Das Wahre ist das Ganze - Günther Dellbrügger - E-Book

Das Wahre ist das Ganze E-Book

Günther Dellbrügger

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Beschreibung

Am 27. August 1770 wurde Hegel in seiner "geliebten Vaterstadt" Stuttgart geboren. 250 Jahre später sind viele seiner Gedanken aktueller denn je. Günther Dellbrügger wendet seinen Blick auf die Bereiche in Hegels Werk, die als zeitlos gelten können, und stellt sie in einen Zusammenhang mit aktuellen Fragen der Gegenwart.

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Günther Dellbrügger

»Das Wahre ist das Ganze«

Hegels Ringen umeine menschliche Intelligenz

Inhalt

Vorwort

Diese Furcht zu irren

»Das Wahre ist das Ganze« – Hegels geistiges Anliegen

Äußere und innere Stationen in Hegels Leben

Biografische Streiflichter

Neuentdeckung des Johannes-Evangeliums

Europäischer Verstand und ätherische Vernunft

Die Entäußerungskraft des Geistes

Neue Gemeinschaftsbildung

Hegel und Goethe: Das Urphänomen grüßt das Absolute

Hegel und Rumi: Stirb und Werde

Rumis Leben und Gedichte

Hegels Begeisterung für Rumi

Hegel und Steiner: Der Kampf mit Ahriman um das menschliche Denken

Steiners philosophische Studien

Begegnung mit dem Kräutersammler

Die Entdeckung Goethes

Hegel im Frühwerk Steiners

Der Auftrag der »Meister«

Der »Polgedanke« bei Hegel und Steiner

Hegel und Helena P. Blavatsky

Der Münchner Kongress 1907

Hegel als »Erziehungsmittel« für die Theosophische Gesellschaft

»Vom Menschenrätsel«

Hegel und der Menschheitsrepräsentant

Hegel und Schopenhauer – kosmischer Gedanke und kosmischer Wille

Denken im Geiste Michaels

Erkenntnis als Gottesdienst – Kultus aus Geisterkenntnis Hegels Religionsphilosophie

Kultus aus Geisterkenntnis

Zusammenfassung

Die Intelligenz wird böse – eine menschheitliche Herausforderung

Anhang

Rudolf Steiner und die Hegel-Büste von Wichmann

Hegel-Texte

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Dank

»Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.«

Hegel, Phänomenologie des Geistes (Vorrede)

»Es muss der Mensch das werden,als was er sich denkt.«

Rudolf Steiner, Vortrag vom 13. November 19171

Abkürzungen:

WW: Hegel, Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1969 ff.GW: Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff.VR: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion,hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1983f.

Vorwort

Am 27. August 1770 wurde Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Stuttgart, seiner »geliebten Vaterstadt«, geboren. So wird in diesem Jahr auf vielfältige Weise das Andenken an einen der bedeutendsten Denker der Menschheit gefeiert.

Das ist für mich der Anlass, das im Jahre 2000 erschienene Buch »Das Erkennen schlägt die Wunde und heilt sie«. Hegels Kampf um die menschliche Intelligenz einer gründlichen Durchsicht zu unterziehen und vor allen Dingen mit neuen Kapiteln zu aktualisieren und zu erweitern. Seine geistige Strahlkraft scheint mir ungebrochen, sein Denken ist in einem überkonfessionellen, freien Christsein gegründet.

Was können wir heute an Hegel gewinnen? In uns allen lebt der Impuls, selber denken und alles – nicht zuletzt uns selber – kritisch prüfen zu wollen. Dazu brauchen wir ein klares und vielseitiges Denken. Daraus kann unabhängige und mutige Urteilskraft erwachsen. Wirklichkeitsgemäßes Denken und treffsicheres Urteilen können wir an und mit Hegel entwickeln. Diese Fähigkeiten brauchen wir in einer plötzlich so veränderten Welt dringender denn je.

Hegel ist schwer zu verstehen. Das kann ich nach über 50 Jahren der Beschäftigung mit ihm nur bestätigen, aber es lohnt der Mühe. Denn Philosophieren heißt – frei nach Hegel:

Frei denken und leben zu lernen!

Günther Dellbrügger, Wesselburen im Mai 2020

Diese Furcht zu irren

Wer Stuttgart kennt oder sogar dort lebt, begegnet Hegel auch heute noch öffentlich. Nicht nur in seinem renovierten Geburtshaus in der Eberhardstraße 53, sondern direkt im Zentrum. An der Westseite des ramponierten Hauptbahnhofs grüßt ein Zitat des Philosophen hoch oben wie ein Stirnband, ein echtes Denk-Wort:

»… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.«

Man muss allerdings vom Smartphone aufblicken, um oben in ziemlicher Höhe diesen Satz in Leuchtschrift lesen zu können! Und dann? Was macht er mit dem, der ihn liest und sich darauf – wenigstens einen Moment – einlässt? Bewegt er etwas?

Irren möchte sich keiner von uns, auch nicht zugeben müssen, dass man sich geirrt hat. Ja, man kann heute den Eindruck gewinnen, dass die Furcht zu irren unserer Persönlichkeit tief eingeschrieben ist. Halten wir nicht deshalb lieber den Mund, bemühen die Wissenschaft oder zitieren die Zeitung?

Das Wort »irren« bedeutet ursprünglich »sich schnell, heftig oder ziellos bewegen«. Das Eigenschaftswort »irre«, heute gebräuchlich für »außergewöhnlich, erstaunlich«, meinte ursprünglich u.a. »verirrt, frei von, ketzerisch, erzürnt, ungestüm«. Erst spät hat es die Bedeutung von »verstört, psychotisch« angenommen (s. Irrenhaus, Irrsinn, Irrgarten, Irrlehre, Irrlicht, Irrtum).

Hegel vertraute furchtlos auf das eigene Denken, statt auf eine äußere widerspruchsfreie Wissenschaft zu hoffen. Selber zu denken, aber das Denken im Vollzug immer weiter zu entwickeln, war sein Anliegen. Denn man könne auch das Schwimmen nicht lernen, ohne sich nass zu machen! Zugleich wusste er nur zu gut, wie schwer es ist, »die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen.«

In einem seiner Hauptwerke, der Phänomenologie des Geistes (1807), widerspricht er Immanuel Kant. Dieser hatte 25 Jahre zuvor in seinem Epoche machenden Werk Die Kritik der reinen Vernunft für immer – wie er meinte – fest-gestellt (!), dass unser Erkennen absolute Grenzen hat, dass es über den Bereich unserer Sinne hinaus keine Erkenntnis gibt. Hegel hat dagegen energisch protestiert. Sein ganzes Leben und Wirken ist Protest gegen diese Ansicht, ist Widerspruch.

Hegel stellt das bisherige Denken auf den Kopf. Dachte man bis dahin, zur Wahrheit komme man nur durch Beseitigung der Widersprüche, so stellt Hegel dem entgegen: »Der Widerspruch ist die Regel für das Wahre, der Nicht-Widerspruch die für das Falsche.« Der Verstand kann nur denken »Entweder – oder«, aber der Verstand muss zur Vernunft gebracht werden! Das Leben selber ist widersprüchlich, enthält Paradoxien, die nicht in einem »Entweder – oder« aufzulösen sind.

Nehmen wir als Beispiel die Zahl 1. Gewöhnlich sagen wir: 1 ist die kleinste Zahl, schon 2 ist das Doppelte usw. In Bezug auf äußere Dinge ist das natürlich richtig. Ich kann aber auch die Zahl 1 als die größte aller Zahlen ansehen, das Eine, alles Umfassende. Durch Teilung der 1 entsteht dann die Zweiheit, zwei Hälften usw. Auf diese innere Denkbewegung kam es Hegel entscheidend an: Ich kann dann beides denken: 1 als kleinste und 1 als größte Zahl. In der Vernunft kann ich beide Ansichten anerkennen und umfassen. Die Widersprüche treiben über sich hinaus zu einer höheren Einheit.

Für Hegel kommt alles darauf an, nicht bei den Widersprüchen stehen zu bleiben. Der Standpunkt, man könne eben alles beweisen oder auch das Gegenteil, ist für Hegel inakzeptabel. Denn um einen Gedanken zu fassen, muss ich zunächst alles, was gegen ihn spricht, übersehen, ausblenden. Der Gedanke selber ruft früher oder später Widerspruch hervor. Der Widerspruch bringt hervor, was der erste Gedanke zunächst ausschließen musste.

Die Arbeit des begreifenden Denkens besteht darin, die Widersprüche »aufzuheben« und so den Verstand zur Vernunft zu bringen. »Aufheben« ist ein Schlüsselbegriff in Hegels Philosophie, er meint dreierlei: erstens negieren (z.B. ein Gesetz aufheben), zweitens bewahren (z.B. einen Brief aufheben), drittens etwas auf eine höhere Stufe hinaufheben.

Hier ist dialogisches Denken gefordert, das so elastisch und flüssig ist, dass es fixe Vorstellungen in Bewegung bringen kann. Hegels Hauptwerk, seine »Logik« ist eine Hochgebirgstour für schwindelfreie Denker; kein System von logischen Sätzen, sondern eine einzige große Denkbewegung. Sie will den gesamten menschlichen Gedankenorganismus entwickeln und klären, mit dem wir ständig operieren.

Den Widerspruch als bloßen Irrtum abzutun, verrät Furcht, Fixierung, »Schädelleere«, wie Hegel einmal sagt. Den Widerspruch aufzunehmen, sich in ihn hineinzuversetzen, die eigene Position zu korrigieren und zu verflüssigen – nur solche Denkbewegungen haben Aussicht auf Wahrheit!

Gerade im Sozialen kann ein Einzelner nicht zu einem wahrheitsgemäßen Urteil kommen. Der Andersdenkende ist nicht »irre«, er sieht die Sache nur aus einer anderen Sicht. Der Vernünftige ahnt: »Wir er-gänzen uns!« Wie kann das Ganze in den Blick kommen? Das scheint mir eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit zu sein. Denn nur das Ganze ist das Wahre!

Zwar hat Hegel sein Leben in erster Linie der Erforschung des Denkens gewidmet, er hatte aber darüber hinaus denkbar weite und vielfältige Interessen: Kunstreisen führten ihn nach Amsterdam, Paris, Wien und – mit besonderer Freude zwei Mal nach Prag. In seiner Gesellschaftstheorie setzte er sich kritisch mit Adam Smith’s Auffassung von der »invisible hand« des Marktes auseinander. Literarisch interessierte er sich intensiv für den in seiner Zeit gerade erst in den Blick tretenden Orient: für den Universalismus des Konfuzius, den japanischen Buddhismus und die große persische Literatur, allen voran für den »vortrefflichen Rumi« (etwa 1207–1273) und dessen geniale Dichtung. Hegel war ein Philosoph mit universalen Interessen und Kenntnissen!

Wir bedürfen in der Zukunft einer human-sozialen Intelligenz, die unsere Interessen wieder auf grundsätzliche Fragen lenkt: Was ist der Mensch? Was bedeuten wir füreinander, für die Umwelt, für die Erde im Ganzen? Zukunftsfähig erscheint mir nur ein Denken, das Paradoxien auf einer neuen Ebene zu verbinden und Widersprüchliches zusammenzudenken vermag – ohne Furcht zu irren.

An und mit Hegel kann ein solches Denken mit Leidenschaft geübt und gelernt werden.

»Das Wahre ist das Ganze« Hegels geistiges Anliegen

Ein Kernsatz von Hegels Philosophie lautet: »Das Wahre ist das Ganze«. Das heißt, nur wenn ich versuche, das Ganze in den Blick zu bekommen, habe ich Aussicht auf Wahrheit. Einen Baum zum Beispiel muss ich von allen vier Seiten anschauen. Von der Wetterseite zeigt er sich anders als auf den übrigen Seiten. Wir drohen heute in Einzelinformationen zu versinken. Ein Informationstsunami ist über uns hereingebrochen. Der Blick auf das Ganze muss neu gesucht werden. Die Ökologie lehrt uns, wie alles in einem Zusammenhang steht, die ganzheitliche Medizin versucht, den Menschen als Ganzen anzuschauen, zu verstehen und zu heilen. Auch wenn es uns vielleicht nicht möglich ist, das Ganze zu erfassen, müssen wir es versuchen. Schillers und auch Goethes Maxime scheint aktueller denn je:

»Immer strebe zum Ganzen … «2

Schon in ihrer von der Suche nach der Wahrheit geprägten Jugend hatten sich Hegel und der Dichter Hölderlin, die gemeinsam an der Eberhard Karls Universität in Tübingen Philosophie und Theologie studierten, in der griechischen Losung »hen kai pan« vereint gefunden. Das »Eins und Alles« ist wie eine Fanfare: Das Eine (Gott, das Absolute, der Geist) muss mit allem Einzelnen, was es gibt, zusammengedacht werden, die Welt ist vernetzt, alles steht miteinander in Verbindung. 1799 entsteht aus diesem Impuls das »Systemprogramm«, das die Welt als ein Ganzes erfassen und beschreiben will. Wer es verfasst hat – ob Hegel, Hölderlin oder Schelling −, wird bis heute diskutiert. Aber klar ist, über dem »Systemprogramm« steht die gemeinsame Idee: »Das Wahre ist das Ganze«, wir müssen »Das Eine« und »Alles« in seinem Zusammenhang erkennen.

Als Hegel im Januar 1801 seine Laufbahn als Privatdozent für Philosophie in Jena beginnt, bleibt er seinem Ziel treu und entwirft System auf System. Aber er ist unzufrieden, veröffentlicht nichts. Der ersehnte Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie erreicht ihn erst 1816. Hegel ist bereits 46 Jahre alt, als er nach Heidelberg berufen wird. Für die dortigen Studenten konzipiert er sein System in Form einer Enzyklopädie, ein Gegenentwurf zu den materialistischen Systemen der französischen Enzyklopädisten.

Denn für Hegel ist eines unumstößlich: Zum Ganzen der Welt gehört nicht nur die Materie, da die äußere Welt in allen ihren Formen von Geist durchdrungen ist. Überall müssen die Spuren des Geistes gefunden und gelesen werden. Die Einzelheiten der Welt gehören in ein Gesamtbild. Hegel strebte unermüdlich danach, die Welt in ihrer Ganzheit zu erfassen. Steiner nannte ihn einmal den »Philosophen der goetheschen Weltanschauung«. Schon im ersten Entwurf seiner Enzyklopädie tritt Hegel öffentlich für Goethes Farbenlehre ein, was diesen aufgrund der zahlreichen Angriffe von anderer Seite außerordentlich gefreut hat (siehe das Kapitel »Hegel und Goethe«).

Drei Fragen versucht Hegels Enzyklopädie zu beantworten:

1.Wie ist der menschliche Geist beschaffen, mithilfe dessen wir erkennen?

2.Wie wirkt der Geist in den Formen und Prozessen der Natur?

3.Wie offenbart sich der Geist in den Kulturleistungen der Menschheit, etwa Rechtsleben, Kunst, Religion, Philosophie?3

Hegels Enzyklopädie umfasst drei Hauptteile: Die Wissenschaft der Logik entwickelt den inneren Zusammenhang aller Gedanken und Begriffe, die wir benutzen; Hegel versucht hier »die Gedanken Gottes vor der Schöpfung« zu denken.

Der zweite Teil ist der Naturphilosophie gewidmet. Die Natur ist für Hegel nicht nur (zu beherrschendes) Objekt, sondern selber Subjekt, selber in Entwicklung begriffen. In diesem Abschnitt tritt er auch öffentlich für Goethes Farbenlehre ein; er hat selber Entdeckungen zur Farbenlehre gemacht!

Der dritte Teil schließlich behandelt die Philosophie des Geistes. Sie stellt sich der ewigen Aufgabe, die dem Menschen seit den antiken Mysterien gestellt ist: »Erkenne dich selbst.« Über den subjektiven Geist des Menschen in seinen verschiedensten Ausprägungen kommt Hegel zum objektiven Geist, der als Rechtsleben, Moralität und Sittlichkeit in Erscheinung tritt. Den Höhepunkt des Systems bildet der Abschnitt »Der absolute Geist«. Dieser manifestiert sich in Kunst, Religion (»… die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen; der Glaube beruht auf dem Zeugnis des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist«, § 572) und schließlich als Philosophie. Und hier, auf der Kulmination seines Systems, im Rahmen der höchsten Manifestation des Geistes, kommt Hegel auf Rumis Gedichte zu sprechen und kommentiert: »Ich kann mich nicht enthalten …, etliche Stellen hier anzuführen …« (§ 572). Es folgen etliche Gedichte aus Rumis umfassendem Werk (siehe das Kapitel »Hegel und Rumi«).

Äußere und innere Stationen in Hegels Leben4

Biografische Streiflichter

Ich möchte zunächst etwas aus dem Leben Hegels erzählen, von seiner inneren Wesensart, damit er uns menschlich lebendig wird, und dann die Frage des Erkennens als Quelle von Krankheit und Gesundheit aufgreifen. Hegel wurde am 27. August 1770 geboren, einen Tag, bevor Goethe 21 Jahre alt wurde, und zwar in Stuttgart, Eberhardstraße 53. In der gleichen Straße, ein paar Häuser weiter, lebte später der Regimentsmedicus Friedrich Schiller, der von einem Pfarrer Hegel, einem Verwandten des Philosophen, 1759 in Marbach getauft worden war. Hegels Geburtshaus ist sehr schön wiederhergestellt, und wenn man es anschaut in seiner aufragenden Größe, aber zugleich in seiner Solidität, dann kann man empfinden: Das passt zu Hegel! Er ist in Stuttgart protestantisch getauft worden. Mit sechs Jahren hatte er die Blattern (Pocken) aufs Heftigste. Man glaubte ihn schon verloren, und er war mehrere Tage blind. Als er 13 Jahre alt war, erkrankten beide Eltern, die jüngere Schwester und er an Gallenfieber. Die Mutter starb. Welche Erschütterungen in der Seele des heranreifenden Knaben!

Von seiner Konfirmation enttäuscht, besuchte er die Hofkapelle im Alten Schloss in Stuttgart, wo seit dem Übertritt des Herzogs von Württemberg Karl Alexander zur katholischen Kirche im Jahre 1712 die katholische Messe gefeiert wurde. Dieses eigentümliche Interesse für den Katholizismus durchzieht Hegels ganzes Leben, obwohl er dezidierter Lutheraner war! Karl Alexanders Sohn und Nachfolger Karl Eugen hatte hervorragende katholische Theologen und Prediger nach Ludwigsburg und Stuttgart geholt. Viele Stuttgarter erlebten den »Kanzelvortrag« der protestantischen Pfarrer als fade, trocken und geschmacklos gegenüber den schönen und erbaulichen Predigten in der Hofkapelle. So auch Hegel!

Am 7. August 1785 besuchte der fast Fünfzehnjährige zum ersten Mal die Messe und schrieb – auf Lateinisch! – in sein Tagebuch, dass ihm dieser Gottesdienst wie jedem gesunden Menschen (!) außerordentlich missfallen, die Predigt von Werkmeister ihm aber so zugesagt habe, dass er beschlossen habe, öfters hinzugehen. Wer war Werkmeister?

Benedikt Maria von Werkmeister (1745–1823) muss eine außerordentlich offene, freie und begeisternde Persönlichkeit gewesen sein. Er war Benediktiner, wurde schon mit 25 Jahren Novizenmeister, aber, wie er sagte, mehr aus Mitleid, damit nämlich nicht ein anderer die guten Jünglinge ganz zu alten Mönchen verbilde! Dass er hinter nie gelesenen Predigtbänden für die jungen Mönche eine geheime Bibliothek von verbotener neuerer Literatur versteckte, führte zum unvermeidlichen Streit mit dem Abt im 100 Kilometer östlich von Stuttgart gelegenen Neresheim. Als Professor für Philosophie und Kirchengeschichte in Freiburg trat er in den Illuminatenorden ein, zu dem auch Goethe und Herder gehörten, bevor Karl Eugen ihn 1784 nach Stuttgart holte.

Denn der Geist der Aufklärung hatte auch Stuttgart erreicht. Auf Flugschriften hieß es: »Gott sprach: Es werde Licht! So rief es über das ganze Weltall hin. Wo steht für die Schwaben die Ausnahme geschrieben?« So trat Werkmeister für die persönliche Gewissensfreiheit der Gläubigen ein, protestierte gegen den Anspruch kirchlicher Unfehlbarkeit und führte schließlich eine Messliturgie in deutscher Sprache ein. Er predigte über Themen wie: Was trug das Christentum zur Verbreitung von Freiheit und Gleichheit bei? und betonte die Bedeutung der Erkenntnis für die Religion. Denn Religion könne zwar nicht ohne Gefühl sein, aber ihr Wesen bestehe nicht in Gefühlen – genau darum ging es später in Hegels Auseinandersetzung mit Schleiermacher!

In Werkmeister hatte Hegel ein Gegenüber gefunden, an dem er geistig erwachen konnte, wenn von der Kanzel das eigene Denken, das Selbstdenken gefordert und gefördert, zugleich aber am Kultus festgehalten wurde, denn erst der gemeinsame Gottesdienst errege das Göttliche, das wie im Keime in uns sei, und bringe es uns zum Bewusstsein.

Wie enttäuschend dann aber das Theologiestudium in Tübingen 1788 bis 1793. Nirgends werde wohl so getreulich wie dort das alte System fortgepflanzt, klagte er später in einem Brief an Schelling. Der fünf Jahre jüngere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling wurde 1790 als erst Fünfzehnjähriger mit Sondergenehmigung zum Studium aufgenommen, ein Jahr nach Ausbruch der Revolution in Frankreich. Da gibt es die schöne Anekdote, wie die Studenten lebhaftes Interesse zeigten für die Ereignisse in Frankreich, ja sogar begeistert die Marseillaise sangen, deren Übertragung ins Deutsche Schelling zugeschrieben wurde. Unverzüglich sei Herzog Karl Eugen persönlich angereist und habe Schelling zur Rede gestellt: »Da ist in Frankreich ein sauberes Liedchen gedichtet worden, wird von den Marseiller Banditen gesungen, kennt Er es?« Schelling soll unerschrocken den Blick des Herzogs schweigend erwidert und, nach erfolgter Strafpredigt noch einmal befragt, geantwortet haben: »Durchlaucht, wir fehlen alle mannigfaltig!«

Der Ruf nach Freiheit war unüberhörbar geworden. Man hoffte auf die sittliche Wiedergeburt Europas. Zu dem Politischen Club, der über die Französische Revolution debattierte, gehörte auch Hegel. Mehr als die Theologie interessierten ihn die griechischen Tragiker und Rousseaus Gesellschaftslehre. Allenfalls die urwüchsige Sprache des Buches Hiob sprach ihn tiefer an. Ansonsten war Hegel unauffällig, beteiligte sich am üblichen Studentenleben, und niemand ahnte, dass sich hier einer der ganz großen Denker der Menschheit in Verpuppung befand. Dem ziemlich spät aus einer Weinstube Heimkehrenden soll der verzweifelte Stubenälteste einmal zugerufen haben: »O Hegel, du säufst dir gewiss noch dein bissle Verstand vollends ab!«

Das Schicksal wollte es, dass er zusammen mit dem gleichaltrigen Hölderlin und dem fünf Jahre jüngeren Schelling auf einem Zimmer lebte. Diese drei schließen Freundschaft. In dem evangelischen Stift in Tübingen, einem ehemaligen Augustinerkloster, geht ein leuchtendes Dreigestirn auf. Die Verhältnisse waren sehr bescheiden, es gab weniger als 300 Studenten in Tübingen! Die drei studierten nun Theologie mit den anderen, aber sie wurden alle drei nicht Pfarrer! Ihr Lebensweg war ausgerichtet auf das Christentum, doch sie konnten sich mit den bestehenden Verhältnissen in der Kirche nicht verbinden. Hölderlin spricht im Rückblick von den »Totengräbern« in Tübingen, die einen »Totenerwecker« bräuchten!

Zum kirchlichen Examen 1793 hatte Hegel u.a. vorgegebene Thesen zu verteidigen, in denen es beispielsweise hieß, dass kalter liturgischer Mechanismus (frigidus mechanismus liturgicus) weder einem Pfarrer noch der Kirche gezieme und dass überhaupt katholische Messe und Luthertum gänzlich unvereinbar seien. Gerade diese Frage aber: Wie sind Kultus – denn ohne Kultus keine Gemeinde – und Freiheit des Einzelnen im Christentum vereinbar, wird zu einem Hauptmotiv seiner späteren Religionsphilosophie!

Aus seiner Liebe zum Griechentum arbeitet der befreundete Hölderlin schon in Tübingen an seinem Roman Hyperion. Ein Eremit in Griechenland. 1794 erscheint ein erstes Fragment des Hyperion in Schillers Zeitschrift »Thalia«. Dem Freund Hegel schreibt er das Goethewort ins Stammbuch: »Lust und Liebe sind die Fittige zu großen Taten.« In der eigenen Kirche finden sie den Ort nicht, um mit Lust und Liebe und großen Taten dem Christentum zu dienen. Und so hofft Hölderlin auf eine neue Kirche.