Das wiedergefundene Licht - Jacques Lusseyran - E-Book

Das wiedergefundene Licht E-Book

Jacques Lusseyran

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Beschreibung

Die berühmt gewordene Lebensgeschichte eines als Kind Erblindeten, der seine Behinderung mit Phantasie und Disziplin überwindet, eines Mannes, dessen Leben als Widerstandskämpfer, Literaturprofessor und Schriftsteller von einer sensiblen Zuversicht getragen war, die ihn befähigte, auf unvergleichliche Weise zu »sehen«.

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Seitenzahl: 422

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Jacques Lusseyran

Das wiedergefundene Licht

Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand

Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt

Klett-Cotta

Jacques Lusseyran,

am 19. September 1924 in Paris geboren, studierte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Literatur an der Sorbonne und wurde später in den USA Universitätsprofessor für französische Literatur. Er kam 1971 bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Jacques Lusseyran erblindet 1932 im Alter von acht Jahren nach einem Unfall. Dank seiner Stärke und der Unterstützung durch seine Eltern schafft es der heranwachsende Junge, seine Blindheit zu akzeptieren und anders sehen zu lernen. Anders, das heißt für ihn die Entdeckung all jener Dinge, die ein »Sehender« wohl kaum wahrnehmen würde. Licht nimmt für ihn körperliche Gestalt an, und die Gegenstände um ihn herum werden Licht, auch die Farben, Töne, Gerüche und Formen. Sein Selbstvertrauen und seine innere Kraft haben eine fast magische Ausstrahlung auf Menschen, die Rat und Hilfe brauchen.

Mit siebzehn Jahren gründet Jacques Lusseyran innerhalb der Résistance eine Organisation von Jugendlichen, die gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpft. 1943 wird er mit seinen Freunden verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Inmitten eigener und fremder Krankheit, Folter und Mord blieb der junge Lusseyran, der »blinde Franzose«, durch das, was er sein »inneres Licht« nennt, Widerstandskämpfer gegen Leid, Verzweiflung und Bosheit. Vielen konnte er, den sie als »den Mann, der nicht gestorben ist«, bewunderten, mit seinem unzerstörbaren Glauben an das Leben helfen.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die englische Ausgabe erschien

unter dem Titel »An there was Light«

by Little, Brown and Company, Boston · Toronto

© 1963 by Jacques Lusseyran

Für die deutsche Ausgabe

© 1966, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Klett-Cotta-Design

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93115-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11535-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Eins

DAS MÄRCHEN DER KINDHEIT

Zwei

OFFENBARUNG DES LICHTES

Drei

LICHT IM DUNKEL

Vier

HEILUNG VON DER BLINDHEIT

Fünf

SCHUPPEN, RAUM UND »KLEINE REPUBLIK«

Sechs

WIEDER IN PARIS

Sieben

MEIN FREUND JEAN

Acht

DER »VISUELLE« BLINDE

Neun

DER STERN DES UNHEILS

Zehn

MEIN LAND, MEIN KRIEG

Elf

ZWEI WELTEN

Zwölf

MEINE KRANKHEIT HEISST »BESETZUNG«

Dreizehn

BRUDERSCHAFT »RÉSISTANCE«

Vierzehn

LA DÉFENSE DE LA FRANCE

Fünfzehn

DER VERRAT

Sechzehn

DER WEG NACH BUCHENWALD

Siebzehn

LEBEN UND TOD

Achtzehn

DIE BEFREIUNG

EPILOG

Du batest mich: »Erzähle mir die Geschichte deines Lebens.« Doch ich hatte keine große Lust dazu. Du fügtest hinzu: »Vor allem möchte ich die Gründe erfahren, warum du das Leben liebst«. Da habe ich Lust zum Erzählen bekommen, denn das war wirklich ein Thema – um so mehr, als mich diese Liebe zum Leben nie verlassen hat: nicht im Leiden, nicht in den Schrecken des Krieges, nicht einmal in den Gefängnissen der Nazis; im Glück so wenig wie im Unglück (was nur scheinbar so viel schwerer ist).

Aber nicht ein Kind wird jetzt seine Geschichte erzählen. Das ist schade. Der erwachsene Mann wird sie erzählen, schlimmer noch: der Universitätsprofessor, der ich geworden bin. Ich werde mich sorgfältig vor der Gefahr hüten müssen, zu belehren und zu beweisen (zwei große Illusionen); ich werde mich ganz klein machen müssen. Ich werde zurückwandern müssen, werde das Amerika, in dem ich lebe, das mir Ruhe gibt und das mich schützt, in Gedanken verlassen müssen, um jenes Paris wiederzufinden, das mich so bedroht und so beglückt hat.

Eins

DAS MÄRCHEN DER KINDHEIT

In meiner Erinnerung beginnt meine Geschichte immer wie ein Märchen, nicht wie ein ungewöhnliches, doch immerhin wie ein Märchen. Es war einmal ein kleiner glücklicher Junge, der lebte zwischen den zwei Weltkriegen in Paris. Dieser kleine Junge war ich, und wenn ich heute, von der Mitte des Lebens, auf ihn zurückblicke, bin ich sehr verwundert; eine glückliche Kindheit ist so selten, so wenig nach Art unserer Tage, dass man sie kaum für wahr halten möchte. Doch warum sollte ich das klare Wasser meiner Kindheit zu trüben versuchen? Das wäre der Gipfel der Einfalt.

Geboren bin ich 1924, am Mittag des 19. September, im malerischen Kern von Paris: auf dem Montmartre, zwischen Place Blanche und Moulin Rouge. In einem bescheidenen Haus aus dem 19. Jahrhundert erblickte ich das Licht der Welt, in einem Zimmer, das auf den Hof hinuntersah.

Meine Eltern waren für mich vollkommen. Mein Vater, der eine Hochschule für Physik und Chemie absolviert hatte und von Beruf Chemie-Ingenieur war, war ebenso intelligent wie gütig. Meine Mutter, die Physik und Biologie studiert hatte, war ganz Aufopferung und Verständnis. Beide waren mir gegenüber großzügig und aufmerksam. Aber wozu spreche ich davon? Der kleine Junge von damals wurde dessen nicht gewahr. Er wusste die Qualitäten seiner Eltern nicht zu schätzen. Er dachte nicht einmal über sie nach. Er hatte es nicht nötig, über sie nachzudenken. Seine Eltern liebten ihn, und er liebte sie. Das war ein Geschenk des Himmels.

Meine Eltern – das war Schutz, Vertrauen, Wärme. Wenn ich an meine Kindheit denke, spüre ich noch heute das Gefühl der Wärme über mir, hinter mir und um mich, dieses wunderbare Gefühl, noch nicht auf eigene Rechnung zu leben, sondern sich ganz, mit Leib und Seele, auf andere zu stützen, welche einem die Last abnehmen.

Meine Eltern trugen mich auf Händen, und das ist wohl der Grund, warum ich in meiner ganzen Kindheit niemals den Boden berührte. Ich konnte weggehen, konnte zurückkommen; die Dinge hatten kein Gewicht und hafteten nicht an mir. Ich lief zwischen Gefahren und Schrecknissen hindurch, wie Licht durch einen Spiegel dringt. Das ist es, was ich als Glück meiner Kindheit bezeichne, diese magische Rüstung, die – ist sie einem erst einmal angelegt – Schutz gewährt für das ganze Leben.

Meine Familie gehörte zu der Schicht, die man damals in Frankreich die »petite bourgeoisie« nannte. Wir lebten in kleinen Wohnungen, die mir jedoch groß schienen. An eine kann ich mich noch sehr gut erinnern: Sie lag am linken Seineufer nahe bei dem großen Park des Champ de Mars, zwischen dem Eiffelturm mit seinen vier gespreizten Tatzen und der Militärschule, einem Gebäude, das für mich nur ein Name war und dessen Form ich mir nicht einmal mehr vorstellen kann.

Meine Eltern – das war der Himmel. Ich sagte mir dies nicht so deutlich, und auch sie sagten es mir nicht; aber es war offenkundig. Ich wusste (und zwar recht früh, dessen bin ich sicher), dass sich in ihnen ein anderes Wesen meiner annahm, mich ansprach. Dieses Andere nannte ich nicht Gott – über Gott haben meine Eltern mit mir erst später gesprochen. Ich gab ihm überhaupt keinen Namen. Es war da, und das war mehr.

Ja, hinter meinen Eltern stand jemand, und Papa und Mama waren nur beauftragt, mir dieses Geschenk aus erster Hand weiterzugeben. Es war der Anfang meines Glaubens und erklärt meiner Ansicht nach, warum ich niemals einen metaphysischen Zweifel gekannt habe. Dieses Bekenntnis mag etwas überraschend sein, doch halte ich es für wichtig, da sich aus ihm so viele Dinge erklären lassen.

Diesem Glauben entsprang auch meine Verwegenheit. Ich lief unaufhörlich; meine ganze Kindheit war ein einziges Laufen. Ich lief nicht etwa, um etwas zu erlangen (das ist eine Vorstellung der Erwachsenen, nicht die eines Kindes), ich lief, um all den sichtbaren – und noch unsichtbaren – Dingen entgegenzugehen. Wie in einem Staffellauf bewegte ich mich vorwärts von Vertrauen zu Vertrauen.

Klar wie ein Bild, das vor mir an der Wand hängt, sehe ich mich an meinem vierten Geburtstag. Ich lief den Gehweg entlang auf ein Dreieck aus Licht zu, das durch den Schnittpunkt dreier Straßen gebildet wurde – der Rue Edmond Valentin, der Rue Sédillot und der Rue Dupont-des-Loges, in der wir wohnten –, auf ein Dreieck aus Sonnenlicht, das sich auf den Square Rapp wie auf eine Meeresküste hin öffnete. Auf diesen Teich von Licht wurde ich vorwärtsgestoßen, von ihm aufgesogen, und während ich noch mit Armen und Beinen ruderte, sagte ich mir: »Ich bin vier Jahre alt, und ich bin Jacques.«

Man nenne das, wenn man will, die Geburt der Persönlichkeit. Doch empfand ich dabei zumindest keinerlei Panikstimmung. Nur der Strahl allumfassender Freude hatte mich getroffen, ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.

Gewiss hatte ich – wie alle Kinder – meine Nöte und Kümmernisse. Doch ich muss gestehen: An sie erinnere ich mich nicht mehr. Sie sind meinem Gedächtnis entschwunden, so wie man auch den physischen Schmerz vergisst: Sobald er den Körper verlässt, verlässt er auch den Geist.

Gewalttat, Lächerlichkeit, Verdächtigung, Ungewissheit, all dies habe ich später kennengelernt. Aber keinen dieser Begriffe kann ich in diesen ersten Jahren meines Lebens unterbringen. Und das ist es, was ich meinte, als ich vom klaren Wasser meiner Kindheit sprach.

Zwei

OFFENBARUNG DES LICHTES

Sieben Jahre lang sprang ich, rannte ich, lief ich durch die Alleen des Champ de Mars. Ich galoppierte die Trottoirs der engen Pariser Straßen entlang, vorbei an zusammengedrängten Häusern und duftenden Wohlgerüchen. Denn in Frankreich hat jedes Haus seinen charakteristischen Geruch. Die Erwachsenen bemerken ihn kaum, doch die Kinder nehmen ihn in seiner ganzen Fülle wahr, und sie erkennen die Häuser an ihrem Geruch. Da gibt es den Geruch des Milchladens, den Geruch der Konditorei, den Geruch der Zuckerbäckerei, den Geruch der Schusterwerkstatt und der Apotheke, oder den Geruch jenes Ladens, dessen Kaufmann in der französischen Sprache einen so schönen Namen trägt, »le marchand de couleurs«, der Farbenhändler. All diese Häuser erkannte ich wieder, wenn ich wie ein kleiner Hund meine Nase in die Luft streckte.

Ich war überzeugt, dass nichts mir feind war, dass die Äste, an die ich mich hängte, mich aushalten würden, dass die Pfade, und selbst die verschlungenen, mich an einen Platz führen würden, wo ich keine Angst zu haben brauchte, und dass alle Wege mich zurück zu meiner Familie bringen würden. Man könnte sagen, dass ich – außer der wichtigsten von allen: der Geschichte des Lebens – keine Geschichte hatte.

Doch da war das Licht. Das Licht übte auf mich einen geradezu faszinierenden Zauber aus. Ich sah es überall, und ich betrachtete es Stunden hindurch. Keiner der Räume unserer Dreizimmerwohnung ist mir deutlich in Erinnerung geblieben, geblieben ist der Balkon: Denn hier, auf dem Balkon, gab es das Licht. Geduldig stützte ich mich auf das Geländer – ich, der ich immer so ungestüm war – und sah zu, wie das Licht vor mir im Trichter der Straße nach rechts und nach links über die Häuserwände rieselte.

Das war kein Rieseln wie von Wasser: Es war leichter, war unendlich, seine Quelle war überall. Ich liebte zu sehen, dass das Licht von keiner bestimmten Stelle herkam, dass es vielmehr ein Element nach Art der Luft war. Wir fragen uns niemals, woher die Luft kommt. Sie ist da, und wir leben. So ist es auch mit der Sonne.

Für mich war die Sonne hoch oben am Mittagshimmel, dieser Fleck im Raum, uninteressant, ich suchte sie an anderen Orten: im Flimmern ihrer Strahlen, im Echo, das wir gewöhnlich nur den Tönen zugestehen, das aber dem Licht gleichermaßen eigen ist. Das Licht gebar neues Licht, rief sich von Fenster zu Fenster, von einem Stückchen Mauer zur Wolke hinauf, drang in mich ein, wurde Ich. Ich schlang Sonne in mich hinein.

Dieser Zauber ließ auch bei Anbruch der Nacht nicht nach. War ich abends vom Spaziergang zurück und das Essen beendet, war der Augenblick gekommen, ins Bett zu gehen, fand ich den Zauber im Dunkel wieder. Dunkel – auch das war für mich Licht, nur in neuer Form und in neuem Rhythmus, ein Licht, das langsamer dahinfloss. Mit einem Wort, nichts auf der Welt, selbst das nicht, was ich hinter geschlossenen Augenlidern in meinem Innern wahrnahm, konnte diesem unendlichen Zauber entgehen.

Auch wenn ich durch den Champ de Mars lief, suchte ich das Licht. Ich wollte mit einem Satz hineinspringen, dort, wo die Allee endet, wollte es fangen wie einen Schmetterling, der über einem Wasserbecken fliegt, mich mit ihm ins Gras oder in den Sand legen. Keine Erscheinung, nicht einmal die Töne, denen ich doch so aufmerksam lauschte, schienen mir so wertvoll wie das Licht.

Mit vier oder fünf Jahren entdeckte ich dann plötzlich, dass man das Licht in der Hand halten kann. Dazu brauchte man nur Buntstifte oder Farbklötze zu nehmen und mit ihnen zu spielen. Jetzt verbrachte ich ganze Stunden damit, Farben aller Art aufzumalen, ohne rechte Form sicherlich, aber ich konnte in sie eintauchen wie in eine Quelle. Meine Augen sind noch heute ganz erfüllt von ihnen.

Man sagte mir später, meine Augen seien schon in diesem Alter schwach gewesen. Kurzsichtigkeit, so viel ich weiß. Damit könnten sich vielleicht »Positivisten« meine Besessenheit erklären. Als kleines Kind wusste ich aber nicht, dass ich nicht besonders gut sehen konnte. Ich kümmerte mich wenig darum; ich war glücklich, mit dem Licht Freundschaft zu schließen, als sei es der Inbegriff der Welt.

Farben, Formen, selbst Gegenstände – auch die schwersten –, sie alle hatten die gleiche Schwingung. Und wenn ich heute den Dingen, die mich umgeben, mit liebevoller Aufmerksamkeit lausche, finde ich diese Schwingung wieder. Fragte man mich nach meiner Lieblingsfarbe, gab ich stets die gleiche Antwort: »Grün«. Erst später habe ich erfahren, dass Grün die Farbe der Hoffnung ist.

Ich bin überzeugt, dass Kinder immer mehr wissen, als sie sagen können; das ist der große Unterschied zwischen ihnen und uns Erwachsenen, die wir bestenfalls ein Hundertstel dessen wissen, was wir sagen. Zweifellos kommt das ganz einfach daher, dass Kinder alles mit ihrem ganzen Sein begreifen, während wir es nur mit unserem Kopf erfassen. Wenn ein Kind von Krankheit oder Leid bedroht wird, merkt es das sofort: Es hört auf zu spielen und sucht Zuflucht bei seiner Mutter. Und auch ich merkte, als ich sieben Jahre alt war, dass das Schicksal einen Schlag gegen mich bereit hielt.

Es geschah in den Osterferien 1932 in Juvardeil, einem kleinen Dorf in Anjou, wo meine Großeltern mütterlicherseits wohnten. Wir waren im Begriff, nach Paris zurückzukehren. Vor der Türe wartete bereits die Kutsche, um uns zum Bahnhof zu bringen. Damals benutzte man für die sieben Kilometer lange Strecke von Juvardeil zur Bahnstation Etriché-Châteauneuf noch einen Pferdewagen. Erst drei oder vier Jahre später bin ich dort zum ersten Mal einem Auto begegnet – dem kleinen Lastwagen des Kolonialwarenhändlers. Die Kutsche also wartete und bimmelte lustig mit ihren Schellen, ich aber war allein im Garten geblieben, lehnte an der Scheunenecke und weinte. Es waren nicht solche Tränen, von denen man mir später erzählte, es waren Tränen, die ich noch heute fühle, wenn ich an sie zurückdenke. Ich weinte, weil es das letzte Mal war, dass ich den Garten sehen konnte.

Ich hatte die schlimme Neuigkeit eben erst erfahren, ich konnte nicht sagen, wie; aber es gab keinen Zweifel daran. Die Sonne auf den Wegen, die beiden großen Buchsbaumsträucher, die Weinlaube, die Tomaten- und Gurkenreihen, die Bohnenstauden, all diese vertrauten Dinge in meinen Augen sah ich zum letzten Mal. Und ich wusste es. Es war viel mehr als nur ein kindlicher Schmerz, und als meine Mutter, die mich gesucht hatte, mich schließlich fand und mich nach meinem Kummer fragte, konnte ich nur sagen: »Ich werde nie mehr den Garten sehen«. Drei Wochen später sollte es Wahrheit werden.

Am dritten Mai ging ich morgens wie gewöhnlich in die Schule, die Grundschule jenes Teils von Paris, in dem meine Eltern wohnten, in der Rue Cler. Gegen zehn Uhr sprang ich wie alle Kameraden auf, um zur Klassentüre und in den Schulhof hinauszustürmen. Im Gedränge um die Türe holte mich ein Junge, der vom anderen Ende des Klassenzimmers kam und wohl älter oder auch schneller war als ich, ein und rempelte mich versehentlich von hinten an. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, und in meiner Überraschung verlor ich das Gleichgewicht. Ich fand keinen Halt mehr, glitt aus – und fiel gegen eine der scharfen Kanten des Lehrerpults.

Wegen der Kurzsichtigkeit, die man bei mir festgestellt hatte, trug ich zu jener Zeit eine Brille aus unzerbrechlichen Gläsern. Eben diese Vorsichtsmaßnahme wurde mir zum Verhängnis. Die Gläser zerbrachen tatsächlich nicht, aber der Stoß war so heftig, dass ein Brillenarm tief in das rechte Auge eindrang und es herausriss.

Natürlich verlor ich das Bewusstsein, doch nur für kurze Zeit. Denn schon auf dem Schulhof, wohin man mich gebracht hatte, kam ich wieder zu mir, und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam – daran erinnere ich mich deutlich –, war: »Meine Augen! Wo sind meine Augen?« Wohl hörte ich um mich herum erschrockene, aufgeregte Stimmen, die von meinen Augen sprachen. Doch auch ohne diese Stimmen, ja selbst ohne diesen entsetzlichen Schmerz hätte ich gewusst, wo ich getroffen war.

Man legte mir einen Verband an und brachte mich – ich fieberte am ganzen Körper – nach Hause. Mehr als vierundzwanzig Stunden lang war hier alles für mich dunkel. Ich erfuhr später, dass der ausgezeichnete Augenarzt, den meine Eltern sofort an mein Lager holten, erklärte, das rechte Auge sei verloren und müsse entfernt werden. Man solle den Eingriff so schnell wie möglich vornehmen. Was das linke Auge angehe, so sei ohne Zweifel auch dieses verloren, weil die Heftigkeit des Stoßes hier eine Sympathische Ophthalmie hervorgerufen habe. Auf alle Fälle sei die Retina des linken Auges an mehreren Stellen zerrissen.

Am nächsten Morgen operierte man mich mit Erfolg. Ich war endgültig blind geworden.

Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich schon als Kind, im Alter von noch nicht ganz acht Jahren, blind werden ließ. Das mag herausfordernd klingen, und so will ich mich näher erklären.

Ich danke dem Schicksal zunächst aus äußeren, materiellen Gründen. Ein kleiner Mann von acht Jahren hat noch keine Gewohnheiten, weder geistige noch körperliche. Sein Körper ist noch unbegrenzt biegsam, bereit, eben jene – und keine andere – Bewegung zu machen als die, welche ihm die Situation nahelegt, er ist bereit, das Leben anzunehmen, so wie es ist, zu ihm Ja zu sagen. Und aus diesem »Ja« können ganz große physische Wunder erwachsen.

Mit großem Bedauern denke ich hier an all die Menschen, die als Erwachsene – infolge von Unfällen oder durch den Krieg – mit Blindheit geschlagen wurden. Diese Menschen haben oft ein sehr hartes und in jedem Fall schwierigeres Los, als es das meine war.

Um dem Schicksal zu danken, habe ich jedoch auch andere, immaterielle Gründe. Die großen Leute vergessen stets, dass Kinder sich niemals gegen die Gegebenheiten auflehnen, es sei denn, die Erwachsenen selbst waren so töricht, es ihnen beizubringen. Für einen Achtjährigen »ist« das, was ist, und es ist immer das Beste. Er kennt keine Bitterkeit und keinen Groll. Er kann zwar das Gefühl haben, ungerecht behandelt worden zu sein, doch er hat es nur dann, wenn ihm die Ungerechtigkeit der Menschen zuteil wird. Die Ereignisse sind für ihn Zeichen Gottes.

Ich weiß von diesen einfachen Dingen und weiß, dass ich seit dem Tag, an dem ich blind wurde, niemals unglücklich gewesen bin. Auch den Mut, von dem die Erwachsenen so viel Aufhebens machen, sieht das Kind anders als wir. Für ein Kind ist Mut die natürlichste Sache der Welt, eine Sache, die man zeigen muss, und das zu jeder Minute des Lebens. Ein Kind denkt nicht an die Zukunft, und so wird es vor tausend Torheiten und vor fast aller Unruhe bewahrt. Es vertraut sich dem Strom der Dinge an, und dieser Strom trägt ihm in jedem Augenblick Glück zu.

Drei

LICHT IM DUNKEL

Ich werde fortan in meinem Bericht auf – manchmal sogar recht lästige – Schwierigkeiten stoßen, Schwierigkeiten der Sprache – denn das wenig Bekannte und fast immer Überraschende, das ich über die Blindheit zu sagen habe, wird leicht entweder banal oder überspannt wirken – und auf Schwierigkeiten der Erinnerung: Wenn ich mit acht Jahren blind war, so bin ich es heute, mit fündfunddreißig Jahren, noch immer, und die Erfahrungen, die ich damals gemacht habe, mache ich noch heute Tag für Tag. Sicherlich werde ich, ohne es zu wollen, Daten und selbst ganze Zeitabschnitte durcheinanderbringen. Doch scheinen mir diese Schwierigkeiten mehr literarischer als realer Natur. Fakten bleiben Fakten, und ich muss mich eben auf deren Beredsamkeit verlassen.

Ich erholte mich so schnell, dass nur mein junges Alter als Erklärung dafür dienen kann. Am dritten Mai war ich erblindet, Ende des Monats konnte ich schon wieder gehen, konnte ohne weiteres – natürlich nur an der Hand meines Vaters oder meiner Mutter – wieder spazieren gehen. Im Juni begann ich mit dem Lesenlernen der Braille-Schrift. Im Juli weilte ich an einem Strand des Atlantiks. Ich turnte an Trapez und Ringen und rutschte Rutschbahnen hinunter. Ich schloss mich den anderen Kindern an, lief und lärmte mit ihnen und baute mir Sandburgen. Doch von all dem werde ich später noch sprechen; für den Augenblick gibt es Wichtigeres.

Meine Blindheit war für mich eine große Überraschung, glich sie doch in keiner Weise meinen Vorstellungen von ihr; auch nicht den Vorstellungen, welche die Menschen um mich herum von ihr zu haben schienen. Sie sagten mir, Blindsein bedeute Nichtsehen. Aber wie konnte ich ihnen Glauben schenken, da ich doch sah? Nicht sofort, das gebe ich zu. Nicht in jenen Tagen, die unmittelbar auf die Operation folgten. Denn damals wollte ich noch meine Augen gebrauchen, mich von ihnen leiten lassen. Ich blickte in die Richtung, in die ich vor dem Unfall zu blicken pflegte, von dort aber kam nur Schmerz, Empfinden des Mangels, etwas wie Leere. Von dort kam das, was die Erwachsenen, glaube ich, die Verzweiflung nennen.

Eines Tages jedoch (und dieser Tag kam ziemlich rasch) merkte ich, dass ich ganz einfach falsch sah, dass ich einen Fehler machte, wie einer, der die Brille wechselt, weil sich sein Auge den Gläsern nicht anpassen wollte. Ich blickte zu sehr in die Ferne und vor allem zu sehr auf die Oberfläche der Dinge.

Das war weit mehr als nur eine gewöhnliche Entdeckung: Es war eine Offenbarung. Ich sehe mich noch auf dem Champ de Mars, wo mich mein Vater einige Tage nach meinem Unfall spazieren führte. Ich kannte den Park gut. Ich kannte seine Teiche, seine Geländer, seine Eisenstühle. Ich kannte sogar einige der Bäume gleichsam persönlich. Natürlich wollte ich sie wiedersehen; aber ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich stürzte mich in die Substanz, die der Raum war, aber ich konnte diese Substanz nicht wiedererkennen, weil sie nichts Vertrautes mehr enthielt.

Ein Instinkt – ich möchte fast sagen: eine Hand, die sich auf mich legte – hat mich damals die Richtung wechseln lassen. Ich begann, mehr aus der Nähe zu schauen: Aber nicht an die Dinge ging ich näher heran, sondern an mich selbst. Anstatt mich hartnäckig an die Bewegung des Auges, das nach außen blickte, zu klammern, schaute ich nunmehr von innen auf mein Inneres.

Unversehens verdichtete sich die Substanz des Universums wieder, nahm aufs neue Gestalt an und belebte sich wieder. Ich sah, wie von einer Stelle, die ich nicht kannte und die ebensogut außerhalb meiner wie in mir liegen mochte, eine Ausstrahlung ausging, oder genauer: ein Licht – das Licht. Das Licht war da, das stand fest.

Ich fühlte eine unsagbare Erleichterung, eine solche Freude, dass ich darüber lachen musste. Zuversicht und Dankbarkeit erfüllten mich, als ob ein Gebet erhört worden wäre. Ich entdeckte das Licht und die Freude im selben Augenblick, und ohne Bedenken kann ich sagen, dass sich Licht und Freude in meinem Erleben seither niemals mehr voneinander getrennt haben: zusammen besaß oder verlor ich sie.

Ich sah das Licht. Ich sah es noch, obwohl ich blind war. Und ich sagte das. Doch viele Jahre hindurch konnte ich nicht laut darüber sprechen. Ich erinnere mich, dass ich dieser Erfahrung, die sich ständig in mir erneuerte, bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr einen besonderen Namen gab: Ich nannte sie »mein Geheimnis«, und ich sprach darüber nur zu meinen engsten Freunden. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubten, aber da sie meine Freunde waren, hörten sie mir zu. Und das, was ich ihnen erzählte, besaß für sie einen weit größeren Wert als nur den der Wahrheit: Sie fanden es schön. Für sie war es ein Traum, ein Zauber, etwas wie Magie.

Das erstaunliche war, dass es für mich keineswegs Magie war, sondern eine Tatsache, die ich ebenso wenig hätte ableugnen können, wie jene, die Augen haben, leugnen können, dass sie sehen. Nicht ich war das Licht, dessen war ich mir wohl bewusst. Ich badete im Licht, einem Element, dem mich die Blindheit plötzlich näher gebracht hatte. Ich konnte fühlen, wie es heraufkam, sich ausbreitete, auf den Dingen ruhte, ihnen Form verlieh und zurückwich: ja, zurückwich oder auch nachließ. Niemals jedoch gab es für mich ein Gegenteil des Lichts. Die Sehenden sprechen immer von der Nacht der Blindheit, und das ist von ihrem Standpunkt aus ganz natürlich. Aber diese Nacht existiert nicht. Zu keiner Stunde meines Lebens – weder im Bewusstsein noch selbst in meinen Träumen – riss die Kontinuität des Lichts ab.

Ohne Augen war das Licht weit beständiger, als es mit ihnen gewesen war. Jene Unterschiede zwischen hellen, weniger hellen oder unbeleuchteten Gegenständen, an die ich mich damals noch genau erinnern konnte, gab es nicht mehr. Ich sah eine Welt, die ganz in Licht getaucht war, die durch das Licht und vom Licht her lebte.

Auch die Farben – alle Farben des Prismas – bestanden weiterhin. Für mich – das Kind, das so gern zeichnete und malte – war das ein solch unerwartetes Fest, dass ich Stunden im Spiel mit den Farben zubrachte, und das konnte ich um so besser, als diese jetzt fügsamer waren.

Das Licht breitete seine Farben auf Dinge und Wesen. Mein Vater, meine Mutter, die Leute, denen ich auf der Straße begegnete oder die ich anstieß, sie alle waren in einer Weise farbig gegenwärtig, wie ich es niemals vor meiner Erblindung gesehen hatte. Und diese Farben prägten sich mir jetzt als ein Teil von ihnen genau so tief ein, wie es ihr Gesicht vermocht hätte. Freilich waren die Farben nur ein Spiel, während das Licht für mich der Grund des Lebens war. Ich ließ es in mir emporsteigen wie Wasser in einem Brunnen, und ich freute mich ohne Ende.

Ich verstand nicht, was mit mir geschah, so grundlegend widersprach es all dem, was ich sagen hörte. Ich verstand es nicht, aber das war mir auch nicht wichtig, denn ich lebte es ja. Lange Jahre versuchte ich gar nicht, diese Vorgänge in mir zu erforschen. Erst viel später habe ich mich darum bemüht; aber es ist noch nicht an der Zeit, darüber zu sprechen.

Ein solch beständiges und intensives Licht überstieg meine Begriffe in einem Maße, dass ich manchmal an ihm zweifelte. Wie, wenn es nun gar nicht Wirklichkeit war? Wenn ich es mir nur eingebildet hatte? Dann genügte es vielleicht, sich das Gegenteil oder einfach etwas anderes vorzustellen, um es mit einem Schlag zu vertreiben. So kam ich auf die Idee, es auf die Probe zu stellen, ja, ihm Widerstand zu leisten.

War ich abends im Bett und ganz allein, schloss ich die Augen. Ich ließ die Augenlider sinken, wie ich es einst, als sie noch meine leiblichen Augen bedeckten, getan hatte. Ich redete mir ein, dass ich hinter diesem Schleier das Licht nicht mehr sehen werde. Aber es war noch immer da, es war ruhiger denn je, wie das Wasser eines Sees am Abend, wenn der Wind sich gelegt hat. Da raffte ich all meine Energie, all meinen Willen zusammen und versuchte, den Strom des Lichts aufzuhalten, so wie man versucht, den Atem anzuhalten.

Sogleich entstand eine Trübung, oder besser: ein Strudel. Aber auch dieser Strudel war in Licht getaucht. So sehr ich mich mühte, ich konnte diese Anstrengung nicht sehr lange aushalten, vielleicht zwei oder drei Sekunden. Gleichzeitig empfand ich eine Angst, als ob ich eben etwas Verbotenes täte, etwas, das gegen das Leben gerichtet war. Es war, als ob ich zum Leben das Licht ebenso brauchte wie die Luft. Es gab keine Flucht mehr: ich war der Gefangene dieser Strahlen, ich war zum Sehen verdammt.

Beim Schreiben dieser Zeilen mache ich denselben Versuch noch einmal – mit demselben Ergebnis, nur dass mit den Jahren die ursprüngliche Quelle des Lichts noch stärker geworden ist.

Mit acht Jahren ging ich aus diesem Versuch mit neuem Mut hervor; ich hatte das Gefühl, neu geboren worden zu sein. Da nicht ich es war, der das Licht hervorbrachte, da es mir von außen zuströmte, konnte es mich also niemals mehr verlassen. Ich hatte das Licht in mir, obwohl ich dafür nur ein Durchgangsort, ein Vorhof war; ich hatte das sehende Auge in mir.

Dennoch gab es Zeiten, in denen das Licht nachließ, ja fast verschwand. Das war immer dann der Fall, wenn ich Angst hatte.

Wenn ich, anstatt mich von Vertrauen tragen zu lassen und mich durch die Dinge hindurch zu stürzen, zögerte, prüfte, wenn ich an die Wand dachte, an die halb geöffnete Türe, den Schlüssel im Schloß, wenn ich mir sagte, dass alle Dinge feindlich waren und mich stoßen oder kratzen wollten, dann stieß oder verletzte ich mich bestimmt. Die einzige Art, mich im Haus, im Garten oder am Strand leicht fortzubewegen, war, gar nicht oder möglichst wenig daran zu denken. Dann wurde ich geführt, dann ging ich meinen Weg, vorbei an allen Hindernissen, so sicher, wie man es den Fledermäusen nachsagt. Was der Verlust meiner Augen nicht hatte bewirken können, bewirkte die Angst: Sie machte mich blind.

Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld, sie brachten alles in Verwirrung. Eine Minute zuvor kannte ich noch genau den Platz, den alle Gegenstände im Zimmer einnahmen, doch wenn mich der Zorn überkam, zürnten die Dinge mehr noch als ich; sie verkrochen sich in ganz unerwartete Winkel, verwirrten sich, kippten um, lallten wie Verrückte und blickten wild um sich. Ich aber wusste nicht mehr, worauf meine Hand legen, meinen Fuß setzen, überall tat ich mir weh. Dieser Mechanismus funktionierte so gut, dass ich vorsichtig wurde.

Wenn mich beim Spiel mit meinen kleinen Kameraden plötzlich die Lust ankam zu gewinnen, um jeden Preis als erster ans Ziel zu gelangen, dann sah ich mit einem Schlag nichts mehr. Ich wurde buchstäblich von Nebel, von Rauch umhüllt.

Die schlimmsten Folgen aber hatte die Boshaftigkeit. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, missgünstig und gereizt zu sein, denn sofort legte sich eine Binde über meine Augen, ich war gefesselt, geknebelt, außer Gefecht gesetzt; augenblicklich tat sich um mich ein schwarzes Loch auf, und ich war hilflos. Wenn ich dagegen glücklich und friedlich war, wenn ich den Menschen Vertrauen entgegenbrachte und von ihnen Gutes dachte, dann wurde ich mit Licht belohnt. Ist es verwunderlich, dass ich schon früh die Freundschaft und Harmonie liebte? Was brauchte ich einen Moralkodex, wo ich doch in mir ein solches Instrument besaß, das »Rotlicht« und »Grünlicht« gab: Ich wusste immer, wo man gehen durfte und wo nicht. Ich hatte nur auf das große Lichtsignal zu sehen, das mich lehrte zu leben.

Es war dasselbe mit der Liebe. Hören Sie nur! In dem Sommer nach meinem Unfall brachten mich meine Eltern an die Küste. Dort lernte ich ein kleines Mädchen meines Alters kennen. Ich glaube, sie hieß Nicole. Sie trat in mein Leben ein wie ein großer, roter Stern oder eine reife Kirsche. Gewissheit hatte ich lediglich darüber, dass sie rot war und glänzte. Ich fand sie so reizvoll, und dieser Reiz war so lieblich, dass ich abends nicht nach Hause zurückkehren und fern von ihr schlafen konnte, denn mit ihr verließ mich sogleich auch ein wenig Licht. Um es vollkommen wiederzufinden, musste ich sie wiederfinden; es war, als bringe sie nur Licht in ihren Händen, ihren Haaren, ihren Füßen, die nackt durch den Sand liefen, und in ihrer Stimme.

Natürlich hatten all die roten Leute auch ihre roten Schatten. Wenn sich Nicole zwischen zwei Pfützen salzigen Wassers unter den liebkosenden Strahlen der Sonne zu mir setzte, sah ich rötliche Reflexe auf den Zeltwänden; selbst das Meer, das Blau des Wassers, nahm einen purpurnen Schimmer an. Ich folgte ihr in dem roten Kielwasser, das sie hinter sich herzog, wo sie auch ging.

Wenn jetzt jemand sagen wollte, diese Farbe sei ja die Farbe der Leidenschaft, dann könnte ich nur erwidern, dass ich das schon im Alter von acht Jahren erfahren habe.

Wie hatte ich leben können all die Zeit, ohne zu wissen, dass alles auf der Welt eine Stimme hat und sprechen kann? Nicht nur die Dinge, denen man eine Sprache zugesteht, nein, auch die anderen: die Torwege, die Mauern der Häuser, die Balken, die Schatten der Bäume, der Sand und das Schweigen.

Schon vor meinem Unfall liebte ich die Töne, und doch: aufmerksam kann ich ihnen nicht gelauscht haben. Seitdem ich blind war, konnte ich keine Bewegung mehr machen, ohne nicht eine Flut von Geräuschen auszulösen. Betrat ich abends mein Zimmer – dasselbe Zimmer, in dem ich früher niemals etwas hörte –, machte die kleine Stuckfigur auf dem Kamin den Bruchteil einer Drehung. Ich hörte ihre Reibung in der Luft, leicht wie die Bewegung einer Hand. Wenn ich einen Schritt machte, weinte oder sang der Fußboden – zweierlei Stimmen konnte ich vernehmen –, und dieses Lied pflanzte sich fort von einem Brett zum nächsten bis hin zum Fenster und erzählte mir von der Tiefe des Zimmers.

Wenn ich unvermittelt sprach, dann zitterten die Scheiben, die doch so fest in ihrem Kittgefüge verankert schienen, gewiss sehr leicht nur, aber doch vernehmlich: ein Geräusch, das heller und munterer war als die anderen und bereits die frische Luft von draußen ankündigte. Jedes Möbelstück knarrte – einmal, zweimal, zehnmal. Das brachte eine Kette von Tönen hervor, die sich minutenlang wie Gebärden ausnahmen: Bett, Schrank, Stühle streckten sich, gähnten und holten Atem.

Wurde die Türe vom Wind zugestoßen, knarrte sie nach »Wind«; wenn eine Hand sie zuschlug, knarrte sie menschlich. Ich täuschte mich nie. Ich konnte die kleinste Vertiefung in den Wänden von ferne vernehmen, denn sie veränderte den ganzen Raum. Eine Ecke oder Nische ließ den gegenüberliegenden Schrank hohler klingen.

Es war, als seien die Geräusche aus früherer Zeit immer nur halb-wirklich, fern von mir, nur durch einen Nebel hindurch zu hören gewesen. Vielleicht schufen damals meine Augen diesen Nebel. Wie dem auch sei: Der Unfall hatte meinen Kopf gegen das tobende Herz der Dinge geworfen, und dieses Herz schlug und stand nicht mehr still.

Man denkt immer, dass die Geräusche abrupt beginnen und enden. Ich entdeckte, welch ein großer Irrtum das war. Meine Ohren hatten die Töne noch nicht vernommen, da waren sie schon da, berührten mich mit ihren Fingerspitzen und führten mich zu ihnen hin. Oft konnte ich die Leute reden hören, bevor ein Wort über ihre Lippen gekommen war.

Die Töne waren dem Licht eng verwandt: Sie lagen weder innerhalb noch außerhalb von mir, sie gingen durch mich hindurch. Sie wiesen mir meine Position im Raum zu und verbanden mich mit den Dingen. Nicht Signale übermittelten sie: sie gaben Antwort.

Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal an den Strand kam, zwei Monate nach meinem Unfall. Es war am Abend. Da war nichts als das Meer und seine Stimme, diese unvorstellbar deutliche Stimme. Es war zu einer Masse geballt, die so schwer und klar war, dass ich mich gegen sie hätte stützen können wie gegen eine Wand. Es sprach zu mir in mehreren Lagen gleichzeitig. Die terrassenartig geformten Wellen machten zusammen eine Musik, und doch hatte jede Stufe ihre eigene Sprache: Da war ein Kratzen auf dem Grund, ein Sprudeln in der Krone. Man brauchte mir wahrhaftig nicht zu sagen, was Augen hier sehen konnten.

Auf der einen Seite war die Wand des Meeres, das Gekräusel des Sandes unter dem Wind, auf der anderen die Brüstung des Strandes, bedeckt mit Echos, ein Spiegel der Töne; und zweifach ertönte der Gesang der Wellen.

Man sagt meist, die Blindheit schärfe die Fähigkeiten des Gehörs. Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Nicht meine Ohren hörten besser als früher, sondern ich konnte mich ihrer besser bedienen. Gewöhnlich ist es das Wunderinstrument der Augen, das uns mit fast allen Schätzen des physischen Lebens beschenkt. Aber wir erhalten nichts in dieser Welt, ohne es zu bezahlen. Und für all diese Vorteile, die uns die Augen geben, müssen wir auf andere, von denen wir gar nichts ahnen, verzichten. Dies waren die Gaben, die mir so überreich zuflossen.

Ich war darauf angewiesen, zu hören und nochmals zu hören. Ich mehrte die Geräusche nach Herzenslust. Ich ließ Glöckchen klingen, stieß mit dem Finger gegen alle Wände, erforschte die Resonanz von Türen, Möbeln und Baumstämmen, ich sang in leeren Räumen, warf am Strand die Kieselsteine weit fort, um ihr Pfeifen in der Luft und ihren Aufprall zu vernehmen. Ich ließ meine kleinen Kameraden alle möglichen Wörter nachsprechen, während ich mir Zeit – viel Zeit – nahm, um sie herumzugehen.

Das überraschendste von allem war jedoch, dass die Töne niemals von einem einzelnen Punkt im Raum ausgingen, noch sich jemals in sich zurückzogen. Da gab es ein Geräusch, ein Echo, wieder ein anderes Geräusch, mit dem das erste verschmolz und das es vielleicht hervorgebracht hatte: eine endlose Verkettung von Tönen.

Von Zeit zu Zeit wurde dieses Tönen, dieses allgemeine Murmeln um mich herum so stark, dass mich Schwindel erfasste und ich die Hände auf meine Ohren legte, genau so, wie wenn ich als Sehender die Augen geschlossen hätte, um mich gegen ein Übermaß an Licht zu schützen. Deshalb konnte ich auch keinen Lärm ertragen, keine unnötigen Geräusche oder ununterbrochen spielende Musik. Ein Geräusch, dem wir nicht zuhören, ist ein Schlag gegen unseren Körper und unseren Geist, denn ein Geräusch ist kein Vorgang, der sich außerhalb von uns abspielt, sondern eine Realität, die durch uns hindurch geht und dort verweilt, sofern wir sie nicht voll wahrnehmen.

Vor diesem Übel war ich durch musikalische Eltern bewahrt; sie unterhielten sich bei Tisch, anstatt das Radio anzuschalten. Doch das ist für mich nur ein Grund mehr zu sagen, wie wichtig es heute ist, die blinden Kinder vor Geschrei, Musik aus dem Hintergrund und all jenen hässlichen Angriffen zu schützen. Denn auf einen Blinden hat ein lautes und unnötiges Geräusch dieselbe Wirkung wie der blendende Strahl eines Scheinwerfers auf den, der sehen kann: Es schmerzt. Tönt dagegen die Welt klar und rein, dann ist sie noch viel harmonischer, als Dichter es je sagen konnten und können.

Jeden Sonntagmorgen spielte im Hof unseres Mietshauses ein alter Bettler drei Melodien auf seinem Akkordeon. Diese ärmliche, herbe Musik, die in regelmäßigen Abständen durch das metallische Schleifen der Straßenbahnen von der nahen Avenue übertönt wurde, gab dem Raum in der Stille des trägen Morgens tausend Dimensionen; da war nicht mehr nur der senkrechte Fall in den Hof hinunter und der Zug der Straßen, da gab es so viele Wege – von Haus zu Haus, von Höfen zu Dächern –, wie meine Aufmerksamkeit nur erfassen konnte. Mit den Tönen kam ich zu keinem Ende; denn auch dies war eine Art von Unendlichkeit.

Meine Hände gehorchten mir zunächst nicht mehr. Wenn sie ein Glas auf dem Tisch zu fassen suchten, verfehlten sie es. Sie tappten um die Türklinken herum und verwechselten die schwarzen und weißen Tasten des Klaviers. Sie schlugen in die Luft, wenn sie sich den Gegenständen näherten. Fast schien es, als seien sie entwurzelt, von mir abgeschnitten, und eine Zeitlang ängstigte mich das.

Glücklicherweise merkte ich sehr rasch, dass sie nicht nutzlos geworden waren; sie begannen, geschickt zu werden. Man musste ihnen nur Zeit lassen, sich an die Freiheit zu gewöhnen. Ich hatte geglaubt, sie gehorchten mir nicht mehr; in Wirklichkeit war es nur so, dass sie keine Anordnungen mehr erhielten. Meine Augen konnten sie nicht mehr befehligen.

Es war vor allem eine Sache des Rhythmus. Unsere Augen gehen immer über die Oberfläche der Dinge. Sie bedürfen nur einiger verstreuter Punkte, und blitzartig füllen sie die Zwischenräume. Sie erahnen viel mehr, als sie sehen, und niemals, oder fast niemals, prüfen sie die Dinge. Sie geben sich mit den Erscheinungen zufrieden, und in diesen gleitet die Welt schimmernd dahin und verbirgt ihren wesentlichen Inhalt.

Ich hatte in Wirklichkeit nichts weiter zu tun, als meine Hände sich selbst zu überlassen. Ich brauchte ihnen nichts beizubringen, ja, seitdem sie in eigener Verantwortung arbeiteten, schienen sie alles im Voraus zu wissen. Im Gegensatz zu den Augen hatten sie eine ernste Art an sich. Von welcher Seite sie auch an einen Gegenstand herangingen, sie prüften ihn genau. Sie erprobten seine Widerstandsfähigkeit, lehnten sich gegen seine Masse und hielten auch die unwesentlichsten Eigenschaften seiner Oberfläche fest. Sie maßen ihn nach Höhe und Dicke, indem sie so viele Dimensionen anlegten wie nur möglich. Vor allem aber gebrauchten sie ihre Finger auf eine ganz neue Weise, jetzt, nachdem sie ihrer gewahr geworden waren.

Als ich noch meine Augen hatte, waren meine Finger steif und am Ende der Hände halb abgestorben, gerade recht, die Bewegung des Greifens auszuführen. Jetzt hatte jeder von ihnen seine Initiative. Sie wanderten einzeln über die Dinge, spielten gegeneinander und machten sich, unabhängig voneinander, schwer oder leicht.

Die Bewegung der Finger war sehr wichtig, sie durfte nicht unterbrochen werden. Denn es ist eine Illusion zu glauben, dass die Gegenstände starr an einen Punkt gebunden, auf immer an ihn gefesselt und in eine einzige Form gepresst sind: Die Objekte leben, selbst die Steine. Mehr noch: Sie vibrieren, sie erzittern. Meine Finger fühlten deutlich dieses Pulsieren, und wenn sie darauf nicht mit eigenem Pulsschlag anworteten, waren sie sogleich hilflos und verloren ihr Gefühl. Wenn sie jedoch den Dingen entgegengingen, mit ihnen pochten, dann erkannten sie sie.

Doch es gab noch etwas Wichtigeres als die Bewegung: den Druck. Legte ich die Hand leicht auf den Tisch, so wusste ich, dass da der Tisch war, sonst aber erfuhr ich nichts über ihn. Um etwas zu erfahren, mussten meine Finger einen Druck ausüben, und das Überraschende dabei war, dass mir dieser Druck sogleich vom Tisch erwidert wurde. Ich – der ich als Blinder allen Dingen entgegengehen zu müssen glaubte – entdeckte, dass die Dinge es waren, die mir entgegengingen. Ich brauche immer nur den halben Weg zurückzulegen. Das Universum war der Komplize all meiner Wünsche.

Wenn jeder meiner Finger verschieden stark gegen die Rundung eines Apfels drückte, wusste ich bald nicht mehr, ob der Apfel schwer war oder meine Finger. Ich wusste nicht einmal mehr, ob ich ihn berührte oder er mich. Ich war ein Teil des Apfels geworden und der Apfel ein Teil von mir. Das war es, wie die Dinge – für mich – existierten.

Meine zum Leben erwachten Hände führten mich in eine Welt hinein, in der alles ein Austausch von Druck war. Dieser Druck verdichtete sich zu Formen, und alle diese Formen hatten einen Sinn. Ich muss in meiner Kindheit Hunderte von Stunden damit verbracht haben, mich gegen die Gegenstände zu lehnen und sie sich gegen mich lehnen zu lassen. Alle Blinden werden bestätigen, dass diese Gebärde, dieses Wechselspiel, eine zu tiefe Befriedigung gewährt, als dass man sie beschreiben könnte.

Auf diese Art – die richtige Art – die Tomaten im Garten zu befühlen, die Hausmauer, den Vorhangstoff oder einen Erdklumpen, heißt, sie zu sehen, sie fast ebenso genau und vollständig zu sehen, wie es Augen vermögen; mehr noch: Es heißt, sich auf sie einzustellen, gleichsam den elektrischen Strom, den sie enthalten, an jenen Strom, mit dem wir geladen sind, anzuschließen, anders ausgedrückt, nicht mehr vor den Dingen zu leben, sondern zu beginnen, mit ihnen zu leben; es heißt – so schockierend das Wort auch scheinen mag –: zu lieben. Die Hände müssen das, was sie richtig berührt haben, lieben.

Meine Hände entdeckten allmählich durch unaufhörliches Bewegen, Prüfen und Sich-Lösen vom Gegenstand – von allen Bewegungen kommt diesem möglicherweise die größte Bedeutung zu –, dass die Dinge niemals starr in ihrer Form verharren. Auf diese Form trafen die Finger zwar zunächst, doch sie war nur der Kern, um den herum die Gegenstände nach allen Richtungen ihre Strahlen aussandten.

Es war unmöglich, den Birnbaum im Garten durch Berührung vollkommen zu erfassen, indem man – eines nach dem anderen – mit den Fingern seinem Stamm, seinen Ästen und Blättern entlangglitt. Das war nur ein Anfang, denn in der Luft, zwischen den Blättern, ging der Birnbaum weiter. Man musste unbedingt die Hände von einem Ast zum anderen gleiten lassen, um seine Ströme zu erkunden; so konnte man mich oft sehen, wie ich den Birnbaum aus einiger Entfernung untersuchte, anstatt ihn mit den Fingern zu befühlen. Wenn mich meine Kameraden vom Lande während der Ferien in Juvardeil meine magischen Tänze um die Bäume herum machen und das Unsichtbare betasten sahen, sagten sie, ich sei wie ein rebouteux, ein Quacksalber – ein Name, den man in ländlichen Gegenden Frankreichs jenen Leuten gibt, die im Besitz irgendeines alten Geheimrezepts sind und die Kranken durch magnetisches – auch auf Abstand wirksames – Streichen behandeln, nach Methoden also, die von der Medizin nicht anerkannt werden. Natürlich waren meine kleinen Freunde im Irrtum, doch er war entschuldbar. Ich kenne heute mehr als einen Psychologen vom Fach, der – mit all seinen wissenschaftlichen Kenntnissen – über solche anscheinend sinnlose Gebärden keine Rechenschaft abzulegen vermag.

Wie mit dem Tastsinn verhielt es sich auch mit dem Geruch: Wie der Tastsinn war auch er offensichtlich ein Teil des liebenden Alls des Universums. Ich begann zu erraten, was Tiere empfinden müssen, wenn sie in die Luft schnuppern. Wie die Töne und Formen war auch der Geruch sehr viel ausgeprägter, als ich zuvor angenommen hatte. Es gab physische Gerüche, und es gab moralische Gerüche: Doch von diesen – im Leben der Gesellschaft so wichtigen – will ich später reden.

Ich war noch nicht zehn Jahre alt, da wusste ich schon – und mit welch vertrauensvoller Gewissheit –, dass alles in der Welt ein Zeichen von allem ist, dass jedes Ding allzeit bereitsteht, den Platz eines anderen einzunehmen, falls dieses ausfällt. Vollkommener Ausdruck für dieses ständige Wunder der Genesung war für mich das »Vater Unser«, das ich jeden Abend vor dem Einschlafen aufsagte.

Ich hatte keine Angst. Andere würden sagen: ich hatte den Glauben. Wie hätte ich ihn nicht haben sollen – vor diesem sich ständig erneuernden Wunder: Alle Töne, alle Gerüche, alle Formen wandelten sich in mir unaufhörlich in Licht, das Licht wurde zu Farben und machte meine Blindheit zu einem Kaleidoskop.

Ich war zweifelsohne in eine neue Welt eingetreten. Aber ich war nicht ihr Gefangener. All meine Erfahrungen – mögen sie noch so wunderbar und von den gewöhnlichen Erlebnissen anderer Kinder meines Alters verschieden gewesen sein – machte ich nicht in einer inneren Leere, einem verschlossenen Zimmer, das mir und niemandem anderen gehörte. Ich machte sie zwischen Sommer und Herbst 1932 in Paris, in der kleinen Wohnung beim Champ de Mars, und an einem Strand des Atlantik, in Gegenwart meines Vaters, meiner Mutter und eines kleinen Bruders, der gegen Ende des Jahres auf die Welt kam.

Ich will damit sagen, dass alle diese Entdeckungen von Tönen, Licht, Gerüchen, sichtbaren und unsichtbaren Formen unmittelbar ihren festen Platz hatten zwischen dem Tisch des Esszimmers und dem Fenster zum Hof, zwischen den Nippsachen auf dem Kamin und dem Ausguss in der Küche, mitten im Leben der anderen, ohne von ihm im mindesten beeinträchtigt zu werden. Diese Wahrnehmungen waren keine Phantome, die Unordnung oder Schrecken in mein Leben bringen wollten. Sie waren Tatsachen – und für mich die allereinfachsten.

Doch es ist Zeit, darauf hinzuweisen, dass auf ein blindes Kind außer vielen Wundern auch große Gefahren warten. Ich spreche nicht von physischen Gefahren – sie können sehr gut umgangen werden –, auch nicht von einer Gefahr, welche die Blindheit selbst hervorrufen könnte. Ich meine die Gefahren, die ihm durch die Unerfahrenheit der Menschen drohen, die noch ihre Augen haben. Wenn ich selbst so glücklich gewesen bin – und dies mit soviel Nachdruck sagen kann –, so deshalb, weil ich vor jenen Gefahren beschützt worden bin.

Wie man weiß, hatte ich gute Eltern; nicht nur Eltern, die mir wohlwollten, sondern Eltern, deren Herz und Verstand allen geistigen Dingen offenstanden, für die die Welt nicht ausschließlich aus nützlichen – und immer auf die gleiche Art nützlichen – Dingen bestand, für die es vor allem nicht gleich ein Fluch war, anders zu sein als andere Menschen; Eltern schließlich, die bereit waren einzugestehen, dass ihre – die übliche – Art, die Dinge zu sehen, vielleicht nicht die einzig mögliche war, bereit, die meine zu lieben und zu fördern.

Deshalb möchte ich den Eltern, deren Kinder blind werden, sagen, dass sie wieder Mut fassen sollen. Die Blindheit ist zwar ein Hemmnis, doch zum Unglück wird sie nur durch den Unverstand. Sie sollten wieder Mut fassen und niemals dem widersprechen, was ihr kleiner Junge oder ihr Mädchen entdeckt. Sie sollten niemals zu ihnen sagen: »Du kannst das nicht wissen, weil du nicht sehen kannst«, und so selten wie möglich: »Tu das nicht! Das ist gefährlich!« Denn es gibt für ein blindes Kind eine Drohung, die fürchterlicher ist als alle Wunden und Beulen, alle Schrammen und die meisten Schläge: die Isolierung in sich selbst.

Als ich fünfzehn Jahre alt war, verbrachte ich lange Nachmittage in Gesellschaft eines blinden Jungen meines Alters, der – das muss ich hinzufügen – unter ganz ähnlichen Umständen erblindet war wie ich. Selbst heute habe ich wenige Erinnerungen, die mir so peinlich sind wie jene. Dieser Junge erfüllte mich mit Schrecken: Er war das lebende Bild all dessen, was aus mir geworden wäre, wäre ich nicht so glücklich gewesen – glücklicher als er. Er war wirklich blind. Seit seinem Unfall hatte er nichts mehr gesehen. Seine Fähigkeiten waren normal, er hätte sehen können wie ich. Aber man hatte ihn daran gehindert. Um ihn zu schützen, hieß es, hatte man ihn von allem isoliert. All seine Anstrengungen, auszudrücken, was er empfand, hatte man verspottet. In seinem Kummer und seinem Rachegefühl hatte er sich in eine brutale Einsamkeit geflüchtet. Selbst sein Körper lag entkräftet in der Tiefe des Sessels. Und ich sah mit Bestürzung, dass er mich nicht mochte.

Solche Tragödien sind häufiger, als man denkt, und um so furchtbarer, als sie immer vermeidbar sind. Man kann sie vermeiden – ich wiederhole es –, sobald sich die Sehenden nicht auf ihre Art, die Welt zu verstehen, als die allein gültige versteifen.

Mit acht Jahren begünstigte alles meine Rückkehr in die Welt. Man ließ mich herumtollen. Man antwortete auf alle Fragen, die ich stellte. Man interessierte sich für alle meine Entdeckungen, selbst für die sonderbarsten. Wie sollte ich zum Beispiel erklären, wie die Gegenstände sich mir näherten, wenn ich auf sie zuging? Atmete ich sie ein, hörte ich sie? Vielleicht. Was es auch war – es nachzuweisen war oft schwer. Sah ich sie? Augenscheinlich nicht. Und doch! Sie veränderten sich für mich im selben Maße, wie ich näher kam, oft sogar so sehr, dass sich – genau wie beim Sehvorgang – echte Konturen abzeichneten, dass sich im Raum eine wirkliche Form abhob und einzelne Farben sich erkennen ließen.