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Eine philosophische Terrororganisation im Kampf gegen fake news und alternative Fakten Die Aktivistengruppe Aletheia kämpft für die absolute Wahrheit, denn Verschwörungstheorien, Fehlinformationen und alternative Wahrheiten sind die größten Probleme unserer Zeit. Durch künstlerische Interventionen will die Gruppe die Öffentlichkeit bekehren. Aber wozu eine Sprengstoffexpertin in der Gruppe haben, wenn man nie Sprengstoff nutzt? Der neue Roman von Raphaela Edelbauer erzählt von den Bedingungen unserer Gegenwart und den Grundlagen unseres Denkens. Als Byproxy mit zwei Koffern, Laptop und Rollstuhl aus dem betreuten Wohnen für junge Erwachsene entlassen wird, übernachtet sie in offengelassenen Markständen und verbringt die Tage in den Kaffeehäusern Wiens. Dort erregen vier lebhaft über Philosophie streitende Leute ihre Aufmerksamkeit: Sie sind Aletheia. Byproxy überzeugt sie davon, sie in das besetzte Haus mitzunehmen, das den vier Hauptquartier und Kommune ist. In harten Probemonaten, während derer sie tagsüber die Toiletten putzt und sich abends durch den philosophischen Kanon gräbt, erarbeitet sie sich das Vertrauen der Gruppe. Doch während sich Aletheia auf die große Aktion vorbereitet, wachsen die Zweifel an Byproxy. Welche Schuld treibt sie dazu, jede Woche die Mutter eines bei ihrem Unfall umgekommenen Mädchens zu besuchen? Wenn hier jemand dem Anspruch nach absoluter Wahrheit nicht nachkommt, dann ist es Byproxy, dann ist es die Erzählerin selbst.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Raphaela Edelbauer
Die echtere Wirklichkeit
Roman
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Das erste Motto stammt aus »What’s the use of truth?« von Richart Rorty und Pascal Engels, übersetzt von der Autorin.
Das zweite Motto stammt aus »Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Band 1« von Hermann Diels.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.
© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte inklusive der Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten
Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München
unter Verwendung einer Illustration von Timo Lenzen
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-96630-5
E-Book ISBN 978-3-608-12476-7
Für Jana
Es hat mich, als ich Michel Foucaults Kurse am Collège de France in den 1970ern besuchte, immer erstaunt, dass ich ihn erklären hörte, dass das Konzept der Wahrheit nicht mehr sei als ein Instrument der Machtausübung und dass, da alle Macht schlecht sei, Wahrheit nur ein Ausdruck böser Absichten sein könne, – um ihn dann bei Demonstrationen unter Bannern mit dem Slogan »Wahrheit und Gerechtigkeit« marschieren zu sehen. Warum zeigen Journalisten, die behaupten ihr professioneller Codex und ihre Pflicht verlange, keine Unwahrheiten zu verbreiten, so oft Nachsicht mit Denkern, die ihnen erklären, dass Wahrheit und Rationalität nur leere Worte seien?
Pascal Engels
So treiben sie hin stumm zugleich und blind die Ratlosen, urteilslose Haufen, denen Sein und Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe, für die es bei allem einen Gegenweg gibt.
Parmenides, Über die Natur
So hatten wir es niedergeschrieben:
Es gibt nur eine Wahrheit und sie ist absolut. Diese Wahrheit ist weder eine soziale Konstruktion noch subjektiv oder bloß eine unter vielen Perspektiven auf die Dinge. Mögen sich im Laufe der Zeiten auch die Sicht auf die Wahrheit oder die Methoden, zu jener zu gelangen, geändert haben, und mag in vielen Fällen die Sinnesbeschränkung der Lebewesen nicht hinreichen, zu ihr zu gelangen, so ist doch hinter den Phänomenen die absolute Wahrheit jenseits allen Meinens vorhanden.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem Immanuel Kants Ruf nach der Ermächtigung durch den eigenen Verstand verklungen ist. Irrationalität, Wahnhaftigkeit und das Beharren auf »der eigenen Wahrheit« ziehen sich durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten und drohen das menschliche Zusammenleben zu zersetzen. Diese Entwicklung ist dem Krebs der Postmoderne zu verdanken, der der Welt den Grund genommen hat – das Wissen darum, dass es eine allen gemeinsame Wahrheit gibt, auf deren Basis die Vernunft sich entfalten kann.
Der Konstruktivismus, die Dekonstruktion, der Relativismus, mit einem Wort: der moderne Skeptizismus, glaubte Gutes darin zu tun, die Wahrheit zu einem subjektiven Phänomen zu erklären. Er übersieht dabei, dass seine Beobachtungen sich vielleicht auf die Wahrnehmung der Wahrheit beziehen lassen, nicht jedoch auf die Wahrheit als solche.
Wir wissen, dass der Aufstieg des Populismus und seiner alternativen Fakten, dass Verschwörungstheorien oder das Sabotieren der Wissenschaft dem unbeabsichtigten Wirken des Krebses Postmoderne zuzuschreiben ist.
Deswegen streben wir nach einer philosophischen Revolution. Auch wenn sich der Verfall in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre ereignet, so kann dieser Verfall nicht ohne einen Umsturz der Begriffe aufgehalten werden. Ohne den Anker eines Wahrheitsbegriffs läuft jede politische Maßnahme ins Nichts.
Wir wissen, dass viele Menschen unsere Ressentiments teilen. Wir wissen auch, dass jene Menschen fühlen, in einem Informationsstrom aus Verschwörungen, Fehlmeldungen, laschen Recherchen, maschinengenerierten Fälschungen, bewussten Manipulationen, parallelgesellschaftlichen Werbemaßnahmen und böswilliger Propaganda zu leben. Wir wissen weiters, dass sich diese Menschen nach einem Ausweg sehnen, meist ohne konkrete Idee, wie ein solcher Ausweg aussehen könnte.
Wir wissen zuletzt, dass dieselben Menschen – wir wollen sie unsere Verbündeten im Geiste nennen – gleichzeitig davon Abstand nehmen, auf einem absoluten Wahrheitsbegriff zu beharren. Sie fürchten, dadurch als autoritär oder demagogisch betrachtet zu werden – und weil sie fälschlich davon überzeugt sind, dass Wahrheit zu relativieren etwas zutiefst Demokratisches sei, treiben sie unwissentlich den Aufstieg der postfaktischen Populisten sogar voran.
Dieses Zugeständnis an die Subjektivität von allem hat uns nicht nur in eine theoretische, sondern auch in eine politische Krise gestürzt. Jene aber kann nur mit philosophischer Waffengewalt überwunden werden.
***
Es war die Stellung dieselbe, wie man sie schon hundertmal eingenommen hatte. Paul am Hebel der Matrize, Bernward laut dozierend mit Heidegger in der Hand und Brigitte, die ihre maschinengewehrschnellen Hände wieder und wieder ihre Aufwärmübungen durchrattern ließ. Die Chirurgin hatte sich kraft ihres Baustellengehörschutzes akustisch absentiert, um bei all dem Lärm nicht das Gekröse der Bomben falsch zu verkapseln. Wie den ganzen letzten Monat brüllte Dave Gahan einen Klangteppich über all das, und wann immer er damit fertig war, wendete Paul die Vinylplatte wie einen ewig rohen, zwölf Zoll großen Pfannkuchen.
Zwischen mir und der Toilette – die ich in diesem Moment aus bekannten Gründen zu erreichen versuchte – stand eine Stalagmitenformation aus mindestens dreißig Bücherstapeln, die sich vom Boden mal hüft-, mal brusthoch aufwarf. Weiters waren da auf dem Boden: Bernwards Matratze und zwei sinnlose gelbfleckige Futons; ein ausrangierter Heizkörper, unter den einer einen Haufen Plakate gestopft hatte, sowie zwei Körbe, in denen Besteck und Teller staken, seit unsere Küche einem Wasserschaden erlegen war.
Ich wollte schreien: Ihr beschissenen Idioten, macht mir den Weg frei. Ich wollte schreien: Dass der Boden tabu ist, dass ich wenigstens in meiner eigenen Bude ungehindert pissen will, habe ich euch Spastis eine Million Mal gesagt.
Stattdessen aber fragte ich: »Kann bitte jemand die Bücher zur Seite schieben?« Denn es erschien gerade heute Nacht opportun, den Frieden zu erhalten, und schließlich war der einzige Spasti gewissermaßen ich. Gerade wenn man eine Behinderte ist, müssen Sie wissen, will man um jeden Preis niemanden darauf aufmerksam machen, dass man eine Behinderte ist. Man hofft insgeheim, das Gegenüber könne, wenn man den Mund hält, den Rollstuhl übersehen und die atrophierten Skelettbeine in Orthesen-Schuhen mit dem Blick verpassen. Kurzum: Es regt sich das leise Sehnen, jemand würde einen wahlweise als Mensch sehen oder aber gar nicht; und diese Hoffnung erlischt auch dann nicht, wenn man schon gut zwei Jahre mit jemandem zusammengelebt hat.
Dass die Chirurgin sich mir nach dieser leise vorgebrachten Bitte näherte, interpretierte ich gegen jede Erfahrung als einen liebenswerten Akt. Natürlich korrigierte ihr Gesichtsausdruck diese Fehleinschätzung sofort. Zentrum ihrer Intentionen vielmehr: mir Flaschen, Husch-Grillanzünder und alte Fetzen aus der Humana-Box in die Hand zu drücken, damit ich daraus Molotov-Cocktails für den Notfall herstellte. Die Alte befand sich nun für zu gut für dererlei.
Ich sagte also nochmals, lauter und durchaus impertinenter: »Schiebt ihr nun eure verdammten Bücher zur Seite?«, und diesmal riss ich Paul aus seinem Stupor, aus der leierkastigen Drehbewegung, mit der er unsere Flugblattmelodien erschuf. Er kroch über Bernwards Bettstatt in meine Richtung, um die Barrieren aus Theorie zu beseitigen. »Alles gut?«, flüsterte er an Depeche Mode vorbei. Ich – wie zum Zeichen, dass diese Frage unpassend sei – schob ihm die Mollikiste entgegen und rollte in die Küche.
Damals war unser Wohnen in einem seit 1962 besetzten Haus Ecke Vorgartenstraße/Hillerstraße zu einem Gesundheitsrisiko geworden. Die Verkommenheit war mitnichten unser Werk gewesen, sondern die Machenschaft der meteorologischen Verhältnisse, die sich unerbittlich und durch die Ziegel hindurch zu uns hereingefressen hatten.
Man sah Schimmel an den Wänden und mittlings gespaltene Kästen, die die Konservendosen und Einrexgläser (andere Aufbewahrung durch den Moder verunmöglicht) in regelmäßigen Intervallen erbrachen. Man sah zerbröselnde Fliesenhäute – oder man hätte sie wenigstens gesehen, hätte es denn Lampen gegeben. Stattdessen ragten nur unheilvoll knistrige Kabelbündel aus den nackten Zimmerdecken, unter denen wir illegal steckten. Die Heizungen waren von Anfang an dysfunktional gewesen und die letzten unbescholtenen Fensterscheiben vor über einem Jahr gesprungen. Splitter für Splitter für Splitter zermahlen vom Frost, dem wir nichts entgegenzusetzen hatten. Man stelle sich also kerzenerleuchtete, kartonverklebte Löcher vor. Keine Durchsicht zur Außenwelt mehr möglich. Festzuhalten ist: Wenn man ein Haus besetzt und damit nach § 339 »Besitzstörung« einen Vorstoß gegen das bürgerliche Gesetz vollzieht, ist es nicht mehr so einfach, Installateur oder Elektriker zu bestellen, und ganz und gar unmöglich, dafür eine sonst parat stehende Hausverwaltung einzuspannen. Indem eine Art ewiges Basiscamp ins Kraut schießt (»interimistisch«), findet man irgendwann nichts Unangenehmes mehr daran. Bald wirken selbst funktionierende Wasserleitungen reaktionär.
Ich rangierte meinen Rollstuhl zwischen Teppichen und Steingutversprengseln auf den Gang, von dem rechts der große Gang abzweigte, wo sich Brigittes und der Chirurgin Zimmer befanden und an dessen Ende das sogenannte Arbeitszimmer war, das wir mit fünf Schreibtischen bis zur Unbetretbarkeit verstellt hatten.
Davor die Toilette. Ich wollte mich gerade mithilfe eines bereitstehenden Rutschbrettes auf den Toilettensitz hieven – (Die Person nimmt eine aufrechte Sitzposition ein. Das eine Ende des Brettes wird durch Gewichtsverlagerung ein Stück unter das Gesäß geschoben. Das andere Ende wird auf die zu wechselnde Sitzfläche gelegt. Ein Herüberrutschen auf den anderen Sitz mit vorgebeugtem Oberkörper ist nun möglich.) – als mir der hintere Griff entglitt und ich in einem ungeheuren Getöse zu Boden stürzte. Das klang so: metallisches Krachen vom seitlich weggerissenen Rollstuhl; zerbrochenes Glas, weil meine tauben Beine die einzige Stehlampe umgerissen hatten – und unbestimmbares Tongemisch, weil meine rudernden Hände Bücher und Nippes vom Schränkchen gefegt hatten. Für die anderen hatte es wohl gar nicht geklungen, weil Something to Do aus dem Plattenspieler schwappte.
Kurze Pause, ehe man sich wieder findet. Die Kacke ist am Dampfen. Man steckt in einer Situation der vollkommenen Hilflosigkeit und stellt auf einmal fest, dass man aus einem nadelfeinen Schnitt an der Schläfe blutet, woraufhin man mit den wenigen Mitteln, die einem Paraplegiker bleiben, sich an der Toilettenmuschel emporzuziehen versucht. I can’t stand another drink – It’s surprising this town doesn’t sink – You’ve got your leather boots on. Man ist jedoch zum einen vom Aufprall und dann auch von seinem ganz allgemein sedierten Lebenswandel geschwächt – mit einem Wort ganz und gar unfähig, sich aus der misslichen Lage selbst zu befreien. Natürlich bleibt man mucksmäuschenstill, sodass niemand einen »so sieht«, wie man sagt. So regrediert man am Boden zum Arthropodium. Das Gefühl, wie ein Hund in den Dreck getreten zu sein; das Gefühl, der letzte Dreck zu sein. Und dann auf einmal ein Klopfen.
»Nein, es ist alles in Ordnung, geh zu den anderen«, schrie ich förmlich – ich wusste, dass Paul, dieser feinantennige Mensch, doch akustisch von meinem Fall informiert worden war.
»Schleich dich«, sagte ich, jetzt heftiger, als er noch einmal klopfte und sich dann auf einmal der Türknopf drehte. Was für eine Person musste man sein, um sich mit einer Münze Zutritt zum Toilettengang eines anderen zu verschaffen? Was für ein Mensch hob einen ungefragt vom Boden, wobei seine Wange die eigene Wange berührte, und was für ein Mensch verklebte dann trotz der lebhaften Androhung, den nicht gegebenen Konsens nochmals zu entziehen, einen Haftverband auf die Stirn des ach so großmütig Geretteten?
»Fick dich, Paul, ich brauche deine Hilfe nicht, du brauchst vielmehr meine Hilfe, du bist vorbestraft, wenn du morgen festgenommen wirst, wirst du im Gefängnis verrotten.« – Dass ich mit diesen im Affekt getätigten Aussagen unsere gemeinsamen Interessen in der Aktion kompromittierte, würde ich erst einige Minuten später bereuen. Aber ich blutete nicht mehr, und ich pisste, weil er mich stoisch auf den Sitz gehievt hatte.
»Jetzt geh doch bitte raus«, sagte ich – er aber drehte sich nur taktvoll um und wartete, bis ich wieder aus eigener Kraft im Stuhl saß. Dann begleitete er mich zurück zu den anderen, und all das, ohne ein Wort auf meine Beschimpfung zu erwidern.
Im Grunde ist das ganze Leben eine Frage von Machtverhältnissen – eine gewaltige Bilanz aus überwiegend unbewusst eingebrachten Posten, die in sozialen Interaktionen gegeneinander abgewogen werden. Dass Paul mich von der Toilette hatte abtragen müssen, zog – wiewohl kein anderer es bemerkt hatte – Kapitalsgegenstände aus meinen ohnehin fragilen sozialen Aktiva. Ich war sozusagen zwischenmenschlich in den roten Zahlen.
»Der Ironiker ist jener, der glaubt, dass es kein finales, unhinterfragbares Vokabular gibt, mit dem er sein eigenes Handeln und seine moralischen Überzeugungen rechtfertigen kann. Können wir das so übernehmen?«, dozierte Bernward, der es sogar heute, in der vielleicht wichtigsten Nacht unseres Lebens, nicht verpasste, ein Glas Wein zu trinken, ganz einfach, weil er zu jeder Mahlzeit ein Glas Wein trank und es Ausnahmen in seinem Leben nicht gab. »Schreiben wir doch: Wie soll man auch guten Gewissens die Idee alternativer Fakten ablehnen oder auf der Vorrangstellung der Naturwissenschaft beharren, im selben Atemzug aber behaupten, dass der Körper eine formlose Anhäufung von Zeichen sei?«
»Änderst du grad das Manifest, Bernward?« fragte Paul von der anderen Seite des Zimmers aus. »Ich hab doch schon hundert Abzüge gedruckt!«
»Glaubst, dass die so komplexe Theorie interessieren wird, wenn wir sprengen? Werden andere Probleme haben«, sagte Brigitte im Vorbeiflitzen, den Stift wie immer im Mundwinkel hängend.
»Entschuldige, Paul, aber ich muss das noch ein bisschen umschreiben. Für die österreichische Bevölkerung ist es mittlerweile eine normale Erscheinung geworden, wenn ein im U-Ausschuss der Lüge überführter Politiker, gegen den materielle Fakten vorliegen, schlicht und ergreifend erwidert, seiner Auffassung der Wahrheit nach hätte er eben diese gesagt. Wie normal uns eine solche Aussage dünkt, zeigt das Ausmaß unseres Niedergangs an. Ja, so können wir das schreiben.« Bernward musste man nicht einmal Antworten zureichen, dachte ich, der war wie ein mit sich selbst streitender Automat.
»Ey, Rollstuhlpetra – das is dringend« – die Chirurgin legte mir die Kiste mit den Materialien nochmals in den Schoß. Ich sah, dass es schon kurz vor zwölf war.
»Man hätte den postmodernen Dummschwätzern, die uns diese Misere verursacht haben, ein Semester Logik aufzwingen müssen, dann hätten sich die Missverständnisse aufgeklärt – nein, das ist eventuell zu salopp. Ich streiche das. Ja? Gut.« Niemand hatte etwas gesagt, Bernward verhandelte mit sich selbst und dem Boden, auf den er beim Denken versunken hinstarrte.
Ich schwieg und schnitt ausrangierte Geschirrtücher zu primitiven Bombendochten.
»Es gibt unendlich viel, was die Sprache nicht beschreiben kann – das hört man oft, wenn man mit diesen Menschen eine Diskussion betreibt. Das mag auf den ersten Blick wohl stimmen, tatsächlich ist es jedoch grober Unfug. Denn die Aufgabe der Sprache ist es schließlich auch nicht, zu beschreiben – sondern zu schöpfen.«
»Das ist ein wenig poetisch für das Manifest, meinst du nicht?« Paul lachte entschuldigend und machte eine unsinnige Geste, die aussah, als würde er ein Akkordeon auseinanderziehen.
»Das steht nicht im Manifest, ich sage es nur euch!«, erklärte Bernward dem Boden.
»Man, du nervst. Wie soll sich da einer konzentrieren bitte?«, sagte die Chirurgin im Weggehen, stolperte aber fast, weil ihr Fuß in einem gewaltigen Topfenwickel stak, um die Unbill des Rheumas zu vertreiben. Ich schnitt weiter meine Fetzen zu und versuchte, die anderen zu ignorieren.
Obschon der Begriff Molotowcocktail zum Inbild explosiver Gefahren geworden ist, explodiert er im Grunde nicht – es handelt sich vielmehr um einen Wurfbrandsatz. In herkömmliche Flaschen abgefüllt, verlodert das Gemisch innerhalb weniger Sekunden. Solange man also keinen Menschen trifft, in dessen Kleidung das petrochemische Gemisch eine Möglichkeit zur Verbreitung findet, hält sich der Schaden in Grenzen. Seitdem die Tanks von Fahrzeugen gegen Feuer abgesichert wurden, hat sich die Tödlichkeit der Brandflasche auf ein überschaubares Maß eingepegelt. Worauf wir abzielten, waren ohnehin eher psychologische Explosionen. Für die Bürgerlichkeit schauen Mollis verdammt einschüchternd aus.
»Vielleicht wäre es aber doch besser, es ein wenig anders zu formulieren«, fabulierte Bernward. »Die fehlgeleitete Idee, dass alles, was die Realität bestimmt, in der eigenen Wahrnehmung gründet, ist pathologisch. Dass das, was wir früher als philosophische Begriffe bezeichneten, in Wirklichkeit gesellschaftliche Konstrukte sind, ist als eine Wahnidee zu bezeichnen.«
»Was soll das eigentlich werden?« Brigitte war ein weiteres Mal aus ihren Aufwärmübungen aufgetaucht. »Kotzt hier einen Monolog über Gott und die Welt. Willst unser politisches Programm in letzter Sekunde abändern. Sind eben andere, die für deine Theoriegebilde abgeknallt werden, hä?«
»Wie meinen?«, fragte Bernward, der es ehrlich nicht zu verstehen schien. Was sicher war, war, dass es klüger sein würde, sich sofort zu entziehen, denn gleich, gleich würde er explodieren.
»Wie meinen, wie meinen«, äffte Brigitte ihn nach und strich sich mehrmals über die runde, kahle Stelle an ihrem Hinterkopf. »Problem ist, dass du noch immer glaubst, Philosophie sei das Werk selbstzufriedener Intellektueller. Machst nichts, als dir den Kopf am Schreibtisch zu zermartern, hm?«
»So beruhigt euch doch, es ist ja alles anstrengend genug«, sagte Paul versöhnlich. Unser professioneller Wogenglätter.
»Dabei ist Philosophie Handeln –« Brigitte nahm einen Stuhl, hob ihn an und setzte ihn lautstark auf den Boden ab. »Wenn morgen die Säule vor dem Parlament fällt – das ist Philosophie. Wie Byproxy da die Mollis zusammenklebt – das ist Philosophie. Also pack an statt zu reden.«
Druck erzeugt Gegendruck: In wenigen Augenblicken würde Bernward angelegentlich der Vorwürfe, er, der Theoretiker, trage mit seiner Theorie nichts zur gemeinsamen Sache bei, explodieren. Weg mit den Molotowcocktails. Ich rollte fort, wieder den Gang runter, nicht ohne links und rechts die Barrikaden aus Baudrillard und Adorno, aus Rorty, Daniel Dennett und Chomsky umzustoßen, und ab in mein Zimmer.
Ich drückte die Tür zu – Schlüssel waren in unserer Gemeinschaft verboten – und wartete einige Minuten ab, ob mir jemand folgte. Erst dann holte ich eine Zigarette aus einem hohlen, eigens zu diesem Zweck präparierten Kugelschreiber, öffnete das Fenster und begann heimlich zu rauchen wie ein verhuschter Teenager. Rauchen, das war wie Fleischkonsum, das war wie Milchprodukte und Kontakte zur Außenwelt bei uns streng verboten – aber wie wohl jeder von uns übertrat ich diese Gebote, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Was wusste man, ob es meine letzte Zigarette in Freiheit sein würde. Morgen würden Autos in Flammen aufgehen. Es würden Bomben neben dem Parlament explodieren – und während die Polizei die in Stücke zersprengte Statue der Justitia begutachtete, würden unsere bewaffneten Guerillas die Universität besetzen. Brände, kleine Karambolagen – vor allem aber zweihundert auf die Knie gezwungene, sich anscheißende Kongressbesucher. Geiselnahme. Allein das wären in Summe zwanzig Jahre, wenn denn einer erwischt würde, und dass Geschworene oder Schöffen oder Richter das, was uns vorschwebte, nie und nimmer als aktivistisch verstehen würden, daran konnte kein Zweifel bestehen.
Wir hatten keine politischen Forderungen, wir hatten theoretische. Scheiße, dachte ich und blies aus, scheiße – wer keine politischen Forderungen hat, der kann auch kein politischer Häftling sein, der wird inhaftiert mit den Vergewaltigern und Messerstechern. Mich selbst als Behinderte traf das alles freilich nur bedingt, denn Väterchen Staat hatte mich bisher noch immer mit Milde behandelt.
Es liegt eine Traumatisierung vor, würde man vielleicht schreiben – denn es handelt sich um eine 21-jährige Frau, eine Waise, die ihr Leben in Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen verbracht hat. Und selbst als man sie in ein betreutes Wohnen hineinverstaut hatte, verfolgten sie noch die Bilder vom Unfall, bei dem ihre beste Freundin bei lebendigem Leibe verbrannte.
Ja, ja, das klang doch gar nicht so schlecht. Die Erfahrung zeigt, dass vor Gericht nicht die Rationalität, sondern das Mitleid Zielpunkt aller Bemühungen sein sollte. So war es wenigstens bei Paul gewesen.
Die Tür ging auf. Ich warf die Zigarette fort und fächelte sinnlos mit der Hand die Wolken fort, da stand sie schon im Zimmer.
»Komm wieder zurück, By. Die Schreifuffy und der Theoriefritze ham sich zusammengerauft«, sagte die Chirurgin und schnallte sich ihre grauen Haare mit dem Gummi eines Einrexglases zurück. »Schätz, es gibt ne Besprechung.« Ich nickte und folgte ihr. Meine Zigarette hatte sie gar nicht erwähnt. Solche Dinge waren unserer Chirurgin vollkommen egal. Sie war vom alten Schlag, wie man sagte, kultivierte ein unbegrenztes Laissez-faire für alles, was sie nicht selbst betraf. Diesen Fokus brauchte man in ihrer Position. Sie war unser Serving Specialist.
»Und zwar wird es folgendermaßen aussehen«, sagte Paul, denn tatsächlich hatten sich alle schon um den Tisch versammelt. Brigitte am Eck schäumte noch immer, während Bernward seinen Unmut in den Parkettboden hineinstarrte.
»Wenn die Chirurgin um fünf Uhr die Sprengsätze an der Westwand des Parlaments und an der Statue angebracht hat, machen Brigitte und ich uns auf den Weg zur Universität.«
Aletheia war eine kleine Vereinigung von fünf Guerillas – und weil Bernward ein Bewunderer der schnell-pfeffrigen Aktionsbereitschaft von Volleyballmannschaften war, bezeichneten wir unsere Positionen in der Sache manchmal spaßhaft nach deren Positionen.
Die Chirurgin servierte: Eine Aufschlagsspezialistin wird wegen ihres zuverlässigen Flattersprungballs eingesetzt, der seine Luftmassen unregelmäßig vor sich herschiebt und für die Gegner unberechenbar nach unten drängt. Ihre Bomben waren solche Aufschläge, die den Ball erst ins Spiel brachten.
»Wir beide«, sagte Paul, auf sich und Brigitte zeigend, »setzen uns danach für zwei Stunden ins Kaffeehaus, davor natürlich Entsorgung der Kleidung. Brauchst du einen Ausdruck, By?« Ich nickte.
»Um halb acht nehmen wir die Rucksäcke mit den Waffen vom Herzensbrecher in der Löwelstraße entgegen. Es wird dann vielleicht Einlasskontrollen an der Universitätsstiege geben.«
»Aber ist nicht denkbar, dass die den Kongress einfach ganz absagen, wenn es eine Bombe in der Nähe gegeben hat?«, fragte ich und angelte eine der angebraunten Bananen vom Tisch.
»Schwer zu sagen. Ganz so nah ist es ja auch nicht. Ich und Brigitte werden in jedem Fall versuchen, im linken Arkadenhof durchs Fenster im ersten Stock via Regenrinne einzusteigen.«
Als Powerhitter bezeichnet man Diagonalspieler, die »den Ball tot machen«, ihn versenken, und stets mit körperlicher Urgewalt und Dominanz zuschlagen. Die Aufgabe dieser Angreifer ist es, sich das ganze Jahr in körperlicher Topform zu halten und unter Stress nicht einzuknicken, weil im entscheidenden Moment kein Fehler unterlaufen darf.Powerhitter, naturgemäß: Brigitte und Paul.
»Finde das noch immer bescheuert mit der Regenrinne.« Die Chirurgin zog ein ellenlanges, in sich verschlungenes Stofftaschentuch aus ihrer Jeans, um sich zu schnäuzen. »Einfach Pistole rauf und reinstürmen. Wird ja sowieso eskalieren, nö?«
»Wir hatten’s jetzt mehrfach besprochen. Die Geiselnahme soll nicht sofort starten, sondern erst um neun, damit Bernward sich in Position bringen kann. Wir werden dann das Feuer in die Luft eröffnen und die Türen sichern –«
»Und auf wie viel Munition habt ihr euch geeinigt?«, fragte ich. »Wie viel nehmt ihr zusätzlich mit?«
»Gar nichts«, sagte Paul und schüttelte in einer seiner idiosynkratischen Gesten die Hand. »Wir haben jeder 17 Schuss im Magazin, und nachdem wir nicht planen, überhaupt zu schießen, reicht das.«
»Aber wenn die das riechen?« Brigitte riss sich direkt neben dem Ohr ein Haar aus. »Die Polizei? Dass wir bluffen?«
»Ach du!«, sagte dieses lächelnde Paulchen, als würde es jemanden liebevoll necken wollen und nicht in wenigen Stunden vor der Wega flüchten müssen. »Die können das doch nicht riechen, sondern müssen auf Nummer sicher gehen.«
Fakt war: Sie war von uns allen die umsichtigste – aber sicherlich auch die am wenigsten zimperliche, und dass sie darauf zu bestehen schien, mehr Munition mitzunehmen, hieß wohl, dass sie nicht ausschloss, sie im Notfall zu verwenden.
»Geplant ist, dass wir die 200 Geiseln zunächst für eine Stunde hinhalten. Sicher werden schon währenddessen ein paar in Sturmausrüstung eintreffen, aber sie werden dezimiert sein wegen der Angriffe am Parlament. Willst du noch mehr Wein?«, fragte Paul Bernward, der natürlich den Kopf schüttelte. Mehr als ein Glas war ausgeschlossen, selbst heute. »Die Leute müssen knien, Kopf zwischen die Beine, zehn Meter Abstand von Fenstern und Türen. Und dann – dann kommt Bernward um zehn Uhr über die Universitätsstiege und gibt sich als Leiter unserer Zelle zu erkennen.«
Der Setter oder Zuspieler ist der Regisseur eines Teams. Die zweite Ballberührung geht immer an ihn: Im Sekundenbruchteil muss er entscheiden, wer den Angriff ausführen soll, und präzises Zuspiel vornehmen. Alle Bewegung, jede Koordination läuft beim Setter zusammen.
»Werden die ihn denn überhaupt vorlesen lassen? Ich meine, wieso sollten die denn einem Mitglied einer Terrorzelle Bildschirmzeit geben?«, fragte ich.
»Bildschirmzeit? Pfff! Glaubst doch wohl selbst nich, dass da der ORF reinspaziert!«, blaffte die Chirurgin und fuhr dann mit einer Hand an ihre Backe, als habe ihr eigener Ruf ihre Zahnhälse beleidigt.
»Ganz im Gegenteil erwarten wir geradezu den ORF« – Bernward stellte das leere Weinglas schwunghaft auf den Tisch zurück wie um gute Stimmung zu verbreiten – »denn die postmoderne Medienlandschaft ist in Wirklichkeit versessen auf solche Aufnahmen, ganz einfach.«
»Denk an Gladbeck«, sagte Brigitte grinsend.
»Das weiß ich schon, aber – ach, fickt euch.« Die Chirurgin machte eine wegwerfende Handgeste. Jetzt bloß keinen Konflikt, beruhigte ich mich innerlich. Jetzt bloß nicht wieder alles durch diese interne Narzisstenscheiße gefährden.
»Nun, dann ist ja alles klar«, sagte Paul und klatschte in die Hände.
»Nicht alles klar«, sagte Brigitte. »Hast Byproxy vergessen.«
Ein Lockvogel oder Decoy hat die Hauptaufgabe, den gegnerischen Block dazu zu veranlassen, sein beobachtendes Warteverhalten aufzugeben und zu handeln. Meist schlägt der Decoy nicht selbst. Dennoch muss er psychisch so stabil sein, dass er jeden Sprung voll ausspringt. Seine Erfolgsorientierung muss sich nicht auf verwandelte Angriffe, sondern auf von ihm gebundene Blockspieler richten.
»Byproxy weiß Bescheid«, sagte ich. »T minus drei Minuten vor der Sprengung ist sie vor Ort, aber weit genug weg. T minus eine Minute –«
»Ist schon gut. Machen wir einen Uhrenvergleich.« Bernward streckte seine räudige Helbros aus den 50er-Jahren hoch. Vertrauenserweckend.
»Haben wir schon« – wieder ich – »T minus eine Minute rollt Byproxy in Richtung Schmerlingplatz, sie hält nach dreißig Sekunden neben dem Tor sechs an, um auf den Stadtplan zu sehen, sie zerbeißt bei T minus zehn die Blutkapsel, sie schneidet sich schon etwas davor ins Handgelenk, sie schneidet sich in den Schenkel –«
»Du stehst mit der Vorderachse deines Rollis genau beim blauen VW Santana, ja? Den der Herzensbrecher parkt«, sagte die Chirurgin. »Wir haben bei zwei Kilo TNT, also für einen Umkreis von sieben Metern mehr als 280 Millibar Druckdifferenz. Jeder Zentimeter, den du näher dran hockst, wird die Schmerzen schlimmer machen, capisce?«
»Und es gilt noch immer: Du kannst Kunstblut verwenden, statt dich zu schneiden«, sagte der verweichlichte Paul.
»Das merken die doch«, sagte ich ruhig. »Da werden Notärzte kommen, da werden Spezialeinheiten kommen, da werden Sachverständige kommen, das ist doch der Sinn des Ganzen. Kunstblut – das kannst du vielleicht im Film machen, aber wir – wir brauchen absolute Authentizität. Echtheit, Junge.«
Die Rolle des Decoys, meine Rolle also, verlangt zweierlei: erstens, Kompetenz darin, sich mit fremden Identitäten zu bekleiden, und zweitens, die Stoffe, aus denen diese Biographiekostüme bestehen, zeitnah wieder zu entsorgen.
»Die Rettung wird kommen und ich schreie wie am Spieß. Man wird naturgemäß meine Daten erheben, man wird meine Sozialversicherungsnummer abfragen. Ich werde diese Augenblicke der Ablenkung so lange wie möglich herauszögern und dann verschwinden.«
»Dann schneide dich aber nicht wieder zu tief«, sagte Bernward streng, der noch immer an seiner Uhr herumnestelte, obwohl wir ja gar keinen Uhrenvergleich gemacht hatten.
»Wechselgewand hab denn ich. Geh’s noch heute Nacht hinterlegen.« Die Hand der Chirurgin, die beim Verkabeln der Bomben so ruhig gewesen war, zitterte nun. Wir alle zitterten, wir alle spürten jetzt, wo alles geklärt war, diesen speziellen Tremor und die Furcht vor dem, was morgen früh unser Leben erfassen und verwüsten würde.
Wir alle hätten vor der Stille kapitulieren müssen, hätte unser feinnerviger Paul nicht die Platte gewendet und aus der Küche eine Flasche Korn herbeibefördert, die er – ohne den Segen Bernwards abzuwarten – reihum in kleine Gläser verschenkte.
Let tomorrow and today / Bring a life of ecstasy / Wipe away your tears of confusion / Ifyou want to be me.
»Ich hab euch noch was gepackt – Proviant«, sagte die Chirurgin und zog ein Paket unter dem Tisch hervor, wie um das Flattern ihrer Finger zu verbergen. Aber Brigitte schüttelte den Kopf.
»Einen Tag nichts zu essen ist für einen Guerilla kein Problem. Weniger Ballast. Was sagst du, Paul?« Sie warf den Kopf zurück beim Trinken, mechanisch-hart, das Glas ging auf die Tischplatte nieder, die Sache war erledigt.
»Ach ja«, sagte Bernward. »Die Chirurgin hat das mit mir besprochen. Es ist freilich nicht wirklich Proviant, es ist –«
»Es ist was?«, fragte Paul, dieser Trottel, neugierig. Ich hatte durch Bernwards Tonfall sofort gewusst, was es war.
»Eine Tablette, die jeder von uns mitnimmt. Gott behüte, dass wir gefasst werden, aber falls einer von uns in eine schlimme Situation kommt –«
»Ihr habt WAS besprochen? Versteh ich – versteh ich grad richtig –« Brigitte drehte sich zu mir, und jetzt fuhr ihre Hand wieder zum Bleistift auf dem Tisch, an dem sie heftig zu saugen begann.
»Ich steh grad auf der Leitung. Was für eine Tablette?«
»Eine Suizidtablette, Paul. Fucking Selbstmordkapsel. Habt ihr den Verstand verloren?«, rief Brigitte.
»Es wäre nur für den Notfall angedacht«, erklärte Bernward recht einfühlsam den Holzdielen, statt uns dabei in die Augen zu schauen.
»Das ist ein Witz, Bernward, oder?«, fragte Paul. Erstarrt, weit aufgerissene Augen; Ausdruck eines Missverhältnisses zwischen Sauerstoffangebot und -bedarf.
»Nimm das einfach, ich misch mich da nicht ein.« Die Chirurgin warf das Päckchen, das in alte Stoffreste von ihrem Nähtisch gewickelt war, zu mir. Brigitte sprang auf.
»Was plant ihr da bitte? Wir sind doch nicht bei den Nazis, wir sind – Aktionisten, sind –«
»Ich halte das für ein wenig übertrieben«, sagte nun auch ich. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist doch, dass wir eben in den Hefen gehen. Oder nicht?«
»Wer weiß, was der wirklich plant!«, schrie Brigitte, zog den Stift aus dem Mund und zeigte damit auf Bernward. Ein wenig Speichel tropfte zu Boden.
»Ich plane gar nichts! Es ist eine Sicherheitsmaßnahme! Alles bleibt beim Alten!«, rief er und schien gar nicht zu verstehen, warum sein Vorschlag so heftige Reaktionen hervorrief.
»Hefen? Was redet ihr alle auf einmal? Ich verstehe das nicht. Wir haben gesagt, dass sie nur das Manifest abdrucken und ein Fluchtauto stellen sollen. Wir fahren erst los, wenn wir alle im Fluchtauto sitzen, oder nicht?« Paul war mit dem Gesicht in seine Hände getaucht. Ein Nervenzusammenbruch vielleicht? Er war erst vor drei Monaten aus der Haftanstalt Stein entlassen worden, wo die Beamten ihn in verabredeter Verbindung an der Gesundheit geschädigt und die Verpflichtung zur Fürsorge oder Obhut gröblich vernachlässigt hatten. Kein Wunder also, dass allein die Idee, ein Risiko zur Festnahme zu evozieren, ihn förmlich auseinandernahm.
»Alles, was ich sagen wollte, ist, dass wir nicht wegen mangelhafter Vorkehrungen riskieren sollten, dass wir nicht spontan noch einen Schritt weitergehen können«, sagte Bernward. »Der Staatsapparat und die euch bekannte Presse werden vielleicht nicht willens sein, ihre Gewohnheiten zur Debatte zu stellen. Wenn wir weitere Zugeständnisse –«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was du mit der Erwirkung solcher Zugeständnisse meinst.« Ich steckte die Hände in die Hosentaschen, im Versuch, ganz beiläufig zu scheinen, aber Brigitte unterbrach mich.
»Du bist gestört, Bernward. Wir sind bewaffnete Guerillas. Haben seit Monaten für diesen Moment trainiert. Die Polizei wird uns jagen und mit Scharfschützen abknallen, wenn wir von unseren Sicherheitsvorkehrungen abweichen. Aber was red’ ich, wir sollen uns ja gleich suizidieren!«
»Du bist irrational« – ein dermaßen charmeloser Mensch wie Bernward konnte eine solche Situation nicht mehr drehen, das war klar.
»Können wir nicht einfach einen von den Philosophieprofessoren erschießen? Herrgott!«, schimpfte die Chirurgin zu ihrem langen Taschentuch hin, das nicht mehr in ihre Hosentasche zurückwollte. »Einen zweiten nehmen wir mit – verbunkern uns, und dann überprüfen wir im Fernsehen, wie man unseren Forderungen entspricht.«
»Erschießen?«, fragte Paul. »Ihr seid ja alle durch, ihr seid ja wahnsinnig geworden.«
»Liebe Leute, ich will euch nicht abmahnen, aber wenn jemand noch schlafen will, dann besser jetzt, in drei Stunden müssen wir uns fertig machen«, sagte Bernward, als hätten wir uns gerade nur um eine wirklich unsinnige Nebensache gestritten.
Natürlich würde heute Nacht gar keiner schlafen. Wir würden uns anschreien, bis der Morgen graute, und dann schließlich tun, was wir ohnehin geplant hatten. Denn so war es bei uns immer gewesen: Bernward wollte Theorie und kannte sich mit der Praxis nicht aus. Brigitte wollte Taten, auch wenn sie sich und andere damit an die Wand fuhr. Die Chirurgin wollte fliehen, schon während sie noch anwesend war. Paul wollte die Illusion von Sicherheit erzwingen.
Und ich – ich wollte erzählen.
Da war eine Leiche in einem Labor alter Schule: ein Mann im weißen Kittel, der in merkwürdig neonfarbenem Licht in einer Pfütze lag, die halb aus Blut, halb aus einer transluziden Flüssigkeit zu bestehen schien. Rund um ihn Verwüstung: zerbrochene Fläschchen, Kolben, Bunsenbrenner und eine robuste Olympia-Schreibmaschine, die er im Todeskampf vom Tisch gezogen haben musste. Klickte man auf das linksstehende Mikroskop, konnte man einen der wesentlichsten Hinweise erkennen: eine Petrischale, in der tausende Mikroben schwammen – eine Ursuppe, in der gerade etwas Ungeheures zu geschehen schien. Und dann war da noch ein zweiter Mann, der, schockiert über den ersten gestützt, dessen Hand in der seinen hielt und sich allein durch diese Geste als ein Freund offenbarte.
Ein Schnitt durch das restliche Haus erlaubte aber, auch in andere Räume zu sehen wie in einem Diorama. Das heißt, man konnte erkennen, dass neben dem Zimmer, in dem der Mann lag, noch weitere waren. Links und rechts befanden sich andere Laborräume, während darunter, durch diese mit einer Stiege verbunden, Büros waren, in denen Dokumente und Bürobedarf gelagert waren. Auf dem Gang standen zwei sich unterhaltende, Zigaretten anzündende Frauen, die von den tödlichen Geschehnissen oben nichts mitbekommen zu haben schienen. Auf Gegenstände und Personen konnte man klicken, sie untersuchen: Die beiden rauchenden Frauen etwa offenbarten dabei einen Dialog, der verriet, dass die eine der beiden erhebliche Schulden angehäuft hatte. Man sah bei jenen Zooms in die Charaktere auch, was jeder dabeihatte: ein anderer Wissenschaftler, der im Nebenlabor stand, etwa eine Dienstliste, ein Buch über das Paläozoikum und einen Umschlag mit Geld.
All das war gefroren in der Zeit – ein Wimmelbild, in dem man Informationen sammeln konnte, Notizen entdecken, sie genauer studieren, sie vergrößern – in dem sich aber dadurch nichts änderte. Wie ein deduzierender, jedoch vollkommen machtloser Gott, war das Größte, was man erreichen konnte, zu untersuchen, was geschehen war. Und dann waren da auch Wirbel und Farbverschiebungen, die nicht hätten sein dürfen. Auf einmal begann die Leiche, die doch eigentlich nur hätte liegen sollen, zu zucken und sich zu winden, als würde etwas sie von innen würgen.
»Das ist wohl eine Pre-Alpha-Version?« Der Typ sah aus, wie man sich einen an Kalifornien gescheiterten Investor vorstellen würde – Flare Jeans, Fu-Manchu-Bart, Lederjacke über Karo-Hemd – und ich wusste schon jetzt, dass ich verloren hatte. Solche Typen, quasi der Reintypus eines Typs, können Imperfektionen nicht abfedern, sondern wollen nur Ladenfertiges, da sie entgegen ihrem Auftreten den ganzen Tag nichts anderes tun, als den Speichel eines Vorgesetzten zu lecken.
»Kleinen Moment, das ist nur die Hardware. Sekunde – na, jedenfalls ist das Ziel des Spiels, dass man nur über die Szene herausfinden soll, wer all diese Leute sind, in welcher Beziehung sie stehen, und natürlich, was passiert ist. Ach Gott, da stimmt was nicht«, sagte ich, wovon sich der Typ aber gar nicht irritieren ließ. Mein Computer war ein zehn Jahre alter Toshiba Satellite A20, der stets zur Unzeit einzugehen pflegte. Einen neuen zu kaufen war in meiner momentanen Lage ausgeschlossen. Bausparvertrag und diverse Notgroschen hatte ich letztes Jahr aufgebracht – und jetzt, jetzt saß ich dem Typen gegenüber und hoffte nichts sehnlicher, als dass er mir anbieten würde, auf Firmenkosten einen Toast zu bestellen.
»Immer problematisch, wenn man ein Spiel ganz alleine entwickelt, da gibt’s meistens Makel. Das konnte ein Chris Sawyer noch machen, als man vorgerenderte Grafiken verwendet hat. Heute wollen die Leute einfach mehr. Ist so. Nix gegen Sie. Ist so.«
»Nun«, sagte ich, »dann lassen Sie sich diesmal geneigtest vom Gegenteil überzeugen.«
Unter einem Think-Backwards-Game versteht man ein Spiel, in dem nicht Figuren noch Strategien die Modulatoren sind, die bewegt und variiert werden müssen, sondern die Zeit selbst. Man spielt Ursache und Wirkung, und zwar spielt man sie rückwärts. Das Ziel eines TBG ist es, herauszufinden, wie es zu einer Situation gekommen ist, also rückwärts von der Anschauung zum Grund zu kommen, und zwar durch Indizien und Extrapolation von Wenn-Dann-Zusammenhängen, kurzum durch das Entwerfen von Fiktionen. TBGs sind für Einzelspieler, Kooperation ist also nicht möglich.
Wir nennen die Szenerie, mit der der Spieler anfangs konfrontiert wird, das Ausgangslevel. Durch Klicken auf verschiedene Hinweise muss eine Idee davon gewonnen werden, wie es zur dargestellten Lage gekommen ist. Solche Hinweise können etwa sein: Papierstücke, Briefe, Karten, die Positionen von Menschen, Dinge, die die Leute mithaben, und andere stumme Hinterlassenschaften. Das bedeutendste Werkzeug aber ist die Spekulation, die Ausschlussdiagnose. Das Think-Backwards-Game ist ein Rätsel nach dem Typ der sogenannten Logicals. Wird der Hergang des Verbrechens über ein Textfeld schließlich richtig benannt, springt der Spieler ein Stück zurück in die Vergangenheit der Geschichte, wo eine weitere Szene dieses Kriminalfalls auf ihn wartet. So ist die Methode zu wiederholen.
Ein TBG ist kein Text-Based-Adventure. Es hat Bilder, es hat ein grafisches Interface. Der Spieler tippt keine spekulativen Befehle ein, um in der Handlung vorwärtszukommen, er sammelt Hinweise, um etwas zu erkennen.
Ein TBG ist kein Point-and-Click-Adventure. Zwar kann man Gegenstände betrachten oder benützen, jedoch keine Effekte damit erzielen, da der Wirkhorizont eines TBG die Vergangenheit ist und nichts in die Zukunft Gerichtetes vorgenommen wird.
Ein TBG ist kein Detektivspiel, denn das, was es einzigartig macht, ist dass man das Rätsel gar nicht kennt, das man lösen soll.
Die Erfinderin der Think-Backwards-Games, das bin ich. Für das Schreiben eines Think-Backwards-Games ist die entscheidendste Fähigkeit, die vollkommen willkürlichen Enden der Entropie einer Geschichte – DER Geschichte – zusammenbinden zu können. Alles, was dem Spieler bleibt, ist herauszufinden, was passiert ist. Man spielt nicht als ein Charakter, sondern als omniscienter, quasi auktorialer Beobachter. Am Ende erhält der Spieler weder Belohnungen noch Upgrades; allein das Wissen, das Aha-Erlebnis, das er durchs Nachdenken erwirbt, ist die Belohnung.
»Wollen Sie auch etwas essen?«, fragte ich beiläufig. »Etwas Kleines?«
»Was soll eigentlich das Setting? Ist das ein Labor oder was?« Ärgerlicher- und vor allem auffälligerweise würde ich meine Frage nun wiederholen und auf eine Gelegenheit für diese Wiederholung warten müssen.
Ich hatte meine Hoffnung abgelegt, dass aus solchen Treffen jemals etwas resultieren könnte, was einem Vertrag ähnelte. Vielmehr war die Erwartung eines sogenannten Bewirtungsbelegs zum tragenden Grund geworden, mich die Gumpendorferstraße hinunter ins Café Sperl zu schleppen. Da nämlich Typen jeden Handgriff, der für die Firma unternommen wurde, mit einer abgesetzten Mehrwertsteuer untermauerten, und weil wir wenigstens offiziell geschäftlich miteinander verkehrten, konnte man sich die Bestellung eines Kaffees (obligat) sowie eines Schinken-Käse-Toasts (optional) zubilligen.
»Ich habe das Spiel im Milieu der Wissenschaft angesiedelt, weil es inhaltlich ein formales Element widerspiegelt. Es geht um das Ableben von Doron Markovic, einem Biologen, der gemeinsam mit einigen Kollegen über den Ursprung des Lebens geforscht hat. Die Frage ist, was er darüber so Brisantes herausgefunden hat, dass er sterben musste. Während man mehr und mehr über sein Leben herausfindet, geht man auch biologisch immer weiter zurück. Herr Ober!«
»Um Gottes Willen, kompliziert! Und der Titel Capricorn wird dir jetzt auch nicht unbedingt helfen, das zu verkaufen. Das ist ja eigentlich bloß ein komplizierteres Cluedo, oder nicht?«
»So würde ich es nicht sagen.« Ich lächelte eisern. »Außer dass es um negative Beweise geht und man herausfinden muss, wer was nicht getan haben kann. Aber das wirklich Besondere an meinem Entwurf ist, dass es keinerlei Upgrades gibt oder Gegenstände, die man bekommen kann wie bei den herkömmlichen Point-and-Click-Adventures«, sagte ich. »Alles, was der Spieler bekommt, sind Informationen, das heißt, man könnte sagen, dass alle Upgrades im Hirn der Rezipienten stattfinden. Man hat eigentlich von Anfang an alle Möglichkeiten, zum Beispiel diese zerbrochene Tafel zusammenzusetzen. Aber dass man das kann, erfährt man erst später.«
»Mir gefällt das Design nicht. Es wirkt beengt irgendwie.« Das Problem an Typen ist ihre vollkommene, geistesentleerte Verdummung, die nach Modeworten schnappt wie ein manischer Köter. Aber ich disziplinierte mich in die Geduld hinein, um wenigstens nicht mit leerem Magen nach Hause zu kommen.
»Ich bestelle etwas Kleines. Entschuldigung –« Erfolgloses Bewinken des Obers.
»Ich meine, dass man nichts verändern, sondern maximal herausfinden kann, wie es zu einer Situation gekommen ist – da ist ja gar keine Action drin. Und in Zukunft würde ich visuell ansprechendere Szenarien wählen, die Naturwissenschaft interessiert echt nicht alle. Manche haben da sogar ein Trauma. Ich zum Beispiel, hahaha!«
»Das Setting ist nötig wegen gewisser Twists in der Story. Ich dachte, Sie sollten vielleicht selbst spielen – ich will’s Ihnen nicht verderben.«
»Ja, vielleicht irgendwann mal.« Er nahm einen Zahnstocher, obwohl er gar nichts gegessen hatte.
»So wie die Wissenschaftler selbst, muss man gewisse Regeln des Spiels erst herausfinden und sie dann sofort anwenden. Da zum Beispiel findet man heraus, dass diese Uniform von Postdocs getragen wird. Und dieses Wissen dient allein dazu, dass man später weitere Postdocs identifizieren kann«, sagte ich, um das Gespräch zu verlängern, denn jetzt, wo das Stichwort »in Zukunft« gefallen war, würde der Typ erfahrungsgemäß jeden Augenblick die Rechnung ordern.
»Ich nenne es Test-Cases, wenn man dem Spieler durch das Spiel selbst etwas beibringt. Hast du … na zum Beispiel Harry Potter gelesen?«
»Ich lese nicht. Keine Zeit. Aber ich weiß auch so, worum’s geht.«
»Man findet an einer anderen Stelle heraus, dass Nagini, die Schlange, ein Horcrux ist, und zwar allein dazu, dass man später von selbst begreift, dass lebendige Wesen Horcruxe sein können und Harry auch einer ist. Ein Aha-Erlebnis. So fühlen sich die Leute schlau und bleiben dran.«
»Jaja, schon klar«, sagte er, wiewohl ihm nicht das Geringste klar war. Aber da hatte ich mich schon vornübergelehnt, soweit es einer peripher Gelähmten eben möglich war, und streckte meine Finger nach dem Kellner. »Aber dermaßen verbuggt, wie das noch ist, muss man wenigstens – ich weiß nicht – schießen können oder ein Raumschiff fliegen. Etwas Cooles. Vernunft ist nicht cool.«
»Kann ich bitte einen Toast haben?« Der Kellner nickte. Was für ein Triumphgefühl – der eigentliche Erfolg, dem Leben ein warmes Sandwich abgetrotzt zu haben.
Es war nämlich zur damaligen Zeit so gewesen, dass ich in einer Einrichtung wohnhaft war, die Menschen enthielt, die – wie es im Gesetzestext hieß – alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen wussten, und dass daher eine strenge Ausgangssperre ab 21.00 einzuhalten war, die ich nicht selten überstrapazierte. Zwar, sagt der Staat, müsse auf eine bedarfsgerechte Ernährung oder Diät sowie eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr vonseiten der Betreiber geachtet werden, doch diese Pflicht der Obsorge war lediglich der Menge nach geregelt, nicht aber, was die Qualität der Speisen oder die Gesellschaft bei der Aufnahme betraf. Es ist nicht schwer vorzustellen, dass die Gemengelage eingefrorener Wachsgesichter von Hirnverletzten, Schizophrenen, freilich immer untermalt von schlurfschrittigen Alzheimerfüßen, einem den Appetit verdarb. Man muss inmitten von Verrückten und geistlos Gewalttätigen um sein Leben fürchten, vor allem wenn diese ausnahmsweise für eine halbe Stunde Gabel und Buttermesser erhalten.
So also hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, außerhalb zu essen und mich auch ganz allgemein möglichst von meiner sogenannten Heimstatt fernzuhalten. Der geduldete Verbleib ist im Wiener Kaffeehaus großzügig bemessen. Ein Soda Zitron (klein) etwa erstand eineinhalb Stunden, eine Melange ganz locker zwei – ein Toast bedeutete eine zusätzliche halbe Stunde – besser gesagt, das hätte er, wäre es nicht knapp vor meiner Zeit gewesen.
»Ich sags dir«, sagte der Typ, dem ich nur mehr halb meine Aufmerksamkeit schenkte, weil schon der Toast den Weg in meinen Mund fand – »wie es ist. Mit diesen Glitches, wie da alles so ruckelt und zittert, wenn sich die Figuren bewegen, das kann ich so nicht verkaufen. Die Charaktere haben ja gar keine Konturen.«
»Das ist zum Teil auch Absicht, das sind nicht nur Bugs«, sagte ich kauend. »Es soll auch dieser unheimliche, unwirkliche Effekt entstehen, dieser Riss in der Realität des Mannes, der den Tod seines besten Freundes nicht verarbeiten kann. Man muss aber natürlich das Ganze auf einer potenteren Maschine –«
»Schau, Pe- oder soll ich dich echt Byproxy nennen? Entwickler – ich meine übrigens in der männlichen Form immer die Frauen mit, nicht bös sein! – Entwickler von Indie-Spielen, grad wenn sie solo arbeiten, wollen immer, dass das Spiel ihre Handschrift trägt, was Besonderes ist, wie man sagt. Aber das ist meistens ein Fehler aus Produzentenperspektive. Erstens sowieso solo zu entwickeln« – er stieß ein kleines, unsinniges Glucksen aus, um seinen Angriff zu relativieren – »und vor allem aber zu glauben, dass die Leute Kunst wollen. Die Leute wollen Mainstream, der sich als Kunst verkleidet. Sympathische Protagonisten, die zur Zierde ein paar raue Stellen haben. Normschöne Oberflächen, die ein winziges Schnörkelchen, ein homöopathisches Maß an Widerspenstigkeit haben. Ich tu in Meetings oft so, als würde mich so ein Zeug interessieren, aber im Endeffekt – na, ich bin nur ehrlich.«
»Was für Zeug?«
»Na, dieses Biologieding, in dem Fall. Man sieht ja gar nicht, was das für einen Sinn hat.«
»Danke für deine Meinung«, sagte ich und faltete eine sorgfältige, harte Kante in meine Serviette, ehe ich meine Lippen betupfte.
»Ich würd die ganze Sache nochmal scripten und zwei, drei geschäftstüchtige Jungs anstellen. Hintergrundgeschichte raus, Emotion rein. Paar Sachen verstecken, damit die Leute glauben, dass es ein Geheimnis gibt, und fertig. Es ist heutzutage eine Formel, und dann spielt man für die Journalisten noch, es sei was Autobiographisches gewesen. Das wäre mein Tipp. By the way – ist es in Ordnung, wenn ich zahle? Ich muss noch zu einem Dings –«
»Natürlich, du hast sicher schrecklich viel zu tun«, sagte ich freundlich zu dem Arschloch, das mir gerade zu verstehen gab, dass ich seine Zeit gestohlen hatte. »Ich komm allein klar. Es war mir eine ungeheure Freude, dass du dir die Zeit genommen hast!«
»Super. Nix für ungut. Alles easy«, sagte der Typ, zog sich seinen elendshässlichen Pseudoethnomantel an, und weg war er. Da sah ich, wie ich mich gleichfalls widerwillig zusammenpackte, auf die Uhr und begriff auf einmal, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Fuck, fuck, fuck, neun vorbei – ich stürzte aus der Tür, und ab dafür. Da war ich auf der Gumpendorferstraße. Da rollte ich ums Eck auf die Lehárgasse. Da stürzte ich so schnell ich konnte gegen die tickende Uhr das Abschüssige hinab.
Wer sich in unserer Anstalt einen ernsthaften Verzug zuschulden kommen ließ, hatte mit Konsequenzen zu rechnen, die ein Normalbürger nicht mit einer Schutzeinrichtung in Verbindung gebracht hätte.
Ein betreutes Wohnen ist zwar, so sagt das Gesetz, so konzipiert, dass Menschen mit einer Lern- oder sozialen Schwäche ein Schonraum oder eine Wiedereinstiegshilfe in die Gesellschaft geboten wird. Der Theorie nach wird mit jungen Menschen wertschätzend in Beziehung getreten, um Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. (Margaretenstraße. Mir brannten die Arme. Schwierig, jeden zweiten Abend einen Wettlauf mit der Zeit zu bestreiten, wenn man Kette rauchte.) Im feuchten Traum jedes Wendy-lesenden Mädchens waren im Folder meiner Einrichtung zwar Bilder von Erlebnispädagogik zu finden, wo selig lächelnde Mädchen von Ergotherapeutinnen auf Shetlandponys verladen wurden. Man habe sogar Minigolf. Minigolf! Na dann, hatte ich gedacht. Die Wirklichkeit war hingegen, dass wir quasi interniert wurden; deswegen war die Angst davor, zu spät zu kommen, durchaus eine existenzielle.
Denn jede eigenmächtige Entscheidung, jeder Anflug von Individualismus war im Namen einer Paranoia unterbunden, die schon hinter jedem zu langen Toilettengang einen Drogenexzess vermutete. Das war nicht von der Hand zu weisen. Ich verbarrikadierte und verschanzte mich abends wie in einer Feldbefestigung – abschließen, Stuhl unter die Klinke, ein Koffer mit Büchern vor die Tür, Baseballschläger neben dem Bett und so weiter.
(Warum war die Zentagasse nur so verdammt steil; und warum war es schon Viertel nach acht; und warum musste eine Lähmung T12 abwärts das Atmen ohne Hilfe durch Thoraxkompression dermaßen erschweren?)
Man hätte mittlerweile glauben können, dass ich fast da war. Aber um überhaupt ins Zimmer zu kommen, musste man am Drachen vorbei: Ich nenne sie hier nur Frau M. Sie war eine jener Frauen, die schon im mittleren Alter fast willentlich dem Greisentum entgegenstürzten. Ihr Habitus glich im Wesentlichen dem einer Pfarrhaushälterin: unsachgemäße Hochsteckfrisur, mit Duttkissen in zwei graue Fladen geteilt. Die immergleichen Sichelgehänge wippten an ihren Ohrläppchen wie zwei gereizte Kinder. Aber das war nicht unbedingt das Wesentliche. Das Wesentliche an Gestalten wie Frau M., tragischen, gramerfüllten Frauen, die der Sinnlichkeit gekündigt hatten, war das Festklammern an der Macht, die ihnen in einem letzten Lebensbereich gegeben war. (Unter der Schnellbahn durch und in die Herzgasse – da war es schon halb zehn.)
Man musste an Frau M. vorbei, nicht nur buchstäblich, weil sie von morgens bis zehn Uhr nachts in der Portiersloge saß, sondern auch im übertragenen Sinne. Ein Stempel und eine Rechtfertigung beim Hinausgehen, ein Stempel und Alkoholtest beim Heimkommen, so überwacht man eine Horde cracksüchtiger Arbeitsloser.
(Dann war ich, keuchend und japsend da. Ich klingelte.)
»Entschuldigung für die Verspätung, Frau M.«, säuselte ich. »Ich habe meine Tante im Kaffeehaus getroffen, wir haben uns verplaudert.« Gut, dachte ich. Familie, Abbitte, Alibi, das passte alles. Aber diesmal entschärfte sie nicht wie üblich ihre Miene.
»Ach, Tante treffen mit dem Computer? Ist sowieso egal mittlerweile. Auf dich wartet jemand. Die Polizei, wenn du es wissen willst. Ist nicht mein Problem.«
»Bitte was?«, fragte ich, ohne mein Lächeln fallen zu lassen.
»Geh einfach rauf. Sie warten oben«, sagte M. und warf mir einen Stempel aufs Papier, für den ich normalerweise einige Minuten Rechtfertigungen anzubringen hatte.
»Ich denke, es muss sich um eine Verwechslung handeln.«
»Das glaube ich wohl kaum.«
Indem ich nach oben fuhr, bemächtigte sich eine Unrast meiner, die ich nicht deuten konnte und allein daran bemerkte, dass ich wie automatisch die Fluchtmöglichkeiten den Gang herunter prüfte. Erst einmal ins Zimmer, dachte ich, erst einmal nachdenken. Bestimmt hatte sich die Alte geirrt – sicher war die Polizei wie üblich wegen der Drogis gekommen.
In meinem Zimmer war auch weit und breit nichts Verdächtiges zu sehen. Die hässliche Langeweile beruhigte mich fast. Von der Elbe bis zur Donau schauen alle Zimmer für Insassen des betreuten Wohnens gleich aus. Die Tristesse, die alle Einrichtungen kirchlicher Institutionen umgibt, hängt über dem Mobiliar wie ein säuerliches, frigides Gespinst. Matratzen hart und günstig, alles von sparsamer Zweckhaftigkeit bestimmt. Die Jugendlichen nageln verzweifelt Fußballschals und Plakate in die abgezirkelten Ecken, stellen Stofftiere in Fensternischen und Bilderrahmen mit Fotos der Geschwister, die nichts mehr von ihnen wissen wollen, auf Nachtkästchen – in meinem Fall hing eines von Dorothee an der Wand, das ich mir zur Beschwichtigung ein wenig ansah. Kaum waren aber einige Augenblicke vergangen, flog auf einmal die Tür in die Angeln.
»Das ist sie?«, fragte ein stämmig-haariger Kerl und trat auf mich zu. Es war der Sicherheitsdienst – und mit ihm war auf einmal wieder Frau M. aufgetaucht.
»Hände weg, Sugardaddy«, schrie ich, »oder ich ruf die Polizei.«
»Die ist schon da.« Mit einer Einmalkamera machte M. Fotos von der Szene – wie mich jetzt der Bär tatsächlich an den Griffen gepackt und gegen mein Schlagen (ohne Beine ist auch hier nicht viel auszurichten) herumgedreht hatte.
»Freunde, ich sage euch, dass ihr mich verwechselt. Ich habe – autsch! Ich habe meine Rechte!« Ich versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, aber ein wenig hatte sich meine Stimme überschlagen.
»Sie werden mit sofortiger Wirkung aus unserer Einrichtung ausgewiesen, und es wurde bereits Anzeige erstattet.«
In diesem Moment kamen zwei weitere Personen ins Zimmer, die in Zivil auftraten. Am Habitus konnte ich dennoch sofort ablesen, dass es sich um die angekündigten Polizisten handelte.
»Guten Abend, Frau Bretschneider. Sie haben Ihren Mitbewohner Omar Haj’Yahia lebensgefährlich verletzt, indem Sie ihn dazu gezwungen haben, ohne sein Sauerstoffgerät in einem anderen Zimmer zu schlafen. Angesichts seiner medizinischen Lage ist dies als schwere Körperverletzung zu werten«, sagte der eine, der sich breitbeinig wie der Bad Cop an meinen Schreibtisch setzte und mich angrinste.
»Das ist unwahr, und selbst wenn es wahr wäre, hätte er sich das selbst zuzuschreiben«, sagte ich. »Er ist ein Schwerenöter, müssen Sie wissen, und ich doch trotz allem eine Frau. Herr Inspektor –«
»Das sind übrigens die Taggelder für den Rest des Februars, Sie können sich natürlich in Obdachlosenunterkünften und Frauenhäusern melden, aber volljährig sind Sie, und eine laufende Anzeige haben Sie auch – also erwarten Sie nicht, dass Sie der Erstbeste einquartiert.« Frau M. gab mir einen Umschlag, während der Sicherheitsmann mich schon an den Rollstuhlgriffen packte.
»Lass Sie sie noch einen Moment«, sagte der andere mit sanftem Gesicht, der folglich der Good Cop sein musste, und der Sicherheitsmann ließ mich los, um stattdessen alles, was er fand, in meinen Koffer zu stopfen, der seit meinem Einzug unter dem Bett gelegen hatte. Nur das gerahmte Bild von Jack Kerouac in seiner Football-Uniform wollte nicht hineinpassen.
»Es wird hiermit ein Betretungsverbot nach § 38a gegen Sie ausgesprochen und ein damit verbundenes Annäherungsverbot an Herrn Haj’Yahima. Zudem werden wir gerichtliche Schritte gegen Sie einleiten, wir empfehlen, dass Sie sich einen Anwalt suchen.«
»Meine Herren, ich wiederhole es. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, und einen Anwalt zu suchen wäre daher ganz und gar –«
»Wir fällen hier keine Urteile. Wir folgen nur dem Gesetz. Aber eins will ich Ihnen sagen. Recht eindeutig ist die Beweislage schon. Ich würde Ihnen empfehlen –«
»Sie würden mir was empfehlen?«, fragte ich. Der Koffer war fertig gepackt und doch noch immer halb leer – mitsamt dem Computer auf meinen Schoß gehievt, wog er nicht viel. Viel an weltlichem Besitz hatte ich nicht vorzuweisen.
»Einen Moment«, sagte der Gutmütigere und wandte sich dann an Frau M. und den Sicherheitsmann, der sich im engen Zimmer auf meinem Bett zusammengekauert hatte. »Würden Sie uns einen Moment alleine lassen? Wir wollen Frau Bretschneider in Ruhe vernehmen. Danke.« Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, wurde der Strenge schlagartig auf fast unheimliche Weise freundlich.
»Wir würden Ihnen vorschlagen, dass Sie uns durch ein ausgeprochenes Maß an Kooperation begeistern.«
»Wie?«, fragte ich. »Ja, freilich, ich bin sowieso äußerst kooperativ. Kann ich dann dableiben?«
»Dableiben unter keinen Umständen. Da haben wir ja auch gar kein Mitspracherecht. Aber es könnten sich andere Möglichkeiten ergeben.«
»Aha. Und was meinen Sie dann bitte mit der Kooperation? Bitte – bitte – ich bin ein offenes Buch!«
»Frau sogenannte Byproxy. So nennen die Leute Sie doch?«, sagte der Bad Cop und schob seine Brille auf die Glatze. »Wenn Sie ein offenes Buch sind, dann bin ich die Vortänzerin des Bolschoi-Theaters. Zu melden haben Sie außerdem gar nichts in Ihrer Situation.«
»Überstürzen wir nichts. Jetzt halten Sie sich mal an die Verfügung und dann – dann schauen wir schon, was machbar ist«, sagte der Sanfte. Das war recht merkwürdig: Es wirkte, als würde ich als die Beschuldigte gar nicht an der Szene teilnehmen, sondern als sei alles ohnehin auswendig gelernt.
»Wir hätten vielleicht ein Angebot für Sie, wenn der Staat es zulässt. Wir können das in aller Ruhe besprechen. Denken Sie sich unsere Freundlichkeit als großes, eigentlich unverdientes Glück.«
»Glück«, dachte ich und zippte meinen Koffer zu. Als hätte der Staat jemals etwas ausrichten können gegen Byproxy.
***
Es hatte sich mir mein ungeheuerliches Talent niemals so deutlich offenbart wie sechs Jahre zuvor, als ich in Marielund nahe Uppsala meinen zermalmten Körper durch die Windschutzscheibe eines Ford Sierra wand. Ganz verwundert, wie einer, der ein Bild betrachtet, zählte ich dreiundzwanzig Schnitte in meiner Hose, die darunter auch Schenkel und Hüften verwüstet hatten. Dass ich meine Beine nicht mehr spürte, wurde mir erst klar, als ich im Schnee lag, als ich im Dreck lag und die ungeheure Kälte Upplands mir zwar Schmerzen im Torso, nicht aber unterhalb des Nabels bescherte. Ich dachte nichts als: Scheiße. Scheiße, jetzt bin ich ein Krüppel. Das hallte in meinem Kopf wie ein Schicksalsspruch – und erst da wurde mir klar, dass das Auto gerade dabei war, in Flammen aufzugehen. Ich sollte an diesem Punkt erwähnen, dass meine sogenannte beste Freundin, Dorothee Singer, sich noch eingeklemmt auf dem Fahrersitz befand und zu diesem Zeitpunkt entsetzlich zu schreien anfing. Aber was sollte da ein gerade zur Invalidin gemachtes, selbst blutüberströmtes Mädchen tun? Ich konnte mich ja kaum selbst vom Wrack wegziehen, und auch eine Zigarette anzuzünden war mit erheblichen Schmerzen verbunden. Natürlich tat mir Dorothee auch leid. Ihr Flehen und ihre Schreie hätten einen emotional Intakten bis ans Grab verfolgt, mir waren sie lediglich unangenehm. Ich wusste ja zudem, dass sie es gewesen war, die das Auto mit 200 km/h in die Taiga gelenkt hatte, und musste mich erst einmal mit den Konsequenzen für mein eigenes Leben auseinandersetzen.
Deswegen auch nenne ich meine Disposition oft ein Talent: Ich war nicht übermäßig agitiert, als eine halbe Stunde später ein LKW-Fahrer über Funk die Rettung rief. Natürlich war Dorothee da schon zu einem Stück unidentifizierbarer Kohle zusammengebrannt. Fingerkuppen, Gesicht, Hautoberfläche – alles, was einen zum Individuum macht, war der Flammen Raub geworden. Hätte nicht meine noch bewegliche Hälfte im Krankenwagen ihre Personalia bezeugen können – es hätte auf dem Fahrersitz auch ein Baumstamm gesessen haben können, so wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen hatten ihre Überreste.
Weil wir beide durch ein Auslandssemester nach Uppsala gekommen waren, wurde die Bürokratie eine quasi unüberwindliche Hürde in den Ermittlungen. Die schwedischen Polizisten, die im Laufe meines einmonatigen Krankenhausaufenthaltes fünf Mal an meiner Bettstatt auftauchten, mussten vom Faktum meiner Existenz an alles neu aufweisen, durch eine mühsame indirekte Recherche, die durch das schlechte Englisch der Österreicher bestenfalls voranhinkte. Immerhin schien die Krankenkasse zu zahlen, aber wie ich im querschnittgelähmten Zustand wieder nach Hause kommen sollte, war mir rätselhaft. Stellen Sie sich eine gerade 18-Jährige vor, der soeben eröffnet wurde, dass sie für den Rest ihres Lebens als Rollstuhlfahrerin an der kleinsten Stiege scheitern würde. Vor mir eröffnete sich, mit einem Wort, eine wahre Weltreise, als man mich – kaum gewahr, wie man überhaupt so eine Gerätschaft bediente – nach vier Wochen auf Gewähr aus dem Spital entließ. Das war gerade rechtzeitig, denn am selben Tag, an dem ich mich also von einem gutmütigen Taxifahrer zum Flughafen kutschieren ließ, erstattete die schwedische Staatsanwaltschaft Anklage gegen mich.
Es war kein Anlass für ernstliche Sorgen. Denn mangels funktionierender Zusammenarbeit der Behörden verbreitete sich die Nachricht so langsam, als hätte sie, sagen wir, Neuroleptika der ersten Generation geschluckt. Sie war sozusagen sediert. Der eine musste erst dem anderen etwas faxen oder telefonisch mitteilen und dann wieder der dem Nächsten. So also kam es dazu, dass ich ganz unbehelligt zurück nach Wien gelangte. Um die sterblichen Überreste meiner Freundin sollte sich ein anderer kümmern, ich hatte meine eigenen Verhältnisse zu regeln. Meine vermeintliche Teilnahmslosigkeit ist hier bitte nicht falsch zu verstehen. De facto war Dorothee die einzige Person, die ich in meinem Leben, dessen Pfad manch einer kreuzte, den ich gefickt oder dem ich die Verlobung versprochen hatte – in diesem Leben also war sie der einzige Mensch, den ich wirklich geliebt hatte. Aber sie hatte das Auto in den Straßengraben gelenkt, und sie hatte dies absichtlich getan. Sie war es, die, wahnsinnig geworden, letztlich mein Invalidentum zu verschulden hatte. Überzeugt davon, dass sie ihren eigenen Niedergang eingeläutet hatte, erklärte ich dieses emotionale Kapitel für beendet. Unter diesen Bedingungen für das letzte Jahr in die Schule zurückzukehren, schien mir ausgeschlossen. Ich musste ohnehin erst die basalsten Dinge neu erlernen und hatte dafür die Angebote der Krankenkasse zu nützen, die mich mit anderen Spastikern in eine speziell ausgerüstete Reha-Klinik verfrachtete. Dass meine sogenannten Eltern mich kontaktierten, war mir mehr als lästig, aber weil ich ja immerhin volljährig war, veranlasste ich, dass meine Daten unter keinen, unter allerkeinsten Umständen weitergegeben werden durften. Es würden noch einige Wochen vergehen, ehe der Prozess mich in Österreich einholte, und da war es für die Behörden schon zu spät.
Das war Glück im Unglück gewesen: Ich hatte genau eine Woche zuvor meine Habseligkeiten per Post erhalten. Festplatten wanderten in die Mikrowelle und die Papiere waren zu Asche geworden wie der Körper meiner geliebten Dorothee. Als mich die Vorladung erreichte, konnte ich nicht mehr aus.