Das Weihnachtswunder von Stowford - Anne Marie Ryan - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Weihnachtswunder von Stowford E-Book

Anne Marie Ryan

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

6 Menschen, 6 Geschichten und ein einmaliges Weihnachtsfest: Bezaubernder Feelgood-Weihnachtsroman um Liebe, Zusammenhalt und die besondere Kraft von Büchern – Für alle Weihnachtsfans und Bücherwürmer! Nora und Simon sind glücklich: Sie lieben einander noch immer sehr und betreiben seit Jahrzehnten gemeinsam ihren gemütlichen Buchladen in Stowford, einem kleinen Dorf in den Cotswolds. Aber die Zeiten sind hart, und der Laden droht geschlossen zu werden – dieses Weihnachten geht es um ihre Existenz. Als ein älterer Herr eines Tages als Geschenk für seinen kranken Enkel ein Buch kauft, das seit 25 Jahren im Regal verstaubt, hat das Ehepaar eine Idee: Warum nicht Bücher an diejenigen verschicken, die sich in der Vorweihnachtszeit einsam oder traurig fühlen und ihnen mit diesem Geschenk eine kleine Freude machen? Nachdem Nora und Simon Nominierungen in den sozialen Medien gesammelt haben, senden sie sechs weihnachtliche Bücher an die Dorfbewohner, die unbedingt etwas Aufmunterung gebrauchen können: Darunter sind ein an Depressionen leidender Abgeordneter, ein alleinerziehender Vater von Zwillingen, der hart daran arbeitet, über die Runden zu kommen, ein Teenager, der um seine verstorbene Schwester trauert, und eine Lehrerin, die gerade in Rente gegangen ist und alleine lebt. Nach und nach helfen die verschenkten Bücher den Menschen auf vielfältige Weise und bringen sie zusammen. Ein Weihnachtswunder? Oder einfach die besondere Kraft von Büchern? Lassen Sie sich von Anne Marie Ryan ins wundervolle Stowford entführen und erleben Sie warmherzige Figuren, aufrichtige Liebe und Zusammenhalt – und vor allem gemütliche Weihnachtsstimmung! »Das Weihnachtswunder von Stowford« umhüllt Sie mit Wärme wie ein knisterndes Kaminfeuer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Marie Ryan

Das Weihnachtswunder von Stowford

Roman

Aus dem Englischen von Sonja Fehling

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Nora und Simon betreiben seit Jahrzehnten ihren gemütlichen Buchladen in Stowford, einem kleinen Dorf in den Cotswolds. Aber die Zeiten sind hart, und der Laden droht geschlossen zu werden. Als ein älterer Herr eines Tages für seinen kranken Enkel ein Buch kauft, das seit 25 Jahren im Regal verstaubt, hat das Ehepaar eine Idee: Warum nicht Bücher an diejenigen verschicken, die sich in der Vorweihnachtszeit einsam oder traurig fühlen, und ihnen so eine kleine Freude machen?

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Quellenverzeichnis

Kapitel 1

Nora

Nora Walden ließ den Blick von der Tabelle in ihren Händen zu den Geschenkartikeln für die Weihnachtsstrümpfe wandern, die auf dem Tresen aufgestapelt waren: Mini-Bildbände über die Vogelarten der Region, kleine Scherzbücher über die hässlichsten Weihnachtspullis der Welt und Pappbücher in Form eines Rentiers mit einer roten Nase aus Plüsch auf dem Cover. Jedes dieser Präsente war um einiges interessanter als Noras derzeitige Lektüre. Trotz ihrer trügerischen weihnachtlichen Farbe löste der Anblick der Spalten und Reihen voller roter Zahlen alles andere als eine festliche Stimmung in ihr aus.

Frustriert versetzte Nora der Rentiernase einen Schlag, woraufhin ein lautes Quieken ertönte. Der bärtige Mann mit der Beanie auf dem Kopf, der gerade einen Reiseführer durchblätterte, ließ beinahe das Buch fallen.

»Tut mir leid.« Entschuldigend hob Nora die Hand. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Sie neigte den Kopf zur Seite, um den Titel des Reiseführers zu lesen. »Ah, Sri Lanka. Dort soll es ja wunderschöne Strände geben.«

Sri Lanka stand auf Charlottes Liste der Länder, die sie während ihrer einjährigen Weltreise erkunden wollte. Die Reiseabteilung der Buchhandlung war immer der Lieblingsbereich ihrer Tochter gewesen. Abgesehen von einigen Aufenthalten in Frankreich – im Ferienhaus von Simons Eltern – hatten sich die Urlaube der Familie Walden meistens auf das Vereinigte Königreich beschränkt, irgendwo auf dem Fluss in einem Hausboot oder in einem kleinen Cottage am Strand. Buchhändler verdienten nicht so viel, dass sie sich Luxusreisen ins Ausland leisten konnten, wobei diese Tatsache Nora noch nie etwas ausgemacht hatte. Sie hatte das Glück gehabt, die Welt durch Geschichten kennenzulernen, war mit Gabriel García Márquez und Isabel Allende durch Südamerika gereist und hatte mit Salman Rushdie und Vikram Seth Indien besucht. Tatsächlich war Nora noch nie in den USA gewesen, doch dank der Kurzgeschichten von Annie Proulx hatte sie in der rauen Prärie von Wyoming gezeltet. Mit den Vampiren von Anne Rice hatte sie die Düfte und Geräusche der düsteren Welt von New Orleans aufgesogen, und mit den Charakteren aus Armistead Maupins Stadtgeschichten war sie die Hügel von San Francisco hinaufgestiegen. Sie hatte das Gefühl, all diese Orte wie eine Einheimische zu kennen, weil sie in den Büchern dort gewesen war.

Charlotte dagegen hatte immer die reale Welt sehen wollen. Sie hatte stundenlang mit überkreuzten Beinen auf dem Boden der Reiseabteilung gesessen und wie ein kleiner Phileas Fogg die Routen für ihre zukünftigen Touren aufgezeichnet. Gedankenverloren fragte sich Nora, ob Charlotte wohl gerade in Sri Lanka war und sich an irgendeinem Strand sonnte. Vielleicht war sie aber auch in Mumbai. Wenn sie sich doch nur endlich melden würde … Normalerweise rief sie jeden Samstagnachmittag an oder versuchte es über Videochat, doch heute hatten sie noch nichts von ihr gehört – und in der vergangenen Woche auch nicht.

Der Mann mit der Beanie stellte das Buch ins Regal zurück.

»Soll ich Ihnen vielleicht einen anderen Reiseführer heraussuchen?«, bot Nora an. »Ich könnte Ihnen auch ein paar Romane empfehlen, die in Sri Lanka spielen. Anils Geist von Michael Ondaatje zum Beispiel ist …«

»Nein, danke«, unterbrach er sie, »ich sehe einfach mal im Internet nach.«

Nora stieß einen Seufzer aus und widmete sich wieder ihrer Buchhaltung des Grauens. Kein Wunder, dass die Zahlen so mies aussahen.

In diesem Moment ertönte ein fröhliches Glöckchengeläut, während die Tür des Buchladens geöffnet wurde. Ein kalter Windzug trug die Musik des Weihnachtsmarkts herein, der draußen auf dem Platz stattfand. Nora lächelte der Frau mit dem dunklen Locken-Bob entgegen, die gerade eingetreten war. Wie bei den meisten ihrer Stammkunden und -kundinnen kannte Nora auch ihren Namen. »Hi, Kath.«

»Da draußen kommt man sich vor wie am Nordpol.« Zitternd rieb Kath die Hände aneinander. »Ich glaube, ich habe gar kein Gefühl mehr in den Fingern.«

»Wenigstens regnet es noch nicht«, sagte Nora mit einem Blick aus dem Fenster hinter sich. Der Stowford Bookshop war berühmt für seine Schaufensterdekorationen, und wie Nora fand, hatten sie sich in diesem Jahr selbst übertroffen. Sie hatten Bestseller, Kochbücher und regionale Lektüre in Form eines Weihnachtsbaums arrangiert und darunter Geschenke gelegt, die sie in glänzendes Papier verpackt hatten. Jenseits des Fensters, oberhalb des gut besuchten Marktes, hingen jedoch unheilvolle graue Wolken am Himmel.

Nora hatte ihr ganzes Leben in Stowford verbracht – abgesehen von den zwei Jahren, in denen sie studiert hatte – und somit mehr als genügend nasse Winter im Südwesten Englands erlebt. An einen so verregneten Dezember wie diesen konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Der River Coln, der sich träge durch die Stadtmitte schlängelte, war so hoch angestiegen, dass das Wasser schon fast über die Ufer schwappte.

»Ich bin dieses Wetter so leid.« Frustriert fuhr sich Kath mit einer Hand durch ihren Bob. »Sobald ich einen Fuß vor die Tür setze, spielen meine Haare verrückt.«

Nora nickte mitfühlend. »Oh ja, das kenne ich.« Simon sagte immer, dass sie mit ihrem welligen rotbraunen Haar aussehe, als sei sie einem Porträt von Rossetti entstiegen. Bei diesem Wetter verwandelte es sich jedoch eher in eine wirre Krause – auf dem Kopf einer Frau mittleren Alters – und hatte wenig Ähnlichkeit mit den sanften Wellen der jungen Damen, die die präraffaelitischen Maler abgebildet hatten. Aber obwohl ihre kupferfarbenen Locken inzwischen von silbernen Fäden durchzogen wurden, konnte Nora sich nicht dazu überwinden, sich das Haar zu einem zweckmäßigen Bob schneiden zu lassen. Stattdessen hatte sie beschlossen, ihre Rauschgoldengelfrisur in Würde anzunehmen – was auch kostengünstiger war.

Allerdings war der Regen nicht nur für Noras dauerhaften Bad Hair Day verantwortlich – er hielt darüber hinaus die Kunden vom Laden fern, und das in einer Zeit, die eigentlich zu den umsatzstärksten Wochen des Jahres gehörte. Außerdem machte er es ihnen immer schwerer, die Löcher im Dach zu ignorieren. Wenn das Wetter nicht bald besser wurde, würde die Buchhandlung das Jahr mit roten Zahlen abschließen.

Mal wieder.

»Oh, ist das angenehm«, sagte Kath seufzend, während sie sich die Hände am Kamin im hinteren Bereich des Ladens wärmte, wo die Flammen hinter einem schmiedeeisernen Feuerschutz hin und her tanzten wie ein Ballettensemble. Ein weiches Sofa aus rotem Samt und zwei alte Ledersessel waren im Halbkreis um einen Wohnzimmertisch angeordnet, auf dem ein Teller mit selbst gebackenen Ingwerkeksen stand – nach einem Rezept, das Nora von ihrer Mum Penelope übernommen hatte. In einem Korb vor dem Feuer lag eine Westie-Dame und döste.

Ein kleiner Junge, dessen Eltern gerade die Kinderbuchabteilung durchstöberten, lief auf tapsigen Beinen zu dem weißen Hund hinüber. »Wauwau!«, rief er und kniete sich neben den Korb.

»Aufpassen, Joshie!«, warnte ihn seine Mutter.

»Das ist Merry«, erklärte Nora und ging zu dem kleinen Jungen hinüber. »Keine Angst – sie liebt Streicheleinheiten.«

Merry schlug mit dem Schwanz auf den Boden und leckte dem Jungen übers Gesicht. Eigentlich hatten sie die Hündin Merida getauft – benannt nach der schottischen Disneyprinzessin –, als sie sie vor zehn Jahren als Welpe adoptiert hatten. Schon bald hatte sie jedoch den Kosenamen Merry bekommen, weil er so gut zu ihrem fröhlichen Charakter passte. Abgesehen davon, dass sie überall ihre schneeweißen Haare hinterließ und nie lange sauber blieb, war Merry die ideale Familienhündin und das inoffizielle Maskottchen der Buchhandlung.

»Du magst offensichtlich Dinosaurier«, sagte Nora und deutete auf den T-Rex, der auf dem T-Shirt des Jungen zu sehen war.

Er nickte, während er Merry im Arm hielt.

»Wenn das so ist, habe ich das perfekte Buch für dich«, fügte Nora hinzu und ging zu den Regalen hinüber, wo sie ein Dinosaurier-Wimmelbuch heraussuchte und es dem Jungen gab.

Nachdem er sich aus der Keksschale bedient hatte, kletterte Joshie mit der Entschlossenheit eines Bergsteigers, der den Mount Everest bezwang, auf einen der rutschigen Ledersessel. Als Nora hinter ihrem Tresen angekommen war, hatte er es sich auf dem Sessel gemütlich gemacht und war so in das Bilderbuch vertieft, dass der Keks in seinem kleinen Patschehändchen ganz weich geworden war.

Nora hatte selbst unzählige Stunden in diesem Sessel verbracht, zusammen mit ihren besten Freundinnen: Anne auf Green Gables, Pippi Langstrumpf und Mary Lennox – den Heldinnen ihrer liebsten Kinderbücher. Als einziges und noch dazu schüchternes Kind einer alleinerziehenden Mutter hatte Nora bereits früh gelernt, dass man nie einsam war, solange man ein gutes Buch als Gesellschaft hatte. Eine Erkenntnis, über die sie sehr froh war – schließlich hatte sie sich oft selbst beschäftigen müssen, während ihre Mutter im Laden arbeitete.

Penelope war 1970 wegen des allerersten Glastonbury-Festivals nach Somerset gekommen und hatte ein Techtelmechtel mit einem Drummer namens Neil angefangen. Die kurze Affäre endete, noch bevor der Hauptact es auf die Bühne geschafft hatte, doch Penelope hatte sich in die Gegend verliebt und war hiergeblieben, um ihre Tochter aufzuziehen, die sie neun Monate später zur Welt brachte. Und obwohl Penelope mit ihrer unkonventionellen Hippie-Lebensart das eine oder andere Kopfschütteln der Ortsbewohner auf sich zog, wurde ihre Buchhandlung – die einzige im Umkreis – ein großer Erfolg.

Nora widmete sich erneut ihren Finanzen und spürte ein nagendes Gefühl der Angst in ihrem Bauch. Was würde Penelope sagen, wenn sie wüsste, wie schlecht der Laden lief?

»Stimmt was nicht, Nora?« Eine kleine, weißhaarige Frau, deren Bob trotz des Wetters perfekt aussah, kam auf den Tresen zu. In ihren freundlichen blauen Augen, mit denen sie Nora durch ihre Brillengläser hindurch ansah, lag Besorgnis. »Du wirkst so beunruhigt.«

Olwyn Powell war eine Stammkundin, die auch an den monatlichen Treffen des Literaturkreises teilnahm. Außerdem war sie Charlottes Grundschullehrerin gewesen, daher kannte Nora sie schon seit Jahren.

»Nein, nein, alles gut, Olwyn«, gab Nora zurück und versteckte die unangenehme Kalkulation unter einem Wollhaufen – dem Anfang eines Pullovers, den sie für Simon zu Weihnachten strickte. »Ich war nur mit den Gedanken ganz woanders. Kann ich dir vielleicht was empfehlen? Ich habe gerade einen Thriller gelesen, der dir gefallen könnte – mit einem grandiosen überraschenden Ende.«

Olwyn hatte eine große Vorliebe für Thriller – und zwar von der Sorte »je grausamer, desto bester« –, was in völligem Gegensatz zu ihrem sanften Charakter stand, denn sie war einer der liebsten Menschen, die Nora kannte.

»Ach, ich stöbere bloß mal so durch«, antwortete Olwyn. »Jetzt, da ich im Ruhestand bin, habe ich mir vorgenommen, öfter mal in die Bücherei zu gehen.«

Nora hatte es noch nie gestört, wenn die Leute bloß zum Stöbern in den Laden kamen. Genau wie ihre Mutter war sie davon überzeugt, dass eine Buchhandlung mehr als ein Ort war, an dem man Bücher kaufte. Sie war das Herz einer Gemeinschaft. Das einzige Problem lag darin, dass das Stöbern derzeit zu weit weniger Käufen führte als früher …

»Und? Wie gefällt es dir im Ruhestand? Genießt du die viele Freizeit?«

»Um ehrlich zu sein, fällt es mir ein wenig schwer, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden«, entgegnete Olwyn. »Mir fehlen die Kinder.«

»Das muss auch eine wahnsinnige Umgewöhnung sein«, befand Nora. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne die Arbeit in der Buchhandlung aussehen würde.

»Ich habe mehr Zeit zum Lesen«, fuhr Olwyn mit erzwungener Begeisterung fort. »Das ist zumindest ein Vorteil des Rentnerdaseins.«

Olwyn mochte sich zwar nach außen hin tapfer geben, doch ihre Traurigkeit war unübersehbar. Der Gedanke, dass diese wundervolle Frau, die so viele Menschen durchs Leben begleitet hatte, sich nun einsam fühlte, bedrückte Nora.

»Also, hier bist du jedenfalls immer herzlich willkommen. Ich freue mich über Gesellschaft und gute Unterhaltung«, erwiderte sie.

In diesem Moment kam Kath zum Tresen herüber.

»Du hast Kundschaft«, sagte Olwyn und tätschelte Noras Hand. »Ich lasse dich mal weiterarbeiten.«

»Kann ich Ihnen wieder etwas empfehlen?«, fragte Nora die jüngere Frau. »Haben Sie bereits die neue Anthologie von Carol Ann Duffy gelesen, mit Gedichten von Sylvia Plath?« Kath, die wie sie ein Fan von Lyrik war, kam seit Jahren in die Buchhandlung, und Nora hatte sie mit den Werken von Audre Lorde, Jackie Kay und Adrienne Rich bekannt gemacht.

Hätte Nora ihr Studium nicht abgebrochen, als Penelope krank geworden war, hätte sie ihre Abschlussarbeit über Sylvia Plath geschrieben – zumindest war das ihr Plan gewesen. »Das ist eine ganz fantastische Sammlung. Es kam mir vor, als würde ich Sylvia Plath zum ersten Mal lesen.«

»Klingt toll«, sagte Kath. »Aber eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie mir vielleicht ein paar Bücher über …«, sie senkte die Stimme, »… Depressionen empfehlen könnten.«

»Natürlich«, entgegnete Nora, schlüpfte hinterm Tresen hervor und steuerte auf die Abteilung mit den Selbsthilfebüchern zu. Sachbücher waren eigentlich das Fachgebiet ihres Mannes. Von Architektur bis Angeln gab es kaum ein Thema, über das Simon nicht ein bis fünf Bücher gelesen hatte. Er veranstaltete jeden Dienstagabend ein Pub-Quiz drüben im George auf der anderen Straßenseite. Das Quiz war berühmt für seine schwierigen Fragen, und manche Teams reisten sogar jede Woche aus Cirencester an, um im Wissensduell gegen ihn anzutreten. Gerade war Simon allerdings oben in der Wohnung über dem Laden und kümmerte sich um das leckende Dach.

Zum Glück kannte sich Nora blind in der Buchhandlung aus, auch wenn sich ihre Expertise eher auf Romane und Lyrik beschränkte. Sie führte Kath zum Regal mit den Büchern über Depressionen und zeigte ihr dicke Wälzer voll wissenschaftlicher Studien, inspirierende »Ich habe meine Depressionen überwunden – Sie schaffen das auch«-Memoiren und praktische Ratgeber darüber, wie man seine Stimmung aufhellen konnte. Kath nahm gleich mehrere Bücher mit.

»Matt Haig schreibt auch ganz toll darüber«, erzählte Nora, und so fügte Kath auch noch Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben zu ihrem Stapel dazu.

Nora kannte die junge Frau zwar nicht sehr gut und sie wollte nicht neugierig sein, trotzdem machte sie sich Sorgen um sie. »Geht es Ihnen nicht gut, Kath?«

»Die sind nicht für mich«, gab Kath schnell zurück. »Die sind für meinen Dad.«

Nora war sich nicht sicher, ob das stimmte oder es Kath zu unangenehm war, über ihre psychischen Probleme zu sprechen. »Also, ich habe auf jeden Fall immer Zeit«, versprach sie, »falls Sie mal das Bedürfnis haben, mit jemandem zu reden.«

»Danke«, sagte Kath und errötete leicht.

Gemeinsam gingen sie zum Tresen zurück, wo Kath sich beeilte, ihre Einkäufe zu bezahlen, während sie immer wieder über die Schulter zur Tür blickte, als hätte sie Angst, jemand könnte sehen, was sie gekauft hatte.

Kopfschüttelnd sah Nora ihr hinterher, als sie eilig den Laden verließ. Es war so traurig, dass die Menschen sich immer noch irgendwie schämten, wenn es um psychische Krankheiten ging. Aber vielleicht wollte Kath etwas so Persönliches auch nicht mit jemandem besprechen, den sie nicht so gut kannte. Als introvertierter Mensch konnte Nora das sehr gut nachfühlen.

Auf der anderen Seite des Ladens ertönte Protestgeheul. »Nein!«, kreischte Joshie, als seine Eltern ihn in den Buggy setzten. Sein Dad schob den Kinderwagen zur Kasse herüber, während seine Mum einen Ratgeber zum Thema »Töpfchentraining« auf den Tresen legte, gefolgt von dem Dinosaurierbuch. »Er wollte das gar nicht mehr hergeben«, sagte sie lachend.

Nora bongte das Wimmelbuch ein und bückte sich dann, um es dem kleinen Jungen in dem Buggy wiederzugeben, der es fest an seine Brust drückte. Ich liebe meinen Job, dachte Nora glücklich. Und das Allerschönste daran war der Moment, wenn man das perfekte Buch für jemanden gefunden hatte – egal, in welchem Alter derjenige war.

»Wir veranstalten jeden Montagvormittag eine Vorlesestunde für kleine Kinder«, sagte Nora, während sie der Familie die Tür aufhielt. »Nächste Woche lesen wir Der Grinch – kommen Sie doch vorbei.«

»Klingt gut.« Der Vater wuschelte seinem Sohn liebevoll durchs Haar, bevor er den Regenschutz über den Kinderwagen zog.

Genau in dem Moment, als Nora die Tür hinter den dreien schloss, kam ein hochgewachsener Mann mit einer wilden Mähne aus welligem, grau meliertem Haar die Treppe herunter, die von der Wohnung in die Buchhandlung führte. »Ich habe die Pfützen weggewischt«, verkündete Simon, während er durch den Laden auf Nora zustapfte. »Und ich habe überall Eimer hingestellt, um die Tropfen aufzufangen, aber …« Er stieß mit dem Kopf gegen einen der Eichenbalken, die unter der tief hängenden Decke verliefen, und fluchte laut: »Verdammt noch mal!«

»Ach, Schatz.« Voller Mitgefühl schüttelte Nora den Kopf. »Immer noch?«

Schon vor fünfundzwanzig Jahren, als Simon das allererste Mal den Laden betrat, hatte er sich sofort den Kopf an genau diesem Balken gestoßen. In seiner Lederjacke und den Stiefeln hatte er eher wie ein Indie-Rockstar ausgesehen und nicht wie der Leiter einer Werbeagentur. Andererseits hatte Nora damals mit fünfundzwanzig in ihren Doc Martens und der zerrissenen Jeans auch keine Ähnlichkeit mit einer typischen Buchhändlerin gehabt.

Sie hatte einen Kühlakku für Simon geholt, und er hatte ihr erklärt, dass er im Dorf nach möglichen Drehorten für einen TV-Werbespot suchte. Daraufhin hatten sie sich so verquatscht – über ihre Lieblingsbücher und -autoren –, dass Simon den letzten Zug verpasst hatte und sich schließlich ein Zimmer im George nehmen musste. Am darauffolgenden Wochenende hatten sie fast jede Sekunde miteinander verbracht: Am Samstag half Simon ihr im Laden, und am Sonntag lud er sie zu einem langen Spaziergang am Fluss ein, der mit einem Sonntagsbraten im Pub endete. Abgesehen von Penelope hatte Nora noch nie jemanden getroffen, der Bücher genauso sehr liebte wie sie, und bevor Simon widerwillig in den Zug zurück nach London stieg, hatte er sie geküsst – und versprochen, wiederzukommen.

Der Werbespot für einen Keks wurde tatsächlich in Stowford gedreht, und in einigen Einstellungen war sogar die Buchhandlung im Hintergrund zu sehen, während sich vorne auf dem Markt diverse Schauspieler und Komparsen in historischen Bauernkostümen tummelten. Simon hatte jede freie Minute zwischen den Drehs mit Nora verbracht. Einige Wochen nach dem längsten ersten Date aller Zeiten hatte Nora erfahren, dass Simon der Sohn des Agenturgründers Charles Walden III. war und eines Tages das Geschäft übernehmen sollte. Doch Simon gab all das auf, um sie zu heiraten.

Die Keksmarke – Golden Oaties – wurde zwar kein Erfolg, aber Simons und Noras Beziehung war dafür umso gefestigter.

Nora ging zu ihrem Mann hinüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Bereust du es manchmal, dass du nach dem ersten Mal nicht gleich abgehauen bist?«, fragte sie ihn und strich mit den Fingern über die feuerrote Stelle, die der Zusammenstoß mit dem Balken an Simons Stirn hinterlassen hatte. Wäre er damals direkt umgekehrt, würde er jetzt eine profitable Werbeagentur in der Stadt leiten anstatt einer erfolglosen Buchhandlung auf dem Land.

»Spinnst du?«, erwiderte er. »Das war Liebe auf den ersten Blick.« Mit diesen Worten rieb er sich über die Stirn und sah Nora grinsend und mit einem Funkeln in den blauen Augen an. »Vielleicht hatte ich aber auch eine leichte Gehirnerschütterung.«

Nora hatte ihre Jeans von damals längst gegen Vintage-Kleider und Strickjacken eingetauscht – die sie allerdings manchmal mit ihren uralten Doc Martens kombinierte –, und Simons Lederjacke und seine Bikerstiefel waren inzwischen Cordblazern und Budapestern gewichen. Im Laufe der Jahre hatten sie sich beide verändert, doch die Gesprächsthemen waren ihnen nie ausgegangen. Wie auch, bei über zehntausend Titeln im Bestand?

»Ich muss gleich rüber ins George zur Versammlung des Gewerbevereins«, sagte Simon. »Heute habe ich die Leitung. Es sei denn, du willst mich vertreten?«

»Nein, ich bleibe hier«, entgegnete Nora. Die Leitung des Treffens der Stowforder Geschäftsleute überließ sie Simon liebend gern. In so was war er wesentlich besser als sie. Damals, als er noch in der Werbung gearbeitet hatte, musste er regelmäßig Präsentationen vor Kunden halten – er war also ein selbstbewusster Redner, während es Nora schon immer unangenehm gewesen war, vor Leuten zu sprechen.

»Okay, dann gehe ich jetzt mal«, sagte Simon. »Wenn wir fertig sind, schaue ich kurz auf dem Markt vorbei und bringe was zu essen mit.«

»Super.«

Simon war schon fast an der Tür, als Nora etwas einfiel. »Ach, denk dran, in der Apotheke vorbeizugehen und deine Medikamente abzuholen«, rief sie ihm hinterher. »Oh, und eine Packung Schmerztabletten!« Sie spürte bereits erste Spannungskopfschmerzen im Schläfenbereich.

Simon nickte, dann öffnete er die Tür und trat in den Nieselregen hinaus.

Nora blickte ihm nach, während er die Straße überquerte und auf den Pub zuging, der den Marktplatz dominierte. Die honiggelben Mauern der Kneipe waren zurzeit mit blinkenden Lichterketten geschmückt. Am Tag ihrer ersten Begegnung hatte Simon Nora erzählt, dass der gelbe Fels, der hier in der Region abgebaut wurde, aus den versteinerten Überresten von Seeigeln gebildet worden war, obwohl der Ort meilenweit von der Küste entfernt lag. Diese Information hatte Nora nie vergessen, und die Vorstellung, dass diese Gegend sich vor Millionen von Jahren unter Wasser befunden hatte, faszinierte sie. Wenn es weiter so regnet, könnte das bald wieder der Fall sein, dachte sie in einem Anflug von Ironie.

Da gerade keine Kunden mehr im Laden waren, setzte sich Nora auf den Hocker hinter der Theke und beschloss, an Simons Weihnachtspulli weiterzuarbeiten. Während das rhythmische Klackern ihrer Stricknadeln den Raum erfüllte, wünschte Nora, der Pullover könnte mehr tun, als Simon nur warm zu halten. Wenn die Wollschicht ihn doch auch beschützen könnte …

Im Frühling hatte Simon so schlimme Schmerzen in der Brust gehabt, dass sie dachten, er habe einen Herzinfarkt. Nora hatte sofort einen Krankenwagen gerufen und die ganze Fahrt bis zum Krankenhaus über Simons Hand gehalten, während sie im Stillen mit dem Universum über sein Leben verhandelt hatte. Schlussendlich war es kein Herzinfarkt, sondern nur eine Angina Pectoris gewesen, trotzdem hatte Nora eine Riesenangst ausgestanden, dass sie ihren Mann für immer verlieren könnte.

Simon war schlank und spielte regelmäßig Fußball – seine Herzprobleme waren daher ein Schock gewesen –, doch Ani Dhar, ihre Hausärztin, hatte ihnen erklärt, dass das für Männer über fünfzig nichts Ungewöhnliches war. Als Dr. Dhar erwähnte, Stress könnte ein Auslöser sein, hatte Nora darauf bestanden, dass Simon ihr die Leitung der Buchhandlung überließ, die sie bisher gemeinsam geführt hatten. Natürlich hatte er protestiert, aber die Ärzte hatten ihr zugestimmt, dass es eine gute Idee sei, zumindest einige Monate lang, in denen sie seinen Zustand überwachen würden. Deshalb hatte Simon auch keine Ahnung, wie schlimm es um ihre Finanzen stand und wie nah sie daran waren, das Geschäft zu verlieren.

Nora fühlte sich furchtbar, weil sie Geheimnisse vor ihm hatte, doch sie konnte es einfach nicht riskieren, dass er sich aufregte und wieder einen Herzanfall bekam. Beim nächsten Mal hatten sie vielleicht nicht so viel Glück.

Sie stieß einen Seufzer aus und strickte noch eine Reihe. Zu blöd, dass sie keinen Pullover stricken konnte, der groß genug war, um den ganzen Laden darin einzuhüllen …

Kapitel 2

Simon

Simon schob die Türen des George auf und sog den vertrauten malzigen Geruch aus verschüttetem Ale, getrocknetem Hopfen und Bratfett ein. Nach der Buchhandlung rangierte der Pub auf Platz zwei der Liste seiner Lieblingsorte in Stowford. Und im Gegensatz zum Buchladen machte das George einen Riesenumsatz, während die Weihnachtseinkäufer und Markthändler hier Schutz vor dem Regen suchten.

Nachdem er kurz diverse Stammgäste begrüßt hatte, die er von seinem wöchentlichen Pub-Quiz kannte, kämpfte sich Simon endlich bis zur Theke vor. Ein stämmiger Mann in den Dreißigern mit schütter werdendem braunem Haar, der ein rot-weißes Fantrikot des Swindon Town FC trug, unterhielt sich gerade mit Sue, der Wirtin. Neben ihm standen zwei blonde Kinder, die Simon auf etwa sechs oder sieben schätzte.

»Hi«, sagte der Mann. »Ich bin Will, und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Hilfe gebrauchen könnten. Ich war zwar vorher Betriebsleiter im Jamison-Werk, aber ich bin bereit, wirklich alles zu machen.«

Doch Sue schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Süßer«, erwiderte sie mit ihrer kratzigen Raucherstimme. »Ich stelle leider zurzeit niemanden ein.«

Entmutigt ließ der Mann die Schultern sinken.

»Daddy«, sagte der kleine Junge, »bekommen Julia und ich Chips?«

»Und Limo«, bettelte das Mädchen. »Biiiiitteeeee.«

»Tut mir leid, Kinder«, entgegnete Will und blickte auf die beiden hinunter. »Heute nicht. Wir müssen jetzt los – schließlich wollen wir noch Grandma im Heim besuchen.«

Während die Kinder sich lautstark beschwerten, nahm der Mann die zwei an der Hand und führte sie Richtung Ausgang.

Erst jetzt bemerkte Sue Simon. »Ach du Scheiße! Wir haben gleich Sitzung, oder?« Hastig riss sie sich ihre Schürze vom Hals und fuhr sich mit ihrer tätowierten Hand durch das kurz geschorene wasserstoffblonde Haar. »Bin sofort da«, rief sie Simon zu, während sie in die Küche eilte.

»Ein Bier?«, fragte der gut aussehende Typ hinterm Tresen mit amerikanischem Akzent. Er war ungefähr genauso groß wie Simon, wirkte jedoch durch seinen üppigen Afro noch größer.

»Nur ein halbes, Mateo«, antwortete Simon mit einem Augenzwinkern. »Ich bin geschäftlich hier.« Außerdem wusste er, dass Nora sich derzeit ständig Gedanken um seine Ernährung machte – und nicht nur darum. Simon hatte das Gefühl, dass sie ihn permanent mit sorgenvollem Gesicht beobachtete, als hätte sie Angst, er könne jeden Moment tot umfallen.

Was vollkommen lächerlich war: Ihm ging es bestens. Trotzdem lehnte Nora sein Angebot, wieder mehr im Laden zu helfen, jedes Mal kategorisch ab.

»Du musst Stress vermeiden«, wiederholte sie wie ein Mantra.

Aber es machte Simon ein schlechtes Gewissen, dass Nora – um ihn zu schonen – nun die ganze Arbeit im Geschäft allein bewältigen musste. Sie beschwerte sich zwar nie, doch er konnte sehen, wie sehr sie das anstrengte. Und der Tatsache nach zu urteilen, dass sie sich jede Nacht im Bett hin- und herwälzte, litt sie auch unter Schlafproblemen. Zudem warf sie sich mittlerweile eine Kopfschmerztablette nach der anderen ein, und das in einer Geschwindigkeit, mit der sie normalerweise Schokolinsen aß. Simon hatte das Gefühl, kaum irgendetwas zu tun, abgesehen davon, dass er ab und zu Kunden bediente, ihre Social-Media-Seiten auf dem neuesten Stand hielt und sich um das Onlinegeschäft kümmerte, das bereits von Anfang an sein Baby gewesen war.

»Ich will schon die ganze Zeit bei Ihnen im Laden vorbeikommen«, sagte Mateo, während er Simons Bier zapfte, »und ein paar Bücher für meine Familie kaufen, die ich zu Weihnachten rüberschicken kann.«

»Du kommst aus Kalifornien, oder?«, fragte Simon nach.

Mateo nickte, wobei seine Locken auf und ab wippten. »Genau. Ich bin in Santa Barbara aufgewachsen.«

»Und was hat dich nach England verschlagen?«, erkundigte sich Simon, während er sein Getränk bezahlte.

»Die Schauspielschule.« Mateo lächelte schief und wischte mit einem Geschirrtuch über den Tresen. »Raten Sie mal, ob sich das ausgezahlt hat.«

»Hey, Bücherwurm«, rief ihnen in diesem Moment ein korpulenter Mann in einem fleckigen grünen Pullover zu. Er hatte fettiges graues Haar, und seine Wangen und seine ziemlich knollige Nase waren mit einem Netz aus geplatzten roten Äderchen überzogen. »Hast du Lust auf ’ne Partie Darts?«

Simon blickte zu ihm hinüber und stellte fest, dass ein Foto des lokalen Parlamentsabgeordneten David Langdon an die Dartscheibe gepinnt war. Der attraktive Politiker hatte dunkles, nach hinten gegeltes Haar und grinste schmierig. Überhaupt wirkte er recht selbstgefällig und überheblich.

»Nee, tut mir leid, Howie«, antwortete Simon. »Ich habe jetzt eine Sitzung.«

»Oooh!«, zog Howie ihn auf. »Wir sind ja ach so wichtig.« Mit diesen Worten feuerte er einen Dartpfeil ab und traf David Langdon direkt auf die Nase. »Volltreffer!«, rief er glucksend, bevor er seinen Erfolg mit einem großen Schluck aus seinem Bierglas feierte.

Es war schon beeindruckend, dass Howie bei der Menge, die er trank, noch so gut zielen konnte. Simon fiel es immer noch schwer, sich vorzustellen, dass Howie zusammen mit Nora in St. Stephen’s, der örtlichen Grundschule, gewesen war. Dank seines Alkoholkonsums sah er mindestens zehn Jahre älter aus als sie.

Simon trank den Schaum seines eigenen Biers ab und steuerte dann auf eine ruhige Nische im hinteren Bereich des Pubs zu, wo sich die anderen Mitglieder des Stowforder Gewerbevereins bereits versammelt hatten. Sebastian Fox, der wie üblich seine senfgelbe Cordhose anhatte, prahlte gerade lauthals über die Summe, die er für ein Cottage am Rand des Dorfs erzielt hatte.

»Die kamen natürlich aus London«, erzählte der Immobilienmakler und stieß ein iahendes Lachen aus. »Mehr Geld als Verstand. Die haben zehntausend mehr als veranschlagt bezahlt.«

Nigel Wilkinson, der Metzger, gab ein angewidertes Grunzen von sich. »Das ist nun wirklich das Letzte, was wir hier brauchen – noch mehr Bescheuerte, die sich ein Ferienhaus kaufen.«

Noras Freundin Alice, die das Teestübchen Copper Kettle betrieb, schüttelte traurig den Kopf. »Momentan geht das Gerücht um, dass sie St. Stephen’s schließen wollen, weil die Schülerzahlen so niedrig sind. Es ist wirklich eine Schande, dass ganz normale Familien es sich nicht mehr leisten können, hier zu leben.«

»Simon, alter Junge«, begrüßte Sebastian den Neuankömmling und klopfte Simon auf die Schulter, während der neben Alice Platz nahm. »Nora und du, habt ihr schon über das Angebot nachgedacht, das ich euch geschickt habe? Euer Laden würde ordentlich was einbringen – vor allem mit der Wohnung obendrüber.«

»Die Buchhandlung wird nicht verkauft«, erwiderte Simon mit Nachdruck. Auch wenn das Angebot verlockend hoch war, würde Nora niemals dem Verkauf des Ladens zustimmen. Das Geschäft war ihr Leben.

»Richtig so«, rief Alice und schlug energisch mit der Faust auf den Tisch. »Die Hauptstraße muss unabhängig bleiben.«

»Na, ihr wisst ja alle, wo ihr mich findet, falls ihr eure Meinung doch noch ändern solltet«, entgegnete Sebastian und wischte sich seine schlaffen blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Mit einem Blick auf die Uhr eröffnete Simon die Sitzung. Nachdem er kurz die Anwesenheit der Teilnehmer kontrolliert hatte, ging er das Protokoll ihrer letzten Versammlung durch.

»Nigel«, sagte er an den stämmigen Mann gewandt, der ihm gegenübersaß, »wie läuft unsere Weihnachtsspendenaktion?«

»Bisher haben wir fast tausend Pfund gesammelt«, verkündete der Metzger.

Der Stowforder Gewerbeverein unterstützte jedes Jahr ein anderes wohltätiges Projekt im Ort. In diesem Jahr hatten sie sich für die Tafel entschieden. Das Dorf mochte zwar einen florierenden Eindruck erwecken – immerhin gab es ein Geschäft für Designerküchen und einen Feinkostladen, in dem man Oliven und teure Weine bekam –, doch Simon wusste, dass viele ortsansässige Familien nur mühsam über die Runden kamen. Die Tafel würde dafür sorgen, dass niemand von ihnen an Weihnachten hungern musste.

Simon warf einen Blick auf den nächsten Tagesordnungspunkt. »Der Stadtrat überlegt immer noch, einen Antrag auf Einführung von Parkgebühren auf der Hauptstraße zu stellen«, informierte er die Gruppe.

»Na, dann hoffe ich mal, dass der Antrag nicht durchgeht«, erwiderte Maeve Philbin, die einen Blumenladen namens The Bloom Room führte und ausschließlich geblümte Kleider trug. »Es gibt jetzt schon genug Durchfahrtsverkehr im Ort.«

»Diese verdammten Touristen«, brummte Nigel.

»Ein Großteil unseres Umsatzes hängt aber genau von diesen Touristen ab«, sagte Lucy, die Inhaberin von Cotswold Couture, einer Modeboutique, die ein paar Häuser neben der Buchhandlung lag. Sie trug eine klobige Halskette und eine Tunika, die aus Simons Sicht so aussah, als hätte sie jemand aus verschiedenen Jutesäcken zusammengenäht; aber wahrscheinlich hatte sie ein Vermögen gekostet. »Und die müssen ihre Riesenautos mit Allradantrieb ja irgendwo parken.«

»Die sollen den Zug nehmen«, murmelte Alice.

Im letzten Sommer hatte ein Tourist auf einer der Landstraßen eine junge Frau aus dem Dorf überfahren, die für Alice im Copper Kettle gearbeitet hatte. Der Fahrer war wegen Raserei zu einer Haftstrafe verurteilt worden, doch das hatte die Spannungen zwischen den Ortsansässigen und -fremden auch nicht gemildert.

Simon konnte beide Seiten verstehen. So nervig es auch war, wenn die Touristen die engen Straßen des Dorfs verstopften und die besten Parkplätze in Beschlag nahmen: Stowford hatte einfach eine symbiotische Beziehung zu seinen Besuchern. In den Sommermonaten hielten die Touristen den Buchladen über Wasser: Sie kamen herein, um sich Urlaubslektüre, Theaterstücke von Shakespeare oder Reiseführer über die Umgebung zu kaufen. Und ganz gleich, wie wütend Alice über den Tod ihrer jungen Angestellten sein mochte: Auch ihre Kunden kamen hauptsächlich von außerhalb, das wusste Simon.

»Entschuldigt meine Verspätung«, sagte Sue, die gerade mit zwei Körben voller Pommes herübergeeilt kam und sich auf einen Stuhl fallen ließ, bevor sie das Essen auf dem Tisch abstellte.

»Oooh, wie schön«, rief Alice. Der Kristallanhänger, der an ihrem Hals hing, schwang durch die Luft, während sie über den Tisch langte und sich eine Pommes nahm.

Die anderen Geschäftsinhaber schoben ihre Unstimmigkeiten vorübergehend beiseite und bedienten sich ebenfalls an den Pommes.

Auch Simon biss ein Stück ab. Die Pommes hatte außen genau die richtige knusprige Konsistenz und war innen locker-leicht gebacken. Absolut perfekt. Er wollte sich noch eine nehmen, zog die Hand jedoch zurück. Denk an dein Herz, hörte er Noras Stimme in seinem Kopf.

»Haben sich David Langdons Leute schon wegen unserer Petition gegen das Einkaufszentrum zurückgemeldet?«, erkundigte sich Maeve.

Die meisten Geschäftsleute protestierten entschieden gegen den geplanten Bau am Rand von Stowford. Für ihre Petition hatten sie Hunderte von Unterschriften zusammenbekommen.

»Ich darf gar nicht über die Folgen für die Umwelt nachdenken«, sagte Alice und spielte gedankenverloren mit ihrem Anhänger. Der vorgesehene Bauplatz für das Zentrum lag auf großen Wiesen, die unzähligen Vögeln und Wildblumen als Lebensraum dienten.

»Ja, aber der Bau würde auch eine Menge Jobs schaffen«, merkte Seb Fox an, während er sich die letzte Pommes schnappte, ohne sie jemand anderem anzubieten. »Was der Wirtschaft im Ort sehr guttun würde.«

Simon musste an den Mann denken, der sich vorhin im Pub nach Arbeit erkundigt hatte. In den Cotswolds herrschte eine ziemlich hohe Arbeitslosenquote, da die Möglichkeiten, außerhalb der Bereiche Landwirtschaft und Tourismus einen Job zu finden, eher gering waren.

»Aber ich könnte mein Geschäft dann zumachen«, warf Lucy ein.

»David Langdon hat sich noch nicht gemeldet«, erzählte Simon und blickte hinüber zur Dartscheibe, wo das selbstgefällige Gesicht des Abgeordneten mittlerweile reichlich durchlöchert war.

»Welch Überraschung«, kommentierte Alice in sarkastischem Tonfall.

Alle nickten zustimmend.

Der einzige Punkt, auf den sich alle einigen konnten, war, dass David Langdon in seinem Job nicht zu gebrauchen war. Er war offensichtlich mehr daran interessiert, seine politische Karriere voranzubringen, als sich um die Belange seiner Wähler zu kümmern.

»Apropos«, sagte Simon, »ich habe mit dem Stadtrat über das Graffiti geredet. Sie haben mir versprochen, dass es nächste Woche weggeschrubbt wird.«

Irgendjemand hatte die Worte David Langdon ist ein Vollidjot auf das Bushäuschen gesprüht. Simon war zwar durchaus der gleichen Meinung, doch das Graffiti sah furchtbar aus und der Rechtschreibfehler trieb Nora in den Wahnsinn.

»Na, das will ich doch wohl hoffen«, erwiderte Nigel grimmig. »Wenn man bedenkt, wie viel Gewerbesteuer wir an die abdrücken.«

Die ständig steigenden Abgaben, die der Stadtrat verhängte, waren ein weiteres Thema, über das sich die örtlichen Geschäftsleute endlos aufregen konnten. Durch die Erhöhungen der Steuer und Mieten wurde es für die unabhängigen Läden in Stowford immer schwerer zu überleben. Im letzten Jahr hatte der Verein drei Mitglieder verloren, die ihre Geschäfte entweder verkauft oder geschlossen hatten.

»Okay«, sagte Simon mit einem Blick auf die Uhr. Er wollte die Sitzung endlich zum Abschluss bringen, damit er es noch auf den Markt schaffte, bevor der schloss. »Dann werde ich einen weiteren Brief an den Rat schreiben, über unsere Bedenken wegen der Gewerbesteuer, und ich kontaktiere auch noch mal David Langdons Wahlkreisbüro und mache denen Druck, damit sie endlich auf unsere Petition antworten. Gibt es noch irgendwas zu besprechen?«

Als die Sitzung beendet war, sprach Alice ihn an. »Wie geht’s Nora?«, fragte sie, während sie sich ihren Mantel anzog. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«

»Sie vermisst Charlotte«, entgegnete Simon. »Und sie schläft momentan nicht so gut.«

Wieder meldete sich sein schlechtes Gewissen, weil er wusste, dass er – zumindest teilweise – der Grund für ihre Sorgen war.

»Komm mit rüber zum Copper Kettle«, sagte Alice. »Ich gebe dir eine Packung Kamillentee für sie mit. Der wirkt beruhigend – vielleicht kann sie dann besser schlafen.«

Nachdem sie den Pub verlassen hatten, bahnten sich Simon und Alice einen Weg durch die Menge zwischen den Marktbuden und steuerten auf Alice’ Geschäft am anderen Ende der Hauptstraße zu.

Vor dem Teestübchen hockte ein pickliger Junge im Teenageralter auf seinem Fahrrad. Als er sie näher kommen sah, wandte er den Blick ab und schaute verstohlen in die andere Richtung, was so wirkte, als führte er irgendetwas im Schilde. Ob er vielleicht das Graffiti ans Bushäuschen gesprüht hat?, überlegte Simon.

»Willst du mit reinkommen, Harry?«, fragte Alice freundlich.

Doch der Junge schüttelte den Kopf und fuhr davon.

»Der arme Kerl«, sagte Alice, während sie ihm hinterhersah. »Das war seine Schwester, die letzten Sommer überfahren wurde.«

»Ich warte draußen«, verkündete Simon. Im Copper Kettle waren die Decken noch niedriger als in der Buchhandlung, und auf den Balken lagerte Alice’ Sammlung von Porzellanteekannen. Für Simon mit seinen ein Meter achtundachtzig war das wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld.

Alice dagegen schlüpfte problemlos in ihren Laden und kam kurze Zeit später mit einem Päckchen Teebeutel wieder heraus, das sie Simon in die Hand drückte. »Grüß Nora von mir und sag ihr, dass ich demnächst auf einen Scone vorbeikomme.«

Nachdem Simon sich bei Alice bedankt hatte, ging er zur Apotheke, wo eine kleine Frau mit Brille in einem weißen Kittel gerade damit beschäftigt war, eine Bestellung einzutüten. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt, und auf ihrer Stirn prangte ein roter Bindi.

»Hi, Lakshmi«, grüßte Simon die Frau. »Wir haben Sie bei der Sitzung vermisst.«

»Tut mir leid, dass ich nicht da war«, entgegnete sie. »Dinesh hat die Grippe, deshalb bin ich heute ganz allein im Laden.«

Das Ehepaar Patel war noch relativ neu im Ort und hatte seine Apotheke erst vor ungefähr zehn Jahren eröffnet. Die beiden hatten zwei erwachsene Töchter – die ältere war Dr. Dhar, die Hausärztin im Dorf, während die jüngere irgendeinen hochtrabenden Job in London hatte und offensichtlich eine Art Überflieger war.

»Wie geht’s den Mädchen?«, erkundigte sich Simon bei der Apothekerin, während er ihr sein Rezept gab.

»Oh, Sam ist wieder hier.« Mrs Patel stieß einen tiefen Seufzer aus und machte sich daran, Simons Tabletten zusammenzustellen. »Sie hat sich vor ein paar Monaten von ihrem Freund getrennt.«

»Ach, das tut mir leid«, erwiderte Simon und legte eine Packung Kopfschmerztabletten auf den Tresen.

»Sie arbeitet zu viel«, fuhr die Apothekerin fort. »Ich sage ihr immer, dass sie irgendwann als alte Jungfer endet, wenn sie nicht aufpasst.«

Simon lachte leise. Er hatte die jüngste Tochter der Patels zwar schon einige Jahre nicht mehr gesehen, aber sie musste immer noch in den Zwanzigern sein. »Wahrscheinlich hat sie nur noch nicht den Richtigen gefunden.«

»Ich kann einfach nicht aufhören, mir Sorgen um sie zu machen«, sagte Mrs Patel.

Simon lächelte. »So sind wir Eltern.« Er mochte Nora vielleicht ständig sagen, dass sie sich keine Sorgen um Charlotte machen sollte, aber auch ihn beschlich jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn seine Tochter ihren wöchentlichen Videoanruf verpasste.

Mrs Patel reichte ihm eine weiße Papiertüte mit den Tabletten über den Tresen. »Nehmen Sie immer eine morgens und eine abends.«

Etwas missmutig stopfte Simon die Medikamente zum Kamillentee in seinen Stoffbeutel. Er hasste es, die Tabletten nehmen zu müssen – sie erinnerten ihn zweimal am Tag an seine Sterblichkeit. »Richten Sie Dinesh gute Besserung von mir aus«, sagte er.

Dann trat er wieder hinaus in den immer stärker werdenden Regen und ging zum Markt zurück, um etwas fürs Abendessen einzukaufen.

Kapitel 3

Nora

Nora blickte von ihrer Strickarbeit auf, als die Regentropfen gegen das Fenster zu prasseln begannen. »Hau ab, Regen!«, murmelte sie leise.

Die Weihnachtseinkäufer auf dem Markt suchten eilig Schutz, duckten sich unter Vordächer oder drängten sich in Scharen in den Pub. Ein älterer Herr mit Gehstock hastete direkt auf den Buchladen zu, und Nora flitzte hinüber zur Tür, um sie ihm aufzuhalten.

»Das kam genau richtig«, sagte er erfreut. Das Wasser rann nur so von seiner Wachsjacke, während er sich die Regentropfen vom Kopf wischte.

»Kommen Sie rein und trocknen Sie sich erst mal ab.« Nora streckte ihm ihren Arm entgegen und führte ihn zum Feuer hinüber.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Dankbar ließ sich der Mann aufs Sofa sinken, setzte seine beschlagene Brille ab und rieb die Gläser mit seinem von Motten durchlöcherten Pullover ab, bevor er die Brille in die Innentasche seiner Jacke steckte.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes? Oder wollten Sie nur vor dem Regen flüchten?«

»Ich suche nach einem Buch für meinen Enkel, Noah. Er ist zehn.«

»Was mag er denn gern?« Nora, die sich auf die Armlehne des Sofas gehockt hatte, dachte an ihre Tochter in dem Alter zurück – mit ihren langen, dünnen Beinen hatte sie wie ein neugeborenes Fohlen ausgesehen. Damals hatte Charlotte Lippenpflegestifte gesammelt, Tiere geliebt und war geradezu besessen von Harry Potter gewesen.

»Er ist großer Fußballfan«, erzählte der ältere Herr, und seine wässrigen Augen leuchteten vor Stolz. »Sein Lieblingsverein ist Manchester United, aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten.«

Nora lachte. »Also, über Man U haben wir Tausende von Büchern, wobei es meinem Mann jedes Mal Schmerzen bereitet, wenn er sie bestellen muss.« Obwohl er schon seit dreißig Jahren nicht mehr in London lebte, war Simon immer noch ein eingefleischter Arsenal-Fan.

Der ältere Herr schüttelte den Kopf. »Nein, ich suche etwas, das ihm bei seinen Schulaufgaben hilft. In seiner Klasse nehmen sie gerade den Ersten Weltkrieg durch, und ich weiß noch, dass ich vor Jahren einmal ein Buch über den Weihnachtsfrieden gelesen habe. Das Fußballspiel zwischen den Deutschen und unseren Jungs. Dieses Buch würde ich ihm gern kaufen, aber es scheint vergriffen zu sein. Ich war bereits in drei anderen Buchläden, und keiner hatte es da.«

Fassungslos starrte Nora ihn an und konnte kaum glauben, was er da gerade gesagt hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie genau wusste, von welchem Buch er sprach.

Konnte er wirklich diesen Titel meinen? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit?

»I… ich glaube, ich kann Ihnen helfen … vielleicht«, stammelte sie.

Dann sprang sie mit einem Satz vom Sofa auf und taumelte geradezu in die Sachbuchabteilung hinüber. Mit klopfendem Herzen ließ sie den Blick über die Sportbücher in den Regalen schweifen, auf der Suche nach einem Hardcover mit grünem Einband.

Wo ist es denn?, fragte sie sich im Stillen und war ganz aufgeregt. Simon hätte es nie verkauft, ohne ihr davon zu erzählen. Aufmerksam tastete sie mit den Augen das Regal ab, doch den Buchrücken, den sie suchte, fand sie nicht.

Oh Mann!, dachte sie dann und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Sie war in der falschen Abteilung – es würde sicher unter Geschichte eingeordnet sein, nicht unter Fußball. Eilig hastete sie zu den Geschichtsbüchern hinüber, übersprang das Mittelalter … die Stuarts … das Viktorianische Zeitalter …, bis sie schließlich beim Ersten Weltkrieg angelangt war.

Bitte sei da … Bitte sei da …

Aber auch hier wurde sie nicht fündig.

Ihr Magen zog sich zusammen, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam: Was, wenn es doch jemand gekauft hat? Nein, das konnte nicht sein. Simon hätte es ihr definitiv gesagt. Es musste hier irgendwo sein. Sie musste einfach nur weitersuchen.

Noras Beine setzten sich auf einmal wie automatisch in Bewegung, und sie ging langsam das Regal entlang, vorbei an den Naturkundebüchern bis in die Gartenabteilung. Sie konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas – vielleicht ihr Instinkt oder eine unsichtbare Macht? – führte sie.

Als sie schließlich das Ende der Reihe erreichte, begannen ihre Finger zu kribbeln. Sie ging in die Hocke, und plötzlich fiel ihr ein grüner Buchrücken mit einem leichten Goldschimmer am unteren Rand ins Auge, der zwischen zwei Ratgebern über Staudenrabatten steckte. Ha! Mit zittrigen Händen zog Nora Die wahre Geschichte des Weihnachtsfriedens aus dem Regal und wischte eine dünne Staubschicht vom Cover.

Was zum Geier machte das Buch hier? Wahrscheinlich hatte ein Kunde es sich angeschaut und es dann falsch zurückgestellt.

So vorsichtig, als würde es sich um ein kostbares Artefakt handeln – na ja, irgendwie war es das ja auch –, strich Nora mit den Fingern über die geprägten goldenen Buchstaben auf dem Einband. Würde das Buch nach all den Jahren endlich ein Zuhause finden?

Sie konnte sich noch an den Tag erinnern, als Simon und sie es bestellt hatten – sie waren frisch verheiratet gewesen und gerade aus ihren Flitterwochen zurückgekehrt. Eigentlich waren sie mit großen Plänen in die schottischen Highlands gefahren, hatten Burgruinen besichtigen und inspirierende Wanderungen durch die Moore unternehmen wollen. Doch das Wetter war so schlecht gewesen, dass sie die meiste Zeit ihrer zweiwöchigen Hochzeitsreise in einem heruntergekommenen Cottage vor dem Kamin verbracht hatten, wo sie miteinander schliefen, billigen Malt Whisky tranken und einen Stapel Bücher durchlasen, die allesamt in Schottland spielten. Es waren die perfekten Flitterwochen gewesen – da waren sie sich einig.

Obwohl Simons Eltern zu den Besserverdienenden gehörten, hatten sie nicht einen Penny zur Hochzeitsfeier beigesteuert – die dann ganz bescheiden im George stattgefunden hatte. Noras Schwiegereltern waren außer sich darüber gewesen, dass ihr Sohn sich entschieden hatte, lieber eine Buchhandlung als die Werbeagentur Walden Creative zu leiten, und sie hatten ihm vorgeworfen, dass er seine Talente und seinen Einserabschluss in Oxford verschwenden würde. Ja, irgendwann hatten sie eingelenkt, nachdem Charlotte geboren worden war. Charles und Margaret Walden vergötterten ihre Enkeltochter. Dennoch hatten sie es Nora nie verziehen, dass die ihren Sohn in ihre sündhafte Bücherhöhle gelockt hatte – das wusste Nora.

Ungeachtet dessen hatten Simon und sie ihre erste Bestellung als Ehepaar – und gleichberechtigte Partner im Buchladen – mit einer Flasche Champagner gefeiert, die noch von der Hochzeit übrig geblieben war, und auf ihre gemeinsame Zukunft angestoßen. In seinem Eifer, die Sachbuchabteilung auszuweiten, hatte Simon ganz überschwänglich ein breites Sortiment an Titeln bestellt, darunter auch Die wahre Geschichte des Weihnachtsfriedens.

Aber obwohl sie seitdem Tausende von Büchern verkauft hatten, war das Exemplar über den Waffenstillstand im Regal geblieben, einsam und ungeliebt. Nach einiger Zeit hatte es sich zu einem Running Gag entwickelt, und Nora zog Simon immer damit auf, dass es Zeit wurde, Platz für ein neueres Buch zu machen. Doch Simon hatte stets darauf bestanden, dass auch dieses Werk eines Tages ein Zuhause finden würde. Im Laufe der Jahre war es zu einem Symbol ihres gemeinsamen Engagements für die Buchhandlung – und ihre Ehe – geworden, gleichbedeutend mit ihren Ringen. »Solange unser Geschäft existiert, hat es hier ein Zuhause«, hatte Nora Simon versprochen und ihm die Hand darauf gegeben.

Und jetzt, über zwei Jahrzehnte später, sah es so aus, als hätte sich endlich jemand gefunden, der ihm eine neue Heimat schenken wollte. Nora starrte auf das Buch in ihren Händen. Die Vorstellung, sich davon trennen zu müssen, löste einen seltsamen Widerwillen in ihr aus; irgendwie hatte sie immer gedacht, dass es bis in alle Ewigkeit bei ihnen bleiben würde.

Doch Bücher brauchen Leser, rief sie sich selbst in Erinnerung.

Das Buch fest an ihre Brust gepresst, eilte Nora zum Sofa zurück. Feierlich legte sie es dem älteren Herrn in die Hände. »War es dieses Buch, das Sie gesucht haben?«, fragte sie mit angehaltenem Atem.

Als er die Seiten mit den Sepia-Fotografien durchblätterte, auf denen deutsche und englische Soldaten abgebildet waren, die auf den matschigen Feldern im Niemandsland um den Ball kämpften, verzog sich das faltige Gesicht des Mannes zu einem begeisterten Lächeln. »Oh ja, das ist der alte Schinken! Genau das, wonach ich gesucht habe. Anscheinend ist heute mein Glückstag!«

Begeistert klatschte Nora in die Hände und riss damit Merry aus ihrem Schläfchen. Die Hündin blickte kurz auf, schlug ein paarmal mit dem Schwanz und schlief sofort wieder ein.

»Wissen Sie was?«, sagte Nora und schüttelte perplex den Kopf. »Das ist das älteste Buch im ganzen Laden. Es steht hier schon seit fünfundzwanzig Jahren im Regal, und ehrlich gesagt hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass es je irgendjemand kaufen würde.«

»Tja, die Hoffnung sollte man niemals aufgeben, meine Liebe«, entgegnete der Mann, und in seine Augen trat ein verschmitztes Funkeln, während er sie angrinste.

Nora erwiderte sein Lächeln. Wenn das Buch über den Weihnachtsfrieden ein Zuhause gefunden hatte, dachte sie, gab es vielleicht auch noch Hoffnung für den Buchladen …

»Ich verspreche Ihnen, dass es in gute Hände kommt«, sagte der ältere Herr.

Das wusste Nora bereits. An der behutsamen Art, mit der er das Buch anfasste, konnte sie erkennen, dass er Bücher genauso sehr liebte wie sie.

Suchend klopfte der Mann jetzt seine Brust ab und fand schließlich seine Brille in der Innentasche seiner Jacke. Nachdem er sie sich aufgesetzt hatte, blätterte er erneut durch die Seiten des Buchs und betrachtete die Fotos durch seine halbmondförmigen Gläser. »Schauen Sie mal, wie jung die noch waren«, sagte er seufzend. »Diese armen Kerle müssen sich so allein gefühlt haben, so weit weg von zu Hause zur Weihnachtszeit.«

Nora setzte sich neben ihn aufs Sofa, lehnte sich hinüber, um die Bilder besser sehen zu können, und schob ihr langes Haar hinters Ohr, damit es nicht auf die Seite fiel. Ihr brach es das Herz, als sie die Fotos anschaute und sich vorstellte, wie die jungen Soldaten in kalten Zelten gehockt und ihre kargen Rationen gegessen hatten, anstatt zusammen mit ihren Familien ein üppiges Truthahnmahl zu sich zu nehmen. Einer der britischen Soldaten, in dessen Mundwinkel eine Zigarette steckte, bot mit einem spitzbübischen Grinsen seine Schachtel einem Deutschen an. Er wirkte kaum älter als achtzehn, war also im gleichen Alter wie Charlotte gewesen.

»Ja«, pflichtete Nora ihrem Kunden bei, »es ist hart, wenn man an Weihnachten nicht mit seinen Lieben zusammen sein kann.« Selbst wenn die eine tolle Zeit haben, fügte sie im Stillen hinzu.

Charlotte hatte hart gearbeitet, um ihre Auszeit zu finanzieren – hatte während ihrer letzten Schuljahre jedes Wochenende und in den Ferien im Laden ausgeholfen. Nun war sie auf ihrer langersehnten Traumreise durch Asien. Sie hatte auf einer Vollmondparty am Strand von Koh Phangan in Thailand getanzt, Schildkröten in Sri Lanka beim Eierlegen zugeschaut und in einer Schule in Kerala Englisch unterrichtet. Und obwohl Nora sich darüber freute, dass ihre Tochter so ein einmaliges Abenteuer erlebte, konnte sie nichts dagegen tun, dass sie sie furchtbar vermisste.

»Allein zu sein ist zu jeder Zeit hart – nicht nur zu Weihnachten«, sagte der ältere Herr. Dann blätterte er die nächste Seite um und lachte leise vor sich hin, als ein Foto von zwei Offizieren – einem deutschen und einem britischen – auftauchte, die sich vor einem provisorischen Fußballtor die Hand gaben. »Freundschaft – Krieg 2:0.«

Nora musste an Charlottes Instagram-Posts denken, an die Fotos von neuen Freunden, die sie auf ihrer Reise kennengelernt hatte; andere Reisende genau wie Einheimische. Sie war ganz allein zu ihrem Abenteuer aufgebrochen – was Noras Blutdruck enorm in die Höhe getrieben hatte –, doch Charlotte hatte Simons Extrovertiertheit geerbt, und so fiel es ihr leicht, überall Freunde zu finden. Freundschaften waren ein Grundbedürfnis des Menschen, genau wie Essen und ein Dach über dem Kopf – sie überwanden Grenzen und sprachliche Barrieren.

Der ältere Mann blätterte wieder um und betrachtete ein Foto von mehreren Soldaten, die sich im Schützengraben um einen dicht gewachsenen, kleinen Weihnachtsbaum versammelt hatten. »Mein Onkel hat im Ersten Weltkrieg gekämpft. Maschinengewehrschütze im Gloucester Bataillon. Er ist in der Schlacht an der Somme gefallen. Meine Großmutter hat all die Briefe aufbewahrt, die er aus dem Schützengraben nach Hause geschickt hat, auch die Weihnachtskarte. Ich nehme an, das ist auch ein Grund, warum mich der Weihnachtsfrieden immer so fasziniert hat. Ich heiße Arnold, benannt nach ihm.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Arnold«, sagte Nora und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich bin Nora.«

Arnold ergriff ihre Hand und schüttelte sie überraschend fest.

Nora warf einen Blick in Richtung Tür und wünschte, Simon wäre da, um Arnold kennenzulernen und diesen historischen Moment mitzuerleben. Dann musste eben ein Selfie reichen.

»Wäre es in Ordnung, wenn ich ein Foto mache?«, fragte sie Arnold. »Um meinem Mann zu zeigen, wer dieses besondere Buch gekauft hat?« Nora setzte sich dicht neben den älteren Herrn und hielt ihr Handy eine Armlänge von sich gestreckt, damit sie beide im Bild waren. »Wäre es okay, wenn wir das online posten?«, fragte sie anschließend, während sie durch die Fotos auf ihrem Display scrollte und versuchte, eins zu finden, auf dem sie kein Doppelkinn hatte. »Ich kann Sie taggen, wenn Sie möchten.«

Arnold stieß ein keuchendes Lachen aus. »Mit diesem ganzen Internetquatsch habe ich nichts am Hut. Mein Sohn hat mir letztes Weihnachten so ein Tablet geschenkt – das habe ich immer noch nicht ausgepackt.«

»Ich hab’s auch nicht so mit Technik«, gab Nora zu, »aber es ist nicht alles schlecht. Zum Beispiel kann man dadurch gut mit anderen Menschen in Kontakt bleiben, vor allem, wenn sie weit weg sind.« Früher hatte sie Charlotte immer damit aufgezogen, dass die geradezu zwanghaft alles mit Selfies dokumentieren musste – ob es ums Mittagessen ging oder um neue Klamotten. Jetzt allerdings war sie dankbar, dass ihre Tochter so viel in den sozialen Medien postete. Es waren Lebenszeichen und Beweise dafür, dass es ihr am anderen Ende der Welt gut ging.

»Sie klingen wie mein Sohn«, entgegnete Arnold. »Der will, dass ich mich bei einem dieser Internet für Senioren-Kurse im Gemeindezentrum anmelde.«

»Na ja«, merkte Nora sanft an, »im Internet hätten Sie das Buch über den Weihnachtsfrieden wesentlich schneller gefunden. Unser gesamter Bestand ist online.«

Simon hatte eine Homepage für die Buchhandlung erstellt, um irgendwie mit den großen Internethändlern mithalten zu können. Die Webseite sah toll aus, und Simon postete regelmäßig Buchrezensionen, Empfehlungen und Interviews mit lokalen Autoren. Trotzdem war der Onlinehandel nicht so erfolgreich, wie sie gehofft hatten.

»Ach, dann geht doch der ganze Spaß verloren«, sagte Arnold mit einem frechen Funkeln in den Augen. »Wenn ich nur ein paar Tasten hätte drücken müssen, wäre es nicht halb so aufregend gewesen, es zu finden.« Lächelnd sah er Nora an. »Und ich hätte keine neue Freundin gefunden.«

Nora lächelte zurück. Dem konnte sie nicht widersprechen. Eine der Freuden, wenn man durch eine Buchhandlung stöberte, war, dass man nie wusste, welche Schätze man finden würde. Oder welchen Leuten man begegnete.

In diesem Moment läutete das Türglöckchen, und Nora blickte hinüber, in der Hoffnung, dass es Simon war, doch es war nur jemand, der Schutz vor dem Regen suchte. Kunden waren ein bisschen wie Busse – manchmal wartete man ewig, bis einer kam, und dann kamen gleich zwei auf einmal.

Arnold griff nach seinem Gehstock. »Entschuldigen Sie vielmals, ich halte Sie die ganze Zeit von der Arbeit ab.«

»Ach Quatsch«, erwiderte Nora abwinkend und schob Arnold den Teller mit den Ingwerplätzchen hin. »Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten – draußen gießt es immer noch.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden«, sagte Arnold und nahm sich direkt einen Keks.

»Ist Ihr Enkel auch eine Leseratte?«

»Oh ja, Noah liebt Bücher. Seine Lehrerin hat ihn in die Gruppe der besten Leser der Klasse eingestuft.«

Nora konnte den leisen Stolz in Arnolds Stimme hören, immer wenn er über seinen Enkel sprach. »Was liest er denn gern?«

»Zurzeit ist er ganz begeistert von irgendwelchen Büchern mit Strichmännchen. Die Zeichnungen sind sehr einfach – die hätte ich auch noch machen können –, aber an den Büchern muss irgendetwas Besonderes sein. Ich höre ihn nämlich immer lachen, wenn er sie liest.«

Gregs Tagebuch, dachte Nora. Das war eine der beliebtesten Reihen bei Kindern. »Geht Noah auf die Grundschule St. Stephen’s hier im Ort?«

»Nein, mein Sohn und seine Familie leben bei Swindon, deshalb geht Noah dort zur Schule. Aber er war schon eine ganze Weile nicht mehr da …«

Arnolds Stimme brach, und als Nora aufblickte, sah sie, dass seine Augen sich mit Tränen gefüllt hatten.

»Er ist im Krankenhaus – im Royal Infirmary in Bristol. Leukämie.«

Mitfühlend legte Nora ihm die Hand auf den Arm. »Das tut mir sehr leid, Arnold.«

»Noah ist eine Kämpfernatur.« Arnolds Stimme zitterte leicht, doch sein bärtiges Kinn ruckte entschlossen nach vorn. »Er wird es schaffen – das weiß ich ganz sicher. Er bemüht sich die ganze Zeit, mit seinen Klassenkameraden Schritt zu halten, damit er nichts nachholen muss, wenn er wieder zur Schule geht. Gerade hat er es sich in den Kopf gesetzt, auch eine Projektarbeit über den Ersten Weltkrieg zu machen, so wie die anderen Fünftklässler. Deshalb wollte ich ihm auch dieses Buch hier besorgen.«

»Klingt, als sei er sehr tapfer.«

»Oh ja, das ist er. Der kleine Kerl hat sich noch nicht ein einziges Mal beklagt.« Arnold seufzte. »Leider kann ich nicht mehr Auto fahren – meine Augen sind nicht mehr so gut –, daher komme ich nicht so oft nach Bristol, um ihn zu besuchen.«

»Dann müssen Sie aber unbedingt lernen, wie Ihr Tablet funktioniert. Damit können Sie nämlich Videoanrufe mit Noah machen. Meine Tochter ist zurzeit auf Weltreise, und ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich ihr Gesicht nicht wenigstens ab und zu auf dem Bildschirm sehen würde.«

»Haben Sie noch mehr Kinder?«, erkundigte sich Arnold.

Nora schüttelte den Kopf. »Nein. Charlotte ist unser einziges, unser Ein und Alles.«

Simon und sie hätten liebend gern noch mehr Kinder gehabt, doch bei Charlottes Geburt hatte es Komplikationen gegeben, und die Ärzte hatten Nora davon abgeraten, weitere Kinder zu bekommen. Charlotte war mehrere Wochen zu früh geboren worden, und Nora trieb es jetzt noch die Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie ihre winzige Tochter auf der Intensivstation für Neugeborene im Brutkasten gelegen hatte, mit einem Beatmungsschlauch in der Nase und spindeldürren Gliedmaßen, die fast durchsichtig gewesen waren. Nora hatte wahnsinnige Angst ausgestanden, dass ihre wundervolle Tochter – die sie schon vom ersten Augenblick an mehr geliebt hatte als irgendjemanden sonst auf der Welt – es nicht schaffen würde.

Doch genau wie Arnolds Enkel war auch Charlotte eine Kämpfernatur gewesen. Als sie ein Jahr alt wurde, war sie schon beinahe so weit wie andere Kinder in dem Alter und so voller Leben, dass man nie darauf gekommen wäre, sie hätte einen so ungünstigen Start ins Leben gehabt. Trotzdem hatte Nora nie vergessen, dass sie ihre Tochter um ein Haar verloren hätte, bevor sie überhaupt die Chance bekommen hatte, sie richtig kennenzulernen.

Vielleicht machte sie sich deshalb immer noch solche Sorgen um sie.