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Beschreibung

Mythen, Macht und die Angst vor der schwarzen Magie: die Geschichte der Hexenverfolgung in Europa

Der Beginn der Frühen Neuzeit war auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und in ganz Europa eine Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung, in der althergebrachte Wahrheiten infrage gestellt wurden. Zugleich wuchs die Furcht der Menschen vor dem nahenden Ende der Welt und mit ihr die Angst vor Hexerei und schwarzer Magie, die viele für das wahrgenommene Unheil verantwortlich machten. In diesem Buch nehmen renommierte Historikerinnen und SPIEGEL-Autoren das gewaltsame Kapitel der Hexenprozesse und die Schicksale der Opfer neu in den Blick. Sie untersuchen, warum zahlreiche Frauen und Männer als vermeintliche Hexen oder Hexenmeister verfolgt, brutal gefoltert und grausam hingerichtet wurden. Dabei entlarven sie verbreitete Mythen über jene dunkle Epoche und zeigen, dass hinter der Verfolgung oftmals Machtinteressen, soziale Konflikte und politische Rivalitäten steckten.

Mit zahlreichen Abbildungen.

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Seitenzahl: 248

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EVA-MARIA SCHNURR, geboren 1974, ist seit 2013 Redakteurin beim SPIEGEL und verantwortet seit 2017 die Heftreihe SPIEGEL Geschichte. Zuvor arbeitete die promovierte Historikerin als freie Journalistin, unter anderem für Zeit und Stern. Sie ist Herausgeberin zahlreicher SPIEGEL-Bücher. Zuletzt erschienen »Die Welt des Adels« (2021), »Deutschland in den Goldenen Zwanzigern« (2021), »Das Geheimnis des Erfolgs« (2021) und »›Deutschland, deine Kolonien‹« (2022).

Mythen, Macht und die Angst vor der schwarzen Magie: die Geschichte der Hexenverfolgung in Europa

Der Beginn der Frühen Neuzeit war auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und in ganz Europa eine Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung, in der althergebrachte Wahrheiten infrage gestellt wurden. Zugleich wuchs die Furcht der Menschen vor dem nahenden Ende der Welt und mit ihr die Angst vor Hexerei und schwarzer Magie, die viele für das wahrgenommene Unheil verantwortlich machten. In diesem Buch nehmen renommierte Historikerinnen und SPIEGEL-Autoren das gewaltsame Kapitel der Hexenprozesse und die Schicksale der Opfer neu in den Blick. Sie untersuchen, warum zahlreiche Frauen und Männer als vermeintliche Hexen oder Hexenmeister verfolgt, brutal gefoltert und grausam hingerichtet wurden. Dabei entlarven sie verbreitete Mythen über jene dunkle Epoche und zeigen, dass hinter der Verfolgung oftmals Machtinteressen, soziale Konflikte und politische Rivalitäten steckten.

Außerdem von Eva-Maria Schnurr lieferbar:

»Deutschland, deine Kolonien«

»Das Geheimnis des Erfolgs«

»Deutschland in den Goldenen Zwanzigern«

»Die Welt des Adels«

»Die Macht der Geheimdienste«

»Die Gründerzeit«

»Als Deutschland sich neu erfand«

»Das Christentum«

»Das Kaiserreich«

»Die Weimarer Republik«

»Englands Krone«

www.penguin-verlag.de

Eva-Maria Schnurr (Hg.)

Angst und Aberglaube am Beginn der Neuzeit

Mit Beiträgen von Arne Cypionka, Angelika Franz, Solveig Grothe, Christoph Gunkel, Katja Iken, Harald Justin, Guido Kleinhubbert, Uwe Klußmann, Danny Kringiel, Jasmin Lörchner, Kathrin Maas, Sarah Masiak , Joachim Mohr, Torben Müller, David Neuhäuser, Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller, Ulinka Rublack, Johannes Saltzwedel, Eva-Maria Schnurr und Benno Stieber

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Texte dieses Buches sind erstmals in dem Magazin »Das Zeitalter der Hexenjagd. 1400 bis 1800: Die Opfer, die Täter – und die Mythen« (Heft 05/2021) aus der Reihe SPIEGEL Geschichte erschienen.

Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Abbildung Vorderseite: AKG/»Verbrennung der Hexen und Ketzer durch Aufheben und Niedersenken in das Feuer zu Paris«. Holzstich nach einer Zeichnung

von Felix Philippoteaux (1815–1884); spätere Kolorierung. Aus: J.G. Vogt,

Illustrierte Weltgeschichte für das Volk, Bd. 4, Leipzig (E. Wiest) 1894.

Abbildung Rückseite: Gemälde von Francisco de Goya y Lucientes (1746–1828), »Der Hexensabbath oder die Hexen« (1797-1798), © Prisma Archive / alamy / mauritius images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29771-8V002

INHALT

Vorwort

»Aus diesen Fakten werden keine Hexentaten abzuleiten sein«

1615 wurde Katharina Kepler als Hexe angeklagt. Ihr Sohn, der berühmte Astronom Johannes Kepler, verteidigte sie auf erstaunliche Weise.

Von Ulinka Rublack

»Es konnte fast jeden treffen«

Warum man nicht von »Hexenwahn« sprechen sollte, wo auch Männer verfolgt wurden und welche Mythen sich bis heute hartnäckig halten, erläutert die Historikerin Rita Voltmer.

Ein Interview von Uwe Klußmann

Im Bund mit dem Satan

Die Idee, es gebe Magie, ist uralt. Im späten Mittelalter aber änderte sich die Vorstellung davon entscheidend. Nun begann man, Hexen zu verfolgen und zu töten.

Von Torben Müller

»Unschuldig muss ich sterben«

1626 kam es im Fürstbistum Bamberg zu einer erbarmungslosen Verfolgungswelle. Dahinter standen politische Rivalitäten, religiöser Eifer – und Habgier.

Von Martin Pfaffenzeller

Von bösen Kräften und tödlicher Magie

Zauberei gehörte in der Frühen Neuzeit zum Alltag der meisten Menschen wie Trolle oder Geister. Große Angst hatte man vor der im Verborgenen tätigen Dorfhexe.

Von David Neuhäuser

Die Schreckensherrschaft der zwei Balthasars

In der Fürstabtei Fulda verschärften persönliche Interessen des Hexenrichters die Verfolgung. Den Prozessen fiel auch die Bürgersfrau Merga Bien zum Opfer.

Von Benno Stieber

Ein Monarch und seine Dämonen

Ein Blick auf Europa zeigt, was die Hexenfurcht anfachte. Für Frauen war prüder Protestantismus sehr gefährlich.

Von Angelika Franz

Der Sündenfall von Salem

Auch die puritanischen Siedler in der »Neuen Welt« übernahmen die Hexenvorwürfe. Der geistige Anstifter der Verfolgung gilt bis heute als einer der wichtigsten Intellektuellen des kolonialen Amerika.

Von Frank Patalong

Teufelskinder

In einem westfälischen Örtchen bezichtigten sich immer wieder Menschen selbst der Hexerei. Die Erklärung für das Phänomen ist bis heute bedeutsam.

Von Sarah Masiak

Der Henker, der 394 Menschen hinrichtete

Wie lebten, dachten und fühlten Folterknechte und Scharfrichter? Die Tagebucheinträge des Nürnbergers Frantz Schmidt künden von einem Leben am Rande der Gesellschaft.

Von Guido Kleinhubbert

Wider die schwarzen Künste

Auch frühmoderne Wissenschaftler waren von der Existenz von Hexen überzeugt. Ihre Schriften lieferten die theoretische Grundlage für die Verfolgung.

Von Danny Kringiel

»Ach Gott, waß großer lugen ist diß«

Am 19. Mai 1627 wurde Katharina Henot wegen Hexerei hingerichtet. Um die reiche Unternehmerin ranken sich bis heute Legenden.

Von Katja Iken

Reißende Werwölfe

Bei »Hexe« denkt man heute zumeist an eine Frau. Damals war das längst nicht so eindeutig. Etwa ein Viertel der Hingerichteten waren Männer.

Von Christoph Gunkel

Kinder in den Knast

Helena Curtens war erst 14 Jahre alt – das schützte sie nicht vor einer Anklage wegen Hexerei. Und auch nicht vor dem Henker.

Von Arne Cypionka

Für eine Handvoll Taler

Osnabrück und Lemgo waren Hochburgen der Verfolgung. In Münster stand kaum eine Hexe vor Gericht. Warum?

Von Harald Justin

»Von den Blendwerken der Dämonen«

Wer sich gegen die Hexenjagd stellte, brauchte viel Mut – und gute Nerven. Der Jurist Christian Thomasius bekämpfte den Glauben an die Zauberei und war Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland.

Von Joachim Mohr

Francisco de Goya: »Vuelo de brujas« – »Flug der Hexen«

Der »Flug der Hexen« gehört zu einer sechsteiligen Gemäldereihe, in der Francisco de Goya Hexerei und Aberglauben thematisiert. Wie ist das Bild des berühmten spanischen Malers zu verstehen?

Von Kathrin Maas

Mord per Gerichtsurteil

1782 wurde die Dienstmagd Anna Göldi hingerichtet – als letzte Hexe Europas. Sie wurde wohl Opfer eines Komplotts.

Von Solveig Grothe

Reinlich bei Tage, säuisch bei Nacht

Im »Faust« zelebrierte Johann Wolfgang von Goethe eine Hexenorgie und ließ es in der Antike spuken. Doch glaubte der Dichter selbst an Zauberei?

Von Johannes Saltzwedel

Germanisches Erbgut?

Hohe Nationalsozialisten feierten Hexen als Hüterinnen heidnischer Weisheiten – und forschten nach verfolgten Ahnen.

Von Uwe Klußmann

»Das Konzept von ›rational‹ und ›irrational‹ scheint mir hier nicht sinnvoll«

Auch im 20. Jahrhundert gab es in Deutschland noch Gerichtsverfahren wegen Hexerei. Die Historikerin Monica Black hat Erklärungen für die bizarr anmutenden Geschehnisse.

Ein Interview von Eva-Maria Schnurr

Tanz ums Walpurgisfeuer

Moderne »Hexen« propagieren weibliche Selbstbestimmung und die Nähe zur Natur. Doch nicht alle sind harmlos.

Von Jasmin Lörchner

Die wichtigsten Hexenaccessoires

In der Frühen Neuzeit hatten die Menschen Sorge, Hexen hielten sich heimlich im Dorf auf, seien schwer zu erkennen. Doch im Lauf der Zeit erhielten die Zaubernden in Darstellungen eindeutige Attribute. Woher aber kommen die?

Elemente eines Hexenprozesses

Von Frank Patalong

Anhang

Chronik

Empfehlungen zum Thema: Bücher, Filme, Museen

Autor*innenverzeichnis

Dank

Personenregister

Bildnachweis

VORWORT

Es ist ein verstörendes Kapitel der deutschen wie der europäischen Geschichte: Vom 14. Jahrhundert an entdeckten die Menschen immer mehr »Hexen«, Personen, die angeblich mit Schadzauber und magischen Praktiken Unheil anrichteten. Vermeintliche Hexen wurden beschuldigt und vor Gericht gestellt. Viele wurden brutal gefoltert, verurteilt und hingerichtet.

Das Zeitalter der Hexenverfolgung, das erst im 18. Jahrhundert zu Ende ging, scheint heute irrational, ein Beispiel für kollektive Hysterie, fremd, weit weg und kaum verständlich.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum sich bis in die Gegenwart so viele Mythen und falsche Vorstellungen rund um das Thema halten. Die Verfolgung habe vor allem Hebammen und weise Frauen getroffen, deren volkskundliches Wissen die katholische Kirche habe unterdrücken wollen, heißt es oft. Von »Massenwahn« ist die Rede, von Aberglauben oder auch von extrem hohen Opferzahlen.

Doch seit den Achtzigerjahren hat sich die Geschichtsforschung detailliert mit der Hexenverfolgung beschäftigt und eine neue Sicht auf die Angst vor Hexerei und schwarzer Magie am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit etabliert. Nach diesem Verständnis waren der Hexenglaube und die daraus folgende Hexenverfolgung eine – unter damaligen Bedingungen – durchaus rationale Reaktion auf tiefgreifende Veränderungsprozesse. Nicht »Wahn« also, sondern der Versuch einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft, Erklärungen für scheinbar Unerklärbares zu finden – und mit der Verfolgung der vermeintlichen Übeltäter, der Hexen und Hexenmeister, Katastrophen zu verhindern.

Diese neueren Forschungen sollte man nicht als Rechtfertigung missverstehen. Vielmehr liefert die Wissenschaft damit Erklärungen, welche die Hexenverfolgung und die dahinterstehenden gesellschaftlichen Reaktionsmuster bis in die Gegenwart hoch brisant machen.

Im ausgehenden Mittelalter erlebten die Menschen einen tiefgreifenden Wandel in vielen Lebensbereichen: Die Pest wütete seit dem 14. Jahrhundert in Europa, verbreitete Angst und Schrecken und forderte unzählige Opfer. Mit Amerika wurde ein neuer Kontinent entdeckt, das Weltbild veränderte sich fundamental. Die Osmanen eroberten Konstantinopel, das Byzantinische Reich zerfiel, und die Furcht vor der »Türkengefahr«, wie es bald hieß, trieb Europa um. Die Reformation stellte die bis dahin geltende Wahrheit einer einzigen christlichen Religion infrage und erschütterte Glaubensgewissheiten. Neue staatliche Strukturen bildeten sich heraus, die Obrigkeiten versuchten, ihren Einfluss zu stärken. Und die »Kleine Eiszeit« führte zu Missernten, Preissteigerungen und vermehrten Krankheiten bei Mensch und Vieh.

Der Glaube an böse Mächte und Dämonen lieferte nicht nur einfachen Menschen, sondern auch damaligen Wissenschaftlern eine Erklärung für Phänomene, für die es keine andere Erklärung gab, so der Londoner Historiker Stuart Clark. Die Überzeugung, es gebe Dämonen, sei damals zentraler Bestandteil des Naturverständnisses gewesen.

Auch das Vertrauen in magische Praktiken war gerade unter einfachen Menschen weit verbreitet: Bei Krankheiten oder Schicksalsschlägen mischten sich christliche mit magischen Ritualen. Und viele Menschen waren überzeugt, das Übersinnliche könne sich ganz konkret in ihrem Alltag manifestieren.

Diese Wissensbestände verbanden sich nun zu der Vorstellung einer teuflischen Hexensekte, die sich verschworen habe, die Lebensgrundlagen der Menschen zu zerstören. Die Furcht vor den Bündnispartnern des Satans war ähnlich groß wie heute jene vor Terroristen: Hexen galten als Inbegriff des Bösen, gefährlich für Individuum wie Gesellschaft, ihre Verfolgung wurde als soziale Verpflichtung verstanden.

Heute würde man von einem »Narrativ« sprechen, von einem Erklärungsmodell, das zu einer in sich schlüssigen und leicht verständlichen Geschichte verdichtet ist. Und das vermeintlich einfache Lösungen für vielerlei Probleme lieferte: für Nachbarschaftsfehden ebenso wie für unerklärliche Schicksalsschläge, für Machtkonflikte unter staatlichen Institutionen ebenso wie für Unwetter oder Unfruchtbarkeit. Schuld war immer die Hexe. Davon waren Katholiken, Protestanten und Calvinisten, Reiche und Arme, Gebildete wie Ungebildete gleichermaßen überzeugt. Und der Verdacht konnte jede und jeden treffen: Männer wie Frauen, Reiche wie Arme, Mächtige wie Schwache.

Allerdings erfasste die Hexenpanik nicht ganz Europa. Immer wieder und von Beginn an gab es Menschen, die zweifelten, da das Narrativ für sie nicht schlüssig klang, oder Obrigkeiten, die verhindern wollten, dass ihre Untertanen sich in Misstrauen, gegenseitigen Beschuldigungen, langwierigen Prozessen und Unfrieden aufrieben. Mit der Zeit wurden ihre Stimmen stärker, sie lieferten andere, weniger grausame Erklärungen für das Unerklärliche, setzten sich nach und nach durch. 1734 wurde Anna Göldi in der Schweiz als letzte »Hexe« in Europa hingerichtet.

Wie hartnäckig sich das eingängige Hexen-Erklärungsmuster dennoch hielt, zeigen Gerichtsverfahren wegen Hexerei im Deutschland der Nachkriegszeit. Noch in den Fünfzigerjahren beschuldigten sich Nachbarn gegenseitig der schwarzen Magie, nutzten den uralten Vorwurf als Munition in sozialen Konflikten.

Dieses Buch zeichnet die Epoche der Hexenverfolgung nach: SPIEGEL-Autor*innen und bekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen, wie sich der Hexenglauben entwickelte, wie grausam die Verfolger vorgingen, wie verzweifelt sich die Opfer und ihre Angehörigen zu wehren suchten und wie klar vielen Menschen schon damals war, dass der Vorwurf der Hexerei nur vorgeschoben war.

Sie erklären, warum es in einigen Gegenden zu massiver Verfolgung kam, an anderen Orten hingegen kaum Hexen hingerichtet wurden. Und sie erläutern, weshalb Menschen sich trotz großer Gefahr selbst als Hexen verstanden, wie Hexenprozesse abliefen und wie Henker zur Zeit der Hexenverfolgung über ihren Beruf dachten.

Dieses Buch blickt aber auch ins 20. Jahrhundert, etwa in die Zeit des Nationalsozialismus, als ideologisch geprägte Forschung viele der heute noch gängigen Mythen über die Hexenprozesse aufbrachte. Es betrachtet die Nachkriegszeit, als bundesdeutsche Gerichte sich erneut mit Hexenprozessen befassen mussten, aber auch die Gegenwart, in der sich einige Frauen aus freien Stücken als »Hexen« bezeichnen.

Fremd und weit weg ist die Hexenverfolgung in diesem Buch nicht. Die hier versammelten Texte zeigen vielmehr das Zeitalter der Hexenverfolgung als ein Lehrstück über das Zusammenleben in Zeiten von beschleunigtem Wandel und Umbrüchen. Und als Warnung auch für die Gegenwart: Das Gerüst der modernen Gesellschaft ist keineswegs unerschütterlich – gerade in schwierigen Zeiten.

»Aus diesen Fakten werden keine Hexentaten abzuleiten sein«

1615 wurde Katharina Kepler als Hexe angeklagt. Ihr Sohn, der berühmte Astronom Johannes Kepler, verteidigte sie auf erstaunliche Weise.

Von Ulinka Rublack

Am 29. Dezember 1615 arbeitete Johannes Kepler in Linz. Er hatte gerade seinen 44. Geburtstag gefeiert und schrieb seine Neujahrsgrüße. Plötzlich klopfte ein Bote an die Tür und überbrachte einen Brief, der schon vor drei Monaten losgeschickt worden war. Kepler erkannte die Handschrift seiner in Württemberg lebenden Schwester und entfaltete den Brief rasch. Die Nachricht hätte kaum schlimmer sein können. Seine alte Mutter war im August in Leonberg der Hexerei bezichtigt worden. Ihre Ankläger verfügten über gute Verbindungen zum Stuttgarter Hof.

Johannes Kepler (1571 bis 1630) war einer der berühmtesten Astronomen, die je gelebt haben. Er verteidigte Nikolaus Kopernikus, der behauptet hatte, die Erde drehe sich um die Sonne, und entdeckte, dass Planeten sich in Ellipsen bewegen. Und er legte bahnbrechende Forschungen zur Optik vor. Was weniger bekannt ist: 1615 wurde Katharina Kepler, die Mutter des Astronomen, als Hexe angeklagt. Im Jahr 1620 übernahm er ihre rechtliche Verteidigung, um ihr Leben und seinen eigenen Ruf zu retten.

Diese Begebenheit verändert unser Verständnis des Astronomen in seiner Zeit. Er veröffentlichte seine Verteidigungsschrift nie, aber sie zielte präzise auf die rechtlichen Schwachstellen der Hexenverfolgung und legte aus Keplers Sicht die Mechanismen der Jagd auf alternde Frauen bloß.

Und das war Katharina Kepler zweifellos. 1615 war die Tochter eines Wirts bereits an die 70 Jahre alt und verwitwet. Ihre Ehe war schwer gewesen, immer wieder hatte ihr Mann sie verlassen, um sich als Söldner zu verdingen, die vier ihrer sieben Kinder, welche die ersten Jahre überlebten, hatte sie weitgehend allein aufgezogen. Durch das Erbe ihres Mannes und ihres Vaters war sie zu etwas Geld gekommen, hatte sich ein Haus in Leonberg gekauft und besaß Land, das sie bestellte. Vermutlich verkaufte sie, wie andere Witwen in dieser Zeit auch, Heu und vergab Kredite zu den gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent Zinsen. Auch die Heilkunst übte sie wie viele andere aus, stellte Salben oder Arzneien her, aber sie verkaufte diese nie für Geld. In der Steuerliste von 1614 wird Katharina Kepler neben 36 Leonberger Witwen geführt, die voller Stolz ihre Steuern als selbstständige Bürgerinnen bezahlten.

Zu jener Zeit erlebte Leonberg beunruhigende Veränderungen. Weil das protestantische Württemberg 1608 die Führungsrolle im militärischen Bündnis der Protestanten übernommen hatte, stiegen die Abgaben der Bürger. Außerdem kam es 1608 und 1615 nach Missernten zu dramatischen Preissteigerungen. Der Winter 1615 war besonders streng gewesen, die städtische Armenhilfe musste fast die Hälfte der Leonberger Bevölkerung mit Getreide unterstützen. In dieser Zeit gab es in Leonberg die ersten Anklagen und Prozesse wegen Hexerei: Im Dezember 1615, vier Tage vor Weihnachten, schauten die Leonberger zu, wie vier Frauen aus dem benachbarten Heimsheim als Hexen hingerichtet wurden.

Versammlung: 1607 imaginierte Frans II. Francken einen Hexensabbat. Beängstigende Fabelwesen streifen umher, aber auch bürgerlich gekleidete Frauen nehmen teil.

In dieser Zeit wurden auch die Vorwürfe gegen Katharina Kepler laut. Die Anklage wurde von der schwer kranken Glasersfrau Ursula Reinbold angeführt, die behauptete, Katharina Kepler habe ihr ein unheilbringendes Getränk gereicht, dadurch sei sie erlahmt und leide seither unter »unmenschlichen Schmerzen« in Kopf und Unterleib. 24 Zeugen wurden schließlich in ihrer Sache vernommen. Katharina Kepler hätte ihnen verhexten Wein gegeben, sagten einige, außerdem sei sie durch verschlossene Türen gegangen, berichteten andere. Sie hätte mehrere Leute unheilbar krank gemacht, hieß es.

Ihr ältester Sohn, Johannes Kepler, befand sich zur Zeit dieser Anklage auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er war dabei, seine Weltharmonik zu publizieren, in der er die Elemente mit geometrischen Formen in Verbindung brachte. Selbstbewusst schrieb er, Gott habe auf einen Mann wie ihn gewartet, einen Mann, der die göttlichen Baupläne voll verstehe. Kepler, dessen Vater ein Soldat gewesen war, der ständig die Familie verließ, bis er namenlos im Feld starb, verstand sich als Prophet.

Neben seinen beruflichen Zielen stand die Familie im Zentrum seines Lebens. Nach dem Schulinternat studierte er, lebte mit lutherischen Kommilitonen und Professoren und gründete seinen eigenen Haushalt, sobald er dazu in der Lage war.

Obwohl Kepler weit weg von Leonberg lebte – erst in Graz, dann im Umfeld des kaiserlichen Hofs in Prag und später in Linz –, blieb ihm die Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern wichtig. Die Verbindung zu seiner Mutter war so eng, dass Katharina 1602 allein von Leonberg nach Prag reiste, um seine Familie zu besuchen. Über Jahre schrieb Kepler Briefe nach Leonberg. Katharina, die nicht lesen konnte, ließ sie sich von ihrer Tochter oder einem Lehrer vorlesen. Ihre Antworten diktierte Katharina. Keplers Schwester Margaretha wusste, dass sie auf die Hilfe ihres älteren Bruders zählen konnte, als sie ihm 1615 wegen der Hexereibeschuldigung schrieb.

Kepler richtete sofort Petitionen an den Herzog Württembergs; er nahm seine Mutter für eine Zeit bei sich in Linz auf und brachte sie wieder nach Leonberg zurück. Schließlich nahm er das Gerichtsverfahren in die Hand, während der böhmische Krieg ausbrach und er das dritte Planetengesetz entwickelte.

Am 7. August 1620 wurde seine Mutter Katharina von ihrer Tochter frühmorgens aufgeweckt: Der Stuttgarter Vogt – ein hoher Beamter des Herzogs – und seine Männer stünden vor der Tür, sie solle sich schnell verstecken. Die nun 73 Jahre alte Frau lag nackt unter einer Überdecke in einer Truhe, als man sie bald darauf fand. Auf herzoglichen Befehl kam sie in den Stuttgarter Diebesturm.

Wenige Tage später schrieb ihr jüngster Sohn Christoph an den Herzog Württembergs, er wolle auf gar keinen Fall, dass seine Mutter in Leonberg vor Gericht gestellt werde, wo er und seine junge Familie am Marktplatz lebten – zu groß war seine Sorge, der Hexereivorwurf könne auf die Familie abfärben.

Katharina Kepler wurde in ein Gefängnis nach Güglingen bei Heilbronn verlegt. Johannes Kepler verpackte im Herbst desselben Jahres seine Bücher und Schriften in Linz, zog mit seiner Familie nach Regensburg, mietete sich dort ein Pferd und ritt nach Güglingen, um an der Verteidigungsschrift für seine Mutter zu arbeiten.

Zunächst führte er eingehende Gespräche mit seiner geschwächten, grauhaarigen, zahnlosen Mutter, die insgesamt über 14 Monate lang an Eisenketten am Boden lag und von zwei Wächtern beaufsichtigt wurde. Die Gespräche führten ihn tiefer in ihre Welt, denn er brauchte mehr Wissen über ihr soziales Umfeld, um die Zeugenaussagen besser einordnen zu können. Sie brachten ihn seiner Mutter näher.

Anfang Mai 1620 händigte Kepler dem Güglinger Vogt Aulber einen offiziellen Schriftsatz zur Verteidigung seiner Mutter aus. Mitte Mai hörte Kepler von Aulber, die ganze Akte liege noch immer in der herzoglichen Kanzlei. Daraufhin wandte sich Kepler verzweifelt an Hieronymus Gabelkhover, den Advokaten der württembergischen Kanzlei, und bat ihn, die herzoglichen Beamten zu einer raschen Fortsetzung des Prozesses zu bewegen. Seine Mutter sei jetzt seit zehn Monaten in Haft. Mit ihren inzwischen 74 Jahren sei sie im Begriff, Verstand, Gesundheit und Besitz zu verlieren. Im Juni berichtete Aulber selbst, Katharina sei außerordentlich ungeduldig geworden, befürchte, ihre Angelegenheit werde absichtlich verzögert, und bitte um Beschleunigung des Verfahrens, damit die Sache »einmal zu Ende komme«.

Kepler verließ sich in juristischen Dingen vor allem auf Christoph Besold (geboren 1577), einen produktiven und wohlhabenden Tübinger Rechtsprofessor, der 1610 auf seinen Lehrstuhl berufen worden war. Besolds Bibliothek war enzyklopädisch und auf dem neuesten Stand. Er versah die Bücher mit seinem Namen und dem Motto: »Ich schwöre dir ab, Satan, ich gehöre dir an, Christus« – als könnten diese Worte jeden Band spirituell aufladen. Besolds Fachwissen und der Zugang zu dessen Spezialbibliothek bewogen Kepler, in Tübingen Quartier zu beziehen, während er sich mit der gebotenen Sorgfalt der Verteidigungsschrift für seine Mutter widmete. Besold sollte später acht Gulden für seine Ratschläge einfordern, und ein nicht genannter Tübinger Advokat, vielleicht Besold selbst, erhielt die beträchtliche Summe von 40 Gulden als Entgelt für »Dokumente«. Es bleibt aber unklar, in welchem Umfang Besold oder ein anderer Jurist an der Verfassung der Verteidigungsschrift beteiligt waren.

Kepler, der sich nun vollständig auf den Prozess gegen seine Mutter konzentrierte, empfand zweifellos eine ungeheure Wut. Wie konnten die zentralen Regierungsstellen zulassen, dass die Finsternis überhandnahm? Kepler warnte sogar ausdrücklich vor Provinzvögten, die gern die »Rolle eines kleinen Königs« spielten und nicht zögerten, Gesetze zu übertreten. Hier spielte er auf den Leonberger Vogt Einhorn an, der das Verfahren gegen Katharina Kepler maßgeblich vorangetrieben hatte.

Kepler bestand auf einem bestimmten Prozessverfahren, dem im Römischen Recht entwickelten Formularverfahren. Es sah vor, dass alle Dokumente schriftlich vorlägen. Dadurch konnte sich die Verteidigung in vollem Umfang über die vorliegenden Beweise informieren – und Kepler war es möglich, mit seinen üblichen textkritischen Werkzeugen zu arbeiten. Denn die Befragungen der Zeuginnen und Zeugen waren so detailliert, dass eine knappe Analyse des Falls nicht mehr ausreichte.

In einem ersten Bittgesuch von 1617 hatte er drei Hauptursachen für die Verfolgung seiner Mutter herausgearbeitet: 1. Feindseligkeit gegenüber seiner Mutter infolge ihrer sozialen Situation als Witwe, 2. allgemeine kulturelle Ängste gegenüber alten Frauen und 3. ein neuer Vogt, der unbedingt handeln wollte.

Nun aber musste Kepler jeden einzelnen Zeugen durch juristische Argumente infrage stellen. Dazu stützte er sich auf Fakten, die er durch eine genaue Untersuchung der Beweise und die Gespräche mit seiner Mutter gewonnen hatte. Das war der Grund, warum Kepler nicht nur die Prozessakten las, sondern auch im Güglinger Gefängnis aufmerksam zuhörte, als sie ihm beschrieb, wie man in ihrer Welt normalerweise handelte und wie eine Leonberger Witwe witwengemäße Dinge tat.

Ziel war es, Unstimmigkeiten in der Argumentation der Gegenseite und falsche Fakten aufzudecken. Dieses Vorgehen war Kepler aus seinen wissenschaftlichen Kontroversen gewohnt. Und eine solche faktenorientierte Untersuchung der »Dinge selbst« wurde auf allen intellektuellen Feldern zunehmend gefordert.

Gute Naturphilosophen wie er bedienten sich in ihren Schriften rechtswissenschaftlicher Methoden, um schlüssig darzulegen, welche Ansicht Vertrauen verdiente. Sie versuchten, verfahrene Kontroversen über die Frage, was wahr sei und was nicht, zu beenden, indem sie einen Konsens über vernünftige Schlussfolgerungen herstellten. Kepler stieg nicht aus einem höheren Geistesleben in die schmutzigen Einzelheiten eines Strafprozesses hinab. Er arbeitete einfach so, wie er es immer tat: Jahrelanges Argumentieren für die eigene Sache in der Wissenschaft hatte ihn darauf vorbereitet, nun eine eindrucksvolle Verteidigungsschrift aufzusetzen.

Auf heutige Menschen, denen der Glaube an Hexen irrational erscheint, wirkt sein Vorgehen fast paradox: Der Wissenschaftler schloss in seiner Verteidigung nicht aus, dass Hexerei Schaden anrichten könne. Mit keinem Wort stellte Kepler den Hexenglauben an sich infrage. Doch gleichzeitig nutzte er messerscharfe Logik, um die Anklage gegen seine Mutter zu entkräften, und beharrte auf beweisbaren Fakten. Seine Verteidigungsschrift war bahnbrechend, weil sie den juristischen Argumenten gemäßigter Rechtsgelehrter zur Hexenverfolgung eng folgte und alle Einzelheiten berücksichtigte. Im Fall seiner Mutter, so das Fazit seiner Schrift, handele es sich aber eben nicht um Hexerei. Diese Schlussfolgerung leitete er über verschiedene Ebenen her. Zunächst stellte Kepler in seinem umfangreichen Verteidigungstext die Fähigkeit vieler Zeugen infrage, verlässliche Aussagen zu machen. Sie seien einfach zu jung, schrieb er, um irgendetwas anderes als Hörensagen über die Reputation seiner Mutter wiedergeben zu können. Es sei ein wichtiger Rechtsgrundsatz, dass ein schlechter Ruf wohlbegründet sein müsse, bevor Anklage erhoben werden könne.

Sarkastisch merkte Kepler an, Leonbergs neuer protestantischer Pastor Buck habe bei der Verfolgung eine solche Vehemenz an den Tag gelegt, »als habe er viele Jahre als Inquisitor gedient«. Die Parteilichkeit des jungen Pastors liege wohl auf der Hand. Er habe Katharina das Abendmahl versagt. Ursula Reinbold hingegen, die Frau, die Katharina der Hexerei beschuldigt hatte, habe er zu Hause aufgesucht, um ihr das Sakrament zu spenden, obwohl Letztere aus ihrem Hass kein Geheimnis mache. Wie Buck seien auch andere Zeugen parteiisch gewesen, voller Neid und Hass – und daher unzuverlässig in ihren Aussagen.

Kepler charakterisierte die Glasersfrau Ursula Reinbold als abergläubische, unverantwortliche, streitsüchtige und egoistische Frau, die natürliche Ursachen für ihr Leiden fehlgedeutet und infolgedessen das Recht verwirkt habe, sich bei einer ordentlich geführten Ermittlung zu äußern. Sie habe die falschen Arzneien genommen, aber ihre Symptome den »eingebildeten Hexen« zugeschrieben. Anschließend habe sie ihren Bekanntenkreis genutzt, um die Gerüchte bei hochrangigen Freunden ebenso wie bei Menschen niederster Sorte in Umlauf zu bringen.

Nur deshalb stehe Katharina nun in einem Strafprozess vor Gericht und laufe Gefahr, auf der Grundlage vager Verdachtsmomente gefoltert zu werden. Solche Prozesse auf Leben und Tod müssten aber mit äußerster rechtlicher Gewissenhaftigkeit durchgeführt werden und stets die Tatsache berücksichtigen, dass selbst »die vernünftigsten Menschen« irren könnten. Im Falle von Kapitalverbrechen verlange das Reichsgesetz zwei unparteiische Zeugen, und nach Ansicht von Rechtsexperten müssten diese und alle weiteren Zeugen Männer sein, da Frauen zu leichtgläubig, abergläubisch und unbeständig seien.

Keplers Schrift zugunsten seiner Mutter war also keine allgemeine Verteidigung von Frauen. Kepler ging wie die meisten Gelehrten seiner Zeit davon aus, dass der Verstand einer Frau dem eines Mannes generell unterlegen sei. Um faktische Beweise durch männliche Zeugen vorbringen zu können, verwies Kepler auf die Aussagen zweier angesehener Angehöriger des Gerichts, die Katharina schon fast ihr ganzes Leben lang kannten. Sie hatten Katharina nie für eine schlechte Frau gehalten. Das stützte Keplers Argument, erst die Gerüchte der Glasersfrau Reinbold hätten andere Menschen dazu gebracht, Katharina für ihr Unglück die Schuld zu geben.

Der Mathematiker argumentierte eng entlang des Reichsgesetzes. Er wies darauf hin, dass keine der in Leonberg zuvor schon verurteilten Frauen Katharina als Mithexe angegeben habe, obwohl einige von ihnen streng gefoltert worden seien. Nach dem Reichsgesetz wären solche Beschuldigungen durch verurteilte Hexen starke Beweise gewesen.

Dann wandte er sich der wichtigen Frage unrechtmäßiger Folter zu. Immer wieder benutzte Kepler Zitate aus den wenigen verfügbaren Gesetzeskommentaren, in denen darauf hingewiesen wurde, dass Behauptungen, die von zweifelhaften Zeugen oder unter zweifelhaften Umständen vorgebracht würden, keine Folter rechtfertigten. Kepler erklärte, er habe sich informiert, dass die angeklagten Frauen extreme Gewalt erlitten hätten: »Alles, was sie von sich selbst und anderen gewusst haben, wurde ihnen mit unerträglicher Pein und Marter ausgepresst.« Eine von ihnen habe, so sein schockierender Bericht, bei dieser »barbarischen Folter« ihren Daumen in der Daumenschraube verloren.

Familienangelegenheit: Der Wissenschaftler Johannes Kepler kämpfte darum, dass seine Mutter (neben Henker und Folterwerkzeug) nicht hingerichtet wurde.

Weiterhin brachte Kepler vor, es sei eine Sache, in die Häuser der Menschen zu gehen (wie seine Mutter es tat, die ein geselliges Leben geführt und oft andere Leute besucht hatte), und eine andere, eine Hexe zu sein. Bringe man beides miteinander in Verbindung, würde das jede alte, geschwätzige und unbeliebte Frau einem Verdacht aussetzen. Kepler beharrte darauf, dass generelles Missfallen an dem Verhalten einer Frau durch spezifische Gründe erhärtet werden müsse, um den Hexereiverdacht zu rechtfertigen.

Außerdem legte er dar, dass es von höchster Bedeutung sei, zwischen natürlichen und unnatürlichen Krankheiten zu unterscheiden, und zog allerhand medizinische Details heran, um seine Argumentation so plausibel wie möglich zu machen. Alle diese geheimnisvollen, angeblich durch Magie verursachten Krankheitsfälle, erläuterte Kepler, ließen sich durch medizinisches Wissen und gesunden Menschenverstand erklären: »dass Beitelspacher lahme Glieder habe, dass Bastian Mayers Frau gestorben, dass die Zieglerin einen offenen Schenkel habe, dem Badergesellen etliche Stunden unwohl im Leib gewesen und dass er sich erbrochen. Dass der Stoffel Frick ein oder zwei Tage Schmerzen im Schenkel empfunden, dass der verstorbenen Tochter des Pfarrers zu Gebersheim der Fuß wehgetan, dass dem Daniel Schneider Kinder gestorben, dass Hallers Tochter ein Arm geschmerzt habe, dass dem Jerg Beltzen eine Sau, dem Oswald Zangen ein Kalb verendet, dem Michel Stahlen eine Kuh unruhig und krank, dann aber wieder gesund geworden … aus diesen Geschichten und Fakten … werden keine wahrhaftigen Hexentaten abzuleiten sein; denn es lassen sich viele geisteskranke Frauen (phreneticae mulieres) finden und viele, die ihre Monatsblutung unterdrücken, welche dann nach einem anderen Ausgang durch Verdunstung sucht, was gemeinhin im Kopf viel Verwirrung und unerträgliche Schmerzen anrichtet. Bei sehr vielen Frauen, die in ihrer Jugend starke Blutungen gehabt und wie Rosse geblutet, kommt es, wenn sie (wie die Reinboldin) unfruchtbar bleiben, im Lauf der Zeit durch den Überfluss an Blut oder Galle zu einer Entzündung des spiritus epatici, was schreckliche Kopfschmerzen verursacht. Bei vielen ist vitium uteri enthalten, die vermutlich die Unfruchtbarkeit der Reinboldin … und gleichfalls chronische Krankheit und Kopfschmerzen verursacht. Es sterben täglich viele Männer und Frauen an der Lungenkrankheit und noch mehr Kinder an anderen Krankheiten. Es finden sich viele krumm und lahm gewordene Leute. Bei Menschen, die hart und schwer heben, tragen oder springen, ist es kein ungewöhnlicher Zustand, dass sie ihr Rückgrat verrenken.«

Eng verknüpft mit diesen Argumenten war Keplers erstaunlicher Versuch, seine Mutter als ehrenhafte Laienheilkundige zu präsentieren. Er leugnete nicht, dass seine Mutter medizinische Ratschläge erteilt hatte. Sie habe ihren Mann behandelt und mit seiner Frau Barbara über die Symptome gesprochen, als Katharina bei ihnen in Prag zu Besuch gewesen sei. Doch Kepler vertrat die Ansicht, diese langjährigen und unter Berücksichtigung älterer Erkenntnisse gemachten Erfahrungen, Beobachtungen und Experimente einer Frau bildeten eine Grundlage für seriöses und weitgehend verlässliches, wenn nicht sogar sicheres Wissen. Mit exakt der gleichen Beweisführung belegte man die Glaubwürdigkeit eines Naturphilosophen.

Kurzum, Keplers Strategie bestand darin, seine Mutter in anderem Lichte dastehen zu lassen – nicht als alte, ausgegrenzte und abergläubische Analphabetin, sondern als gottesfürchtige Bürgerin, die zuverlässiges medizinisches Wissen erwarb und weitergab sowie Kräuter für ihre eigene Gesundheit verwendete.