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Nala hasst Weihnachten. Die Hektik, die Heuchelei, den überzuckerten Glanz – und vor allem die Einsamkeit, die sich hinter all dem verbirgt. Nach sechs Wochen Geschäftsreise in London will sie nur noch eines: nach Hause. Doch ein Schneesturm legt den gesamten Flugverkehr lahm – und ausgerechnet in dieser Nacht trifft sie auf Ben. Ein Fremder, der sie auffängt, als sie fällt. Ein Mann, der selbst vor etwas flieht, das tiefer geht als seine Flugangst. Als sie gezwungen sind, sich ein winziges Hotelzimmer zu teilen, prallen zwei Menschen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und doch dieselbe Sehnsucht in sich tragen: endlich wieder atmen zu können. Zwischen Kälte, Stille und den Schatten der Vergangenheit wird aus einer zufälligen Begegnung mehr, als beide erwartet hätten. Eine Geschichte über verlorene Nähe, gebrochene Herzen – und das eine Weihnachtswunder, das keiner von ihnen kommen sah.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dear Santa, Cancel Christmas
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Triggerwarnung.
Ich wünsche mir für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Melly
Für die, die an Weihnachtswunder glauben.Und für K, J, C & L.
18. Dezember
Oh Gott, wie ich Weihnachten hasste.
Überall diese gestressten, unfreundlichen Menschen. Die Innenstädte quollen jedes Jahr über wegen dieser bescheuerten Märkte, und die Konsumgesellschaft fand mal wieder genügend Gründe, das Dreifache ihres Budgets für Geschenke aus dem Fenster zu hauen.
Das Prinzip Weihnachten bestand für mich darin, dass jeder auf den letzten Drücker dafür sorgen wollte, die Person in der Familie zu sein, die die teuersten Geschenke unter den Baum legte. Vollkommen egal, was – Hauptsache, niemand sonst gab mehr aus.
Heuchlerische Verwandtschaftstreffen hier, gezwungene Geschäftsfeiern da – ich könnte kotzen.Wie schade, dass ich die Zusammenkunft meiner Kollegen mit der Chefebene dieses Jahr verpasst hatte. Doch ob das, was ich stattdessen durchmachen musste, so viel besser war? Wohl kaum.
Sechs Wochen London.
Geschäftsreise.
Täglich wichtige Termine quer in der Stadt verteilt, und das inmitten des Weihnachtsshopping-Tourismus. Großartig.
Zum Glück endete dieser Wahnsinn spätestens heute Abend. Ich konnte es kaum erwarten, endlich aus diesen blöden Schuhen zu kommen, mich aus meinen unbequemen Klamotten zu schälen und dann so lange in der heißen Badewanne zu liegen, bis meine Haut schrumpelig wurde. Danach würde ich Sushi bestellen, meinen kuscheligsten Pyjama aus dem Schrank holen und die nächsten zwei Wochen auf dem Sofa verbringen.
Allein.
Ohne irgendwelche Menschen, die mein Nervensystem strapazierten. Ohne dieses glitzernde, schillernde London, dessen Fassaden aussahen, als hätte der Weihnachtsmann persönlich über die ganze Stadt erbrochen.
Ich hatte einen klaren Plan.
In sechs Tagen war Weihnachten, und bis dahin wollte ich nichts mehr davon sehen, hören oder riechen.
Es war schlimm genug, dass ich mich hatte breittreten lassen, an Heiligabend zurück ins Heim zu kommen, um bei der Vorbereitung des Essens zu helfen … sonst hätte ich vielleicht einfach irgendeinen Flieger genommen, der mich noch weiter weg brachte von all diesem Mist. Doch wenn ich ehrlich war, wollte ich einfach nur nach Hause.
Trotz des pochenden Schmerzes in meiner Schläfe konzentrierte ich mich auf die Punkte in meinem Kopf. Die Schritte, die noch nötig waren, bis ich endlich wieder in meinen eigenen vier Wänden war.
Schritt eins: Boarding.
Schritt zwei: Sitznachbar überleben.
Schritt drei: Gepäck abholen.
Schritt vier: ins Taxi steigen und zur Wohnung fahren.
Schritt fünf: keine Step-für-Step-Listen mehr in meinem Kopf – zumindest für die nächsten drei Wochen.
Ich löste das Haargummi aus meinem Haar und fuhr mir mit den Nägeln über die Kopfhaut. Mein Nacken war steif, meine Kehle trocken vor Durst, und ich war einfach nur müde. Ich war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen und hatte bei der Planung dieser Reise vor einem halben Jahr selbst darauf bestanden, nicht noch eine Nacht länger zu bleiben.
Ich starrte durch die große Fensterscheibe am Gate und beobachtete das rege Treiben unter mir. Im Glas spiegelte sich die Deko des Flughafens, und ich seufzte. Draußen tanzten dicke Schneeflocken, es war mittlerweile dunkel geworden, und selbst bei diesem Anblick blieben mir die kitschigen Tannenbäume einfach nicht erspart.
Ich blickte neben mich. Die Schlange fürs Boarding wurde immer kürzer, und ich schulterte schließlich meine Handtasche. Noch vier, noch drei, noch zwei … Ich stand auf und verzog das Gesicht.
Diese scheiß Schuhe!
Der Schmerz schoss mir durch die Beine bis hoch zur Hüfte, doch ich behielt mein Pokerface. Jeder Schritt tat weh. Ich wusste nicht, von wem ich diese Eitelkeit geerbt hatte, aber ich wäre eher noch einen ganzen Marathon in diesen Hacken gelaufen, als sie auszuziehen.
Der bloße Gedanke daran war grausam. Das letzte Mal, als ich ungeschminkt das Haus verlassen hatte, war wohl vor meiner Pubertät. Es war mir wichtig gut auszusehen, mich zurechtzumachen, meinen Eindruck nach außen zu wahren. Vielleicht war ich allein deshalb direkt nach dem Abi in die Make-up-Industrie eingestiegen – so genau wusste ich das nicht mehr.
Ich trat an den Schalter heran, schenkte der Frau, die meinen Boardingpass und meinen Reisepass kontrollierte, ein knappes Lächeln. Sie blickte mir ins Gesicht und nach einem kurzen »Have a good flight.« schloss sie hinter mir das Gate.
Ich betrat Flugzeuge aus Prinzip immer als Letzte. In diesem Punkt ließ ich allen anderen grundsätzlich gern den Vortritt. Ich hasste es, ewig auf den Start warten zu müssen, mochte es nicht, wenn sich ständig Leute an mir vorbeischoben, bis sie endlich auf ihren Plätzen saßen.
Doch dieses Mal hatte ich wohl einfach nur Pech. Schon beim ersten Schritt in diesen riesigen Vogel schloss ich die Augen und atmete tief durch.
Deutsche.
Und sie diskutierten. In einer Lautstärke, die bei dauerhafter Beschallung einen Nerv in mir traf, der nicht aus Stahl war und sehr schnell, sehr dünn werden würde.
Die Stewardess nahm mein Ticket entgegen und sah mich einen Augenblick verwirrt an. »Sie fliegen ja Businessclass«, sagte sie und warf einen Blick neben mich.
»Ja, wieso?«, fragte ich stutzig.
»Sie ist in diesem Flugzeug hinter der Economy. Das bedeutet–«
»Das ist nicht Ihr Ernst.« Meine Stimme war entkräftet und ich sog scharf die Luft ein. Ich ging einen Schritt tiefer ins Flugzeug, nahm meinen Boardingpass zurück und verstand plötzlich, was sie meinte. Der Gang war verstopft und sicher fünf, sechs Leute stritten sich um die letzten Plätze fürs Handgepäck.
Ich biss die Zähne zusammen und ging los. Ein Schritt nach dem anderen. Und jeder tat ein bisschen mehr weh.
»Die Herrschaften!« Ich keifte eine Spur zu laut und plötzlich wurde es still. Um mich herum sahen mich sicher dreißig Augenpaare an. »Wenn Sie sich dann bitte einig werden würden? Ich müsste nach hinten auf meinen Platz, und es gibt leider nur diesen einen Gang, also–«
Und schon ging es wieder los.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
Nicht durchdrehen.
Du stehst das durch.
Nur noch drei Stündchen und du liegst ganz allein bei Kerzenschein in deiner Badewanne und–
Ich ächzte auf, verlor den Halt und taumelte rückwärts. In meinem Kopf pochte es auf einmal wie verrückt, und ich schaffte es nicht mehr, die Augen zu öffnen. Verzerrt nahm ich erschrockene Laute von unterschiedlichen Stimmen wahr, versuchte mich irgendwo festzuhalten, mich zu orientieren.
Dann waren da plötzlich Hände.
Viele Hände. Viel zu viele Hände.
An meinem Rücken, meinen Knien. In meinem Gesicht?
Ich schnappte nach Luft, fasste mir an die schmerzende Stelle an meiner Schläfe und blinzelte. Vor mir kniete eine Stewardess. Links daneben ein älterer Mann mit seinem Handgepäckskoffer auf Brusthöhe.
»Alles in Ordnung?«, sagte die Frau vor mir in einer Deutlichkeit, als hätte sie es nicht zum ersten Mal ausgesprochen.
»Ich … Was?« Benommen schüttelte ich den Kopf, um das schrille Pfeifen wieder loszuwerden. »Geht schon, ich bin ja weich gelandet.«
»Gern geschehen«, hörte ich eine Stimme dicht neben meinem Ohr, und mein Herz begann zu rasen. Langsam drehte ich den Blick weiter nach links und starrte in fremde Augen.
Strahlend blaue Augen.
Ich blinzelte, wich ein Stück zurück und nahm noch mehr von dem Unbekannten vor mir wahr.
Oh.
Das war ein verdammt hübsches Gesicht.
Mein Blick schnellte hoch zu seiner Frisur, die etwas in Mitleidenschaft gezogen aussah.Scheiße, war ich das?Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch das Wirrwarr um uns herum artete bereits wieder in einen Streit aus, und ich war kurz davor, einfach zu explodieren.
»Alles okay? Das sah ziemlich heftig aus.«
Du siehst heftig aus. Mit deiner goldblonden Ausstrahlung.
Ich schluckte. Sowas würde ich zwar nie einfach so aussprechen, aber es war so. Mag sein, dass ich in meinem Job keine Schwierigkeiten hatte, die perfekten Worte für noch so pikante Situationen zu finden, aber das hier? Lieber wäre ich den ganzen Weg zurück nach Berlin in diesen Hacken gelaufen.
Ich sog die Luft ein, versuchte mich zu besinnen, räusperte mich. »Danke fürs … Auffangen.« Hitze schoss mir in die Wangen und ich versuchte aufzustehen. Er legte seine Hand an meinen Rücken und stützte mich.
»Möchten Sie, dass wir einen Arzt hinzuziehen? Wir lassen Sie zurück zum Gate bringen, und Sie bleiben noch einen Tag länger in Lon–«
»Auf gar keinen Fall«, keuchte ich und zog mich hoch. »Ich werde jetzt nach Hause fliegen. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, auch nur eine Stunde länger als nötig in dieser blöden Stadt zu bleiben.«
Die Stewardess legte den Kopf ein wenig schief, verlor aber ihr perfektes Lächeln nicht. Ich wusste genau, was in ihrem Kopf vorging. Was sie dachte, aber nicht aussprechen durfte, weil es sie ein Arbeitsverbot kosten könnte.
Ich stehe seit zwölf Stunden auf den Beinen. Denkst du im Ernst, ich will nicht auch einfach nur nach Hause?
Wahrscheinlich war das aber nur die Light-Version ihrer Gedanken.
Ich schulterte meine Tasche und räusperte mich. Dann warf ich einen kurzen Blick zurück zu dem Kerl, der mich aufgefangen hatte, und bemerkte, wie er etwas zu suchen schien.
Ich trat einen kleinen Schritt zurück, bereute es im nächsten Moment und ertrug den stechenden Schmerz in meinen Waden. Dann sah ich eine Cap am Boden liegen, die er nicht erreichte. Ich bückte mich und hob sie auf.
»Tut mir leid«, murmelte ich reuevoll und reichte sie ihm. »Ist 'ne coole Cap.«
»Danke. Hab ich in dieser blöden Stadt gekauft.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln und ein warmes Lachen überkam ihn. Ich blinzelte.
Mann, hat der schöne Zähne.
Wärme schoss in meine Wangen und ich schnappte lautlos nach Luft.
Scheiße. Nala, es reicht jetzt!
»Alles gut?«, fragte er sanft und ich schluckte. »Oder hast du dir wehgetan?«
»Passt schon«, antwortete ich und lächelte schwach zurück.
Mir wurde warm. Wie sein Blick an mir haften blieb, fühlte sich beinahe verboten gut an. So unaufdringlich und trotzdem interessiert.
»Gut, dann bringe ich Sie jetzt zu Ihrem Platz. Die Businessclass ist am Ende des Flurs hinter dem Vorhang«, klinkte sich die Stewardess ein. Ich warf einen letzten Blick zurück, doch sein Lächeln war verschwunden. Stattdessen wirkte er angestrengt. Seine Beine wippten in einem viel zu schnellen Takt und er wirkte nervös. Gleichzeitig kramte er in der Tasche unter seinem Sitz nach etwas, das ich nicht mehr wahrnahm, weil ich fortgeschoben wurde.
Ich seufzte, als ich mich in den Sitz fallen ließ. Meine Beine schmerzten so sehr, dass ich sie am liebsten hochgelegt hätte.Es hatte seine Vorteile, als Letzte ins Flugzeug zu steigen – normalerweise jedenfalls. Ich hasste es, in einem Fortbewegungsmittel warten zu müssen, das sich nicht bewegte. Busse, Autos, Züge – egal was, es machte mich wahnsinnig.
Ich schloss die Augen und versuchte, für einen Moment an nichts zu denken. London war zu viel. Die Menschen waren größtenteils nett und zuvorkommend, aber alles andere war einfach… überwältigend. Und manchmal frage ich mich auch, ob das wirklich echte Freundlichkeit ist. Wichtige Geschäftskunden wurden schließlich immer behandelt, als würde allein ihre Anwesenheit den Mitarbeitenden die Sonne aus dem Hintern scheinen lassen. Aber die Autos, die gehetzten Gesichter, dieses merkwürdige Verständnis von gutem Frühstück … und dann auch noch diese beschissene Vorweihnachtszeit.
Trotzdem war das hier wichtig – verdammt wichtig, um ehrlich zu sein. Für die Firma, aber vor allem für mich. Sechs Wochen lang Meet-ups, Gespräche mit Abteilungsleitern, Austausch, Erkenntnisse. Und alles nur mit dem Ziel, endlich diese Beförderung zu bekommen.
Ich liebte meinen Job – auch wenn er bedeutete, sehr oft und sehr lange weg zu sein. Da war niemand, der zu Hause auf mich wartete, niemand, der unter meiner ständigen Abwesenheit litt. Keine Haustiere… obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte als einen Hund. Aber mein Leben hatte schlicht keinen Platz für ein kleines Lebewesen.
Ich starrte aus dem Fenster und ging gedanklich alle Goodies durch, die in meinem Koffer lagen. Die nächsten Tage wollte ich mit dicken Haarmasken, Augenpads und einer Menge Duftkerzen auf meinen Fernseher starren und nichts tun außer–
»Sehr geehrte Fluggäste, wir begrüßen Sie an Bord unserer Maschine.«
Ich atmete auf. Endlich.
»Aufgrund des starken Schneefalls in London verzögert sich unser Start um einige Minuten, da die Start- und Rollbahnen geräumt werden. Wir bitten um Ihr Verständnis und halten Sie selbstverständlich über Änderungen auf dem Laufenden.«
Verfluchter Mist.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und strich mir unter den Augen entlang.
Einige Minuten. Was bedeutet einige Minuten?
Eine Stewardess stöckelte kopfschüttelnd an mir vorbei. Ich hob die Hand, wollte etwas sagen, doch sie war schon wieder verschwunden.
Neben mir ein ungeduldiges Stöhnen. Nur wenige Meter trennten mich von einem älteren Mann, der schnaubend auf seine teure Uhr starrte. Immer wieder. Wer wohl auf ihn wartete? Seine Frau? Ein Anschlussflug? Eigentlich war es mir egal. Dieser Gesichtsausdruck jagte mir trotzdem einen Schauer über den Rücken. Er erinnerte mich zu sehr an meinen Seniorchef, der bis vor Kurzem noch glaubte, sexistische Witze seien eine lustige Art der Unterhaltung. Aber auch das war kein Gedanke, der diese Situation leichter machte.
Innerlich betete ich nur dafür, nicht wieder ein besonders unangenehmes Exemplar an Sitznachbarn abzubekommen, der die gesamte Flugzeit genüsslich in seiner Nase bohrte.
Die Stewardess kam zurück, und es schüttelte mich. Für diese Bilder hatte ich im Moment wirklich keinen Platz mehr. Sie hob im Vorbeigehen eine Braue, dann hörte ich Stimmen hinter mir.
»Keine Chance.«
»Kommt die Ansage von ganz oben?«
»Ich hab’s mir nicht ausgedacht, falls du das meinst. Sie schließen den ganzen Flughafen bis morg–«
»Nein«, keuchte ich und fuhr herum. Ein Seufzen, ein kurzer entschuldigender Blick, dann der Griff zur Lautsprechanlage:
»Liebe Fluggäste, aufgrund der Wetterlage wird jeglicher Start bis morgen früh ausgesetzt. Wir entschuldigen uns für …«
Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich drehte mich wieder nach vorne, ließ mich in den Sitz sinken und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Stöhnen, genervte Gesichter – auch wenn ich sie nicht sah – Diskussionen. Es war immer dasselbe. Aber heute?
Ausgerechnet heute?
Das Pochen in meinem Kopf wurde stärker und ein brennendes Ziehen hinter den Augen versetzte mir einen Stich.
Bitte nicht jetzt.
Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte, das Pfeifen in meinen Ohren wegzuatmen.
Ein. Aus.
Ein. Aus.
Es ist okay. Es wird alles gut. Nur eine Nacht. Morgen bin ich zurück in Berlin und da–
»Jeglicher Flug wird ausgesetzt! Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Jedes verdammte Hotel im ganzen Umkreis wird überlastet sein, und wir sitzen immer noch in diesem bescheuerten Flugzeug!«
Scheiße.
Der Typ hatte recht. Ich löste meine Hände und starrte den Gang entlang. Die anderen Passagiere sprangen unkoordiniert auf, stritten, rissen Gepäckfächer auf, drängten zum Ausgang. Alles nur wegen des einen viel zu lauten Satzes dieses Unsympathen.
»Toll gemacht«, murmelte ich und schüttelte den Kopf.
»Wie bitte?«
Ich hob den Blick.
»Geben Sie mir etwa die Schuld an dieser Situation?«
Klassiker.
Natürlich, du bist schuld, dass wegen des Wetters der ganze Flughafen dichtmacht. Natürlich lastet die gesamte Welt auf deinen Schultern.
Was denken sich manche Leute?
Dieser Blick. Wie es hinter seinen Augen brodelte. Wie er sich zurechtlegte, was er mir gleich an den Kopf werfen würde.
Und ich? Ich lächelte. Businesslike.
»Hier rumzuschreien hat alle aufgescheucht. Hätten Sie einfach mal die Klappe gehalten und die Flugbegleiterinnen arbeiten lassen, wären Sie jetzt nicht der Letzte, der dieses Flugzeug verlassen muss.«
Er keuchte. »Also das–«
»Selbst schuld.« Ich zwinkerte ihm zu, zog meine Kopfhörer aus der Tasche und aktivierte die Geräuschunterdrückung. Sie hatten mich ein Vermögen gekostet, waren aber jeden Cent wert. Manche trugen sie als Statussymbol – ich, um Leute mit Statussymbolen nicht mehr ertragen zu müssen.
Ich wollte keine Musik. Keine Podcasts. Kein Hörbuch.
Ich wollte einfach nur Ruhe.
Wäre es möglich gewesen, hätte ich sogar im Flugzeug geschlafen. Denn so sehr ich ihn verabscheute – der Typ hatte recht: jetzt noch ein Hotel in Flughafennähe zu finden, ohne den ganzen Weg zurück nach London zu fahren, würde eine Meisterleistung werden.
Verdammt noch mal.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich wieder Flughafenboden unter den schmerzenden Füßen spürte. Den blöden Spruch, dass dieser Mistkerl neben mir nicht mal als Letzter aussteigen musste, konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Es war pure Genugtuung.
Und dann lief ich los.
Mit meinem winzigen Handgepäck ohne Wechselsachen, immer weiter Richtung Ausgang. Ich versuchte ruhig zu bleiben, zu atmen, mich auf die Stille in meinen Kopfhörern und nicht auf die Übelkeit in meinem Magen zu konzentrieren. Ich wich genervten Reisenden aus und sah einige an den Info-Points wild gestikulierten. Es hatte etwas von den Cartoons, die ich als Kind geliebt hatte. Fast hätte ich gelacht – doch stattdessen schweifte mein Blick zur heillos überfüllten Businesslounge.
Fuck.
Eine rund fünfzig Meter lange Schlange wuchs vom Eingang der milchigen Glastüren bis weit in die Halle. Und ja, es war eine Genugtuung. Menschen aus solchen Schichten genauso hilflos rumstehen zu sehen, tat verdächtig gut. Ich wollte nicht alle über einen Kamm scheren, aber die meisten von ihnen waren es nun mal gewohnt, dass sich jeder nach ihren Bedürfnissen richtete.Hochnäsig, arrogant, mit einem Machtverständnis, das ihnen die Unterschicht über Jahre eingeredet hatte.
Doch auch wenn ich es genoss, sie wartend und ratlos zu sehen, begriff ich mit jedem Schritt, dass das hier für mich nicht funktionieren würde.
Alles war überfüllt. Überall saßen Menschen auf dem Boden, die ersten schliefen bereits. Steckdosen wurden durch Ketten von Mehrfachsteckern überlastet, vor den Toiletten und Fressständen bildeten sich noch längere Schlangen als vor der Lounge.
Ich kramte nach meinem Handy, blieb nicht stehen, ging stumpf weiter. Ich wollte hier raus, egal, wie stark es draußen schneite oder dass ich mir vermutlich gleich den Arsch abfrieren würde.
In mir stieg dieses ekelhafte Gefühl hoch. Es wurde alles zu viel. Jeder Schritt in diesen beschissenen Schuhen schmerzte, und ein widerliches Kribbeln zog sich über meine Waden bis zu den Knien. Ich schluckte, wischte fahrig über das Display und tippte Hotel in meine Karten-App.
Ich kam der riesigen Glasfront der Eingangshalle immer näher. Nur wenige taten es mir gleich und zwängten sich durch die Massen, während völlig durchgefrorene Menschen von draußen hineindrängten.
»Es muss nur ein einziger Taxifahrer sein, der mich mitnimmt. Nur einer, der hier weg will und sich traut zu fahren«, dachte ich, als ich mich durch die Schwingtür schob. Ein heftiger Windstoß schlug mir entgegen, Schneeflocken peitschten mir ins Gesicht. Es fühlte sich an wie tausend winzige Nadelstiche, die immer wieder in meine Haut piksten.
Ich hielt die Luft an, vergrub das Gesicht zur Hälfte im Schal und blinzelte heftig, bis ich wenige Meter weiter den Taxistand erkannte.
In diesem Moment wollte ich nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn ich hier nicht wegkam. Ich musste nur irgendetwas tun, um den Kontakt zu diesen Menschenmassen zu beenden.
Weg. Einfach weg.
Vollkommen egal wohin, aber schnell genug, um der nächsten Panikattacke zu entgehen.
Ich versuchte zu erkennen, ob sich eines der Taxen überhaupt noch bewegte. Dann steuerte ich beinahe blind irgendeines an und riss die Wagentür auf. Mit einem Ächzen ließ ich mich fallen und atmete tief durch.
Als ich die Augen öffnete, sah ich in das überraschte Gesicht des Fahrers. Am Rückspiegel baumelte eine kleine Bob-Marley-Figur, und aus dem Radio dröhnte jamaikanische Musik, die ich sogar durch die Kopfhörer hindurch gehört hatte.
Langsam zog ich sie vom Kopf und genoss die Wärme, die mir aus der Heizung entgegenblies.
»Heavy weather outside, huh?«, lachte er, und ich blickte an mir hinab. Auf meinem Mantel schmolzen die weißen Flocken zu einem kleinen Wasserfall.
Ich seufzte. »I need a hotel. Any advice?«
»Anytime, yeah. But now? No chance.«
Ich senkte den Kopf, strich mir zittrig über die Stirn. »I’ll pay double if you drive anyway.«
»Fine, let’s give it a try. But you heard that the whole airport’s down, yeah?«
»I did.« Ich hob eine Braue und zuckte die Schultern.
»Man, you German ladies can be very delightful.«
Ich lachte. »Hope so…«, flüsterte ich und starrte wieder aus dem Fenster.
Der Fahrer setzte den Wagen in Bewegung, und ich beobachtete das heftige Schneegestöber draußen. Unglaublich, dass er trotzdem fuhr – ich hatte die ganze Zeit mit einer Abfuhr gerechnet.
»Any luck?«, rief mir der Taxifahrer zu, nachdem ich auch vom vierten Hotel abgewiesen worden war.»Nothing«, keuchte ich und ließ mich zurück auf den Rücksitz fallen.
Es war furchtbar. Die Lobbys waren heillos überfüllt, an den Countern wutentbrannte Gäste, die sich um die letzten freien Zimmer stritten.
Wir quälten uns seit über zwei Stunden durch den Sturm und den Verkehr. Und mit jeder Viertelstunde, die verstrich, entschuldigte er sich erneut. Mittlerweile kannte ich seinen Namen, die seiner Eltern, seiner Verlobten und sogar den des Babys, das im Frühjahr zur Welt kommen sollte.
Mit jedem Detail, das er mir über seine Familie erzählte, wurden meine Gewissensbisse schlimmer. Ich saß hier mit einem fremden Mann, der eigentlich längst hätte Feierabend machen und nach Hause fahren können. Stattdessen steuerte er ein Hotel nach dem anderen an und brachte sich bei der schlechten Sicht selbst unnötig in Gefahr.
»Hey … Joseph?«, begann ich und schluckte. »One last hotel, okay? Afterwards you return home.«
»You sure? That means a lot of luck.«
»I know, but …« Ich atmete tief durch und horchte in mich hinein. Mein Herzschlag war ruhig, meine Nerven nicht mehr ganz so strapaziert wie noch am Flughafen. Ich würde das schon irgendwie hinkriegen.
»Maybe the Dolores Hotel. Twenty minutes from here.«
»I’ll take what I can get.«
»The chances should be good. It’s further outside than most people want to go right now.«
»Okay, let’s try«, presste ich gespielt entspannt hervor. In Gedanken bereitete ich mich darauf vor, die Nacht irgendwo sitzend zu verbringen, keine Sekunde zu schlafen und morgen früh wie ein zerrupftes Hühnchen in diesen verdammten Flieger zu steigen.
»Et voilà«, sagte Joseph plötzlich mit schrecklichem Akzent.Ich riss die Augen auf und bemerkte, dass ich weggenickt war. Vorsichtig lugte ich aus dem Fenster und sah die vage leuchtenden Buchstaben.
DOLORES.
Durch den Schnee erkannte ich kaum etwas von ihrer Strahlkraft, aber das war mir vollkommen egal. Draußen standen keine Menschengruppen herum, es wirkte beinahe friedlich.
»This should be the best option right now. Good luck.«
Ich nickte, lächelte ihn an. »Thank you so much.« Ich strich mir übers Gesicht und kramte nach meinem Portemonnaie. Dann zückte ich die goldene Karte, die für diese Auslandsaufenthalte immer ihren festen Platz hatte. »Double this«, sagte ich und deutete auf seinen Tacho.
»No, I can’t. That’s not fair.«
»It is, and I will pay for that. Take it as a tip, okay?«
Joseph schmunzelte und tippte am Tacho herum. Er reichte mir das Zahlgerät und ich wartete auf das Piepen.
»Stay safe«, flüsterte ich, schulterte meine Tasche und stieg aus dem Wagen.
Er hatte recht. Wenn das wirklich meine letzte Chance war, dann …Nein.
Ich musste diese Gedanken wegschieben. Sie hatten sicher noch ein Zimmer für mich. Hinter mir sprang der Motor an und das Taxi fuhr vom Platz. Ich zog mein Handy aus der Manteltasche und sah auf die Uhr.
Verdammt noch mal.
Jetzt wäre ich zu Hause angekommen, hätte endlich diese blöden Schuhe ausgezogen. In meinem Kopf liefen plötzlich vertraute Geräusche ab: das Rauschen des Wassers in der Badewanne, das Klicken des Feuerzeugs, die Türklingel, wenn mein Essen ankam.
Ich wusste nicht, ob mich diese Vorstellung traurig machte oder ob sie mich gerade davor bewahrte, komplett abzurutschen. Vielleicht war es einfach das Einzige, was mich noch halbwegs zusammenhielt.
Wie ferngesteuert drückte ich gegen die alte Drehtür des Hotels. Meine Finger klammerten sich um den goldenen Handlauf und ich hob den Blick, als mir warme Luft aus dem Inneren entgegenströmte.
Niemand schien mich zu beachten. Entspannte Gesichter, vertieft in Laptops oder Zeitungen. Etwa ein Viertel der Sessel war besetzt. Ich sah mich um, entdeckte den Empfangstresen und ging schnellen Schrittes darauf zu.
Mein Herzschlag beschleunigte sich.
Alles oder nichts. Das hier war vermutlich die letzte Chance.Ich kam näher an die dunkelhaarige Frau heran, die ungefähr in meinem Alter war. Das gleichmäßige Klacken meiner Schuhe wurde schneller.
Meine Mundwinkel zogen sich nach oben, ich holte Luft. Die Worte lagen mir schon auf der Zunge. Ich öffnete den Mund, legte die Hände auf den Rand des Tresens – und hörte den Satz, der eigentlich aus meinem Mund kommen sollte, laut ausgesprochen. Aber nicht von mir.
»A room for one, only this night, please«, sagte eine männliche, angenehm tiefe Stimme.
Ich zog die Brauen kraus und spürte, wie mir heiß wurde.
Was zum …?
»Geht’s noch?«, fuhr ich ihn an. Es war mir egal, ob er mich verstand. Mein erster Impuls war Wut, und der brach raus.
»Sorry, ich war zuerst hier«, entgegnete er. Ich riss mir den Schal vom Kopf, um ihn besser ansehen zu können.
Ich keuchte und spürte, wie mir der Kragen platzte. »Du kannst mich mal. Wir waren höchstens zeitgleich hier, also–«Oh.
Mir blieb einen Augenblick die Luft weg, und damit auch jeder Impuls, weiterzusprechen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und ich starrte einen Moment zu lang auf diese viel zu hübschen Zähne.
»Du bist der Kerl aus dem Flugzeug, richtig? Du hast mich … aufgefangen?«, murmelte ich. Hitze stieg in meine Wangen, und irgendwo in meiner Brust pochte dieses seltsame Stechen.
Verdammt, war mir das unangenehm.
Ich räusperte mich und suchte einen Fixpunkt, irgendetwas, das mich beruhigen würde. Stattdessen blieb ich an seinen wirklich blauen Augen hängen – und bereute es sofort. Leise schnappte ich nach Luft.
»Tut mir leid, das eben war nicht so gemeint«, sagte ich kleinlaut und strich mir durchs Haar. Diese Knoten auszubürsten würde ewig dauern.
»Doch, war es«, lachte der Fremde, und ich erwischte mich dabei, wie meine Mundwinkel zuckten. »Ich nehme es dir nicht übel. Das ist … keine Ahnung … das achte Hotel, in dem ich versuche, ein Zimmer zu bekommen. Und die Preise? Ich–«
»Excuse me?«, klang es plötzlich neben uns. Die Dame am Tresen lächelte gestresst, und hinter uns hatte sich bereits eine deutlich genervte Schlange gebildet.
»Sorry«, gab ich zurück und wandte mich ihr zu. Ich wollte eigentlich signalisieren, dass er vorgehen konnte – doch das wurde schneller als gedacht irrelevant.
»There is only a single one-bed-room left. We’re fully booked for tonight.«
Mein Mund klappte auf, doch bevor ich etwas sagen konnte, war er schneller. »How much?«, fragte er, als hätte ihm die Frage schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen.»563 pounds, excluding taxes and breakfast«, erklärte sie, doch ich ließ mich davon nicht beirren – zumindest bis ich sein entsetztes Keuchen hörte.
»Okay, bei dem Preis verzichte ich gern. Dann schlafe ich lieber in einer Fastfood-Kette und frier mir den Arsch ab, bevor ich fast eine Monatsmiete für ein Hotelzimmer bezahle. Dieser Wucher–«
»I’ll take it«, unterbrach ich ihn und zog die goldene Karte und meinen Reisepass hervor, die ich der Frau wortlos reichte. Dann blickte ich zu ihm.
Er sah mich an, als wäre ich komplett verrückt geworden. »Du hast dir gerade nicht wirklich für fast siebenhundert Euro ein Hotelzimmer gebucht, oder?«
»Ich hab …«
Ziemlich gute, aber nicht für die Ohren eines Fremden gedachte Gründe. Auch wenn sie nicht schön waren.
»Ich brauche das Zimmer wirklich dringend.«
»Schon gut, wir sehen uns dann ja vielleicht morgen im Flugzeug. Falls du nicht spontan doch lieber im Privatjet zu deinen stinkreichen Eltern nach Hause fliegst.«
Ich hielt den Atem an und senkte den Blick.
Er konnte es nicht wissen, aber seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ein intensives Brennen zog sich durch meine Kehle. So stark, dass ich alles um mich herum für einen Moment vergaß.
»Viel Spaß in deiner Luxus-Kammer.« Er schnaubte leise, drängte sich an mir vorbei und marschierte Richtung Ausgang.
Ich schluckte, nahm Zimmerkarte und Unterlagen entgegen und eilte ihm hinterher.
Ja, ich ging ihm tatsächlich nach. Diesem Arsch.
Ich wusste nicht, was mich trieb. Warum es mir plötzlich so wichtig war, das richtigzustellen. Vielleicht, weil ich ihn verstand. Weil ich wusste, wie sich diese Überflutung anfühlte. Dieses völlige Überreiztsein. Wahrscheinlich wollte er genauso wie ich einfach nur nach Hause.
»Hey!«, hörte ich mich rufen und meine Schritte wurden schneller. »Wenn du dich schon wie ein Arschloch benimmst, dann sag wenigstens deinen Namen!«
Er lachte erschöpft, drehte sich um. »Wozu? Damit mich dein Papi wegen Beleidigung verklagt?«
Kann er mal damit aufhören?
»Nein. Damit ich weiß, wem ich anbiete, sich mit mir das Zimmer zu teilen«, sagte ich atemlos.
»Was?«, fragte er skeptisch. Ich blieb stehen. Energielos ließ ich den Kopf hängen. Das war genau das Letzte, was ich jetzt brauchte: eine trockene Erklärung meiner Verhältnisse gegenüber einem Fremden, die mich mental zerreißen würde.
»Hör zu«, begann ich leise. »Ich bin hier auf Geschäftsreise. Ich arbeite für einen Konzern und dem ist scheißegal, was das Zimmer kostet. Mir ist bewusst, dass das ein absolut unverschämter Preis ist, aber ich …« Meine Stimme brach. »Ich brauch’ einfach eine Pause. Ich spüre, dass mir das hier alles zu viel wird, und ich brauche dieses blöde Zimmer und bis morgen früh einfach kein weiteres Drama.«
Er öffnete den Mund, doch der Kloß in meinem Hals war schneller. Worte schwappten aus mir heraus, ungebremst.
»Komm mit hoch, sieh es dir an und entscheide dann, ob du mein Angebot annimmst.«
»Das ist lieb gemeint, aber selbst für die Hälfte wäre das gerade nicht drin, verstehst du?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Du bezahlst gar nichts. Wir teilen uns das Zimmer, nicht die Kosten.«
Er kräuselte die Brauen. »Ähm … was genau wird das hier gerade?« Ein verlegenes Lachen. »Soll ich dich dann anders bezahlen?«
Ich riss die Augen auf. »Hey! Das wird hier kein Sex-Tourismus, okay? Und glaub mir, bei der kleinsten falschen Andeutung fliegst du raus. Ich wollte nur nett sein und dir eine heiße Dusche, Strom für dein wahrscheinlich totes Handy und ein geschütztes Zimmer anbieten. Das ist immer noch bequemer als diese ganzen Sessel zusammen.«
Stille breitete sich zwischen uns aus. Erst jetzt schien er seine Möglichkeiten abzuwägen.
»Warum?«, fragte er leise. Ich wusste genau, was er meinte. Eine dieser Fragen, die zu tief bohren, wenn man zu lange darüber nachdenkt.
Ich blinzelte, sah ihn wieder an. »Weil ich weiß, wie du dich gerade fühlst.«
Und weil ich mir so sehr gewünscht hätte, dass es damals jemand für mich getan hätte.
Dass ich nicht allein gewesen wäre.
Dass jemand verstanden hätte, was in mir vorging.
Er sah mich einen Moment lang an, dann streckte er mir plötzlich die Hand hin.
»Ich bin Ben.«
»Also, Ben«, begann ich, als wir den Aufzug betraten. »Einfach nur Ben? Oder steckt dahinter ein voller Name, den du nicht achthundertneunzehnmal über die Feiertage hören willst?« Ich lachte leise und hoffte im nächsten Moment, keinen wunden Punkt getroffen zu haben. Dann drückte ich die Stockwerknummer.
Doch er grinste nur schief. »Wer bist du, die Königin des Smalltalks?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich nur gefragt, ob es dir wie mir geht. Bei Nala werden viele immer stutzig und fragen nach.«
Jetzt lachte auch Ben. »Ich sehe schon – eine Schwester im Bunde. Was nervt dich mehr? Wenn sie die Kürze infrage stellen oder wenn sie anfangen, irgendwelche Namen in den Raum zu werfen?«
Ich seufzte. »Die Tatsache, dass mal jemand zu mir gesagt hat, so hießen doch nur Hunde.«
»Autsch. Ich hoffe, du hast ihm oder ihr ordentlich die Meinung gesagt.«
»Ich war acht und hab dann geweint – also nein«, sagte ich trocken. »Und du?«
»Einfach Ben«, schmunzelte er. »Kein Benjamin, kein Benedikt, kein Benno. Meine Eltern wollten etwas, das kurz, prägnant und gut rufbar ist.«
»Hm, klingt logisch«, entgegnete ich. Im Gegensatz zu ihm hatte ich keine schöne Geschichte auf Lager, weshalb ich so hieß, wie ich hieß. Es wurde einfach abgestimmt – was es nur noch trauriger machte.
»Ich mag deinen Namen«, hörte ich Ben plötzlich sagen und zog die Brauen zusammen. Dann lachte er auf. »Oh Gott, bitte guck nicht so, als hätte ich dir gerade ein Staatsgeheimnis verraten.«
»Ich … was?« Vorsichtig lugte ich neben ihn und sah in den Spiegel. Erst dann entspannte sich mein Ausdruck.
»Du siehst aus, als hätte dir das noch nie jemand gesagt.«
Der Ton des Fahrstuhls erklang und die Türen glitten auf.
»Hat es auch nicht …«, flüsterte ich verzögert und folgte ihm.
»Wohin?«, fragte er über seine Schulter.
Ich warf einen Blick auf die Zimmerkarte. »Fünfhundertacht.«
Wir liefen den Flur entlang bis zum Ende. Das Licht war diffus, der Teppich ein seltsam dunkles Grün, und hinter jeder Tür erklang Stimmengewirr. Ich schnappte nach Luft und schloss die Augen.
Lass die Wände schalldicht sein. Bitte lass sie–
Ich stieß mit dem Gesicht gegen etwas Festes und keuchte auf. Wirr blinzelte ich – und realisierte erst im nächsten Moment, dass ich direkt in Ben hineingerumpelt war.
»Entschuldige. Das war keine Absicht, ich … bin so furchtbar durcheinander. Tut mir leid.«
Er grinste. »Ist schon gut.«
»Ist es nicht. Du kennst mich seit zehn Minuten und musst mich jetzt schon für komplett durchgeknallt halten.«
»Sind wir das nicht alle irgendwie?«
Ich verzog das Gesicht und er schien zu merken, dass mir diese Floskel nicht half.
»Okay, pass auf.« Er drehte sich ganz zu mir und wartete regelrecht darauf, bis ich ihn ansah. »Vorhin am Flughafen hab ich wie ein Irrer auf meinem Handy herumgetippt, bin nebenbei gelaufen und wollte einfach nur raus. Dabei bin ich in einen Junggesellinnenabschied gerannt und hab der werdenden Braut erst die Pizza aus der Hand geschlagen und ihr dann auch noch die Sektflasche drübergekippt.«
»Oh.« Ich klang mitfühlender als gedacht. »Peinlich.«
»Was du nicht sagst.« Er schob die Hände in die Hosentaschen und warf den Kopf zurück. »Damit wollte ich dir eigentlich nur sagen, dass du dir wirklich keine Gedanken machen brauchst, ob ich dich für durchgeknallt halte.«
Pluspunkt für ihn.
»Du meinst, weil du jetzt die Sympathieschiene fährst, damit das hier nicht komplett aus dem Ruder läuft?«, fragte ich.
»Vielleicht. Funktioniert es denn?« Ben senkte den Blick wieder, und ich musste grinsen.
»Wird sich zeigen, würde ich sagen. Aber zuerst …« Ich hob die Karte und entsperrte die Tür. Dann drückte ich sie auf – und war erstaunt, mit welcher Wucht sie gegen die Wand donnerte. Ich knipste das Licht an, wir lugten hinein und wäre das hier ein Cartoon gewesen, hätte ich über das synchron gemurmelte »Oh« wahrscheinlich laut gelacht.
Ich rümpfte die Nase, starrte auf die Türnummer, dann auf die Schlüsselkarte und wieder zurück.
Ben brach plötzlich in lautes Gelächter aus. Er stützte sich mit dem Arm gegen den Türrahmen und vergrub das Gesicht in seiner freien Hand. Wenigstens nahm es einer von uns mit Humor.
Vorsichtig trat ich ein und legte meine Tasche auf den winzigen Tisch. Ich drehte mich um – und stieß sofort mit der Stiefelspitze gegen das Bett.
Ratlos hob ich die Arme, nur um sie eine Sekunde später seufzend wieder sinken zu lassen. »Was ist das?«
Ben krümmte sich fast vor Lachen. Meine Verzweiflung trieb mir trotz allem ein Lächeln ins Gesicht, aber ich war zu überreizt, um wirklich mitzumachen.
Er grunzte, und meine Mundwinkel zuckten. »Die luxuriösen sechs Quadratmeter, für die du gerade sieben–« Jetzt klang es schon fast wie Gackern. Er holte tief Luft. »Siebenhundert Euro bezahlt hast.«
Ich warf einen flüchtigen Blick durchs Zimmer. »Alleine kann ich hier wunderbar schlafen, vergiss das nicht.«
Ben seufzte atemlos und kam endlich ins Zimmer. Beim Versuch, die Tür hinter sich zu schließen, stand er mir so nah, dass ich kaum noch ausweichen konnte.
»Ich weiß. Tut mir leid. Aber das ist so unverschämt, dass es schon wieder lustig ist.« Er drehte sich zu mir um und verschränkte die Arme. »Also? Was denkst du? Kriegen wir das hin?«
Ich schluckte. Mein Herz begann unruhig zu pochen, und ich hätte mir am liebsten mit der flachen Hand über die Stelle gerieben. »Willst du die ehrliche oder die höfliche Antwort?«, flüsterte ich und wandte den Blick ab. Hinter mir war ein riesiges Fenster, aus dem kein Schimmer Licht mehr drang. Es war stockdunkel, und die Schneeflocken flogen wild gegen die Scheibe.
»Die Ehrliche, Nala.« Seine Stimme war ruhig, doch in mir brodelte nur Unsicherheit.
Wieder schluckte ich.
Noch mal. Und noch mal.
Ich schloss die Augen, atmete vorsichtig ein, dann wieder aus. Das hier war verdammt wenig Platz für zwei Personen – und meine Nerven würden jeden Moment wie eine Welle über mir hereinbrechen.
Ich brauchte Abstand. Einen Raum, in den ich mich einschließen und… oder im Idealfall lieber nicht… nachdenken konnte.
Zischend atmete ich aus und öffnete blinzelnd wieder die Augen. »Okay, ich … ich brauche mal einen Moment Ruhe. Ich mach mich kurz frisch und du …« Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Mach’s dir bequem? Setz dich irgendwo.«
Wow. Ich hatte offenbar in den letzten sechs Wochen meine komplette sprachliche Kompetenz verloren.
»Okay. Ich wollte sowieso noch meine Eltern anrufen und sagen, dass ich nicht nach Hause komme. Dann mach ich das in der Zwischenzeit, wenn es dir nichts ausmacht.«
Erst war da dieser Stich. Der, der immer kam, wenn–
Nein. Nicht jetzt.
Ich zwang mich, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Stattdessen wiederholte ich still seine Worte, hob eine Braue – und erst als Ben plötzlich den Mund öffnete und ins Straucheln geriet, wurde mir klar, dass man mir meine Auffassung wohl deutlich ansah.
»Wie alt bist du? Zwölf?« Ich versuchte witzig zu klingen, aber wie so oft ging der Schuss nach hinten los. Sein Gesicht verzog sich, Hitze schoss mir in die Wangen, und Scham kroch mir den Hals hinauf.
Ich schob mich irgendwie an ihm vorbei Richtung Badezimmer. Hoffentlich war es die Tür neben dem Eingang, eine Überraschung in Form eines Gemeinschaftsbads hätte mir gerade noch gefehlt. Und jetzt war wohl der perfekte Moment, das herauszufinden …
Er lachte tonlos, als ich die Hand auf die Klinke legte. »Sechsundzwanzig. Und nein, ich bin kein Muttersöhnchen. Sie wollten mich in Berlin am Flughafen abholen, und durch den ganzen Wahnsinn hab ich total vergessen, Bescheid zu sagen. Stell dir vor, es kann sich nicht jeder ein schickes Taxi in die Innenstadt leisten und, ach ja, Sprit und Zeit kosten ja auch nichts.«
Damit nahm er mir den Wind aus den Segeln und gab mir etwas viel Schlimmeres: ein schlechtes Gewissen.
Der Kloß in meiner Kehle brannte. Eigentlich brauchte ich frische Luft oder den Geruch meiner wahrscheinlich eiskalten Wohnung, aber nichts davon war auch nur ansatzweise greifbar. Ich senkte den Blick und ertrug den kalten Schauer, der meinen Rücken hinab rieselte. »Vierundzwanzig«, gab ich kleinlaut zurück. »Und so, wie du es gerade sagst, hab ich das wirklich nicht gemeint. Tut mir leid.«
Ich blinzelte, bemerkte die Reue in seinem Blick und spürte, wie mir Tränen der Überforderung in die Augen stiegen.
Er atmete tief aus. »Nala, das–«
»Schon gut«, sagte ich knapp. »Ruf bitte an, okay?«
Dann drückte ich die Tür auf, suchte nach dem Lichtschalter und verschwand im Badezimmer. Erst mit dem Knacken des Schlosses hatte ich das Gefühl, endlich wieder Luft zu bekommen.
Das hier war wirklich eine seltsame Art, einander kennenzulernen. Sollten wir diese Nacht tatsächlich gemeinsam verbringen müssen, durfte das so nicht weitergehen – sonst würde ich das keine Stunde aushalten, so viel stand fest.
Ich hatte jederzeit das Recht, ihn aus dem Zimmer zu werfen. Aber das wäre unfair.
Zumindest redete ich mir das ein …
Seit zehn Minuten hockte ich auf dem Rand der Badewanne und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ben hatte es drei Mal bei seinen Eltern versucht, bis endlich jemand dran ging. Das war nun etwa vier Minuten her.
Eigentlich war es unfair.
Eigentlich tat man so etwas nicht.
Eigentlich belauschte man keine fremden Gespräche.
Aber irgendwie ließ es mich für diesen Augenblick ein bisschen weniger einsam fühlen. Und allein dieser Gedanke jagte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper.
Ein Gefühl, das viel zu vertraut war. Erst umgeben von tausenden Menschen in dieser riesigen Stadt, dann am Flughafen. Seit Wochen umgeben von glücklichen Paaren, Familien mit Kindern, deren Augen an jeder Straßenecke, in jedem Kaufhaus leuchteten, weil sie wussten, dass bald Weihnachten war.
Jeder Laden sah aus, als hätte Santa Claus persönlich hineingekotzt und alles zum Funkeln gebracht. Früher hatte ich mir oft vorgestellt, wie es wohl wäre, wie es sich anfühlen musste, so ein Kind zu sein, dessen Augen strahlen durften. Wie es sein musste, sich etwas wünschen zu dürfen, darauf zu hoffen, dass es in Erfüllung ging … Ich erinnerte mich daran, dass ich immer dann dieses warme Kribbeln im Bauch gespürt hatte, das mich kurz zum Lächeln brachte.
Träume, die nie in Erfüllung gingen, waren mein einziger Anker – achtzehn Jahre lang.
Ich biss die Zähne zusammen, vergrub die Hände tiefer in meinen Mantelärmeln, schlang die Arme um mich selbst. Vorsichtig rutschte ich weiter nach vorne, schnappte nach Luft und ließ mich langsam an der Außenseite der Badewanne hinabgleiten, bis ich endlich den Boden unter mir spürte.
Ich legte das Kinn auf meine Knie, zog die Beine eng an mich und erlaubte mir wieder zu lauschen. Mein Herz raste, mein Hals brannte, doch in meinen Ohren fand Bens ruhige Stimme plötzlich Platz.
Er lachte, erzählte von London, weigerte sich aber zu sagen, was er gekauft hatte. Sicher war er einer dieser Shoppingtouristen. Ich würde es nicht anders machen, wenn mich diese Stadt nicht jedes Mal meinen letzten Nerv kosten würde. Mein Kinn begann zu beben und ich wusste nicht warum. Entweder war mir kalt, oder ich würde jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Nein, Paps … mach dir keine Sorgen. Ich komme schon irgendwie nach Hause … Nein, ihr schickt mir kein Geld …«
Wieder lachte er. Sanft, ruhig und so … warm.
»Für die Nacht finde ich schon was. Im Moment bin ich noch in einem Hotel und bin sicher, dass ich hier irgendwo warten darf … Ja, Paps, ich fahre pünktlich zum Flughafen zurück … Sicher. Gib Mama einen Kuss von mir … Macht’s gut. Bis morgen.«
Und dann war da wieder diese Stille, die mich auffraß.
Stück für Stück.
Bis sie sich in ein betäubendes Pfeifen verwandelte. Ich presste die Lider zusammen, rang in viel zu kurzen Atemzügen nach Luft. Mein Mund wurde staubtrocken und mein Herz schwer … vor Wut über die Bilder in meinem Kopf. Vor Hass, der jedes Mal die Kontrolle über meine Gedanken übernahm. Und vor Traurigkeit, die stärker war als alles andere zusammen.
Ein heftiger Stich durchfuhr meine Brust und ich wimmerte. Meine Schläfen pochten und ich verlor den Kampf gegen meine Angst. Ich löste die Arme von meinen Beinen und kippte auf die Seite.
Konzentrier dich.
Ein. A-Aus.
Ein–
Ich schluchzte und rieb mir panisch über die Stelle über meinem Herzen. Mit einem Mal wurde mir schrecklich heiß und eiskalt zugleich, und das Wummern in meinem Körper wurde immer unerträglicher.
Ich hatte Angst. So verdammt Angst, dass das hier reichte, um mich wieder krank zu machen. Mir mein Leben zu verbauen. Mich Jahre kosten und mich zurück in meine Kindheit katapultieren würde.
Tränen tropften von meinen Wangen und ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich griff über mich hinweg zum Waschbecken und drückte mich an der Badewanne hoch. Dann tastete ich fast blind nach dem Glas auf der Ablage und füllte es mit Wasser. Mit zitternden Händen versuchte ich zu trinken und spürte, wie ausgetrocknet mein Mund war. Ich trank in einem Zug alles leer und stellte das Glas kraftlos zurück.
Ein leises Räuspern überkam mich und ich wischte mir lieblos über die Wangen. Erst dann hob ich den Blick. Ich erkannte kaum etwas im Spiegel, meine Sicht war zu trüb. Mein Gesicht war gerötet, vom Make-up, das heute Morgen noch perfekt saß, war kaum etwas übrig.
Eigentlich wollte ich nur tiefer in meinem Mantel versinken, die ganze Nacht in diesem winzigen Badezimmer verbringen und die nächsten Stunden schlafen – doch mit jedem Atemzug wurde mir klarer, dass mein Kopf es mir nicht erlauben würde.
Ich musste runterkommen von diesem Trip, den mein Körper ohne meine Erlaubnis auskostete, als wäre es ein Spiel.
Dafür musste ich sprechen.
Ben klarmachen, was gerade passierte.
Der bloße Gedanke daran presste mir die Luft aus den Lungen und ich wünschte mir, dass all das nie passiert wäre. Keine Geschäftsreise, kein Schneesturm, keine zusätzliche Nacht in diesem Land. Aber das war nicht die Realität.
Ich musste mich zusammenreißen, um loslassen zu können … alles in der Welt hätte ich lieber getan, als mich einem Wildfremden öffnen zu müssen.
Aber es half nichts.
Die Stimme in meinem Kopf, die behauptete, dass es der einzige Weg sei, Ruhe zu finden, wurde immer lauter – und so sah ich mir selbst dabei zu, wie ich wie ferngesteuert die Tür entriegelte und langsam aus dem Bad trat. Ich schnappte nach Luft, schluckte. Ein leises Schniefen drängte sich über den Lärm in meinem Kopf und ich drehte mich zu Ben um.
»Hey, ist alles klar?«, fragte er beiläufig. Ich sah, wie er noch etwas auf seinem Handy tippte, es dann weglegte und nach seiner Tasche griff.
»Hm«, brachte ich gequält hervor und spürte, dass mehr als dieses Brummen nicht möglich war. Ich öffnete den Mund ein Stück und ertrug die beschämende Hitze, die mich wie eine Welle überrollte, als er mich schließlich ansah.
»Hast du geweint?«, fragte Ben, und ein Stich durchfuhr mich. Mein Kinn bebte und ich wagte es, einen Schritt näher zu gehen und mich neben ihn aufs Bett zu setzen.
»Bitte sei kein Arschloch«, wimmerte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Ich hatte meinen Gedanken tatsächlich laut ausgesprochen und spürte, wie meine Fingerspitzen zu kribbeln begannen.
»Was?« Er klang verwirrt, gleichzeitig verletzt, was mir in der Sekunde, in der er es aussprach, bereits wieder leidtat.
Ich versuchte tief durchzuatmen, sah dabei auf meine zitternden Hände und ertrug kaum das flaue Gefühl in meinem Magen. Mein Kopf war schwer, in meiner Brust war es eng, und das Schlucken tat weh.
»Ich kenne dich nicht. Und ich weiß, es ist viel verlangt, wenn ich das sage, aber bitte sei kein Arschloch, okay? Ich … ich muss dir jetzt etwas sagen, das ich Partnern in einer festen Beziehung erst nach Monaten anvertraut habe, und es ist ein Thema, das für mich verdammt noch mal nicht einfach ist. Ich weiß nicht, wie du sonst mit sowas umgehst, aber …«
In meinen Augen kribbelte es verräterisch, als ich in sein Gesicht sah. Sein Ausdruck war so verwirrt und gleichzeitig überrascht.
»Ich bitte dich, dass du zumindest bis morgen früh so tust, als wäre es dir nicht scheißegal, was ich dir jetzt sage.« Vorsichtig strich ich mir die Haare hinters Ohr und senkte den Blick.
»Dir wird das alles hier gerade zu viel, hab ich recht?«, sagte Ben ruhig.
Ich machte eine vage Kopfbewegung, bevor ich ihn wieder ansehen konnte. »Ich bin seit sechs Wochen beruflich in dieser Stadt. Normalerweise hab ich überhaupt kein Problem damit, solange ich genug zu tun habe. Termine, Meetings, Verabredungen – aber sobald etwas komplett aus dem Ruder läuft, was eigentlich mein Ausgleich und meine Ruhephase sein soll, dann …« Ich schluckte. »London war einfach sehr viel dieses Mal. Seit ein paar Tagen fühle ich mich komplett reizüberflutet und ich … ich will einfach nur nach Hause. Ich schaffe es nicht mehr, von diesem Trip runterzukommen, der seit Wochen meinen Alltag bestimmt.«
Plötzlich liefen mir wieder die Tränen über die Wangen und ich bemerkte, wie ich heftig mit den Beinen zu wippen begann.
»Aber das … das ist nicht das Hauptproblem.« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich wurde mit einem Herzfehler geboren und vor ein paar Jahren hatte ich auf einer Dienstreise eine Panikattacke, weil mein Herz aus dem Nichts viel zu schnell geschlagen hat. Als Kind wurde ich am offenen Herzen operiert, und eigentlich hätte dadurch so etwas nie wieder vorkommen dürfen, aber es ist trotzdem passiert. Ich konnte mich einfach nicht mehr beruhigen. Und das ging so weit, dass ich einfach umgekippt bin … Ich will nicht, dass es wieder passiert, verstehst du? Ich hab so beschissen große Angst, dass mich meine Nerven wieder herzkrank machen, nur weil ausgerechnet an meinem Abreisetag so eine Scheiße passieren muss.«
Die Worte überschlugen sich in meinem Mund. Ich schluchzte und gab mich dem Zittern meines Körpers hin. Für einen kurzen Augenblick blieb es still zwischen uns.
»Ich werde kein Arschloch sein, versprochen«, hörte ich Ben plötzlich sagen. »Gibst du mir bitte mal deine Hände?«
»Was?«, schniefte ich, fast entsetzt über seinen entspannten Gesichtsausdruck.
Er hielt mir seine Hände entgegen, Handflächen nach oben, und in mir schwand jeder Wille, mich dagegen zu wehren. Langsam hob ich meine Hände in seine und erschauderte bei der Berührung. Er war im Gegensatz zu mir ganz warm, seine Haut wider Erwarten sanft und kein bisschen rau.
Ben drehte meine Hände nach außen und strich mit seinen Daumen bis an meine Handgelenke. Er fuhr noch ein Stück höher, bis er an einer bestimmten Stelle verharrte und sanft Druck ausübte.
Wie gebannt starrte ich auf das – was auch immer er da tat – und konzentrierte mich nur auf die Wärme, die von ihm ausging.
»Schön weiteratmen«, brummte er und hob den Blick. Seine Mundwinkel zuckten, doch ich war viel zu langsam, um darauf zu reagieren. Er sah zurück auf meine Unterarme und begann, seine Daumen ganz vorsichtig in Kreisen zu bewegen.
»Was tust du da?« Meine Stimme war rau.
»Hilft es?«, fragte Ben, ohne wieder aufzusehen.
Ich blinzelte träge. »Ja«, hauchte ich.
»Das ist Nei-Guan. Es kommt aus der chinesischen Medizin.«
»Woher kennst du sowas?«, flüsterte ich. In seinem Blick regte sich etwas, seine Brauen kräuselten sich, als wäre es ein Thema, über das er ungern sprach.
Ben räusperte sich, vertiefte den Druck leicht. »Meine kleine Schwester litt als Kind an Angststörungen. Ich hab mich immer so hilflos gefühlt, wenn niemand sie beruhigen konnte. Einmal im Monat ist meine Mom mit uns zur Bücherei gefahren. Damals hatten wir noch keinen Computer zuhause, geschweige denn eine richtige Internetverbindung. Also hab ich mich durch die Medizinabteilung gewühlt und ein Buch über Akupressur gefunden. Es war das Einzige, was ihr immer sofort geholfen hat. Und das hier hilft speziell bei Herzrasen, Angstzuständen und Übelkeit durch Stress.«
»Lieb von dir«, schmunzelte ich. »Also das mit deiner Schwester … und das.« Ich deutete mit einem Nicken auf unsere Hände und beobachtete, wie er sich langsam wieder von mir löste. Ben beugte sich nach seiner Tasche und holte eine Packung Taschentücher aus dem Seitenfach.
»Vielleicht klingt es etwas selbstüberzeugt, aber ich würde sehr gern behaupten: Nein, ich bin kein Arschloch.«
Er reichte mir eins der Tücher und ich tupfte mir die Wangen trocken.
»Also … bis auf ein paar Ausnahmen«, ergänzte er, und ich hielt inne. Langsam hob sich meine Augenbraue, und er musste lachen.
»Ach, du meinst Situationen wie vorhin, wenn dir jemand« – ich formte Anführungszeichen in der Luft – »dein Hotelzimmer wegnehmen will, obwohl du ganz sicher nicht zuerst am Tresen warst?«
Ben seufzte ertappt. »Ja, gut. In solchen Situationen kann ich ein Arschloch werden, ich geb’s zu.«
»Wann noch?«, fragte ich neugierig.
Er überlegte kurz. »Ich kann es überhaupt nicht ausstehen, wenn Leute frech zu Personal werden.«
Jetzt musste auch ich kurz lachen.
»Was ist?« Seine Mundwinkel zuckten, und wieder traten seine hübschen Zähne zwischen den Lippen hervor. Ich ertappte mich dabei, wie ich einen Moment zu lang auf seinen Mund starrte, bevor ich den Blick wieder hob.
»Du hättest mich heute mal in der Businessclass erleben müssen. Manche Menschen haben einfach keinen Respekt, und ich liebe es manchmal ein bisschen zu sehr, es ihnen unter die Nase zu reiben.«
Er zog ein Bein an und stützte sich mit den Händen hinter sich ab. »Ich seh’ schon, bei dem Thema sind wir voll auf einer Wellenlänge.«
Dann brach wieder Stille zwischen uns aus und ich genoss die Ruhe, die plötzlich im Raum lag. Ich fühlte mich nicht mehr unwohl, und das Eis begann tatsächlich langsam, aber sicher zu schmelzen. Mit kurzen, wechselnden Blicken beobachtete ich die kleinen Regungen in seinem Gesicht, bis er sich plötzlich zu mir vorbeugte und die Hände vor der Brust verschränkte.
»Ich will ehrlich zu dir sein, ich hatte heute auch schon panische Angst … und ich möchte, dass du weißt, dass du es warst, die mir geholfen hat.«»Was?« Verwirrung trat in mein Gesicht. »Was meinst du damit?«, fragte ich leise.»Ich … ich hasse
