Das Warschauer Konzert - Bernard Thill - E-Book

Das Warschauer Konzert E-Book

Bernard Thill

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Beschreibung

Zuhören, sich einlassen, ehrlich und wahrhaftig, erfinderisch und kreativ sein – das sind wichtige Eigenschaften im Umgang mit kranken Menschen und sie gelten für Ärzte, Pfleger, Angehörige und Freunde gleichermaßen. Ein Klavier im Krankenhaus, Kaninchen im Flur, mit dem Rollstuhl ins Kino, mit dem Auto über die „Schueberfouer“ – Freude bereiten, auch am Lebensende. Dieses Buch erzählt vom unterschiedlichen Lebensweg schwerkranker Patienten, von der Trauer der Angehörigen und den Erfahrungen der Mitarbeiter. „Palliative Medizin ist, vom philosophisch-ethischen Standpunkt aus gesehen, eine wirksame Praxis im Dienst der Menschenwürde. Diese Würde kann nicht verloren gehen, auch nicht durch die schlimmste Krankheit. Palliative Medizin hat sich die Begleitung und ganzheitliche Behandlung schwerkranker, meist todkranker Menschen zum Ziel gesetzt, dies im Respekt vor ihrer Würde, und bis an ihr Lebensende.“ Hubert Hausemer, Philosoph

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Für Monique, Christophe, Michel und Martine

in Dankbarkeit und Liebe

Vorwort

Das „Warschauer Konzert für Klavier und Orchester“ wurde 1941 von Richard Addinsell (1904 – 1977) für den britischen Film „Dangerous moonlight“ komponiert, in dem ein polnischer Pianist im Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien flieht, um dort als Pilot gegen die Wehrmacht zu kämpfen. Es ist das wohl bekannteste Werkdes Briten, der vor allem durch dieseFilmmusik berühmt wurde.

Auf der Escher Palliativstation war die Fassung für Soloklavier die „Erkennungsmelodie“ einer Patientin, einer in der Luxemburger Musikszene beliebten Pianistin und sensiblen Pädagogin. Wie es dazu kam, wie das Klavier auf die Palliativstation gelangte und dort die seelischen und physischen Schmerzen für eine Weile linderte, erzählt ihr Gründer Dr. Bernard Thill in diesem Buch.

Musik gehörte während des stationären Aufenthaltes der Pianistin, und dank ihrer regelmäßigen Präsenz auch danach, mit zum Leben auf der Station. Konzerte, aber auch musikalische Improvisationen ließen traurige Ereignisse, die unheilbare Krankheit und das bevorstehende Lebensende etwas in den Hintergrund rücken und brachten für einen kleinen Moment Normalität ins Leben der Patienten. Nach dem Tod der Pianistin blieb das Klavier. Es erklingt noch immer, auch als Begleitung für Sänger und andere Instrumente.

Die Veröffentlichung dieser Geschichte über die Escher Palliativstation zu einer Zeit, da Krankheit und Tod zu den täglichen Nachrichten gehören, ist kein Zufall. Der Tod wird oft nur in Zahlen und Statistiken wiedergegeben, deshalb stellt sich die Frage umso eindringlicher: Wie wird heute gestorben?

Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist Ausdruck der Kultur der jeweiligen Gesellschaft. Obwohl Sterben zum Leben gehört, wird der Gedanke an den Tod verdrängt, weil es wehtut einen geliebten Menschen zu verlieren, weil es eine Leere hinterlässt, mit der die Hinterbliebenen weiterleben müssen.

Dr. Thill hat es geschafft, mit der Gründung der Palliativstation 1994 das Lebensende menschlicher zu gestalten. Das Leben mit der Krankheit, auch angesichts des unausweichlichen und bevorstehenden Todes, gemeinsam anzugehen, in Würde und Respekt, das war der gewagte humanistische Ansatz im luxemburgischen Gesundheitswesen.

„Palliativ heißt nicht, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“ – Cicely Saunders.

Keine sensationellen Vorgänge, Alltag, wie der Kranke und seine Umgebung ihn noch zu leben versuchen, mit kleinen Freuden, die viel bedeuten, da manches scheinbar Unmögliche doch noch möglich wurde.

Durch die Feder des Arztes und seiner Mitarbeiter werden sie zu Geschichten, die das Leben schrieb, ein Plädoyer für ein humanes Sterben.

Erna Hennicot-Schoepges

Dezember 2021

„Man muss die Philosophie in die Medizin und die Medizin in die Philosophie tragen.“

Hippokrates1

Einleitung

Dieses Buch handelt vom Alltag auf einer Palliativstation, erzählt aber auch von Geschehnissen außerhalb dieser Station, die mal freudiger, mal trauriger Art waren. Jede einzelne Krankengeschichte wurde wahrheitsgetreu wiedergegeben, die Namen wurden jedoch alle geändert.

Es sind authentische Geschichten von Patienten mit einer unheilbaren Krankheit und ihren Angehörigen, von Menschen, die ich das Privileg hatte, während meiner klinischen Tätigkeit als Arzt, Onkologe und Palliativmediziner zu begleiten und zu betreuen. Diese Lebensgeschichten zeugen von Ansätzen einer holistischen Palliativmedizin, die deutlich machen, welch wichtige Rolle das interdisziplinäre Behandlungsteam hier spielt. Zeit für den Kranken und seine Angehörigen zu haben, zuzuhören, präsent und ehrlich zu sein, Symptome ernst zu nehmen und zu hinterfragen und Leiden zu lindern nach bestem Wissen und Gewissen – das ist es, worum es in dieser schweren, oft letzten Lebensphase geht.

Im Anhang erzählen die Mitglieder des interdisziplinären Teams von ihren persönlichen Erfahrungen. Es war mir wichtig, diese Berichte so wiederzugeben, wie sie von den verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschrieben wurden, unverändert und ungekürzt.

Es bleibt meine Hoffnung, dass jeder chronisch Kranke in Zukunft die Möglichkeit haben wird, auf eine ganzheitliche Behandlung durch eine genügende Anzahl an gut ausgebildeten Fach- und Pflegekräften zurückgreifen zu können, sei es im Krankenhaus, im Alten- oder Pflegeheim oder zuhause, und dass auch die Angehörigen miteingebunden werden und Unterstützung finden.

Angesichts der anhaltenden Covid-19-Pandemie und auch im Hinblick auf nicht vorhersehbare weitere Epidemien oder Katastrophen, möchte ich zudem die Hoffnung äußern, dass Schwerstkranke und Sterbende sowie ihre Verwandten nicht alleine gelassen werden, dass sie trotz aller Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen Fürsorge und Beistand erfahren dürfen.

Mögen diese authentischen Krankengeschichten für viele eine Anregung oder eine Hilfe sein!

Dr. Bernard Thill

Januar 2022

Zitatensammlung, Seminar „Verschriftlichter Tod“, Sommersemester 2009, Professor Dr. Ulrich Seelbach, Fakultät für Linguistik und Literaturstudien, Universität Bielefeld – im Folgenden als Zit.Sam.Seelbach abgekürzt.

„Das Leben eines anderen Menschen zu teilen, und zwar an allem Anteil zu nehmen, was ihn betrifft, am Größten und Kleinsten, an Freuden und Leiden, aber auch an Arbeiten und Problemen, ist Gabe und Glück.“

Edith Stein2

Joëlle Müller

An einem Herbstnachmittag bekam die Sekretärin der onkologischen Praxis von Dr. David Bauer einen etwas ungewöhnlichen Anruf. Die Frau am anderen Ende der Leitung wollte keinen Termin für eine Untersuchung, sondern fragte lediglich, ob der Arzt bereit sei, eine Erwerbsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen. Da die Patientin niemals zuvor bei Dr. Bauer in Behandlung gewesen war, leitete Myriam den Anruf an den Arzt weiter, der, erstaunt und auch neugierig geworden, das Gespräch entgegennahm.

Die Anruferin stellte sich als Joëlle Müller vor und kam gleich zur Sache. Sie habe Brustkrebs, wolle aber keinerlei Behandlung, sondern nur die Bescheinigung, dass sie arbeitsunfähig sei.

„Wenn es so ist, wie Sie sagen“, meinte Dr. Bauer, „kann ich das gerne tun. Allerdings müsste ich Sie trotzdem einmal untersuchen dürfen.“

„Da gibt es ein Problem“, vertraute ihm Frau Müller an. „Ich bin nicht krankenversichert und ich habe kein Geld. Und eigentlich auch kein Vertrauen mehr in die Ärzte.“

Dr. Bauer überlegte nicht lange, für ihn klang der Anruf wie ein Hilferuf. Er versicherte ihr, dass Geld jetzt kein Thema sei und er Ihre Bedenken durchaus nachvollziehen könne. Wenn sie wolle, könne sie einen Termin für den nächsten Tag in seiner Sprechstunde im Krankenhaus haben.

Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt meldete sich eine zierliche, abgemagerte Frau, etwa Anfang fünfzig, in der Poliklinik für Innere Medizin und internistische Onkologie. Dr. Bauer bat sie sofort in sein Sprechzimmer.

„Nehmen Sie Platz, Frau Müller. Möchten Sie mir erzählen, wie und warum Sie zu mir gefunden haben?“

„Ich habe gehört, dass Sie ein Arzt sein sollen, der zuhören kann. Deshalb bin ich hier“, antwortete die Frau, ohne zu zögern. „Da ich Brustkrebs habe, laut Meinung einer Ihrer Kollegen auf Ibiza, wollte ich dort nicht mehr bleiben.“

„Waren Sie dort in Urlaub?“

„Nein, ich habe fast drei Jahre dort gelebt.“

Und dann erzählte die Patientin, dass sie nach Ibiza ausgewandert sei, weil sie es zuhause in Luxemburg nicht mehr ausgehalten habe. Ihre Tätigkeit als Klavierlehrerin am Konservatorium habe ihr zwar viel Freude und Genugtuung bereitet; die Arbeit mit den Schülern und die Vermittlung der Liebe zur Musik hättensie immer wieder motiviert. Zudem hätten die zahlreichen Konzerte sie auch ständig herausgefordert und angespornt.

„Doch die vielen Verpflichtungen, der permanente Leistungsdruck und die damit verbundene Last der Verantwortung haben mich regelrecht zermürbt. Ich habe gekündigt und mich mit Scheunenkonzerten im nahen Ausland über Wasser gehalten“, fuhr Frau Müller fort. „Dann bin ich ausgewandert. Ich habe meine beiden Söhne, Paul und Tom, zurückgelassen, den Kontakt jedoch immer aufrechterhalten. Ich wohne derzeit auch bei Tom. Die Scheidung von meinem Mann liegt bereits viele Jahre zurück. Auf Ibiza habe ich zuletzt in einem Wohnwagen gelebt, für eine Wohnung hat das Geld nicht mehr gereicht.“ Frau Müller schwieg.

Berührt von ihrer Lebensgeschichte fragte Dr. Bauer mit leiser Stimme: „Haben Sie Schmerzen? Leiden Sie unter Atemnot?“

„Nein, ich habe keinerlei Beschwerden, ich will nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Da ich zurzeit nicht arbeiten kann, brauche ich diese Bescheinigung. Ich möchte mich wieder krankenversichern lassen.“

„Sind Sie damit einverstanden, dass ich Sie untersuche?“, fragte Dr. Bauer.

Frau Müller nickte.

Es war schnell klar, dass der Tumor in der linken Brust bereits Tochtergeschwülste3 in der Achsel und in der Haut gebildet und sich auch auf die andere Körperseite ausgedehnt hatte. Beim Abhören der Lungen war rechtsseitig ein abgeschwächtes Atemgeräusch zu hören, was ebenfalls auf einen möglichen Tumorbefall deutete.

Wortlos und mit nachdenklicher Miene setzte der Arzt sich wieder an seinen Schreibtisch, nahm einen Kugelschreiber und bescheinigte, dass die klinisch-körperliche Untersuchung von Frau Joëlle Müller ein sehr fortgeschrittenes Brustkrebsleiden4 ergeben habe, weswegen sie für unbestimmte Zeit arbeitsunfähig sei.

Das beim Abhören der Lungen festgestellte verminderte Atemgeräusch bereitete Dr. Bauer Sorgen. Er nahm eine ungeöffnete Medikamentenschachtel vom Regal und wandte sich an seine Patientin.

„Obwohl Sie kein Vertrauen mehr in die Medizin und die Ärzte haben und Sie keinerlei weitere Diagnostik und Therapie wünschen, möchte ich Ihnen trotzdem ein bei Brustkrebs sehr wirksames Antihormonpräparat als Ärztemuster mitgeben. Dieses Medikament5 wird im Allgemeinen sehr gut vertragen, die normale Dosis ist eine Tablette pro Tag. Ihre Lunge gefällt mir nicht. Ob Sie dieses Medikament nun nehmen oder nicht, das überlasse ich Ihnen. Ich weiß nur, dassdurch dieses Medikament die Sterberate von Frauen mit Brustkrebs weltweit deutlich gesenkt wurde. Vielleicht ändern Sie ja doch Ihre Meinung und sind froh, etwas gegen Ihre Krankheit in der Hand zu haben. Was auch immer Sie vorhaben, ich bin jederzeit gerne für Sie da und hier in der Klinik täglich zu erreichen.“

Frau Müller nahm das ärztliche Attest sowie die Medikamentenschachtel an sich und verabschiedete sich mit einem Lächeln.

Zit.Sam.Seelbach

Bei den Tochtergeschwülsten handelte es sich um axilläre Lymphknoten- und Hautmetastasen und das abgeschwächte Atemgeräusch sprach am ehesten für einen rechtsseitigen Pleuraerguss infolge einer Pleurametastasierung.

Er bescheinigte ihr ein sehr fortgeschrittenes, metastasiertes, linksseitiges Mammakarzinom mit Übergreifen auf die kontralaterale Seite sowie dringendem Verdacht auf rechtsseitige Pleurametastasen mit Pleuraerguss.

Es handelte sich um eine Schachtel Tamoxifen 20 mg Tabletten.

„Das Leben ist ein Kampf, lebe ihn. Das Leben ist Freude, koste sie. Das Leben ist ein Versprechen, halte es. Das Leben ist auch Traurigkeit, überwinde sie.“

Mutter Teresa6

Sophie Pauly

Sophie Pauly, eine 75-jährige, dynamische und geistig sehr rege Dame, war seit Jahren wegen eines gynäkologischen Tumorleidens in onkologischer Behandlung.

Nach zwei Rückfällen hatte der Tumor sich über den gesamten Bauchraum ausgedehnt und das Bauchfell befallen.7 Eine zur Linderung eingesetzte Chemotherapie, auch palliative Chemotherapie8genannt, schien die ersten drei Monate zu wirken. Doch danach klagte die Patientin immer häufiger über zeitweilige, wechselnd starke, kolikartige Bauchschmerzen, oft auch begleitet von Übelkeit und Erbrechen. Ihr Appetit hatte deutlich nachgelassen und sie hatte massiv an Gewicht verloren.

Eines Morgens während der Visite gestand sie Dr. Bauer, dass sie nicht mehr leben wolle und demnach weitere Therapien ablehne.

„Ich habe lange genug gekämpft. Ich kann nicht mehr. Das Einzige, was ich noch gerne erlebt hätte, wäre die Eröffnung des neuen Supermarktes bei mir im Ort. Aber dazu wird mir die Kraft fehlen.“

Dr. Bauer war wohl etwas überrascht über diese klaren Worte der älteren Dame, konnte sie aber sehr gut verstehen.

Diese tumorbedingte Bauchfellinfiltration verursacht immer eine Behinderung der Darmmotilität, die bis zu einem kompletten Darmverschluss führen kann, der mit starken, krampfartigen Bauchschmerzen verbunden ist.

Er versprach ihr, ihren Wunsch zu respektieren und sich nur noch auf eine Linderung der Beschwerden, eine sogenannte Symptomkontrolle, zu beschränken.

Der Herzenswunsch der Patientin, den neuen Supermarkt noch sehen zu können, ging ihm jedoch nicht aus dem Kopf. Er beriet sich mit Marco, dem Leiter der Palliativstation, und seinen Kolleginnen Elisabeth und Marianne. Man war sich schnell einig, dass diese Ladeneröffnung für die Patientin ein großes Ereignis darstellte, etwas, worauf sie sich seit Monaten gefreut hatte, von dem sie jedoch wusste, dass es wohl ohne sie stattfinden würde.

Dr. Bauer rief kurzentschlossen den Kundendienst der Supermarktkette an.

„Wir haben von einer unserer Patientinnen gehört, dass Sie nächste Woche Ihre neue Filiale eröffnen werden?“

„Ja, so ist es“, erwiderte eine freundliche Frauenstimme.

„Nun“, sagte Dr. Bauer, „ich rufe Sie von der Palliativstation unserer Klinik an. Die Patientin ist seit ewigen Zeiten Ihre treue Kundin, aber nun schwerkrank und bedauert, dass sie deswegen nicht mehr in der Lage sein wird, Ihr neues Geschäft zu besuchen.“

„Kann sie noch gehen?“

„Ja, aber sie kann nicht für längere Zeit stehen und nimmt daher meistens den Rollstuhl“, erwiderte der Arzt.

„Wir könnten von uns aus für die Patientin etwas organisieren. Wir würden ihr eine persönliche Einladung mit Einlasskarte zur offiziellen Eröffnung zuschicken. Vielleicht könnte ja jemand sie begleiten? Wäre das eine Option?“

„Ja, wunderbar, ihre Tochter wäre dazu sicher gerne bereit. Das ist ein schönes Geschenk, darüber wird sich die Patientin bestimmt sehr freuen. Vielen herzlichen Dank für Ihr Verständnis und Ihr wertvolles Entgegenkommen“, antwortete Dr. Bauer, sehr angetan und überrascht von dieser so spontanen Geste.

Drei Tage später brachte die Tochter einen an Frau Pauly adressierten, großen Briefumschlag der Supermarktkette mit ins Krankenhaus. Frau Pauly öffnete das Kuvert und las ihrer Tochter die Einladung vor. Sie war total begeistert und konnte es kaum fassen.

Am darauffolgenden Montagnachmittag war Frau Pauly, im Rollstuhl, mit ihrer Tochter zugegen, als der zuständige Minister das Eröffnungsband durchschnitt. Sie durften später, nach den offiziellen Gästen, eine Runde durch die Gänge mit den funkelnagelneuen Regalen drehen und alles bestaunen. Auch ein Gläschen Champagner ließen sie sich schmecken. Frau Pauly strahlte über das ganze Gesicht. Als man dann zu den offiziellen Ansprachen überging, verließen Frau Pauly und ihre Tochter diskret das Gebäude.

Frau Pauly war erschöpft, als ihre Tochter ihr in der Klinik ins Bett half. Nach einigen Minuten war sie bereits eingeschlafen. Doch in der Nacht rissen starke, kolikartige Bauchschmerzen sie aus dem Schlaf, so dass Martine, die Nachtschwester, ihr gleich 10 mg Morphin subkutan9, wie verordnet, spritzenmusste. Nach zwanzig Minuten war sie wieder eingeschlafen.

Am nächsten Tag bedankte sie sich bei allen für diesen für sie so einmaligen Besuch im Supermarkt: „Jetzt habe ich auf dieser Welt alles gesehen, was ich sehen wollte. Jetzt kann ich gehen.“

Wegen der Schmerzsymptomatik musste die Morphindosis erhöht werden, sodass die Patientin langsam in einen Dauerschlaf hinüberglitt und nach einigen Tagen friedlich aus dem Leben schied.

Zit.Sam.Seelbach

Es handelte sich um ein zweites Tumorrezidiv eines Ovarialkarzinoms mit diffusem Befall des Peritoneums.

Eine aggressivere Chemotherapie mit kurativer Intention war nicht mehr möglich. Es wird im Allgemeinen unterschieden zwischen einer Chemotherapie mit kurativer Intention, also mit dem Ziel einer eventuellen Heilung, und einer Chemotherapie mit palliativer Intention, mit dem Ziel einer Minderung der Tumorkrankheit und einer Linderung der durch die Krankheit ausgelösten Beschwerden. Bei ersterer werden mehrere Chemotherapiemittel gleichzeitig und mit höherer Dosierung eingesetzt, da es hierbei um Heilung geht; deswegen werden auch mehr Nebenwirkungen in Kauf genommen. Bei letzterer wird meistens nur ein einziges Chemotherapiemittel eingesetzt, mit vorsichtiger Dosierung, um Nebenwirkungen möglichst zu verhindern, da es hierbei vor allem um Lebensqualität geht.

Unter die Haut

„Anfangs wollt ich fast verzagen. Und ich glaubt, ich trüg es nie. Und ich hab es doch getragen. Aber fragt mich nur nicht wie.“

Heinrich Heine10

Joëlle Müller

Achtundvierzig Stunden später, um 10 Uhr morgens, kam Frau Müller mit deutlicher Atemnot per Krankenwagen in die Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses. Trotz Sauerstoffmaske hatte sie deutliche Atemschwierigkeiten beim Sprechen und schaffte es gerade noch, der Notaufnahmeschwester den Namen ihres Arztes zu nennen.

Dr. Bauer, der gerade auf Visite bei seinen Patienten auf der onkologischen Station war, wurde umgehend informiert. Er brach seine Visite ab und begabsich zur Notaufnahme.

Frau Müller klagte über ein Engegefühl im Brustkorb. Sie könne nicht richtig durchatmen und bei der geringsten Anstrengung oder beim Sprechen bekomme sie keine Luft. Das habe sich in den letzten zwei Tagen derart zugespitzt, dass sie es nicht mehr ausgehalten habe.

Nach einem behutsamen Aufklärungsgespräch war die Patientin mit einer Röntgenaufnahme der Lunge einverstanden. Leider bestätigte sich Dr. Bauers Annahme einer massiven Flüssigkeitsansammlung zwischen den beiden Rippenfellblättern der rechten Lunge.

Die einfachste Methode, um eine rasche Linderung der Atemnot in einem solchen Fall herbeizuführen, ist eine Entlastungspunktion des Ergusses unter lokaler Betäubung.

Die Patientin hörte sich die Erklärung des Arztes an und begriff sehr schnell, dass es hierzu keine gute Alternative gab.

Unter lokaler Betäubung wurde eine Nadel durch einen Zwischenrippenspalt eingeführt und 1500 ml blutige Flüssigkeit abgelassen. Der Eingriff dauerte zwanzig Minuten und verlief problemlos. Frau Müller spürte sehr bald eine deutliche Verbesserung.

Aufgrund dieser erstmaligen positiven Erfahrung schien sie langsam etwas Vertrauen aufzubauen. Zögernd äußerte sie einen für sie bis dahin sicher unvorstellbaren Wunsch: „Dürfte ich im Krankenhaus bleiben? Ich habe gesehen, dass mir hier geholfen wird, wenn ich in Not bin. Hier fühle ich mich sicher.“

Dr. Bauer erkundigte sich sofort bei der Abteilungsleitung über die aktuelle Bettensituation. Das einzige noch freie Bett war ein Bett auf der Palliativstation.

Eine Aufnahme auf der Palliativstation setzt ein ausführliches Aufklärungsgespräch voraus. Der Patient sollte von Anfang an wissen, was Palliativstation bedeutet, was das konkret für ihn heißt und was der Unterschied zu einer normalen Krankenhausstation, z. B. einer onkologischen Station, ist.

Dr. Bauer war sich bewusst, dasser sich die Zeit für ein aufklärendes Gespräch mit seiner kritischen Patientin nehmen musste. Frau Müller hatte das Vertrauen in die Ärzteschaft und die Medizin verloren, das Recht auf Selbstbestimmung war für sie unerlässlich.

Aufklärung ist unabdingbar. Nur ein aufgeklärter Patient, der verstanden hat, wie es um ihn steht und was die Medizin als Hilfe anzubieten hat, wird imstande sein, zusammen mit seinem Arzt Entscheidungen zu treffen, die beide gemeinsam tragen können und auch zu tragen bereit sind. Es geht darum, den Patienten in einem solchen Gespräch nicht zu überfordern.

„Es ist der Patient, der bestimmt, wann er welche Fragen stellt. Informationen geben, die vom Patienten nicht erwünscht sind, kann bis zum Suizid führen, ihm aber Informationen vorenthalten, kann sehr große Ängste auslösen. Richtig ist,“ so Dr. Maurice Abiven11, Chefarzt der ersten Palliativstation in Paris, „den Patienten vorsichtig an die Wahrheit heranzuführen und ihm zu vermitteln, dass jede Frage eine ehrliche Antwort bekommt, dass niemals gelogen wird.“

Genau das war es, was Frau Müller forderte: einen offenen und ehrlichen Umgang sowie eine ganzheitliche Betreuung mit Rücksichtnahme auf sowohl physische und psychische Schmerzen als auch soziale und spirituelle Sorgen. Und dafür schien Dr. Bauer die Palliativstation mit ihrem speziell dafür ausgebildeten Team und ihrer ruhigeren, weniger hektischenAtmosphäre am besten geeignet, auch wenn er sich bewusst war, mit dieser schnellen Entscheidung die unvorbereitete Patientin möglicherweise zu brüskieren.

Frau Müller war nach der Punktion deutlich erschöpft, aber gleichzeitig auch sichtlich von ihrer Atemnot erlöst. Der angstvolle Gesichtsausdruck war verschwunden. Der Arzt erkundigte sich erneut nach ihrem Befinden, bevor er ihr eröffnete, dass man sie auf die Palliativstation bringen würde. „Das ist meiner Meinung nach für Sie, in Ihrer aktuellen Situation, der beste Ort im Krankenhaus. Hier werden nur acht Patienten betreut und behandelt. Durch diese kleine Patientenzahl gibt es viel weniger Stress auf der Station und das professionelle Pflegeteam hat mehr Zeit für den einzelnen Patienten, also auch für Sie. Ich werde im Laufe des Nachmittags nochmals bei Ihnen vorbeikommen.“

Frau Müller ließ ihren Kopf in das große, weiche Kopfkissen zurücksinken, und die Augen fielen ihr langsam zu. Auf der Palliativstation nahmen Stationsleiter Marco und Schwester Ana Sofia sie in Empfang und stellten sich vor. Frau Müller murmelte in ihrer Erschöpfung nur irgendetwas Unverständliches in das Bettlaken, das sie sich bis übers Gesicht gezogen hatte. Ana Sofia und Marco beließen es dabei und schoben die neue Patientin sachte in ein Zweibettzimmer. Die Bettnachbarin, eine siebzigjährige Patientin, die am nächsten Tag nach dreiwöchiger Behandlung wegen einer chronischen Leukämie entlassen werden sollte, hob neugierig den Kopf, legte sich aber wieder zurück, als sie feststellte, dass ihr Gegenüber sich nicht rührte, außer dass die Bettdecke sich mit jedem Atemzug hob und senkte.

Zit.Sam.Seelbach

Abiven, Maurice: Pour une mort plus humaine, Expérience d’une Unité hospitalière de Soins Palliatifs, S. 37, InterEditions 1990. « Dans cette situation, l’attitude la plus adaptée du médecin me semble être ce que j’appellerais une attitude ouverte.

J’entends par là un comportement du médecin vis-à-vis de son patient tel que, dès le premier contact, celui-ci perçoive que toute demande de sa part recevra une réponse vraie et honnête, qu’il n’y aura jamais de mensonge. A partir de ce moment, le malade devient le « maître du jeu », c.-à-d. que c’est lui qui posera des questions, au moment où il le jugera opportun, quand il en sentira le besoin. L’expression « laisser le malade venir à sa vérité » me semble adaptée. Il faut laisser le malade évoluer progressivement vers l’information dont il a besoin, sa vérité à lui, en répondant honnêtement aux questions qu’il pose, au moment qu’il a choisi pour les poser. C’est en agissant ainsi que l’on répond le mieux à ses besoins, que l’on respecte le mieux sa personnalité dans toute sa complexité. Fournir trop tôt une information qui n’est pas demandée peut être criminel. La refuser au moment où elle est sollicitée peut, à l’inverse, être générateur d’une grande angoisse »

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen.“

Albert Schweitzer12

Marcel Origer

Der 58-jährige Herr Origer litt seit zwei Jahren an einer rasch fortschreitenden, amyotrophen Lateralsklerose, abgekürzt ALS oder auch Charcot-Krankheit genannt, eine unheilbare neurodegenerative Erkrankung, die mit einer Lähmung der Muskulatur einhergeht. Er lebte seit einigen Jahren mit seiner Partnerin im nahen Ausland. Kontakt zu seinen beiden Söhnen hatte er seit zehn Jahren nicht mehr.

Da sich sein Gesundheitszustand in sechs Monaten deutlich verschlechtert hatte, insbesondere durch eine zunehmende Lähmung der Atemmuskulatur, hatte man einen Luftröhrenschnitt vorgenommen, sodass er mit seinem kleinen, tragbaren Heimbeatmungsgerät bei Bedarf zuhause beatmet werden konnte. Auch hatte man ihm einen dünnen Schlauch von außen durch die Bauchdecke, perkutan, in den Magen eingeführt, da er nicht mehr schlucken und demnach auch nichts mehr essen konnte.

Aufgrund der fortschreitenden Erkrankung und der trotz maschineller Heimbeatmung quälenden Atemnot wurde Herr Origer, auf seinen Wunsch hin, aus dem nahen Grenzgebiet auf die Palliativstation verlegt.

Bei der Ankunft fanden Dr. Bauer und sein Team einen abgemagerten, sehr kurzatmigen Patienten mit panischer Angst im Gesicht und einem um Hilfe flehenden Blick vor. Die Rettungssanitäter legten ihn sorgsam in das frisch bezogene Bett und schlossen das Beatmungsgerät gleich wieder an. Dr. Bauer drückte die Hand des Patienten.

„Hallo, Herr Origer, ich bin Dr. Bauer. Gestern hat Dr. Markovic vom auswärtigen Krankenhaus uns informiert. Wie wir sehen, geht es Ihnen nicht gut, Sie kriegen keine Luft.“

Der Patient, der wegen fehlender Muskelkraft nicht mehr sprechen konnte, nickte.

Der Arzt hielt einen Augenblick inne, beobachtete den Patienten und sagte dann: „Ich denke, Ihre jetzige Situation ist für Sie eine Tortur. Sehe ich das richtig?“

Es kostete den Patienten enorme Anstrengung, aber er nickte mehrmals hintereinander.

Seine Partnerin stand schweigsam und verängstigt daneben, die Hand auf seiner Schulter, und nickte ebenfalls.

„Wir hätten die Möglichkeit, Ihnen sofort Erleichterung zu verschaffen und Ihnen diese Erstickungsängste zu nehmen. Und zwar durch eine Spritze unter die Haut. Möchten Sie das?“

Herr Origer nickte erneut und sein angstverzerrtes Gesicht schien sich etwas zu entspannen.

„Das Problem ist nur, bei dieser Spritze handelt es sich um Morphin. Und Morphin hat leider auch Nebenwirkungen, das heißt, wenn Sie diese Spritze erhalten haben, werden Sie müde werden und eventuell auch kurz einschlafen. Es könnte sogar sein, dass Sie nicht mehr wach werden.“

Der Arzt hielt inne und schaute den Patienten besorgt an. „Was meinen Sie? Möchten Sie diese Spritze trotzdem?“

Herr Origer nickte erneut. Er litt derart unter seiner Atemnot, dass ihm dieses Risiko wohl als annehmbar erschien.