9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Das Herz der Weihnacht!
Angela Carson führt in dritter Generation den kleinen Weihnachtsladen "Heart of Christmas" in der beschaulichen Kleinstadt Pleasant Sands. Doch kurz vor Weihnachten wird ihre Welt auf den Kopf gestellt: Der attraktive Geoff Paisley eröffnet dort eine Filiale seiner großen Ladenkette "Christmas Galore". Angelas Laden droht das Aus. In ihrer Not wendet sie sich in der "Dear Santa"-App direkt an den Weihnachtsmann und hofft auf ein kleines Weihnachtswunder - nicht wissend, dass sich hinter "Santa" Geoff verbirgt ...
Geoff Paisley hat seiner kranken Mutter versprochen, alle "Dear Santa"-Briefe an ihrer Stelle zu beantworten. Angelas Briefe berühren ihn tief - wie kann er von den Briefen der Frau, die ihm im echten Leben den letzten Nerv raubt, nur so fasziniert sein? Werden die Beiden ihren Kleinkrieg begraben und die Magie von Weihnachten auch in ihr Herz lassen?
Ein romantischer Weihnachtsroman für gemütliche Lesestunden in der kalten Jahreszeit. eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2019
Weihnachtszauber in Hopewell
Angela Carson führt in dritter Generation den kleinen Weihnachtsladen »Heart of Christmas« in der beschaulichen Kleinstadt Pleasant Sands. Doch kurz vor Weihnachten wird ihre Welt auf den Kopf gestellt: Der attraktive Geoff Paisley eröffnet dort eine Filiale seiner große Ladenkette »Christmas Galore«. Angelas Laden droht das Aus. In ihrer Not wendet sie sich in der »Dear Santa«-App direkt an den Weihnachtsmann und hofft auf ein kleines Weihnachtswunder – nicht wissend, dass sich hinter »Santa« Geoff verbirgt …
Geoff Paisley hat seiner kranken Mutter versprochen, alle »Dear Santa«-Briefe an ihrer Stelle zu beantworten. Angelas Briefe berühren ihn tief – wie kann er von den Briefen der Frau, die ihm im echten Leben den letzten Nerv raubt, nur so fasziniert sein? Werden die Beiden ihren Kleinkrieg begraben und die Magie von Weihnachten auch in ihr Herz lassen?
Die USA-Today-Bestsellerautorin Nancy Naigle schreibt Kleinstadt-Liebesgeschichten mit ganz viel Herz. Sie lebt in North Carolina und verbringt ihre Freizeit mit dem Schreiben von romantischen Liebesromanen, dem Sammeln von Antiquitäten und macht hin und wieder gerne auch mal einen Wellnesstag.
NANCY NAIGLE
Das Weihnachtswunder von Pleasant Sands
Roman
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
beHEARTBEAT
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Nancy Naigle
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Dear Santa«
Published by arrangement with St. Martin’s Press.
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover, vermittelt.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com: Lorenz Timm | Loradora | anatolypareev | yingko | Albert Pego | James Kirkikis | Bogdan Sonjachnyj | debra millet
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8162-7
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Bewahre dir deine Traditionen, und möge dieses Jahr zu den Feiertagen ein wenig kindliche Unschuld bei dir Einzug halten.
Ich wünsche dir und deinen Lieben von Herzen fröhliche Weihnachten.
Lieber Weihnachtsmann,
ich bin’s wieder, Chrissy. Ich bin immer noch brav. Ich werde einen Weihnachtsbaum in meinem Zimmer haben. Unter den kannst du meine Geschenke legen, dann muss ich am Weihnachtsmorgen nicht warten, bis Papa aufwacht. Er schläft immer viel zu lange. Sei vorsichtig auf der Treppe.
Chrissy
Angela Carson brüstete sich damit, die Dinge einfach zu mögen. Kaffee zum Beispiel. Den bereitete sie selbst zu. Keine Kapselmaschine oder sonstiger elektrischer Schnickschnack. Nur eine gute alte Porzellan-Kaffeekanne mit Handfilter. Dieselbe, die sie schon in ihren College-Tagen im Wohnheim benutzt hatte. Auch kein exotischer Kaffee – einfach die Hausmarke des örtlichen Lebensmittelhändlers.
Genauso schlicht hielt Angela es mit ihrem Weihnachtsladen namens Heart of Christmas, den der alte Leuchtturm am Ortsrand beherbergte, dort, wo die Straße entlang der Küste in der Nähe des Stegs eine scharfe Rechtskurve beschrieb. Und es handelte sich nicht um irgendeinen Leuchtturm, sondern um jenen, in dem ihr Ururgroßvater bis zum Tag seines Todes gearbeitet hatte.
Ihre von allen liebevoll »Mama Grace« genannte Großmutter hatte Angela das Familienerbstück nach ihrem Tod zusammen mit dem Strandhaus vermacht, in dem sie aufgewachsen war und das auf dem angrenzenden Küstengrundstück stand. Und wenngleich der Leuchtturm vor langer Zeit den Betrieb eingestellt hatte, wies er immer noch seine ursprüngliche Bemalung auf, ein einzigartiges, harlekinähnliches Karomuster, das die von der Sonne ausgebleichten, pastellfarbenen Strandhäuser in der Umgebung mit einer schrulligen Note auffrischte.
Strandgutsammler besuchten Pleasant Sands in North Carolina das ganze Jahr über scharenweise, weil der Steg die Wellen des Meeres aufbauschte und riesige Muschelablagerungen ermöglichte. Muschelsucher verbrachten Stunden damit, die unzähligen Berge bunter Schätze zu durchwühlen.
Kleine Exemplare wie die bunten Plattmuscheln, Schneckenmuscheln und winzigen Schalen von Olivenschnecken fanden sich darunter ebenso wie größere, beispielsweise Venusmuscheln, Jakobsmuscheln und vereinzelt auch die Häuser von Wellhornschnecken und Helmschnecken, allzeit begehrte Andenken.
Die üppige Beute ließ die Leute immer wieder zurückkommen. Und verhieß gleichzeitig einen steten Strom von Kunden.
Angela empfand Dankbarkeit sowohl für all die muschelsuchenden Kunden als auch für ihre hingebungsvollen Mitarbeiter. Aber an diesem Tag hatte Heart of Christmas geschlossen, damit ihr Personal und sie den Feiertag mit ihren Familien genießen konnten. Obwohl ihre Konkurrenz entschieden hatte, an Thanksgiving aufzusperren.
Angela stürzte eine Tasse Kaffee hinunter, um den bitteren Geschmack im Mund zu vertreiben. Christmas Galore? Der Laden hatte so gar nichts aufrichtig Weihnachtliches an sich.
Sie öffnete den siebzig mal hundert Zentimeter großen Glasrahmen, der ihre Information des Tages auf der Straßenseite von Heart of Christmas schützte. Den Einheimischen gefielen die Fakten aus der Gegend, die Angela darin präsentierte. Und das freute wiederum Angela, denn sie tat es gern und änderte den Text mindestens einmal die Woche – öfter, wenn sie Lust dazu verspürte.
Sie zog ein paar Feuchttücher aus dem Falteimer und wischte den Text vom Vortag weg. Zurück blieb eine glänzende schwarze Fläche mit dem Wort GEWUSST? in knallroten Buchstaben oben in der Mitte.
Dann entschied sie sich zunächst für einen königsblauen Kreidestift, um die Faktenmitteilung des Tages zu schreiben, und wechselte im Verlauf des Textes die Farben, damit der Gesamteindruck festlicher aussah.
GEWUSST?
1710 verbrachte Edward Teach alias Blackbeard, der Pirat, Thanksgiving in Pleasant Sands als Gast der Besitzer der Topside Tavern – der Familie Collins – in der Checker Street. Mit seinen damals dreißig Jahren besaß er zwar nicht die besten Tischmanieren, aber er schenkte jedem Kind dort eine Goldmünze.
FRÖHLICHESTHANKSGIVING!
Angela trat einen Schritt zurück, um den Text Korrektur zu lesen. Dabei kniff sie die Augen gegen den grellen Sonnenschein zusammen. Im vergangenen Jahr hatte sie zu Thanksgiving ihre Winterjacke hervorkramen müssen, dieses Jahr hingegen schien die Sonne so strahlend wie an einem Spätsommertag gegen Ende der Saison.
Angelas Handy fing an, Jailhouse Rock zu spielen, den Klingelton für ihre Schwester Marie, eine Anwältin. »Hi, Marie.«
»Hast du gerade viel zu tun?«
»Bin eben damit fertig geworden, meine Information des Tages im Laden auszutauschen.«
»Ich kann nicht fassen, dass ich nicht dran gedacht hab«, sagte Marie, »aber Brad fragt nach Mama Grace’ Austernsoße. Hab völlig vergessen, dich zu bitten, ob du sie zubereiten kannst. Hast du Zeit dafür? Ist Brad anscheinend wichtiger als der Truthahn selbst.«
»Ich dachte, das würde ohnehin erwartet«, erwiderte Angela. »Hab sie heute Morgen schon gemacht.«
»Du bist die beste Schwester, die man sich wünschen kann.«
Angela hörte ein erleichtertes Seufzen. Erst wenige Jahre vor ihrem Tod hatte Mama Grace das Rezept Angela anvertraut – gewissermaßen eine offizielle Übergabe des Vermächtnisses. Genau wie der Laden.
»Ich muss dich um noch einen Gefallen bitten. Kannst du zum Crabby Coffee Pot rübersausen und eine Bestellung für mich abholen? Ist schon bezahlt. Würde Brad einen Weg ersparen.«
»Sicher. Kann ich machen.« Da Angela nichts von ausgefallenen Kaffeekreationen hielt, war sie noch nie in dem neuen Café gewesen, obwohl es praktisch gleich gegenüber ihrem Laden auf der anderen Straßenseite lag. Von der Eingangstür aus konnte sie das Schild sehen: eine knallrote Krabbe mit offener Schere, die den Gästen von oben zuwinkte und gleichzeitig auf einer blau gesprenkelten Kaffeekanne balancierte. »Sobald ich deinen Kaffee habe, hol ich von zu Hause die Sachen und mach mich auf den Weg zu dir.«
»Hab ich dir in letzter Zeit mal gesagt, dass du meine absolute Lieblingsschwester bist?«
»Ich bin deine einzige Schwester.« Angela lachte. »Aber dadurch fühle ich mich ein bisschen weniger schuldig, weil ich dir bei diesen großen Festtagsessen die ganze Arbeit überlasse.«
»Du weißt, wie gern ich das mache«, erwiderte Marie.
Angelas Schwester begnügte sich nie damit, nur ein Festmahl für die Familie zuzubereiten. Unmittelbar nach dem Schmaus begrüßte sie Gäste zu ihrem sogenannten »Weihnachts-Warm-up«, einem jährlichen Spektakel mit offener Einladung für alle Kunden, Klienten und Lieferanten von Marie und Brad sowie für Nachbarn und Freunde. Stundenlang kamen und gingen Leute, taten sich an köstlichen Desserts gütlich und stimmten sich auf die Weihnachtszeit ein. Angela fühlte sich schon beim Gedanken daran erschöpft.
»Ja, das weiß ich. Bis später dann.« Angela beendete den Anruf und steckte das Handy in die Gesäßtasche.
Sie überquerte die Strandstraße und den Parkplatz zu der kleinen Zeile bunter Schaufenster, jedes in einer anderen Schattierung von Blau, Pfirsichfarben, Gelb und Grün.
Zu ihrer Überraschung herrschte im Crabby Coffee Pot genauso viel Betrieb wie an einem Werktag.
Die Eingangstür stand offen, um die milde Luft hineinzulassen. Als Angela sich der knallgelben Tür näherte, wehte das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee auf den Parkplatz heraus und vermischte sich mit dem Duft von Speck aus dem Lokal ein Stück weiter. Appetit regte sich in Angela.
Hellblaue Taue lenkten die Kundschaft zur Theke zum Aufgeben der Bestellungen. Die Schlange verlief zweifach hin und her wie eine riesige Anakonda. Angela ließ sich vorwärtsschieben und war dankbar, dass es zumindest voranging.
Die Menschen traten vor die Registrierkasse, nannten ihre Wünsche und zogen mit beschwingten Schritten von dannen, noch bevor sie den ersten Schluck von ihren koffeinhaltigen Köstlichkeiten probierten. Einige der Getränke mit Schlagsahne und Streuseln sahen recht lecker aus.
Angela geriet in Versuchung, sich etwas zu gönnen.
Auch andere Kunden holten Bestellungen ab, teilweise ziemlich große Päckchen. Plötzlich ertappte sich Angela dabei, zu hoffen, Marie würde nicht so viel bestellt haben, dass sie es kaum zu Fuß nach Hause tragen könnte. Würde sie allerdings kein bisschen überraschen, wenn es doch so wäre. Marie war das völlige Gegenteil von ihr und schöpfte bei allem, was sie tat, immer aus dem Vollen. Es ließ sich unmöglich abschätzen, wie viele Menschen an diesem Nachmittag und Abend das Haus ihrer Schwester beehren würden. Angela würde gerade so lange bleiben, bis es voll werden würde, dann würde sie sich unbemerkt davonstehlen.
Auf der anderen Seite des Lokals erregte ein dunkelhaariger Mann ihre Aufmerksamkeit. Er saß an einem Zweiertisch und las das Wall Street Journal. Seine Armbanduhr schimmerte unter dem Ärmel eines maßgeschneiderten Anzugs hervor. Gestärkte, meerblaue Manschetten ragten perfekte anderthalb Zentimeter aus dem Ärmel. Der Mann sah eindeutig betucht aus. Seit man in der Nähe des Jachthafens all die Luxusapartments gebaut hatte, trieben sich einige seinesgleichen in Pleasant Sands herum.
Sie persönlich würde jederzeit ihr verwittertes Strandhaus vorziehen, aber diese Zugereisten brachten Neuerungen in die Gegend. Wie beispielsweise dieses Café. Die meisten dieser Leute lebten nur einen Teil des Jahres hier, schlossen zum Ende der Saison die Türen ihrer Wohnungen ab und verschwanden bis zum nächsten Frühling.
Angelas Blick folgte der scharfen Bügelfalte der Anzughose des Mannes hinunter zu den Lederschuhen. Schuhe sagten viel über einen Mann aus. Etliche der Strandfanatiker in der Gegend entschieden sich das ganze Jahr über entweder für Turnschuhe oder für Flip-Flops. Was Angela förmlich in den Wahnsinn trieb. Wussten die nicht, dass Erwachsene richtige Schuhe tragen sollten?
Sie schaute auf und stellte fest, dass er sie direkt ansah. Ihre Blicke begegneten sich. Sogar über die Entfernung hinweg konnte Angela erkennen, dass er blaue Augen hatte. So blau wie das gestärkte Hemd, das er trug. Und einen Herzschlag lang hatte sie das Gefühl, den Blick nicht abwenden zu können.
Bitte lass ihn nicht bemerkt haben, dass ich ihn angestarrt habe.
Aber die Art, wie er leicht den Mundwinkel hochzog, ließ erahnen, dass er es sehr wohl bemerkt hatte. Sie rang sich ein verhaltenes Lächeln ab, überzeugt davon, dass sich ihre Wangen röteten.
Dann klingelte ihr Telefon. Dankbar für die Ablenkung kramte sie das Handy hervor. »Hi, Marie. Ich stehe gerade in der Schlange, um deine Bestellung abzuholen. Ist ziemlich viel los.«
»Bin dir echt dankbar, dass du das für mich übernimmst«, gab Marie zurück.
Angela merkte, dass ihre Schwester das Telefon auf Lautsprecher geschaltet hatte. Sie konnte beinahe vor sich sehen, wie Marie in der Küche mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigte. »Macht mir keine Umstände. Was gibt’s?«
»Kann ich mir das Soßenkännchen leihen, das ich dir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hab?«
»Klar. Ich nehme es von zu Hause mit, wenn ich die Soße holen gehe. Wir sehen uns dann ja bald.«
»Gut. Ich hab all unsere Lieblingsgerichte. Ich liebe Traditionen.«
»Ich auch. Würde ich auf keinen Fall verpassen wollen.« Auch Heart of Christmas hatte Tradition. Nur würde das vielleicht nicht mehr lange der Fall sein. Bei dem Gedanken krampfte sich Angelas Magen zusammen.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte Marie. »Du bist ein Engel.«
»Sind nicht alle Schwestern Engel in Ausbildung?« Angela fielen diese tröstlichen Worte ihrer Mutter ein, die einzigen, an die sie sich noch erinnerte.
»Na toll, ist ja überhaupt kein Druck«, meinte Marie mit einem schweren Seufzen.
»Bis bald dann.« Angela fuhr sich mit der Hand durchs Haar und versuchte, nicht der Versuchung zu erliegen, noch einmal zu dem Mann zu schauen. Aber als der nächste Kunde mit seinem Kaffee und Gebäck von dannen zog, ertappte sie sich dabei, dass ihr Blick doch wieder in seine Richtung wanderte. Ist ja gar nicht auffällig …
Zum Glück schien seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Zeitung zu gelten. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass er nicht wirklich diesen Look hatte, der so typisch für die Boots- und Luxuswohnungsbesitzer war. Dafür fehlten ihm die verwitterte Haut und das von der Sonne ausgebleichte Haar. Vielleicht stammte er doch nicht aus der Gegend.
»Der Nächste!«, ertönte eine forsche Stimme von der anderen Seite der Theke.
Angela spürte ein Stupsen und Schieben an der Schulter.
»Das sind Sie«, sagte ein Teenager-Mädchen, das Angela beinahe aus dem Gleichgewicht brachte.
»Tut mir leid.« Als Angela zur Theke vorrückte, warf sie einen letzten Blick auf den blauäugigen Unbekannten. Er lächelte sie an.
Sie brachte ein verhaltenes Winken mit den Fingern zustande, dann wandte sie sich ab, bevor er die Verlegenheitsröte sehen konnte, die ihr den Hals hinaufraste.
»Was kann ich für Sie tun?« In den Worten der Barista schwang eine Schärfe mit, die kein Fingerschnippen erforderte, um Angelas Aufmerksamkeit zu erlangen.
Sie räusperte sich, um ihre Bestellung aufzugeben, und riskierte verstohlen einen weiteren Blick zu dem Mann, doch er hatte seinen Platz bereits verlassen.
»Äh, ja. Entschuldigung.« Irgendwie erschien ihr ein normaler Kaffee nach dem langen Warten als zu gewöhnlich. »Ich nehme, was die Frau vor mir gerade bestellt hat.«
Im Nu stand ein glitzernder Pappbecher mit einer mintfarben gestreiften Manschette vor ihr. Dampf stieg daraus auf und erinnerte Angela an den anderen Grund, warum sie sich ihren Kaffee sonst lieber selbst zubereitete – damit sie ihn trinken konnte, ohne sich die erste Hautschicht von den Lippen zu brennen.
»Schlagsahne?« Die Art, wie die Barista die glänzende, silbrige Dose schwenkte, wirkte beinahe bedrohlich.
»Warum nicht? Lassen wir’s krachen.« Angela beobachtete, wie die zuckerige Süße zu einem gezwirbelten Gipfel aufgetürmt wurde, der anschließend mit Schokostreuseln gesprenkelt und mit einer Kirsche in der Mitte veredelt wurde. Zumindest würde die Schlagsahne den Kaffee ein wenig abkühlen.
»Hübsch.« Angela reichte eine Zehn-Dollar-Note hinüber.
Als die Frau das Wechselgeld aus der Kasse zahlte, fiel Angela ein, warum sie überhaupt erst hergekommen war. »Tut mir leid. Ich bin außerdem hier, um eine Bestellung für Marie Watterman abzuholen.«
»Na logisch.« Die junge Frau hinter Angela stemmte eine Hand in die Hüfte, legte den Kopf schief und sah genervt auf die Armbanduhr, als hätte sie es sehr eilig.
Der Barista schob eine schmucke blaue Tüte zu Angela. »Schon bezahlt.«
Angela haderte mit der Tüte, als sie versuchte, sie herumzumanövrieren, ohne den Kaffee zu verschütten. Die Tüte war so groß, dass sie an Bord eines Flugzeugs nicht mal in die Gepäckablage über den Sitzen gepasst hätte. Und schwer.
Die Barista reckte den Kopf an Angela vorbei. »Nächster.«
Angela verließ das Café mit kaum genug Kleingeld für den glockenläutenden Weihnachtsmann auf dem Bürgersteig, aber sie warf die Münzen und Dollarscheine trotzdem in den Topf. »Fröhliche Weihnachten!«
»Ihnen auch! Danke.«
Trotz des schneeweißen Barts sahen die Hände des Weihnachtsmanns stark aus und wiesen sogar noch so spät im November eine deutliche Sonnenbräune auf. Wahrscheinlich ein junger Surfer, der sich etwas dazuverdiente, damit er zu den nächsten großen Wellen reisen konnte. Viele Einheimische, vor allem die Fischer und Surfer, waren noch spät im Jahr sonnengebräunt. Auch Angelas Schwager Brad. In seinem Fall stammte sie von der Arbeit im Freien auf Baustellen. An sich wäre er mittlerweile erfolgreich genug, um in einem Büro zu sitzen und nie wieder einen Hammer schwingen zu müssen. Aber er liebte den körperlichen Aspekt der Arbeit, und seine Leute respektierten ihn dafür.
Der Wachstumsschub, den Pleasant Sands erlebte, hatte sich als sehr erfreulich für sein Geschäft erwiesen.
Für Angelas Laden weniger. Eher im Gegenteil.
Sie blieb stehen, um die schwere Tüte in die andere Hand zu nehmen und an ihrem Kaffee zu nippen. Ob sie wollte oder nicht, sie musste zugeben, dass er ziemlich gut schmeckte. Sie konnte nachvollziehen, wie man geradezu süchtig danach werden konnte.
Als sie auf dem Weg nach Hause das Ende der kleinen Einkaufszeile anvisierte, fiel ihr der gut aussehende Fremde wieder auf, der an der offenen Tür eines glänzenden roten Sportwagens lehnte und am Handy telefonierte.
Angela lächelte und winkte ihm mit einem Kribbeln im Bauch zu, doch er schien sie nicht zu bemerken. Schade. Gegen eine kurze Plauderei mit ihm hätte sie nichts einzuwenden gehabt.
Sie überquerte die Straße. Ihr altes Strandhaus konnte im nächsten Frühjahr einen neuen Anstrich vertragen. Die einst satte, kieselig graublaue Farbe namens »Nantucket-Nebel« war eher zu einem »Regentaggrau« verblasst, wodurch sich die zinnfarbenen Läden kaum noch davon abhoben. Sie wusste, sie hätte sich seinerzeit für die ziegelroten Läden entscheiden sollen, obwohl Brad gemeint hatte, das wäre keine strandtypische Kombination. Zumindest würde das Haus dann nicht so mit dem Hintergrund verschmelzen.
Unwillkürlich fragte sich Angela, wo der Fremde zu Abend essen würde. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, einen Blick auf sein Autokennzeichen zu werfen. Gehörte er zu den neuen Wohnungsbesitzern, die unlängst in die Gegend gezogen waren? Oder befand er sich nur auf der Durchreise woandershin?
Wäre es nicht komisch, wenn er zufällig einer der Gäste beim Weihnachts-Warm-up meiner Schwester heute Abend wäre?, dachte sie. Das konnte passieren. So groß diese Welt sein mochte, sie hatte die Eigenart, sich oft unverhofft klein zu präsentieren, indem man Leuten auf unerwartete Weise wiederbegegnete.
Was sagte man noch mal über dieses Kleine-Welt-Phänomen? Diese Theorie mit den sechs Graden der Trennung? Besagte sie nicht, dass alle Menschen über nur sechs Ecken im Familien- oder Bekanntenkreis mit einem anderen verbunden sind?
Als Angela ihr Strandhaus erreichte, blieb sie stehen und verstaute die Tüte auf dem Vordersitz ihres Autos, dann lief sie die Stufen hinauf zur Eingangstür, wo sie den strandtauglichen Kranz zurechtrückte. Das Rund aus künstlichem Farn sah unter den Seesternen, Sanddollars und verschiedenen Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatte, weich aus.
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, schlug ihr das Aroma von Petersilie, Salbei und Thymian der Soße entgegen. Angela holte die Kasserolle und das Soßenkännchen für Marie.
Sie verbrachte Thanksgiving ohnehin liebend gern mit Maries Familie, und durch die winzige Chance, dort vielleicht dem attraktiven Fremden über den Weg zu laufen, wurde es noch aufregender.
Bei all den Gästen, die ihre Schwester jedes Jahr zum Weihnachts-Warm-up einlud, erschien es gar nicht so weit hergeholt, dass sie dem dunkelhaarigen Mann aus dem Crabby Coffee Pot erneut begegnen könnte. Vielleicht würde Angela dieses Jahr sogar bis zum Ende bleiben. Sie stellte die zugedeckte Kasserolle ab und eilte in ihr Zimmer, um sich etwas Eleganteres anzuziehen.
Lieber Weihnachtsmann,
es tut mir leid, dass ich dich gebeten habe, die Geschenke dieses Jahr unter den Baum in meinem Zimmer zu legen. Papa sagt, das war herrisch. Ich wollte nicht herrisch sein.
Du kannst es machen, wie du willst, mir ist alles recht.
Fröhliches Thanksgiving!
Chrissy
Um elf Uhr stand Angela mit Mama Grace’ großer Kasserolle vor der Eingangstür ihrer Schwester. Das türkisfarbene Geschirr mit dem goldenen Strahlenkranz war beinahe so kostbar wie das Rezept. Sie klopfte zweimal an, bevor sie die Kasserolle so an der Hüfte balancierte, dass sie die Tür öffnen und eintreten konnte.
Der große Kranz, der an der Eingangstür hing, klatschte gegen das Holz, als Angela sie mit dem Knie aufstieß. »Fröhliches Thanksgiving!« Angela trat die Tür hinter sich zu und ging geradewegs in die Küche. Von irgendwo hinter ihr ertönte ein tiefes »Wuff«!
»Tante Angela!« Chrissy quiekte, als sie durch den Raum gewieselt kam und die Arme um Angelas Hüften warf.
»Hi, Chrissy! Lass mich das eben abstellen, damit ich dich richtig umarmen kann.«
Die zierliche Fünfjährige wippte auf Zehenspitzen. Dicke orange und braune Rüschenschleifen wackelten an ihrem Zopf. Genau wie jene, die Mama Grace in Angelas und Maries Haare geflochten hatte, als sie noch Kinder gewesen waren.
Angela stellte das Geschirr auf der Küchenarbeitsplatte ab, dann nahm sie ihre Nichte schwungvoll auf den Arm. »Chrissy, du siehst wun-der-schön aus!« Ihre Nichte klammerte sich an ihr fest wie ein kleiner Koala, als Angela mit ihr im Kreis herumwirbelte.
»Schneller, Tante Angela! Schneller!«, rief Chrissy, kicherte ausgelassen und streckte die Hände der Decke entgegen.
Marie trat kopfschüttelnd neben die beiden. »Lass sie lieber runter, bevor ihr die Kekse hochkommen. Kann leicht passieren. Sie hat nämlich den ganzen Vormittag davon genascht.« Marie hatte einen dünnen Geduldsfaden, wenn sie viel zu tun hatte, und prompt kam sich Angela wie ein ausgeschimpftes Kind vor.
Sie stellte Chrissy auf den Boden, dann tippte sie ihrer Nichte mit der Fingerspitze auf die Nase. »Deine Mama ist ’ne Spielverderberin.«
»Mit dir ist’s immer lustig«, quiekte Chrissy fröhlich.
Maries Stimme klang fest. »Mama macht sich Sorgen, dass Tantchen vergessen hat, den Kaffee mitzubringen.«
»Hat sie nicht«, entgegnete Angela. »Ist noch im Auto. Ich konnte nicht alles auf einmal tragen. Die Tüte ist schwer.«
Chrissy lief ins Wohnzimmer. »Papa, Tante Angela schwänzt nicht. Sie ist da.«
Marie lief rot an.
Angela nahm sich einen Keks und lehnte sich gegen die Kücheninsel in der Mitte des Raumes. Dank Brads Erfolg als Bauunternehmer war ihre Schwester mit einer Küche gesegnet, bei der jeder Fernsehkoch ins Schwärmen geraten würde. Nicht, dass Marie übertrieben gern und viel kochte, aber sie hatte ein ausgeprägtes Faible dafür, Leute zu bewirten.
Angela zog die Augenbrauen hoch und wartete auf eine Erklärung ihrer Schwester zu Chrissys Äußerung. Es kam keine. »Also raus damit, wer hat gedacht, ich würde nicht aufkreuzen? Brad oder du? Wir haben doch erst heute Morgen telefoniert.«
»Ich hab nicht gedacht, dass du uns ganz versetzen würdest.«
»Wirklich?« Angela kannte diesen Ton. Ihre Schwester hatte zu allem eine Meinung.
Schließlich rückte Marie damit heraus. »Na schön, vielleicht bin ich ein bisschen überrascht, dass du beschlossen hast, den Laden heute nicht aufzusperren.«
»Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Weil du gesagt hast, es besteht die Gefahr, dass du ihn vielleicht endgültig schließen musst, und Christmas Galore hat heute geöffnet.«
Angela spürte, wie ihr Blutdruck stieg. Nachgedacht hatte sie tatsächlich darüber. »Mir egal, wenn jeder andere Laden im Land geöffnet hat. Wir haben das nie so gemacht, und das werde ich auch nie. Thanksgiving ist ein Tag, den Familien zusammen verbringen.« Mühsam öffnete Angela die zu Fäusten geballten Hände. Sie war wütend. Weniger auf Marie als vielmehr auf die allgemeine Situation. »Du bist es doch, die mir ständig vorwirft, dass ich immerzu arbeite. Dann treffe ich eine Entscheidung zugunsten der Familie, und dafür verurteilst du mich auch. Bei dir kann ich nicht gewinnen.«
»Na schön. Tut mir leid. Hast ja recht.« Marie kam zu ihr und umarmte sie. »Ich bin froh, dass du hier bist. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich mir schön was anhören können.« Marie trat zurück, schwang sich das Geschirrtuch über die Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber zu Brads Verteidigung: Es ist ja nicht so, als hättest du uns nicht gemieden, seit der Laden in Schwierigkeiten steckt. Und ich sage immer noch, es wäre nicht verkehrt, wenn du ihn schließt.«
»Du hast recht. Du kannst mir vorwerfen, nicht über solche Dinge mit dir reden zu wollen. Nur ist das mein Problem. Nicht deins. Und ich hab noch nie ein Thanksgiving verpasst.« Angela griff sich einen weiteren Keks vom Tablett und verschob die anderen so, dass man die leere Stelle nicht bemerkte. »Ich weiß, dass du meine Verbundenheit mit dem Laden nicht verstehst, aber das ist nicht so einfach.«
»Hab ich nie behauptet. Ich sage nur, es wäre nicht verkehrt, ihn zu schließen.«
»Ich will den Laden nicht untergehen lassen.« Angela schluckte. Weil sich ein Kloß in ihrem Hals gebildet hatte, bekam sie den letzten Keks kaum hinunter.
»Natürlich willst du das nicht. Heart of Christmas ist dein ganzes Leben«, meinte Marie. »Abgesehen von einer einzigen ernsthaften Beziehung hast du schon immer dein gesamtes Herzblut und deine Zeit in das Geschäft gesteckt.«
Marie benutzte nicht mal seinen Namen, dennoch verspürte Angela den vertrauten Anflug von Schmerz. Jimmy und sie hatten ihr Leben hier in Pleasant Sands geplant gehabt, bis er dieses Jobangebot aus Texas bekommen hatte. Ihre Familie hatte damals gerade erst Mama Grace zu Grabe getragen, und Angela hätte Heart of Christmas unmöglich zurücklassen können. Er jedoch hatte bereits seine Entscheidung über die ihm angebotene Stelle getroffen. Manchmal fragte Angela sich immer noch, wie es sich entwickelt hätte, wenn sie mit ihm gegangen wäre. Aber das hatte sie nicht getan, und als er im darauffolgenden Sommer mit seiner frisch Angetrauten und dem Baby aufgekreuzt war, hatte sie es unter der Rubrik »Sollte eben nicht sein« abgehakt.
»Wenigstens ist der Laden immer für mich da gewesen. Was ich von Jimmy nicht behaupten kann«, gab Angela zurück.
»Und jetzt wird dir auch der Laden das Herz brechen.«
Die Worte schmerzten Angela wie ein Schlag ins Gesicht.
»Du musst aufhören, es rauszuzögern, Schwester. Sonst verlierst du am Ende alles, was du hast, bloß weil du krampfhaft versuchst, das Geschäft über Wasser zu halten.«
Angela wusste, dass es Marie nur gut meinte. Obendrein hatte sie auch noch recht. Angela hatte bereits ein Darlehen mit dem Strandhaus als Sicherheit aufgenommen, ein riskanter Schachzug. »Wenn’s dir dann besser geht: Ich hab mir vorgenommen, meine endgültige Entscheidung dieses Wochenende zu fällen. Der Umsatz am Black Friday ist immer ein guter Gradmesser dafür, wie der Rest der Saison verlaufen wird. Wenn wir keine großartigen Einnahmen verbuchen können, schließe ich.«
Marie stand da. Und blinzelte.
»Warum siehst du mich so an? Ist das nicht das, was du wolltest?«
Ihre Schwester zog die Augenbrauen zusammen. »Oh Angela. Tut mir leid. Ich freu mich schon zu hören, dass du dich endlich mit den Fakten und der Realität auseinandersetzt, doch ich weiß, wie schwer das für dich ist. Davon mal abgesehen heißt es ja immer, zu Weihnachten liegt Magie in der Luft. Und wenn jemand Magie verdient, dann du.« Marie schob Angelas Soße in den Ofen. »Es wird sich was Neues für dich ergeben. Etwas noch Besseres.«
Angela wollte es nicht laut aussprechen, doch auch sie betete für Magie – jede Menge Magie. Sie würde alles dafür geben, den Laden nicht aufgeben zu müssen. Nur änderte das nichts daran, dass Heart of Christmas in Schwierigkeiten steckte – so ernsten Schwierigkeiten, dass sie die Pforten vielleicht bereits zum Monatsende endgültig schließen musste. Wenigstens hatte sich Marie nicht ausgerechnet diesen Moment für einen weiteren Vortrag darüber ausgesucht, dass Angela keine rechtliche Verpflichtung hatte, Heart of Christmas weiterzuführen. Marie würde ihre Verbundenheit mit dem Geschäft nie verstehen.
Sie hatte Mama Grace niemals so nahegestanden wie Angela.
Und in den sieben Jahren seit dem Tod ihrer Großmutter hatte ihr Heart of Christmas einen komfortablen Lebensstil ermöglicht, auch wenn ihr nicht viel Zeit für irgendetwas anderes geblieben war.
»Ich geh den Kaffee holen«, verkündete Angela, dankbar für die Fluchtmöglichkeit, damit sie die Fassung wiedererlangen konnte.
Rover, der fast siebzig Kilo schwere Neufundländer, der sich immer noch für einen Welpen hielt, trottete hinter ihr her zum Auto und wieder zurück. Der Hund hatte so viel an Ausbildung erhalten wie manche Menschen. Welpenschule. Drei Kurse an der Hundeschule. Privater Hundetrainer. Zweimal war er sogar im Hunde-Internat gewesen. Er hatte sich beim Lernen als langsam erwiesen, doch mittlerweile war er ein wohlerzogener und riesiger Teil der Familie.
Auf dem Weg zurück ins Haus stupste er Angela von hinten an.
Als sie die Küche ansteuerte, trabte Rover nach wie vor hinter ihr her. »Das sind bloß Kaffeebohnen, Junge.« Sie stellte die Tüte ans Ende der langen Kücheninsel, die einzige nicht von Keksen, Kuchen, Gebäck und Torten besetzte Stelle.
Angela tätschelte Rover abwesend den Kopf, während sie beobachtete, wie Marie geschäftig durch die Küche wirbelte und Töpfe und Pfannen von dem großen Edelstahlherd auf die Arbeitsplatte verlagerte.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Angela. »Soll ich den Kaffee aufsetzen?« Sie betrachtete die riesige, für einen Gewerbebetrieb taugliche Maschine. Sah nicht allzu kompliziert aus.
»Das wäre toll. Wasser ist schon drin. Gib einfach fünf Messlöffel in das Dingens oben rein. Dann drückst du auf Start. Alles andere ist bereits vorbereitet.«
Angela drehte dem riesigen, topmodernen Kühlschrank mit Glasfront den Rücken zu. Das Gerät war nur ein weiterer Beweis dafür, wie unterschiedlich ihre Schwester und sie waren. Hätte Angela diesen Kühlschrank besessen, wäre er wahrscheinlich derart überladen und unaufgeräumt, dass er eigenmächtig ein Reinigungsunternehmen anrufen würde. Bei Marie herrschte in dem Gerät die Ordnung eines hochpreisigen Supermarkts, und auf keiner Fläche prangte auch nur ein einziger Fingerabdruck. Wie war das mit einer quirligen Fünfjährigen im Haus überhaupt möglich?
Angela öffnete das Paket mit dem Kaffee und begann, ihn mit dem Messlöffel zu dosieren. Die gemahlenen Bohnen erwiesen sich als dunkel und feucht. Das Aroma war so frisch, dass ihr allein der Geruch einen Energieschub verlieh.
Nach dem beschaulichen Truthahnessen im kleinen Kreis würde das Geschirr abgeräumt und rasch alles auf Vorweihnachtsstimmung getrimmt werden. Wenig später würde es an der Tür zu klingeln beginnen.
Angela erschöpfte der bloße Gedanke daran, wie viel Arbeit sich ihre Schwester für diese weihnachtlichen Feierlichkeiten immer aufhalste. Von Blumenarrangements über Türkränze bis hin zu einem Tischgedeck, das selbst Martha Stewart in Staunen versetzen würde, fanden sogar die anspruchsvollen Bewohner der Gemeinde kein Haar in der Suppe, über das man sich beschweren konnte.
Aber zumindest die nächste Stunde lang würden nur Marie, Brad, Chrissy und sie selbst um den Tisch sitzen. Und Rover.
Marie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Würdest du Brad und Chrissy sagen, dass das Essen in zehn Minuten fertig ist? Wir warten nur noch auf die Brötchen.«
Angela kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sie nur aus dem Weg haben wollte. Also ging sie den Flur hinunter ins Wohnzimmer, wo Brad gemütlich vor dem Flachbildfernseher saß, während sich Chrissy still auf dem Boden mit einem Weihnachtsbuch beschäftigte.
»Noch ungefähr zehn Minuten«, verkündete Angela.
»Gut. Bin bereit.« Chrissy rieb sich den Bauch. »Ich hab schon das ganze Jahr Appetit auf Truthahn.«
»Ich auch«, meinte Brad. »Nur hab ich Appetit auf Truthahn und Füllung.«
Angela freute sich, dass Brad genauso verrückt nach dem Familienrezept war wie sie, auch wenn er gerade vor allem von der Füllung schwärmte. Mama Grace hatte immer gesagt, die Füllung sei bloß die Maisbrotmischung, die man in den Vogel stopfte, während er briet. Die eigentliche Köstlichkeit stellte die Soße dar, die ihre eigene Pfanne verdiente.
Austernsoße entsprach nicht jedermanns Geschmack, aber frische Austern direkt von der hiesigen Küste ließen sich kaum übertreffen. »Ich hab extra viel von der Soße zubereitet, eigens für dich.«
»Danke. Wie geht’s dir so, Angela?«
»Gut. Viel Arbeit mit dem Laden.«
»Du bist in letzter Zeit kaum hier gewesen.« Er nickte, als wartete er auf mehr Erklärungen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Du kennst mich ja. Arbeit. Arbeit. Arbeit.«
Brad legte die Fernbedienung beiseite. »Hab mitbekommen, dass du in der Lokalzeitung Werbung für den Black Friday geschaltet hast. Wusste gar nicht, dass du Werbung machst. Hat gut ausgesehen.«
»Ja. Na ja, es hat vorher auch noch nie das Schneetal gegeben. Ich wollte sicherstellen, dass es sich herumspricht.«
»Aber du öffnest am Black Friday nicht früher?«
»Nein. Bei unseren gewöhnlichen Öffnungszeiten haben die Leute reichlich Zeit zum Einkaufen. Und jetzt können sie außerdem im Schnee spielen.«
»Ich hoffe, die Rechnung geht für dich auf. Deine Schwester macht sich Sorgen.« Er wirkte selbst ein wenig besorgt.
»Ich komm schon zurecht.«
»Daran zweifle ich nicht. Wenn ich was aus persönlicher Erfahrung weiß, dann ist es, dass die Carson-Schwestern schlau und taff sind.«
Marie betrat den Raum. »Das kannst du aber laut sagen! Wir sind so was von taff.« Sie warf einen Blick zu ihrer Schwester. »Und ein bisschen dickköpfig.«
Brad erhob sich aus dem Sessel. »Du bringst mich nicht dazu, dass ich dir in dem Punkt recht gebe.« Er streckte Chrissy die Hand entgegen. »Ich bin nämlich auch nicht auf den Kopf gefallen. Komm, meine Kleine. Ich wette, inzwischen ist das Essen so weit.«
»Ist es. Wollte euch gerade holen.« Alle gingen ins Esszimmer und nahmen Platz. Chrissy sprach das Tischgebet, danach reichte Brad das Tablett mit perfekt aufgeschnittenem Truthahn am Tisch herum.
Angela hatte schon gesehen, wie Brad mit dem elektrischen Messer hantierte – sie war felsenfest überzeugt davon, dass es sich diesmal nicht um sein Werk handeln konnte. Und Marie war noch nie in der Lage gewesen, einen Truthahn zu tranchieren. Angela beschlich der Verdacht, dass ihre Schwester einen vorgekochten, bereits aufgeschnittenen Vogel gekauft hatte. Und wahrscheinlich ein hübsches Sümmchen dafür hingeblättert hatte. So, wie alles in schönen Warmhaltebehältern angerichtet war, vermutete Angela beinahe, dass die gesamte Mahlzeit von einem Catering-Betrieb stammte, abgesehen von der Austernsoße, die sie mitgebracht hatte. Mama Grace’ altes Geschirr wirkte daneben völlig fehl am Platz.
Nicht, dass sie sich beschweren wollte.
Sie selbst hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Truthahn zubereitet und war rundum zufrieden damit, ihrer Schwester die Gastgeberpflichten für die großen Feiertage zu überlassen. Das war nur noch etwas, wofür sie an diesem Tag dankbar sein konnte.
Mit einer kleinen Portion von allem auf dem Teller und einem großzügigen Klecks Austernsoße fühlte sie sich bereits satt, als sie noch nicht mal die Hälfte verputzt hatte. »Mit all dem Essen hätten wir locker vier weitere Familien versorgen können. Ist ja noch kaum etwas weniger geworden bei dem extravaganten Festschmaus.«
»Es schmeckt alles so köstlich, Schatz«, sagte Brad zu Marie.
»Ich glaub, jetzt werden wir viele Tage lang Truthahn essen«, warf Chrissy ein und klatschte sich die Hand auf die Stirn. »Vielleicht für immer.«
»Hier ist nichts, was wir hätten weglassen können.«
»Ohne die Soße wäre es auf keinen Fall gegangen«, meinte Brad mit einem breiten Lächeln in Angelas Richtung. »Oder ohne die Hefeteigbrötchen. Oder ohne Bratensaft.«
»Oder ohne Kohl«, fügte Angela hinzu.
Marie betrachtete den Tisch. »Und Kartoffelbrei braucht man einfach, auch wenn wir Soße und Süßkartoffelauflauf haben. Es ist einfach alles so, wie’s sein soll.«
»Ich weiß, und es ist wirklich alles so gut«, lobte Angela.
»Und Cranberry-Soße«, steuerte Chrissy bei und streckte ihre Gabel in die Luft wie ein Zepter.
»Und positiv ist immerhin«, meinte Marie, »dass genug übrig bleibt, damit du was mit nach Hause nehmen kannst, Schwesterherz.«
»Soll mir recht sein«, erwiderte Angela.
Brad schob sich noch eine Gabel voll Truthahn in den Mund.
Marie räusperte sich und griff nach einem weiteren Brötchen. »Brad hat mir erzählt, dass er gestern Jeremy getroffen hat.«
Angela hörte zu kauen auf. Jeremy arbeitete für sie bei Heart of Christmas. Sie hatte zwar keine Ahnung, wohin dieser Unterhaltungsfaden führen würde, dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass sie sich lieber darauf gefasst machen sollte, den Appetit zu verlieren.
»Er hat gesagt«, fuhr Marie fort, »dass sogar deine Weihnachtsbastelkurse an den Samstagen nicht mehr ausgebucht sind.«
»Sie sind kleiner geworden. Das stimmt.« Angela nippte an ihrem Wasser und hoffte, ihre Schwester würde es gut sein lassen.
»Früher haben die Einheimischen das ganze Jahr über gern deine Kurse besucht. Das war etwas Erschwingliches und Lustiges, was man mit den Kindern am Wochenende unternehmen konnte«, sagte Marie.
»Die Menschen haben eben viel zu tun«, meinte Angela. »Du warst mit Chrissy seit Monaten bei keinem Kurs mehr.« Die Worte kamen ziemlich vorwurfsvoll heraus. Dabei hatte Angela sie gar nicht laut aussprechen wollen.
»Na ja. Ich …« Marie suchte krampfhaft nach einer Ausrede. »Ja. Du hast recht. Die Menschen haben eben viel zu tun.«
Damit verstummte ihre Schwester, doch Angela wusste, worauf Marie hinauswollte, und sie hatte recht. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Angela Interessenten abweisen müssen, weil die Kurse rappelvoll gewesen waren. An diesem Samstag bot sie einen Kurs zum Basteln von Rentierschmuck aus gesammelten Korken an, gespendet von dem Weingut zwei Ortschaften weiter, das den besten Muskateller weit und breit herstellte.
Brad wirkte belustigt von der Unterhaltung, als bereitete es ihm ein heimliches Vergnügen, dass Marie in die Schranken gewiesen wurde. Ausnahmsweise mal. »Schatz, du solltest mit Chrissy zu dem Kurs gehen.«
Angela könnte den Bastelkurs mit geschlossenen Augen abhalten. Da er bei Kindern sehr beliebt war, hatte sie ihn in der Erwartung eines vollen Hauses eingeplant. Hinzu kam, dass die Eltern in der Regel die Einkaufskörbe mit Weihnachtsgeschenken füllten, während ihre Sprösslinge bastelten. Allerdings hatten sich diesmal nur sechs Personen für den Kurs angemeldet. Im vergangenen Jahr war der Umsatz stetig gesunken, zusammen mit den Teilnehmerzahlen der Kurse, die den Verkauf früher so gut ergänzt hatten.
Marie warf Brad einen mürrischen Blick zu. Sie hatte eindeutig etwas anderes vor.
»Nein«, ergriff Angela das Wort. »Ist schon gut. Es wird so kommen, wie es kommen soll. Außerdem, wie viel Weihnachtsschmuck kann ein Mensch schon brauchen?« Das hatte ihr Marie bei ihrer letzten Unterhaltung über das Thema ins Gesicht geschleudert. Angela hoffte aufrichtig, dass sie gerade das letzte Mal darüber diskutierten.
Sie ergriff den Korb mit den noch warmen Hefeteigbrötchen und reichte ihn Brad. »Möchtest du?«
»Unbedingt.« Er nahm sich ein Brötchen und gab den Korb an seine Frau weiter.
Marie streckte sich erst nach seiner Hand, dann nach der von Chrissy. »Ich bin so dankbar für unsere Familie.«
Schweigend aßen sie weiter, bis Chrissy mit piepsiger Stimme fragte, ob sie aufstehen dürfte.
»Ja, darfst du.« Brad faltete seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ich bin auch ziemlich satt. Warum plaudert ihr zwei Hübschen nicht ein bisschen? Ich räum das Geschirr ab.«
»Danke, Schatz«, sagte Marie.
Angela wünschte, sie hätte selbst angeboten, den Tisch abzuräumen. Das wäre besser gewesen, als von ihrer Schwester ins Kreuzverhör genommen zu werden, und sie spürte, dass ihr genau das blühte.
Prompt ergriff Marie das Wort. »Sag mal, Schwesterherz, wie schätzt du die Chancen ein, dass sich für den Laden noch alles einrenkt?«
»Werden wir morgen erfahren.«
»Ich weiß. Das hast du schon erwähnt, aber was meint dein Bauchgefühl?«
Angela hörte Brad mit klirrendem Geschirr in der Küche hantieren. Sie senkte die Stimme. »Du weißt genau, dass der Laden zu kämpfen hat.«
»Bist du finanziell im Minus?«
»Seit Christmas Galore eröffnet hat, ist es eng. Wir verzeichnen eindeutig einen Umsatzrückgang. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die eine echte Konkurrenz für uns sind, weil das einzige Weihnachtliche an dem Laden der Name ist. Es ist schon ziemlich weit hergeholt, Christmas Galore überhaupt als Weihnachtsgeschäft zu bezeichnen, aber …«
»Na ja, bei denen dreht sich vielleicht nicht alles nur um Weihnachten, doch sie haben schon viel Weihnachtliches im Angebot«, meinte Marie.
»Das ist bloß ein gerissener Marketing-Gag, um auf den Weihnachtszug aufzuspringen. Soweit ich weiß, führen die von Strandstühlen bis hin zu Sonnencreme so ziemlich jeden Strandschnickschnack, den es gibt.« Angela zuckte mit den Schultern.
»Du bist noch nie bei Christmas Galore gewesen, um dir den Laden anzusehen?«, fragte Marie.
»Richtig. War ich nicht.« Angelas Kopf fuhr herum. Glaubte ihre Schwester wirklich, sie würde auch nur einen Fuß in diese Bude setzen? »Du etwa?«
»Klar.«
Warum fühlt sich das so stark nach Verrat an? »Bitte sag, dass du nichts gekauft hast!«
»Nur ein paar Schnäppchen, die man sich einfach nicht entgehen lassen konnte. Du hast selbst gesagt, dass der Laden völlig anders ist als deiner.«
»Echt jetzt? Marie? Wie konntest du nur?«
»Ist ja nicht so, als hätte ich was für Weihnachten gekauft«, rechtfertigte sich ihre Schwester.
»Was ist mit dem Kranz und dem kleinen Plastikweihnachtsbaum für mein Zimmer?« Chrissy stand mit großen Augen an der Tür, der Inbegriff von Unschuld. »Der ist so schön.«
»Ich wette, das ist er, Chrissy«, überwand sich Angela, liebevoll zu sagen, doch sie spürte, wie ihre Stimmung sank. »Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast, Marie.«
»Du verkaufst doch nicht mal künstliche Bäume.«
»Aus … gutem … Grund.« Am liebsten hätte Angela geschrien. »Du hast wirklich einen gekauft?«
»Und wenn schon!«
Angela stand auf und wandte sich ihrer Schwester direkt zu. »Du bist mein Fleisch und Blut. Du solltest auf meiner Seite stehen.«
»Ich bin auf deiner Seite, aber Christmas Galore ist ein cooler Laden, und sie haben tolle Angebote. Ganz anders als Heart of Christmas.«
»Mein Laden ist also nicht cool?« Angela erstickte beinahe an den Worten. Um die Tränen zurückzuhalten, die in ihr aufstiegen, presste sie die Hände zusammen.
Chrissy hopste an ihrer Seite. »Die haben Slush-Eis mit Kirschgeschmack in Papiertüten, die wie Nikolausmützen aussehen.«
Angela ging kurz neben Chrissy in die Hocke und bemühte sich zu überspielen, wie sehr die nächsten Worte sie schmerzten. »Das klingt nach so viel Spaß, Chrissy.«
»Ja, war’s auch. Und als ich fertig mit Essen war, hat’s ausgeschaut, als hätte ich roten Lippenstift drauf.« Chrissy küsste die Luft. »Ich war so hübsch!«
Brad kam herein, um das restliche Geschirr abzuräumen. Eine Gabel fiel vom obersten Teller und landete vor Angela.
Sie hob sie auf und quetschte sie, fuchtelte damit in der Luft herum, während sie mit ihrer Schwester sprach. »Du bist dieses Jahr mit Chrissy nicht nur zu keinem einzigen Kurs bei Heart of Christmas gekommen, du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, dir anzusehen, wie das Schneetal geworden ist. Ich hab hart dafür gearbeitet, das auf die Beine zu stellen.«
Maries Mund klappte auf, doch was immer sie sagen wollte, sie behielt es für sich.
Lieber Weihnachtsmann,
du kannst meiner Mama für meine Wunschliste eine SMS unter (555) 432-1314 schicken. Ich hab ihr Handy benutzt, um Fotos von allem zu schießen, was ich mir dieses Jahr wünsche, damit du nichts durcheinanderbringst.
Danke,
Reggie
Brad nahm behutsam die Gabel aus Angelas zitternder Hand und verschwand mit dem schmutzigen Geschirr in die Küche.
Marie reckte das Kinn vor. »Du musst zugeben, Schnee am Strand ist schon ein bisschen ungewöhnlich. Wir haben nie Schnee in Pleasant Sands.«
»Tja, dieses Jahr schon«, entgegnete Angela.
»Ich versteh nicht, wie das den Umsatz steigern soll.«
Angela hasste es, sich mit ihrer Schwester zu streiten. In der Regel ließ sie Maries Argumente gern so stehen, doch in diesem Fall ging es um etwas Persönliches. »Christmas Galore saugt Heart of Christmas das Herzblut aus, und mir bricht der Gedanke das Herz, schließen zu müssen. Ich konnte nicht einfach kampflos aufgeben. Warum kannst du nicht wenigstens das begreifen?«
»Aber ein Schneedorf in einem Gebäude?«
»Ein Schneetal.« Angela sog scharf die Luft ein.
Marie hob die Hand. »Schneetal. Hab mich vertan. Pass auf, es tut mir leid. Ich wollte nicht voreingenommen oder gleichgültig klingen. Ich weiß doch, wie viel dir der Laden bedeutet.«
Davon war Angela nicht mehr überzeugt.
»Du warst noch so klein, als erst Mama gestorben und dann Papa gegangen ist.« Marie verstummte kurz. »Während ich in der Schule war, hast du den ganzen Tag bei Mama Grace festgesessen.«
»Ich hab nicht bei ihr festgesessen. Ich wollte das. Ich wollte dort sein.«
»Du hast nichts anderes gekannt. Und dann nach der Schule, in den Sommerferien und an Feiertagen, warst du immer bei ihr im Laden, während ich mit Freundinnen unterwegs war.«
»Ich hab’s aufrichtig geliebt, bei Mama Grace ein Teil von Heart of Christmas zu sein.« Tränen kullerten Angela über die Wangen. »Du tust so, als wäre das die schlimmste Kindheit aller Zeiten gewesen. War es nicht. Ich hüte jede Erinnerung daran wie einen Schatz.«
»Aber Angela, du hast nie was anderes gemacht. Der Laden ist nicht dein Traum. Du lebst den Traum unserer Großmutter und ihrer Mutter.«
»Dass ich nicht Anwältin werden wollte, heißt noch lange nicht, dass ich nicht das mache, was ich machen will.«
»Du machst gar nichts, das nicht in irgendeiner Weise mit Heart of Christmas zu tun hat.«
Angela verschränkte die Arme vor der Brust.
Marie warf einen finsteren Blick zu Brad, der mittlerweile an der Tür stand. »Ich will damit nur sagen, es ist wahrscheinlich nicht das Schlechteste auf der Welt, falls du den Laden schließen musst. Du musst anfangen, dein Leben zu führen. Wie auch immer das aussehen mag. Im Augenblick arbeitest du immer nur. Du lebst für diesen Laden wie eine alte Jungfer.« Marie reichte Angela eine Stoffserviette, die an einer Ecke mit einem bunten Füllhorn bestickt war.
Angela tupfte sich die Augen ab und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Die hab ich ausgesucht«, meldete sich Chrissy zu Wort. »Weinst du?« Besorgnis trat in ihre Züge.
»Es geht mir gut, Chrissy.« Angela drehte die Stoffserviette in der Hand. Sie war hübsch, entsprach aber nicht dem qualitativ hochwertigen Leinen, zu dem ihre Schwester sonst immer tendierte. Sie sah Marie an. »Ich will’s gar nicht wissen, oder?« Angela war überzeugt davon, dass auch die Servietten von ihrer Konkurrenz stammten. Und, nein: Servietten würden sie nicht aus dem Geschäft verdrängen, doch es ging ums Prinzip. »Ich wollte nie was anderes tun, als diesen Laden zu betreiben.«
»Es muss doch irgendetwas anderes geben, das du machen willst.« Marie stieß den Atem aus. Dabei sah sie aus wie eine dieser aufblasbaren Weihnachtsfiguren mit einem Luftleck. »Du warst immer die Kluge von uns beiden.«
»Sagt die Schwester, die Anwältin ist? Wirklich?«
»Du warst auch auf dem College.«
»Ich hab einen Abschluss in Betriebswirtschaft. Ich leite einen Betrieb. Scheint eigentlich ziemlich perfekt zu passen. Und trotzdem hab ich versagt.«
»Weißt du noch, dass du mal Schildkröten retten wolltest? Du könntest im Aquarium arbeiten.«
Angela schüttelte den Kopf. »Dabei würde ich verkümmern. Ich würde jedes Mal weinen, wenn ein verletztes Tier reinkommt. Am Ende hätte ich nur eine ganze Horde Schildkröten zu Hause im Garten.«
»Ich glaube, bei Schildkröten spricht man von einer ›Herde‹.«
Angela spürte, wie ihr Geduldsfaden dünner und dünner wurde. »Horde. Herde. Jacke wie Hose. Jedenfalls wäre es nicht gut.«
»Schildkröten sind so süß. Ich kann dir helfen, Namen für sie auszusuchen«, bot Chrissy an. »Pete ist ein guter Schildkrötenname. Oder Tina, wenn’s ein Mädchen ist.«
»Danke, Chrissy.« Angela nahm zärtlich Chrissys kleines Kinn in die Hand. Angela wusste, dass sie bei ihrem derzeitigen Arbeitspensum nie eine eigene Familie haben würde. Dabei hatte sie immer davon geträumt, selbst Kinder zu haben. Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen. Nur hatte sie seit Jimmy keine Beziehung mehr gehabt. Klar, heutzutage gab es Frauen, die sich allein Kinder anschafften, doch das entsprach nicht ihrem Stil. Sie verdrehte die Augen. »Ich werde nicht mit Schildkröten arbeiten.«
Als Reaktion auf Angelas Verdrehen der Augen fügte Marie rasch hinzu: »Oder du könntest ein Buch über die Geschichte von Pleasant Sands schreiben. Du weißt mehr als irgendjemand sonst über unsere Gemeinde.«
Brad räusperte sich, als wollte er sich damit den Weg für die Rückkehr in die Küche bahnen. »Heute ist Feiertag, und vielleicht brauchen wir ja eine neue Tradition. Zum Beispiel, dass wir an so einem Tag nicht über die Arbeit reden«, schlug er vor.
Marie drehte den Kopf und warf ihm einen weiteren finsteren Blick zu.
Angela wusste seinen Versuch zu schätzen, ihr eine Rettungsleine zuzuwerfen.
»Nach dem tollen Essen mit meinen tollen Mädels kann ich’s kaum erwarten, morgen nichts anderes zu tun, als Truthahnsandwiches zu essen«, fügte Brad hinzu.
»Apropos morgen«, sagte Marie. »Christmas Galore öffnet um ein Uhr morgens für den Black-Friday-Aktionstag.«
Brad zuckte mit den Schultern, bevor er ins Wohnzimmer verschwand. Er hatte es versucht, doch Marie konnte ungemein hartnäckig sein, wenn sie ihren Standpunkt verdeutlichen wollte. Ein für eine Anwältin äußerst hilfreicher Charakterzug – aber zermürbend für eine Schwester. »Ich verkaufe Weihnachtsdekor, nicht das angesagteste Spielzeug der Saison oder billige Fernseher. Außerdem verstehe ich diesen ganzen Hype um den Black Friday sowieso nicht. Ich würde nie mitten in der Nacht aufstehen, um shoppen zu gehen.«
Darauf erwiderte Marie: »Im Augenblick mag ich nicht mal an Shoppen denken.« Sie rieb sich den Bauch. »Aber bis um eins morgen früh könnte ich’s mir schon vorstellen. Wäre ’ne gute Gelegenheit, ein paar der Kalorien wieder zu verbrennen.«
»Ich könnte noch ein Slush-Eis haben«, warf Chrissy ein.
»Wie wär’s stattdessen mit Kürbiskuchen?« Marie nahm Teller von der Kücheninsel und begann, Kuchen aufzuschneiden. »Ich hab auch Schlagsahne da.«
»Ich dachte, du wärst voll bis oben hin«, merkte Angela an.
Chrissy klatschte in die Hände, dann zupfte sie am Blusenärmel. »Ich hoffe, dein Herz bricht nicht, Tante Angela.«
»Hoffe ich auch, meine Süße.«
»Du hast Glück, dass das gerade jetzt passiert«, meinte Chrissy.
Na toll. Blies nun schon ihre kleine Nichte ins selbe Horn wie ihre Schwester? »Glück? Wieso denkst du das?«
»Großes Glück. Weil nämlich der Weihnachtsmann in der Gegend ist. Er kann dir helfen.« Chrissy verschränkte die Arme fest vor ihrem weißen Trägerkleid. »Er bringt dir alles, was du dir wünschst, wenn du brav gewesen bist.«
Angelas Stimmung wurde milder. Wie schön es doch wäre, wieder solch blindes Vertrauen haben zu können … »Ich glaube nicht, dass er das in Ordnung bringen kann, aber danke. Das war wirklich süß.«
»Doch, kann er!« Chrissy streckte einen Finger in die Luft. »Er macht das die ganze Zeit. Wir können ihm einen Brief schreiben. Ich weiß, wie’s geht.«
»Ich hab vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben, dass der Weihnachtsmann auf meine Briefe reagiert«, erwiderte Angela und dachte an ihr letztes Schreiben an Santa Claus zurück. Damals war sie nicht wesentlich älter gewesen als Chrissy jetzt.
Marie senkte die Stimme. »Papa zurück nach Hause zu holen hätte weder der Weihnachtsmann noch sonst jemand vollbringen können. Ich kann nicht glauben, dass du darüber noch immer verbittert bist.«
Angela strich sich die Haare über die Schulter zurück. Es mochte albern und kindisch sein, aber ja, das nahm sie dem Weihnachtsmann immer noch ein wenig übel.
Chrissy schürzte die Lippen. »Vielleicht warst du in dem Jahr nicht brav genug. Manchmal bin ich auch schlimm und vergesse Sachen. Doch dieses Jahr bist du brav gewesen. Oder?«
»Sehr brav sogar«, bestätigte Angela. Obwohl es ihr herzlich wenig gebracht hatte.
»Ich kann dir helfen, den Brief zu schreiben. Ich hab die App auf meinem Tablet.« Chrissy rannte hinaus. Ihre Lacklederschuhe klatschten über die Terrazzofliesen.
Marie nickte. »Hat sie wirklich.«
»Ich hinke den Zeiten ja so was von hinterher!«, gestand Angela.
»Lass mich gar nicht erst anfangen«, meinte Marie. »Ich richte dir eine Portion Kuchen her. Kuchen heilt alles. Hat Mama Grace auch immer gesagt.«
»Stimmt. Ihr Kürbiskuchen war der beste. Erinnerst du dich an das Jahr, in dem wir selbst Kürbisse angebaut haben?«
»Oh ja. Sie hat uns jeden Tag im Garten Unkraut jäten lassen.«
»Ich weiß noch, wie ich Mama Grace geholfen habe, den frischen Kürbis für den Kuchen vorzubereiten. War eine ziemliche Sauerei, hat aber unheimlich Spaß gemacht.«
Marie verzog das Gesicht. »Es war eklig.«
Chrissy kam zurück und hielt ihr Tablet hoch. »Siehst du?« Sie streckte es Angela entgegen. »Ich hab die App schon für dich aufgemacht. Ist sie nicht hübsch?«
»Wir essen erst mal Kuchen. Willst du auch welchen?«, fragte Angela in dem Versuch, das Thema zu wechseln. Sie hatte nämlich nicht die Absicht, einen Brief an den Weihnachtsmann zu schreiben.
»Ich bin irgendwie ganz schön voll«, antwortete Chrissy. »Kann ich nur ein bisschen bei dir naschen?«
»Klar.« Würde nicht das erste Mal sein, dass sich Angela einen Kuchen mit Chrissy teilte. »Gib mir lieber eine große Portion«, meinte sie augenzwinkernd zu ihrer Schwester.
Marie schnitt ein dickes Stück vom Kuchen ab und legte es auf einen Teller.
»Schlagsahne auch!«, verlangte Chrissy.
Angela holte die Dose aus dem Kühlschrank und sprühte drei Kleckse in Form eines Smileys auf das Kuchenstück, bevor sie den Teller zu Chrissy schob.
»Da. Du nimmst das Tablet.« Chrissy reichte es Angela. »Ich nehme den Kuchen.« Chrissy trug den Teller mit beiden Händen, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ließ den Kuchenteller nicht aus den Augen.
»Ist leichter, nichts fallen zu lassen, wenn man einfach geradeaus schaut«, merkte ihre Mutter an.
Aber Chrissy hatte es sich zum Ziel gesetzt, den Tisch im Esszimmer ohne Zwischenfall zu erreichen.
Angela legte das Tablet auf die Arbeitsplatte und wollte ihrer Nichte folgen.
Marie hielt sie am Arm zurück. »Würde es dich wirklich umbringen, wenn du Chrissy zuliebe mitspielst?« Sie stupste sie an der Schulter an. »Könnte vielleicht sogar lustig sein.«
Schnaubend ergriff Angela das Tablet wieder und setzte sich zu Chrissy an den Esszimmertisch. Das verflixte elektronische Gerät war beängstigend. Sie drehte es um, verbarg den Bildschirm.
Chrissy kletterte auf den Stuhl neben Angela. »Du musst genau wissen, was du dem Weihnachtsmann sagen willst. Man kann nämlich nur eine bestimmte Anzahl von Wörtern schreiben.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab ihm schon viele Briefe geschickt. Mami hat mir gezeigt, wie man diktiert, wie sie’s immer macht.«
»Hast du nicht, oder?« Angela warf ihrer Schwester, die sich zu ihnen setzte, einen Blick zu. »Warum machst du so was?«
»Dadurch hat sie die Möglichkeit, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, obwohl sie noch nicht schreiben kann. Glaub mir, das ist gut. Sie erkennt schon einige Wörter. Ich finde, das bereitet sie wirklich gut auf die Schule vor.«
»Na toll. Dann ist sie ja qualifizierter als ich.«
»Was heißt ›qualifiziert‹?«
»Dass du sehr klug bist«, erklärte Angela. »Ich bin stolz auf dich.«
»Soll ich dir zeigen, wie man diktiert?«
»Ich kann auch einfach tippen.«
Marie lehnte sich mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht auf dem Stuhl zurück. »Das wird lustig.«
Chrissy drehte das Tablet mit dem Bildschirm nach oben und schob es ihrer Tante zu. »Das wirst du dafür brauchen.«
Angela betrachtete das Display. Die Worte Lieber Weihnachtsmann hoben sich funkelnd in schnörkeliger, grüner Glitzerschrift von einem tiefblauen Himmel ab, von dem weiße Schneeflocken rieselten.
Kaum hatte Angela auf die Schaltfläche mit Lieber Weihnachtsmann getippt, erschien in der Mitte des Bildschirms ein rot-weiß gestreiftes Kuvert, drehte sich und öffnete sich. Angezeigt wurden die auszufüllenden Felder.
Angela gab ihre E-Mail-Adresse und ihren Namen ein, dann sprang sie weiter zum Abschnitt für den Mitteilungstext und seufzte. »Das kann doch nur ein Scherz sein.« Sie drehte das Tablet so, dass ihre Schwester das Display sehen konnte. »Bleibt mir denn wirklich gar nichts erspart?«
Lieber Weihnachtsmann,
ich bin brav gewesen. Ich wünsche mir zu Weihnachten ein Kaninchen. Mein Bruder will ein Skateboard, aber er ist echt unartig, also bring ihm nichts, ganz gleich, wie viele Briefe er dir schickt.
Danke,
Victoria
»Sieh dir das an, Marie!« Angela zeigte auf das Tablet und zeichnete mit dem Finger einen anklagenden Kreis darüber. »Ganz unten. Siehst du das? Da steht: Gesponsert von Christmas Galore.«
»Ach ja?« Marie beugte sich für einen genaueren Blick näher. »Tut mir leid. Das ist mir vorher ehrlich nicht aufgefallen.« Sie klickte zurück und aktualisierte den Bildschirm. »Da. Jetzt wird dieser Hängemattenhersteller als Sponsor angezeigt. Christmas Galore ist wahrscheinlich bloß einer von fünfzig Sponsoren, die abwechselnd erscheinen. Da ist doch nichts dabei.«
»Ich lass mich nicht in diese Verblendung von Christmas Galore reinziehen. Die drängen mich gerade aus dem Geschäft.« Angela schob das Tablet von sich.
»Christmas Galore drängt dich nicht aus dem Geschäft«, widersprach Marie. »Die Zeit, die Technik und Billigprodukte drängen dich aus dem Geschäft. Wir leben im Zeitalter der Online-Bestellungen und der Wegwerfsachen für Weihnachten. Keine Ahnung, wie du’s ohne Online-Auftritt überhaupt so lange geschafft hast. Kannst von Glück reden, dass es den Laden noch gibt.«