Das Ziel ist Rotterdam - Jürgen Lippert - E-Book

Das Ziel ist Rotterdam E-Book

Jürgen Lippert

4,8

Beschreibung

Jürgen Lippert erlitt im Oktober 2009 zwei Schlaganfälle. Wie konnte es dazu kommen? Wie lebt man mit den Folgen? Und noch viel wichtiger: Wie gelingt es, sich ins normale Leben zurückzukämpfen? Der Autor schreibt sehr eindrücklich über seine Erfahrungen mit dem Schlaganfall und darüber, wie er es schaffte, ins Leben zurückzukehren. Eine wesentliche Rolle spielte dabei ein Wunschtraum: eine Radtour entlang dem Rhein nach Rotterdam. Jürgen Lippert ist in einer Art und Weise zurückgekommen, wie es kein Arzt erwartet hätte. Er will deshalb anderen Betroffenen und deren Angehörigen an seinem Beispiel Mut machen gegen die Folgen dieser Krankheit zu kämpfen, trotz Rückschlägen nie aufzugeben und mit Hilfe einiger seiner Anregungen ein Leben mit ansprechender Qualität anzustreben.

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

 

 

Impressum 

 

Jürgen Lippert , »Das Ziel ist Rotterdam« 

 

www.edition-winterwork.de  

© 2014 edition-winterwork  

Alle Rechte vorbehalten 

Lektorat: Birgit Rentz 

Umschlag: edition winterwork 

 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

ISBN Print 978-3-86468-823-2 

ISBN E-BOOK 978-3-86468-841-6

Das Ziel ist Rotterdam 

Mein Weg zurück nach einem Schlaganfall 

Vorwort 

Er kommt plötzlich, ist schmerzlos und verändert das Leben grundlegend: ein Schlaganfall. Für den Betroffenen wie auch für das nähere familiäre Umfeld. Mir und meinen Angehörigen widerfuhr dieses Ereignis gleich zweimal im Oktober 2009.  

Was zunächst fast harmlos ausgesehen hatte, entpuppte sich bald als folgenschwere Krankheit. Vor allem der Schritt zurück in den Alltag erwies sich als schwierig. Nach der Reha etwa konnte mir niemand sagen, wie es mit meiner Gesundung weitergehen sollte. Die medizinische Grundversorgung reichte bei Weitem nicht aus, um wieder ins normale Leben zurückkehren zu können. Anderen Schlaganfall-Patienten erging es ähnlich. Deshalb musste ich eigene Wege suchen und finden, um meinen weiteren Genesungsprozess anzustoßen. 

Mit eisernem Willen und viel Eigeninitiative ist mir dieses Vorhaben gelungen. Stück für Stück habe ich mich zurückgekämpft. Stets angetrieben von meinem noch auf der Schlaganfall-Station geäußerten Ziel, die vor meiner Krankheit unterbrochene Radtour entlang des Rheins zu Ende zu bringen. Was damals völlig unrealistisch erschien, traute ich mir schließlich knapp vier Jahre später zu: Anfang September 2013 startete ich mit meiner Frau Gitta am Kölner Dom in Richtung Rotterdam …  

Mein Plan 

Das Jahr 2009 sollte ein gutes Jahr für meine Familie und mich werden. So war es jedenfalls geplant. Im März wurde ich zweiundsechzig, meine Karriere als selbstständiger Projekt-Ingenieur sollte im Laufe des Jahres ausklingen. „The party is over“, war ein häufiges Bonmot meines amerikanischen Kollegen Jim. So fühlte ich mich auch. Es war genug der Anstrengung. Endlich Zeit für die Familie und für mich zu haben – ein Luxus, auf den ich mich freute.  

Ich war jahrelang unterwegs gewesen, oft auch im Ausland, per Flieger oder im Mietwagen. In einem Rhythmus, der mich aus heutiger Sicht schaudern lässt: Freitagabends zurück zur Familie, oft sonntags schon wieder nach Ingolstadt oder an einen anderen Ort.  

Trotz all der Stressfaktoren machte mir die Arbeit stets Spaß. Nur selten fühlte ich mich ausgepowert. Bei erfolgreichen Einsätzen floss die zuvor verbrauchte Energie meist zurück, Kollegen wurden zu Freunden. Und auch körperlich befand ich mich noch in guter Form. Als Ausgleich zum Stressjob trainierte ich regelmäßig im Fitness-Studio. Meistens zweimal die Woche, ganz gleich in welchem Ort ich gerade arbeitete. Zudem ergaben die jährlichen Vorsorgeuntersuchungen nichts Beunruhigendes. Die Cholesterin-, Zucker- und Harnstoffwerte waren stets unauffällig. 

Meine Frau Gitta, mit der ich seit fünfunddreißig Jahren verheiratet bin, stand stets hinter mir. Sie managte die Familie und erledigte den kaufmännischen Part in meinem kleinen Unternehmen. Die finanzielle Sicherheit, um aussteigen zu können, war unter anderem auch ihr Verdienst. 

Vorboten und Warnsignale 

Aber das Jahr 2009 startete, gesundheitlich gesehen, alles andere als vielversprechend. Ende Januar bekam ich Schmerzen in meinem Nacken- und Schulterbereich, die sich einfach nicht besserten. Bald konnte ich den rechten Arm nur noch mit Mühe heben. War es eine unachtsame Bewegung beim Skifahren im Spessart gewesen? Oder hatte ich mich beim Schneiden der Sträucher im Garten überanstrengt?  

Unsere Freunde frotzelten: „Endlich ist es bei dir auch so weit. Wenn man in deinem Alter morgens aufsteht und es fehlt einem nichts, ist das ganz ungewöhnlich.“ Jeder von ihnen hatte seine Probleme. Sei es die Bandscheibe, das Knie oder eine Verspannung im Nacken. Nun hat es mich halt auch erwischt, dachte ich. Doch später war ich mir sicher, dass diese Schmerzen die ersten Vorboten gewesen waren für das, was noch kommen sollte. 

Das Projekt in Mainz machte Spaß, es lief gut. Die Verlags-Mitarbeiter unterstützten mich nach Kräften. Doch die 80 Kilometer Fahrt dorthin über die viel befahrene A 3 wurde immer öfter zur Tortur: Selbst das Einlegen der Gänge bereitete mir teils erhebliche Schmerzen. Die an und für sich übliche Therapie meines Hausarztes: Quaddeln, Reizstrom sowie Diclofenac in Tablettenform – ein starkes Antirheumatikum, das bei fortschreitender Einnahme die Magenschleimhaut angreift. Mit der Anwendung von Diclofenac waren die Schmerzen für jeweils zwölf bis sechzehn Stunden erträglich. Mir ging es nicht wirklich gut. 

Die Schmerzen – vor allem die Verspannung im Nacken – verschlimmerten sich zusehends. Schließlich ließ ich mich von meinem Hausarzt zum Internisten überweisen, um meinen gesundheitlichen Beschwerden endlich auf die Spur zu kommen. Dieser Internist hatte mein volles Vertrauen, denn er führte meine alljährlichen Vorsorgeuntersuchungen durch, kannte also mich und meinen Körper. 

Eine Arzthelferin entnahm Blut. Dann spritzte mir der Arzt zum Lösen der Verspannungen ein Mittel in den Allerwertesten. Was mich prompt in die Knie, d. h. auf eine Behandlungsliege zwang.  

Der Doktor nahm es gelassen. „Dieses Problem habe ich auch“, bedauerte er, legte flugs eine Infusion aus Kochsalz und brachte eine Tasse Kaffee. Beides half mir wieder auf die Beine. Schließlich erhielt ich eine Überweisung zu einem weithin bekannten Orthopäden. 

Die Besprechung des Blutbildes einige Tage später hätte mich stutzig machen sollen. „Die Auswertung des Blutzuckerwertes kann nicht stimmen, und auch die Blutsenkung hat nicht richtig funktioniert.“ So wurde es mir ärztlich beschieden. „Wir machen das Ganze noch einmal.“ 

Die neuerlichen Blutwerte gab mir dann eine Arzthelferin telefonisch durch. „Blutzucker ist okay. Sie haben einen achtfachen Entzündungswert. Das ist kein Problem. Wir haben Patienten mit dem zweihundertfachen Wert. Die sind richtig krank.“ 

Ich war also internistisch abgehandelt. 

Das Jahr war bislang ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Mein Projekt in Mainz kam zwar gut voran, die gesundheitlichen Probleme sowie private Verpflichtungen wie etwa Renovierungen am Haus usw. gingen jedoch allmählich über meine Kräfte. Gitta hatte sich mit Buchhaltungskursen weitergebildet und mittlerweile eine Ganztagsbeschäftigung begonnen. Fehlte mir ihre bisherige Unterstützung? Ich wollte ihr den Spaß an der Arbeit nicht verderben und entschied mich für verstärkten Einsatz. Also optimierte ich meine Tagesabläufe. Es musste doch ein Weg aus der Misere zu finden sein. Ich musste mich einfach weniger verkrampfen.  

Der empfohlene Orthopäde war recht freundlich. Er bat mich auf eine Liege, auf die ich mich nur unter Schmerzen legen konnte. Ich berichtete ihm von den langwierigen Nacken- und Schulterschmerzen sowie von undefinierbaren Beckenschmerzen, die sich in den letzten Tagen eingestellt hatten.  

Er zog, drückte, drehte mich und sagte zu guter Letzt: „So einen steifen Patienten wie Sie habe ich schon lange nicht mehr gehabt.“ 

Die Röntgenaufnahmen des Beckens ergaben nichts Auffälliges, so dass mir der Arzt empfahl: „Nehmen Sie weiter bei Bedarf die Diclofenac-Tabletten sowie zur Schonung des Magens Omeprazol. Zudem verschreibe ich Ihnen Krankengymnastik, Akupunktur sowie insgesamt sechs Infusionen.“ 

„Was sind das für Infusionen?“ Ich war skeptisch. 

„Das sind Infusionen aus Cortison, Vitaminen und Entzündungshemmern, die Ihnen einmal pro Woche in meiner Praxis zugeführt werden. Ebenso die Akupunktur. Beide Behandlungen werden aber nicht von Ihrer Krankenkasse übernommen. Die müssen Sie leider selbst bezahlen. Danach dürfte es Ihnen aber wesentlich besser gehen.“ 

Und tatsächlich: Die Akupunkturnadeln schienen die verspannten Nackenmuskeln zumindest kurzzeitig zu lockern und die wöchentlichen Infusionen versetzten mich zunächst in Hochstimmung. Die Schmerzen waren für zwei, drei Tage erträglicher geworden. Danach allerdings half mir wieder nur die Einnahme von Diclofenac, um über die Runden zu kommen. Leider verschafften mir auch die krankengymnastischen Übungen so gut wie keine Linderung. 

Dann Mitte Juli eine Schrecksekunde. Ich bediente gerade den Kaffeeautomaten in der Küche, als ich plötzlich alles doppelt sah. Ich rettete mich auf die Couch im Wohnzimmer, blickte aus dem Fenster und versuchte den gegenüberliegenden Wald zu fixieren. Doch vergeblich. Die Bäume schienen in sich zusammenzustürzen. Ich schloss die Augen. Was sollte ich tun? Ich überlegte fieberhaft. Konnte ich telefonieren? Ich wartete ab. Und siehe da – nach etwa 10 Minuten war der Spuk vorüber. 

Ich rief sofort meinen Internisten an und berichtete ihm von den Doppelbildern. 

„Und nach 10 Minuten war alles vorbei?“, fragte er. 

„Ja, es dauerte ungefähr 10 Minuten.“ 

„Sie hatten eine Migräne mit Aura. Ich überweise Sie aber trotzdem mal zum Neurologen.“ 

Die Dame an der Rezeption des vorgeschlagenen Neurologen nannte mir einen Termin vier Monate später. Mein Internist setzte sich für mich ein und erreichte, dass ich bereits Ende August kommen durfte. 

Mitte August besuchten Gitta und ich unseren Sohn Peter im schwedischen Karlstad, etwa drei Bahnstunden nördlich von Göteborg gelegen. Karlstad, das Zentrum des Värmlandes, ist nicht nur wegen seiner historischen Gebäude sehenswert, vor allem die ringsum reizvolle Seen- und Waldlandschaft lädt geradezu zu Ausflügen ein. Doch mir war nicht nach Sightseeing und Spritztouren ins Värmland zumute. Die Schmerzen hatten sich wieder verschlimmert, hinzu kamen nun auch noch Kauschmerzen, die mir das Essen in Karlstad oft zur Qual machten. 

Ich besprach mich mit Gitta. Wie konnte ich nur lockerer werden? Der Mainzer Auftrag lief mit meinem reduzierten Einsatz wie gewünscht – trotz geringerer Belastung wurde also mein gesundheitlicher Zustand nicht besser. Im Gegenteil. Permanente Nackenschmerzen, die mir selbst mit „Nackenhörnchen“ den Schlaf raubten, die Beckenschmerzen, die Kauschmerzen, das „Ameisenlaufen“ am Kopf. Zudem hatte ich bereits 5 Kilo an Gewicht verloren und meine Kondition hatte spürbar nachgelassen. Es musste etwas passieren. Aber was? 

Die Akupunktur-Behandlungen sowie die Infusionen beim Orthopäden waren im Laufe des August zu Ende gegangen. Auch ihn beunruhigte die offensichtliche Verschlechterung meines Gesundheitszustandes, und so verschaffte er mir innerhalb von zwei Tagen einen Termin beim Radiologen. „Wir lassen eine Knochenszintigraphie machen. Ich will Morbus Bechterew ausschließen.“ 

Ich recherchierte im Internet die Definition zu Morbus Bechterew: „Eine chronisch entzündlich-rheumatische Erkrankung, die zu Versteifungen führen kann.“  

Na denn prost!, dachte ich. Aber um zu genesen, brauchte ich endlich eine eindeutige Diagnose. Und kein ständiges Herumprobieren. Ich war guter Hoffnung, denn Ende August 2009 standen mir zwei Untersuchungstermine bevor – einer beim besagten Radiologen und einer beim Neurologen. 

Der Radiologe war ein älterer, gehetzt wirkender Arzt mit einer unfreundlichen Assistentin. Die Knochenszintigraphie fand im Liegen statt, und zwar mit einem ganz knapp über den gesamten Körper verlaufenden Aufnahmegerät. Dessen Auswertung veranlasste den Arzt zu einer hektischen Feststellung: „Wir haben etwas gefunden. Wir schauen uns das Ganze noch mal genauer an.“ 

Die nächste Aufnahme erfolgte in sitzender Haltung mit einem seltsam verdrehten Oberkörper. Damit schien der Radiologe zufrieden zu sein. Er entfernte sich ohne jede weitere Bemerkung und ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich war sehr beunruhigt. 

„Kann ich den Doktor nochmals sprechen?“, bat ich seine Assistentin. 

„Der Doktor ist heute nicht mehr zu sprechen”, erwiderte sie schroff. 

Doch ich blieb hartnäckig und so lange in der Praxis, bis mir die Bilder ausgehändigt wurden.  

Ich rief meinen Orthopäden an und erhielt einen Termin gleich am nächsten Tag. 

Der warf einen Blick auf die Bilder, lächelte nachsichtig und deutete auf einen dunklen Punkt oberhalb des abgebildeten Brustkorbes. „Dieser Punkt verrät, dass Sie Arthrose am Schlüsselbeingelenk haben. Sie sind nicht der Einzige mit Arthrose an dieser Stelle. Es schmerzt nicht und man kann es auch nicht behandeln.“ 

Also wieder kein Befund. 

Dann fuhr er fort: „Ich schlage vor, dass wir mit Akupunktur und den nächsten sechs Infusionen weitermachen. Kürzlich war ein Patient aus Wiesbaden hier, der nach der neunten Infusion schmerzfrei war. Ich denke, das kriegen wir auch bei Ihnen hin. Wir beginnen damit am besten nach meinem Urlaub Anfang Oktober – wegen der zeitlichen Abstände. Für den Übergang verschreibe ich Ihnen ausreichend Diclofenac-Tabletten.“  

Ich war wenig begeistert von dem langen Urlaub des Arztes. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dieser Orthopäde sei der einzige Arzt, der mir noch helfen konnte. Was wir beide zum damaligen Zeitpunkt nicht wussten: Wir sollten uns nicht mehr wiedersehen. 

Auch die zeitnahe Untersuchung beim Neurologen konnte mich nicht zufriedenstellen. Die eigentlich 20 Minuten dauernde Nervenstrom-Messung des Kopfes mit Elektroden war auf über eine Stunde verlängert worden. Man hatte mich schlichtweg im Behandlungszimmer vergessen. Eine Assistentin untersuchte danach noch ziemlich hastig die Halsschlagader am Doppler-Sonographen. Man entließ mich schließlich auch hier ohne Befund. 

Wären die Arteria Vertebralis, also die beiden Wirbelarterien, ebenfalls sonographisch untersucht worden, wenn es sich bei mir um einen Privatpatienten gehandelt hätte? Diese Frage habe ich mir im Nachhinein oft gestellt. Mir wäre vieles erspart geblieben. 

Anfang September war ich also immer noch ohne Befund. Eine erfolgversprechende Behandlung war nicht in Sicht. 

Mitte September schließlich wurden vor allem die Nackenschmerzen so stark, dass ich ohne Voranmeldung die Praxis eines anderen Orthopäden aufsuchte und mich für mehr als drei Stunden ins Wartezimmer setzte. Der Orthopäde erkannte sehr wohl meine extremen Verspannungen und riet mir, weiterhin Diclofenac einzunehmen und mich künftig mit Yoga zu beschäftigen. 

Ich erhöhte die Diclofenac-Dosis und erwartete sehnsüchtig das Urlaubsende meines Orthopäden.  

In der letzten Septemberwoche trat gleich mehrfach das Symptom des urplötzlichen Sehens von Doppelbildern auf. Ich ignorierte die alarmierenden Signale, immer noch der Diagnose „Migräne mit Aura“ meines Internisten vertrauend. Was ich heute noch bereue.  

Die Doppelbilder überraschten mich stets ohne Vorwarnung – etwa beim Zahnarzt oder beim Autofahren. Findigerweise löste ich das Problem, indem ich ein Auge zukniff ... 

Ende September gab es zwei Highlights, auf die ich mich gefreut hatte. Zunächst die Feier zum sechzigsten Geburtstag meines Cousins Alexander in einem vorzüglichen Lokal im Hochspessart bei Musik und Tanz. Eine Woche später dann die Fünfundsiebzig-Jahr-Feier eines Unternehmens im thüringischen Walldorf, das ich jahrelang hatte begleiten und unterstützen dürfen. 

Beide Veranstaltungen musste ich vorzeitig verlassen. Nach zwei, drei Tänzen mit Gitta war ich völlig ausgepowert, zudem hatten mich die vielen Gespräche ermüdet. Auch diese Situation war völlig ungewöhnlich für mich. Zwar hatten wir schon seit längerer Zeit keine Nächte mehr durchgemacht, aber Gitta und ich hatten bisher immer noch feiern können. Na ja, dachte ich, ich werde halt älter ... 

Das erste Ereignis 

Die Nacht auf Mittwoch, den 7. Oktober, lehrt mich das Fürchten. Gegen 3 Uhr morgens wache ich schweißgebadet auf. Ich habe geträumt, mein Kopf sei abgerissen. Beine, Füße und Arme waren noch vorhanden – nur der Kopf fehlte. Panikartig springe ich aus dem Bett, eile ins Badezimmer, knipse das Licht an, blicke in den Spiegel. Ich bin erleichtert – der Kopf ist noch dran. Ich betaste Kopf und Gesicht. Wie merkwürdig gefühllos sich alles anfühlt. 

„Die Finger sind wohl eingeschlafen“, beruhige ich mich und schlüpfe wieder unter die Bettdecke.  

Gitta schläft fest und hat von alledem nichts bemerkt. 

Am Morgen, als wir beide aufgewacht sind, berichte ich ihr von meinem Traum. Sie erschrickt und fügt hinzu: „Du bist heute Nacht einige Male ganz nah an mein Gesicht herangekommen und hast mich angestarrt. Geht es dir nicht gut?“ 

„Es geht mir tatsächlich nicht besonders.“ 

„Dann gehe ich heute nicht zur Arbeit“, beschließt sie. 

Ich wiegele ab. „Doch, das kannst du tun. Es wird schon gehen.“ 

Wir frühstücken gemeinsam, Gitta verlässt das Haus und ich gehe wie gewöhnlich in mein Büro eine Etage höher.  

Doch irgendetwas stimmt nicht. Mir wird immer eigenartiger zumute. 

Gegen 9 Uhr rufe ich in der Praxis meines Internisten an. „Mir ist ganz elend. Ich glaube, ich bekomme einen Schlaganfall“, erzähle ich der Dame an der Rezeption. 

Meine Eingebung wundert mich heute noch, hatte ich mich doch bisher nicht mit den möglichen Symptomen eines Schlaganfalls befasst. 

„Kommen Sie gleich“, sagt die Dame und legt auf. Ein Rat, der im Nachhinein recht gut in die Reihe der fehlerhaften Einschätzungen der letzten Monate passt. 

Ich ziehe also meine Schuhe an, streife die Lederjacke über – und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Mir wird schlecht, ich fühle mich schwindelig. Ich schleppe mich ins Schlafzimmer, schaffe es gerade noch auf mein Bett, und schon befinde ich mich wie in einem sich immer schneller drehenden Schwungrad, dass mir Hören und Sehen vergeht. Ich weiß nicht, wie lange diese rasende Fahrt dauert: 10 Sekunden, 30 Sekunden, eine Minute, noch länger? 

Dann ist der Spuk zunächst vorüber. Kalter Schweiß kriecht aus all meinen Poren, ich liege wie geplättet auf dem Rücken und warte ab. War das alles? Kommt noch eine Attacke nach? 

Ich bin alarmiert. Meine Gedanken rotieren. Ich brauche sofort Hilfe, das ist klar. Wie mache ich auf mich aufmerksam? Kann ich noch telefonieren? Wahrscheinlich nicht. Gitta zu verständigen und sie herzubitten würde zu lange dauern. Ich überlege. Ich muss zu jemandem hinkrabbeln oder, wenn möglich, gehen. Alle Nachbarn ringsum sind zwar hilfsbereit, die meisten aber wohl kaum zu Hause. Und ich brauche einen kurzen Weg. Ich entscheide mich für Nachbarin Karin im Haus direkt gegenüber. Mit Glück ist sie zu Hause. 

Doch kann ich überhaupt aufstehen? Vorsichtig bewege ich meine Glieder – es scheint zu funktionieren. Ich setze mich ganz langsam auf die Bettkante, verharre eine Weile und stehe schließlich auf wackeligen Beinen.