht abdrücken.«

»In diesem Fall wird der Antrag abgelehnt.«

Ich öffnete die Kiste mit der Nummer 68 wieder, legte den Artikel über den Fall Rosika Schwimmer hinein, die weißen Handschuhe und einen Bleistift, den ich zur Verfügung gestellt bekommen hatte, weil Kugelschreiber in der Abteilung »Handschriften, Archive und seltene Bücher« verboten sind, und brachte dem zuständigen Mitarbeiter die Kiste zurück.

Ich ging durch die Tür hinaus und betrat den Rose Main Reading Room, einen gewaltigen, säulenfreien Saal mit breitem Mittelgang, gesäumt von Tischen. Bücherregale bedeckten die Wände, gekrönt von riesigen Fenstern, die den Blick auf die sich vorm offenen Himmel abzeichnenden Wolkenkratzer New Yorks freigaben und durch deren Scheiben Licht in das Schiff flutete, als wäre es das einer Kathedrale. Das Erstaunlichste des Saals liegt allerdings nicht offen zutage, sondern verborgen darunter: sechs Stockwerke aus Carnegie-Stahl-Regalen, die wie Stützpfeiler die Struktur dieses ganzen Kulturpalastes mit seinen Marmorböden und Stuckdecken tragen. Da es keine Säulen gibt, sind es die Bücherregale, die das Gewicht dieser Erhabenheit tragen.

Dann ging ich die weißen Marmortreppen hinunter und in Richtung Bryant Park an der Rückseite der Bibliothek, wo ich mich mit Nora an einem der Tischchen bei der Statue von Gertrude Stein verabredet hatte. Ende Oktober wiegte eine noch immer angenehme Brise die Blätter der Bäume, die wie nicht erlöschen wollende Kerzenflammen zuckten, während ringsum Paare Schach spielten und alte Leute Boule.

Gedankenverloren und den Blick auf den Boden gerichtet, durchquerte ich den Park mit einem gewissen Gefühl der Unwirklichkeit, als befände sich ein Teil meines Geistes in einer Parallelwelt, noch immer verbunden mit den Papieren aus dem Schwimmer-Archiv; und wie jedes Mal, wenn ich durch den Garten ging, kam ich nicht umhin, an etwas zu denken, was wahrscheinlich viele Leute nicht wussten, dass nämlich unter dem Rasen und den Bäumen des Bryant Parks drei Millionen Bände ruhten, der größte Teil des Bibliotheksbestands, und dass die Blumen im Frühling blühten, wie genährt von den Büchern.

Die Verteidigerin von Rosika Schwimmer, Frau Olive H. Rabe, bat um das Wort. »Gestatten Sie mir bitte, dass ich die Antwort meiner Mandantin durch eine Klarstellung ergänze. Es ist entscheidend, festzuhalten, dass Frau Schwimmer mit ihren Worten keinesfalls den möglichen Tod eines US-Soldaten herunterspielen wollte, sondern nur ihre Ablehnung gegenüber jeder Art von Tod darzulegen wünschte.«

»Das ist richtig«, stimmte Rosika zu.

»Das Szenario, das ich Frau Schwimmer vorlegte, könnte sich in jedem Krieg ereignen«, sagte der Richter, »und meine Frage war sehr konkret: Was würde sie tun? Würde sie auf den feindlichen Soldaten schießen, um das Leben eines US-Kämpfers zu retten, oder nicht, unabhängig davon, ob es sich um einen General oder gemeinen Soldaten handelt, und ihre Antwort war Nein.«

»Erlauben Sie mir, Frau Schwimmer zu befragen?«, fragte die Verteidigerin.

»Bitte sehr.«

»Würden Sie in demselben Szenario, das Ihnen Euer Ehren vorgelegt hat, den Soldaten warnen?«

»Selbstverständlich.«

»Und Sie würden es tun, damit er sich verteidigen kann.«

»Und ich würde ihn nicht nur warnen, sondern auch versuchen, dem Feind die Waffe wegzunehmen.«

»Auf welche Weise? Auch indem Sie sich auf ihn stürzen?«

»Ja, das würde ich tun.«

»Ihr eigenes Leben aufs Spiel setzend?«

»Ja, sogar, wenn ich mein Leben dafür riskieren müsste.«

»Aber ich habe Ihnen zuvor genau diese Frage gestellt«, warf der Richter ein, »ich habe Sie gefragt, ob Sie einen amerikanischen Soldaten in Gefahr verteidigen würden.«

»Ja, das würde ich tun.«

»Und wenn Sie eine Waffe in Reichweite hätten?«

»Was dann?«

»Ob Sie dann schießen würden.«

»Nein, das würde ich nicht tun.«

»In diesem Fall ändert sich meine Entscheidung nicht.«

Die Anwältin sah ihre Mandantin an und befragte sie erneut: »Aber wenn der Feind auf Sie und nicht auf den Soldaten zielen würde, würden Sie dann schießen?«

»Nein, ich würde nicht schießen. Auf keinen Fall.«

»Meine Dame«, erwiderte der Richter, »es mag unwichtig sein, dass wir über den Begriff der Nation verschiedener Meinung sind, aber es ist wichtig, dass wir das Gesetz so auslegen, wie es formuliert ist. Unser Standpunkt ist kein persönlicher.«

»Aber der Punkt ist doch, erlauben Sie, Euer Ehren«, beharrte Verteidigerin Rabe, »dass wir nicht verstehen können, warum meine Mandantin gezwungen werden soll, eine Waffe zu benutzen, obwohl sie sich aufgrund ihres Alters und ihrer Stellung als Frau dazu für unfähig hält. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel die Quäker, die aus Irland stammen, anstandslos die US-Staatsbürgerschaft erhalten, obwohl aus religiösen Gründen auch sie gegen den Gebrauch von Waffen sind. Wo liegt also das Problem? Dass meine Mandantin Pazifistin ist? Mit anderen Worten: Es muss geklärt werden, warum einer fünfzigjährigen Frau, die sich als Pazifistin bezeichnet, die US-Staatsbürgerschaft verweigert wird. Und ob in Wahrheit nicht doch genau die Tatsache, dass sie Pazifistin ist, der Grund für die Verweigerung ist.«

Unerwartet und ohne eine Antwort zu geben, beendete der Richter die Sitzung.

»Hat sie schließlich die Staatsbürgerschaft bekommen?«, fragte mich Nora, die sich jeden Tag wieder für meine Recherchen über Rosika Schwimmer interessierte.

»Ach was! Nichts haben sie ihr gegeben. Die Zwischenkriegszeit war in den Vereinigten Staaten sehr rückschrittlich, sehr nationalistisch und obsessiv, sogar paranoid. Ein Profil wie das von Schwimmer war merkwürdig und unbequem, und alles Verdächtige wurde als kommunistisch abgestempelt.«

»So ein Blödsinn, wenn man bedenkt, dass die Kommunisten in Ungarn sie beseitigen wollten … Für einige war ihre Haltung lau, für andere bedrohlich.«

»Du sagst es: ein Wahnsinn. Dennoch gab es ein Mitglied des Supreme Courts, Richter Holmes, der gegen das Urteil stimmte. Seiner Meinung nach gab es nicht den geringsten Grund, Schwimmers Antrag abzulehnen, und er würdigte sie für die Nachwelt in beeindruckenden Worten. Holmes erklärte laut Protokoll, dass ›die Staatsbürgerschaft einer Frau verweigert wurde, die sie verdient hätte, weil sie die Werte der Vereinigten Staaten wahrhaftig verkörperte, einer überdurchschnittlich intelligenten Person, einer freien und optimistischen Intellektuellen.‹«

»Vielleicht wurde sie ja deshalb abgelehnt. Eine Feministin, Pazifistin und Jüdin, und darüber hinaus anscheinend ohne Ehemann oder Verlobten … Ganz schlecht.«

»Nun, zumindest durfte sie in den Vereinigten Staaten bleiben, wenn auch ohne Papiere. Obwohl die Tatsache, dass sie keine Staatsbürgerschaft hatte, nach kurzer Zeit ein entscheidender Faktor wurde.«

»Gut.«

»Was meinst du mit gut?«, fragte ich erstaunt.

Noras Aufmerksamkeit war auf etwas anderes gerichtet. »Hast du es nicht bemerkt?«, antwortete sie.

»Was habe ich nicht bemerkt?«

»Am Tisch dort drüben ist ein Mädchen gesessen, das auf ihrem Laptop getippt hat. Sie hat ihren Kaffee ausgetrunken, ist aufgestanden und weggegangen, woraufhin sich sofort ein Junge auf ihren Platz gesetzt hat. Kaum hatte er sich hingesetzt, bemerkte er einen Brief, den das Mädchen auf dem Tisch liegen lassen hatte, und er lief ihr nach, um ihn ihr zu geben. Ich habe beobachtet, wie sie sich eine Weile unterhielten, wobei der Junge ihr seine Hand mit dem Brief entgegenstreckte, sie ihn aber zurückwies, als ob er ihr nicht gehörte. Schließlich ist der Junge mit dem Brief in der Hand errötend, aber lächelnd, an seinen Tisch zurückgekehrt. Mit verlorenem Blick hat er den Brief nachdenklich immer wieder umgedreht. Einen Moment lang hat er die Augen geschlossen und versonnen genickt, dann hat er seinen Rucksack genommen und den Brief ungeöffnet in eine Tasche gesteckt.«

»Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe.«

»Ernsthaft? Und du willst Schriftsteller sein! Der Brief war für den Jungen!«

In diesem Moment, während Nora grinste und sich ein wenig über meine Schwerfälligkeit lustig machte, blendete mich wie so oft ihre einzigartige Schönheit, und mit einem Schlag fiel mir wieder die erste Nachricht ein, die sie mir aufs Handy geschickt hatte, und der Name, mit dem sie damals unterschrieb: Lamia.

Nora, die Lamia.

Alles würde ich für sie aufgeben.

2

Der Golf von Biskaya ist wie ein riesiges Becken, in das die Gewässer der beiden Hemisphären fließen, eine Wegkreuzung zwischen Nord und Süd, an dem sich eisige Strömungen mit warmen vermischen, und nur einige Seemeilen von der Küste entfernt verbirgt sich eine schroffe, tiefe und finstere Kluft, in der Wale, Riesenkalmare, Meeresungeheuer und Tiefseegeschöpfe hausen.

An Land windet sich die Straße, die von Itziar hinunter nach Deba führt, in jeder Kurve um sich selbst, wie eine erschrockene Eidechse (tagsüber) oder ein im Sand erstickender Fisch (nachts), und führt über einen Weg durch den Wald, der wie ein von der Natur geschaffenes Labyrinth aussieht, hinunter zum Strand, wie ein sich drehender Gang, bis plötzlich, gleich nach der letzten Biegung, die Küstenlandschaft in ihrer ganzen Weite sichtbar wird, bis einen das Panorama erdrückt, blendet, so gewaltig breitet sich das Meer aus, und genau dort liegt, wie ein Punkt in der Landschaft, die Aussichtsterrasse.

Vielleicht stellt dieser winzige Ort die Speerspitze des Golfs dar, in die Küste hineingetrieben, der Scheitelpunkt, von dem aus die Landmasse ihre Arme in Richtung des unendlichen Ozeans ausstreckt, rechts bis zur französischen Bretagne, links das Kardiogramm Kantabriens, das am Kap von Finisterre endet, dem die Römer seinen Namen gegeben haben: das Kap, an dem die Welt endet.

Im Februar 2018, mitten im Winter, fuhr ich gerade auf dieser kurvenreichen Straße von San Sebastián nach Ondarroa zurück, als ich das Vibrieren meines Mobiltelefons im Fach neben der Armlehne bemerkte. Ohne meine Aufmerksamkeit vom Lenkrad abzuwenden, gelang es mir, eine lange Nummer auf dem Display zu erkennen und die Vorwahl, die angab, woher der Anruf kam, nämlich aus New York, USA. Ich wagte nicht abzuheben und fuhr weiter zur Aussichtsterrasse. Dort hielt ich an und stieg aus dem Auto, das schon wieder stumme Telefon in der Hand. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die Küste schweifen und über den Wolkenvorhang am Horizont, spektakuläre Wasserschleier, die auf die Meeresoberfläche fielen wie auf eine Bühne.

Ich wusste sehr wohl, worum es bei diesem Anruf von einem anderen Kontinent ging, schließlich wartete ich schon seit geraumer Zeit auf Antwort zu einem Stipendiumsantrag, den ich bei der New York Public Library eingereicht hatte, um dort den Nachlass von Rosika Schwimmer zu studieren und einen Roman darüber zu schreiben. Der Anruf konnte nur bedeuten, dass es eine Entscheidung gegeben hatte. Ein paar vom Nordwind herbeigewehte Tropfen benetzten mein Gesicht, während ich den Regenvorhängen dabei zusah, wie sie allmählich näher kamen, und ich kehrte zum Auto zurück, ohne der wahren Ursache meines Unbehagens auf den Grund zu gehen: letztlich wohl einfach Angst, zu gleichen Teilen zugelassen wie abgelehnt zu werden. Ich saß schon wieder im Auto, und der Wolkenbruch trommelte immer stärker auf das Dach, als das Mobiltelefon nochmals läutete und eine liebenswürdige Stimme mir mitteilte, dass die Jury ihr Urteil gefällt hatte.

Sie hatten mir das Stipendium zuerkannt.

Obwohl das Stipendium erst im September begann, also in dem Monat, in dem das Schuljahr für die Kinder anfing, blieb uns nichts anderes übrig, als bereits im Mai nach einer Unterkunft in New York zu suchen, da sich der Immobilienmarkt zu dieser Zeit, wie uns gesagt wurde, in Bewegung setzte. Innerhalb weniger Wochen leerten sich die Wohnungen und wurden sofort für die kommende Saison neu vermietet, sodass wir aus der Ferne, noch bevor der Sommer kam, im Internet etwas orientierungslos nach unserem zukünftigen Zuhause zu suchen begannen.

Von Anfang an war uns klar, dass es eine komplett verrückte Aufgabe sein würde, nicht nur wegen der Schwierigkeit, in einer riesigen und uns unbekannten Stadt eine geeignete Unterkunft zu finden, sondern, weil wir neben der Wohnung auch noch eine Schule in derselben Gegend finden mussten. Gemäß den Einschreibevorschriften verlangte jede Schule, dass ihre Schüler in den angrenzenden Straßen wohnten, höchstens zehn oder fünfzehn Häuserblöcke entfernt. Das war also der Radius um unsere zukünftige Wohnung, sonst wäre ein anderer Schulbezirk für uns zuständig. Es genügte also nicht, einen Wohnsitz zu finden, gleichzeitig mussten wir uns versichern, dass in der Schule, die zu unserer Straße gehörte, Plätze frei waren – was zu einer gewissen Lähmung führte, weil wir wirklich nicht wussten, wo wir anfangen sollten.

Schließlich erfuhren wir von einer Website namens Sabbatical Homes, auf der Universitätsprofessoren, die ein Forschungsjahr einlegten, ihre Domizile vermieteten, und wir dachten, dass wir dafür ideale Kandidaten sein könnten: erstens, weil der Zweck unserer Reise in gewisser Weise akademischer Natur war, und zweitens, weil wir ursprünglich ein Jahr in New York bleiben wollten. Wir registrierten uns also und gaben eine Anzeige mit einem Mietgesuch auf.

Einige Tage später traf der erste Vorschlag ein, eine Familie aus Montclair, deren Haus uns auf den Fotos sehr gut gefiel: ein Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, umgeben von einem Garten, in dem in einem der Bäume ein Baumhaus zu sehen war. Obwohl wir gehört hatten, dass im Ort Schriftsteller und Journalisten wohnten, die auf der Suche nach Ruhe aus der Metropole geflohen waren, hatten wir gewisse Vorbehalte, da die Gemeinde so weit von New York entfernt war, dass ich täglich eine Stunde lang mit dem Zug zur Bibliothek fahren müsste. Vor allem aber bedeutete es für Nora, auf einen der Hauptanziehungspunkte des Abenteuers zu verzichten, nämlich vollständig in das Herz des Big Apple eintauchen zu können, so nah wie möglich an Manhattan heranzukommen und die Gelegenheit, die sich uns bot, voll zu genießen.

Das zweite Haus, das uns angeboten wurde, gehörte einem Philosophen und war noch älter und spektakulärer als das erste, ein Reihenhaus aus dem 19. Jahrhundert in Brooklyn, am Rande des Prospect Park gelegen und bis auf einen Raum, das bunte Kinderzimmer, mit Büchern vollgestopft. Unter dem Eindruck, über die perfekte Unterkunft gestolpert zu sein, beeilten wir uns, die Schulen in der Umgebung anzuschreiben, um Plätze für unsere Kinder zu finden. Ungeduldig warteten wir auf eine Antwort, sahen uns obsessiv im Internet immer wieder hoffnungsvoll die Fotos des Hauses an und erkundeten sogar die Umgebung online, entdeckten Buchläden und andere interessante Orte, zusehends erfreut über unser Glück, bis wir eine Antwort des Eigentümers erhielten, die zwar positiv ausfiel, aber nur, wenn wir uns bereit erklärten, die Miete sofort zu zahlen, das hieß ab Mai statt ab September, was für uns völlig unmöglich war.

Dasselbe Immobilienportal unterbreitete uns ein drittes Angebot, diesmal die Wohnung eines Wissenschaftlers in der 14th Street. Die Gegend passte gut, und mit der East Village Community School fanden wir eine Schule in der Nähe, die uns gefiel. Zumindest den Fotos nach schien sie eine einladende, fortschrittliche Schule zu sein, mit einem Schulleiter, der auf der Website Gitarre spielte, und einer Schülerschaft, die Plakate mit wohlmeinenden Botschaften in die Kamera hielt. Nach einer Zeit der Ungewissheit, in der wir dachten, dass wir in der Schule keinen Platz mehr bekämen, wurden unsere Bewerbungen schließlich doch akzeptiert, was uns zu dem scheinbar letzten und endgültigen Schritt führte, der Unterzeichnung des Mietvertrags. Als wir darum baten, platzte der Wissenschaftler plötzlich heraus: »Ich bevorzuge amerikanische Mieter, um Probleme mit den Nachbarn zu vermeiden.« Ein durchdachtes und unwiderlegbares Argument einer solchen Geistesgröße.

Nicht nur wegen der Art der Absage war das ein schwerer Schlag für uns, sondern auch, weil es bereits Mitte Juni war und wir, nachdem die Möglichkeiten des Sabbatical Homes-Portals ausgeschöpft waren, wieder bei null anfangen mussten. Wir hatten keine andere Wahl, als uns in den Schlund der herkömmlichen Immobilienagenturen zu begeben, was wir auch taten, indem wir uns an einem Sprichwort orientierten, das wir mehrmals gehört hatten: »In New York kommt alles zu seiner Zeit«, auch wenn wir die Befürchtung hatten, dass diese Zeit für uns bereits abgelaufen war.

Wir verwarfen Brooklyn und das Village und richteten unsere Aufmerksamkeit nun auf die Upper West Side, ein Viertel, das wir noch nicht aufgeben wollten, obwohl die Chancen, dort eine Wohnung zu finden, ebenfalls gering waren, und wieder suchten wir alternierend nach einer Schule und einer Wohnung. Bald fanden wir die PS 87 William Sherman School, die unsere Kinder aufnahm und unsere Erwartungen erfüllte und die darüber hinaus zweisprachigen Unterricht in Englisch und Spanisch anbot, eine Sprache, die unsere Kinder beherrschten – obwohl ihre Muttersprache Baskisch war – und deren Kenntnis ihnen in der Eingewöhnungsphase sicher helfen würde, bis sie dann auch Englisch konnten. Die Herausforderung war nun, eine Mietwohnung in dem der Schule zugewiesenen Gebiet zwischen der 72. und 86. Straße zu finden, und wir machten uns mit neuem Eifer an die Arbeit, schickten E-Mails und Anfragen kreuz und quer, aber es vergingen Wochen, ohne dass die meisten Immobilienmakler überhaupt antworteten.

Der Verzweiflung nahe, fand Nora eines Morgens in ihrem Posteingang eine Nachricht von einem Mann namens Rocco, der uns überraschenderweise eine Wohnung anbot, zwar mit nur zwei Zimmern, aber in der 79th Street, nur einen Steinwurf von der Schule entfernt. Das war ein erfreuliches Angebot, das, wie könnte es anders sein, natürlich auch eine Kehrseite hatte, denn Rocco verlangte, dass wir uns innerhalb von 24 Stunden entschieden, nicht eine Stunde mehr und nicht eine weniger. In dieser Frist mussten wir eine Entscheidung treffen, die zumindest zwei Fragen aufwarf: die erste war der Preis, der zu teuer war, auch wenn wir die Kosten mit denen für die Schule kompensieren konnten, denn die war öffentlich und beinhaltete gratis Frühstück und Mittagessen für die Kinder. Der zweite Zweifel war derjenige, der uns wirklich quälte: Was, wenn es sich um einen Schwindel, einen Betrug, eine Scheinimmobilienagentur handelte? Eine Frage ohne Antwort, eine Münze in der Luft, was von uns einen Akt des Glaubens verlangte, den wir, wie die meisten Reisenden, vor allem wenn sie Migranten sind, hingebungsvoll tätigten.

Von allen Aufgaben, die mit meinem Stipendium verbunden waren, hat mir keine größere Befriedigung verschafft als das Öffnen der Archivkisten von Rosika Schwimmer. Das war das perfekte Symbol für meine Arbeit und gab dieser auch Sinn, denn jedes Mal, wenn ich ein wichtiges Dokument fand, entdeckte ich nicht nur eine bezeichnende Episode aus ihrem Leben, sondern auch aus meinem eigenen, da jede Entdeckung sowohl meine Fantasie als auch mein Gedächtnis anregte. Denn was ist unser Gehirn denn anderes als ein Netzwerk von Kästchen, die sich auf gewisse Reize hin öffnen und schließen?

Ein leeres Kästchen ist ein Kästchen ohne Leben, wie bei den Alzheimer-Kranken, denen die jüngsten Erlebnisse entgleiten, bevor sie diese bewahren können. Bevor sie es merken, ist die Erinnerung bereits wieder aus den Behältern ihres Gedächtnisses verdampft, ohne einen einzigen, armseligen Deckel, der sie schützen könnte. Es bleibt ihnen zumindest die Zuflucht in die ferne Vergangenheit, in die Kisten einer anderen Zeit, zurück bis in die Kindheit. Was aber am Vortag geschehen ist, entzieht sich ihrer Erkenntnis.

Sobald ich mich daran gewöhnt hatte, die Archivboxen von Rosika Schwimmer als wesentlichen Bestandteil meiner Recherchen abzustauben, dauerte es nicht mehr lange, bis ich bemerkte, dass diese Kisten neben der Vergangenheit auch Geheimnisse der Zukunft enthielten, und zwar nicht nur ihrer, sondern auch meiner, Geheimnisse des bevorstehenden Lebens, der Zeit, die es noch zu leben galt. Bei jeder Schachtel, die ich öffnete, stellte sich mir die Frage, was mehr zu bedeuten hatte: die Tatsache, dass die New York Times Rosika Schwimmer im Januar 1949 unter den wichtigsten Persönlichkeiten anführte, die im Jahr zuvor gestorben waren – neben so illustren Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi –, oder dass ihr Name schon seit Jahrzehnten in Vergessenheit geraten ist.

Wenn es jemanden gab, der sich gegen das Vergessen auflehnte und alles tat, um es zu bekämpfen, dann war das Edith Wynner. Zunächst war sie zwanzig Jahre lang die persönliche Sekretärin von Rosika Schwimmer gewesen. Nach deren Tod arbeitete sie in der New York Public Library, wo sie zu Rosikas Dokumentarin wurde, indem sie alle Veröffentlichungen und Materialien über ihre Chefin, und auch Freundin, sammelte und für die Nachwelt archivierte, was aber nur Zusatzaufgabe zu ihrem eigentlichen Hauptwerk war: die Biografie von Rosika Schwimmer oder, besser gesagt, die versuchte Biografie, denn auch wenn Wynner diesem Projekt fünfzig Jahre ihres Lebens widmete, hat sie es nie abgeschlossen, hat es unvollendet gelassen, weil Rosikas Biografie in ihrem Anspruch mit der berühmten Landkarte von Jorge Luis Borges konkurrierte, die so ehrgeizig war, dass sie die gleiche Größe wie das zu vermessende Territorium haben musste. Genauso war also Edith Wynners Biografie-Projekt, das Tausende von Seiten, Fotos, Briefe, Nachrichten, Notizen und Anekdoten umfasste, unmögliches Spiegelbild eines vollständigen Lebens, unrealisierbar, wie sehr sie auch von den Verlegern gedrängt wurde, wie viele Verträge für die Veröffentlichung sie auch unterschrieb und obwohl sie dem Unterfangen sechzehn Stunden am Tag widmete, sieben Tage die Woche, von frühmorgens bis zur Abenddämmerung, denn niemand kann ein Leben zur Gänze erzählen.

Letztlich waren die Kisten im Archiv nichts weiter als der Beweis ihres Scheiterns als Biografin: verschiedene Versionen von ein und demselben Kapitel, Konzepte aus den Vierziger-, Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren, Entwürfe und noch mehr Entwürfe, immer wieder aufs Neue geschrieben, Anhänge, mit Klebeband auf die Seiten geklebt, in denen sie Details notierte, an die sie sich erinnerte, alle möglichen Randnotizen, die sie inserts nannte, als ob man in einen Text nach Lust und Laune Beifügungen einschleusen könnte, so wie ein Koch seine Gerichte würzt. Wynner kategorisierte dieses Flickwerk, und die »Beilage 17 A«, aus der Box 35, war die erste, die ich fotografierte:

Als Rosika noch ein Kind war, gingen die Schwimmers während ihrer Aufenthalte in Subotica jeden Sonntag zum Bahnhof. Sie verbrachten den Nachmittag damit, die Passagiere des Orientexpresses beim Aussteigen aus dem luxuriösesten Zug jener Zeit zu beobachten. Als wären sie Zuschauer eines Films und der Bahnsteig eine Leinwand, auf der Filmstars auftraten, saßen sie auf einer Bank und bewunderten die neumodischen Anzüge der Reisenden, deren eigentümliche Art, sich zu unterhalten und zu benehmen, die sich so sehr von ihren eigenen Gepflogenheiten unterschied.

Kurz vor unserer Ankunft in New York hatte uns Rocco, der Immobilienmakler, geschrieben: »Wenn ihr vor der Tür steht, klingelt beim Portier und stellt euch vor, er wird euch öffnen, und ihr könnt hinauf in die Wohnung gehen. Die Tür wird offen sein, der Schlüssel innen.« Diese Nachricht beunruhigte uns, denn sie schürte unseren Verdacht, dass es sich um einen Betrug handelte. Wie konnte er mitten in New York die Tür einfach für uns offen lassen? Aber alles geschah wie angekündigt, und wir betraten unser neues Zuhause, indem wir die Klinke betätigten, und da musste ich an die Wohnung einer Näherin aus meiner Kindheit denken, die stets so in ihre Arbeit vertieft war, dass sie nicht aufstand, um die Tür zu öffnen, sondern man kam herein, indem man an einer Schnur zog, die aus dem Türrahmen heraushing.

Genauso ungezwungen, wie man an einem Seil zieht, erkundeten wir in den folgenden Tagen die Gegend um unser neues Zuhause, aufmerksam beobachtend, was uns das Viertel so bot. Die Upper West Side liegt westlich des Central Park und reicht bis zum Riverside Park und dem Hudson River und beherbergt unter anderem das Naturkundemuseum, das Beacon Theatre und das Dakota Building. Durch die Fenster ohne Vorhänge konnte man vom Gehsteig aus das Innere der Wohnungen inspizieren. Das war weniger ein Eindringen als ein kontemplativer Akt, bei dem man die Liebe der Bewohner zur Kultur bewundern konnte, die Menge an Büchern, die in allen Zimmern zu sehen war, auch in den Küchen, wo angeblich sogar in den Öfen Platz für Bücher gemacht wurde, was der Grund war, warum man fertige Mahlzeiten bestellte. Und dann waren da noch die Flaggen. Man schaute auf und sah überall Flaggen, Protestflaggen, Symbole für Rechte und Freiheiten, die Regenbogenflagge und die Black-Lives-Matter-Flagge.

Es war Ende August und damit immer noch sehr heiß, eine stickige Hitze irgendwo zwischen schwül und gewittrig, während der abendliche Regen die Gerüche sättigte und die Straßen nach matschigem Obst riechen ließ. Nach und nach identifizierten wir in den nächsten Wochen die Aromen einiger der von uns besuchten Orte, den Geruch nach Käse und Kaffee in Zabar’s Lebensmittelgeschäft beispielsweise, während wir mit den anderen Kunden unsere Einkaufswagen durch die Gänge schoben und im Hintergrund klassische Musik lief, oder die unverkennbare Duftspur von getrocknetem Fisch, die das Restaurant von Barney Greengrass umgab, oder den aromatischen Hopfen der alten Bierstube Dublin und auch den Ingwerduft im Haus von Momoya.

Wieder in der 79. Straße, auf dem Rückweg zu unserem neuen Zuhause, erkannte Nora neben einem Hydranten eines der berühmten Graffiti von Banksy, das die Silhouette eines Kindes zeigt, das dabei ist, mit einem riesigen Hammer auf den Wasserhahn zu schlagen. »Banksy muss es auch heiß gewesen sein, als er hier war«, sagte Nora.

Wie das Leben so spielt, enthüllten mir die Papiere im Archiv an einem meiner ersten Tage dort als Willkommensgruß eine wunderbare Fügung des Schicksals: Rosika Schwimmer und Edith Wynner hatten in der gleichen 79. Straße gelebt, in der wir nun gelandet waren! Sie wohnten in einer Mietwohnung auf der anderen Straßenseite, von der aus sie, wenn sie durch unsere Fenster ohne Vorhänge geschaut hätten, beobachten hätten können, wie wir die erste Nacht in New York geschlafen haben, alle vier in einem leeren Zimmer, Nora, die Kinder und ich, zusammengekuschelt auf einer Luftmatratze.

3

Dreizehn Jahre zuvor, als ich zum ersten Mal neben Nora aufwachte, waren ihre schwarzen Augen, sie waren das Erste, was ich sah, wie sie mich anschauten, mich beim Schlafen betrachtet hatten. Daraufhin sah ich die Silhouette ihres mir zugewandten nackten Körpers, den mit einem angewinkelten Arm gehaltenen Kopf samt ihrem wunderschönen, blonden, nach hinten geworfenen Haar, und schließlich ihre perfekt gezeichneten Lippen, wie die Umrisse eines spitzen Zirkuszelts im Halbdunkel einer Morgendämmerung.

Wir sahen uns schweigend an und vergaßen, dass wir auf einer schmalen Matratze in der unteren Etage eines Stockbetts schlecht geschlafen hatten, denn wir fühlten uns glücklich, gestärkt, als schwebten wir in einem seltsamen Frieden. Wenn man ein Verlangen über einen langen Zeitraum verfolgt, das Ziel mit jedem Schritt aber weiter in die Ferne rückt, dann wird die Begierde immer intensiver, immer kostbarer, und an dem Tag, an dem der Traum wahr wird, ist es unvermeidlich, sich an den Weg dorthin zu erinnern. Der von Nora und mir war weder einfach noch kurz gewesen, denn die Freundschaft und die erotische Anziehung hatten sich fast gleichzeitig entwickelt, ohne dass einer von uns wusste, ob das Schicksal uns in die eine oder andere Richtung führen würde.

Als Nora damals nach London reiste, wollte sie ursprünglich nur mit ihrer Freundin Maider fahren, mit der sie unzertrennlich war, und ich war ziemlich überrascht, als ich eine Nachricht erhielt, ob ich sie begleiten wolle.

»Aber bist du dir wirklich sicher, dass du willst, dass ich mitkomme?«, antwortete ich und konnte ihren Vorschlag nicht ganz glauben.

Diese Einladung von Nora war viel mehr als eine bloße Höflichkeitseinladung: Sie war ein Tor in eine Zukunft, die unser Leben auf den Kopf stellen würde, denn ich hatte gerade eine Beziehung beendet, und sie stand seit einiger Zeit kurz davor, sich von ihrem Partner zu trennen, und obwohl es absolut unsicher war, dass London der Ausgangspunkt für etwas Gemeinsames sein könnte, schimmerte diese Möglichkeit durch und bestimmte jeden meiner Gedanken.

Es spielte keine Rolle, dass Maider, Nora und ich schon lange befreundet waren; ich kannte Maider seit Jahren, und die beiden hatten mich umstandslos adoptiert. Wir gingen samstags bis in die frühen Morgenstunden feiern, genauso wie wir sonntags früh aufstanden, um in den Bergen zu wandern, manchmal auch beides an einem Wochenende, um gemeinsam den Kater zu überstehen.

Tatsächlich war es Maider gewesen, die Nora und mich zusammengebracht hatte, ohne ihre Vermittlung hätten wir uns nur vom Sehen gekannt. Ich weiß nicht, ob Maider zu irgendeinem Zeitpunkt den Verdacht gehegt hatte, dass Nora und ich uns gefielen, ich kann es mir gut vorstellen, aber wenn dem so war, dann verbarg sie das perfekt, wenn wir zu dritt ausgingen, immer verhielt sie sich völlig natürlich, mit der Anmut und der Umgänglichkeit, die ihr das Schicksal mitgegeben hatte, eine bezaubernde Persönlichkeit, deren Lebensfreude und gute Laune ansteckend waren und die überall immer jeder mochte.

Kurz nachdem Maider mich Nora vorgestellt hatte, tauschten wir unsere E-Mail-Adressen aus und begannen, uns wie blöd zu schreiben, zunächst unter dem Vorwand, unsere Leidenschaft für Literatur zu teilen, Lektüreempfehlungen zu geben, über unsere Lieblingsautoren zu sprechen, aber schon bald schlichen sich persönlichere, tiefere Themen ein, nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle, Sorgen, Hoffnungen. Erst an meinem Geburtstag gab mir Nora ihre Handynummer. Es war das beste Geschenk.

Heute weiß ich, dass wir uns vom ersten Funkensprühen an beide bewusst waren, dass die Anziehungskraft zwischen uns etwas Ernstes und Besonderes war, so wie wenn man eine schwache Flamme in der Ecke eines großen Lagerfeuers sieht und weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Feuer überspringt.

Kaum hatte ich Nora die Nachricht mit der Frage geschickt, ob sie wirklich wolle, dass ich sie nach London begleite, bereute ich es, und es überkam mich große Angst, dass ich gerade eine große Gelegenheit hatte vorbeiziehen lassen. Ihre Antwort ließ auf sich warten, und ich befürchtete, dass sie ihren Vorschlag noch einmal überdachte und bedauerte, nicht sofort zugesagt zu haben.

»Aber sicher, warum nicht, wir sind doch Freunde.«

Da ich nicht wusste, wie ich den Satz »wir sind doch Freunde« interpretieren sollte, beunruhigte und verwirrte mich diese Antwort gleichermaßen. Tatsächlich fühlte er sich wie ein Eimer kaltes Wasser an, ausgeschüttet auf meine Träumereien. Wieder entfernte sich mein Ziel von mir, doch das verstärkte meine Lust, es zu erreichen, nur umso mehr. Also kaufte ich mir ein Ticket nach London und buchte ein Zimmer in Noras und Maiders Hotel.

In England angekommen, vergingen die Tage ohne große Aufregung mit Museums-, Buchhandlungs- und Marktbesuchen am Tag und Bier und Konzerten am Abend.

Am letzten Freitagabend hatten wir uns mit einer mexikanischen Freundin von Nora namens Alma verabredet, die am Queen’s College studierte. Wir trafen uns in ihrer Wohnung, wo sie uns Mezcal servierte, während wir uns angeregt unterhielten. Als der Alkohol in mein Gehirn vorgedrungen war, machte alles um mich herum einen surrealen, filmähnlichen Eindruck, und wie an eine Kinoszene erinnere ich mich daran, dass Nora ihren Pullover auszog und nur noch ein schwarzes Tanktop trug. Sie hatte den Oberkörper einer Schwimmerin, gebräunte Haut und vor allem ein süßes Muttermal auf ihrem rechten Arm.

Strahlend, vom Glück, unter Freunden zu sein, redselig und witzig, erzählte sie uns eine interessante Geschichte über die Lamias und ihre Geheimsprache.

»Wisst ihr, wir kennen nicht viele Wörter aus der Sprache der Lamias. Aber wir wissen, dass wir sie klar und ohne Formalitäten direkt ansprechen mussten.«

»Ohne Formalitäten: genau wie bei mir«, sagte Maider.

Nora sprach weiter. »Die wenigen Wörter, die überlebt haben, sind seltsamerweise Adverbien.«

»Ja, das ist schon merkwürdig«, stellte Alma fest.

»Aber das Seltsamste ist, dass sie alle dasselbe bedeuteten: sanft.«

In diesem Moment erschauderte ich, eine von Noras Händen war unter mein Hemd geglitten und begann, zärtlich meinen Rücken zu streicheln. Wir saßen so beengt, dass sie es tun konnte, ohne dass Maider oder Alma es bemerkten, mein Herz begann freilich, wie verrückt zu rasen, und es überfiel mich eine extreme Erregung, gemischt mit der Angst, dass unsere Freunde uns entdecken könnten.

»Aber von welchen Adverbien sprichst du?«, fragte Maider mit einer gewissen Ungläubigkeit.

»Eines ist firin firin. Ein anderes, firrin firrin. Firu-firu, piririn piririn …«