Elana - Who I Was - Melanie Ober - E-Book

Elana - Who I Was E-Book

Melanie Ober

5,0

Beschreibung

Dass Elanas Familiengeschichte aufgrund ihres jüdischen Urgroßvaters eine besondere war, wusste sie schon immer. Doch als sie wegen einer unverhofften Verwechslung den Platz ihrer bisher unbekannten Zwillingsschwester in der »German Preservation of History« einnehmen muss, deckt sie damit das dunkelste Geheimnis ihrer Familie auf. Gemeinsam mit dem ihr zugeteilten Partner Niclas ist Elana plötzlich dafür verantwortlich die Deutsche Geschichte vor groben Eingriffen zu wahren. Bis dahin waren Zeitreisen etwas völlig Unmögliches für sie, das nur in Filmen existierte. Doch als sie selbst in der Zeit des Nationalsozialismus landet, beginnt sie zu begreifen worum es ihrem Chef wirklich geht. Wird Elana den Strapazen standhalten?

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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2025

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narcessia

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Rezension: „Elana – Who I Was“ von Melanie Ober „Elana – Who I Was“ ist ein Roman, der mich vollkommen überrascht und tief berührt hat. Schon die ersten Seiten ziehen einen gnadenlos in die Geschichte hinein – und lassen einen bis zum Schluss nicht mehr los. Inhalt (ohne Spoiler): Im Mittelpunkt steht Elana Ziegler, eine junge Frau, die eigentlich nur versucht, ihr Leben zwischen Nebenjob und Studium zu meistern. Doch ihr Leben gerät völlig aus den Fugen, als sie mitten in einen Strudel aus Geheimnissen, Verrat und Schicksalsschlägen gezogen wird. Plötzlich wird sie mit einer schockierenden Wahrheit konfrontiert: Sie hat eine Zwillingsschwester, Elisa, von der sie nie etwas wusste – und diese verschollene Schwester scheint mit einem mysteriösen Unternehmen namens „GPH“ (German Preservation of History) verstrickt zu sein. Was als scheinbar alltägliche Geschichte beginnt, entwickelt sich zu einer packenden Mischung aus Familiengeheimnissen, Identitätsfragen, Zeitreisen und einem Kampf...
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Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Ich wünsche mir für euch alledas bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Melly

Für Lina,meine Seelenschwester.

Elana - Who I WasPlaylist

Numb - Linkin Park

Paradise City - Guns n‘ Roses

In the End - Linkin Park

Titanium - David Guetta

Big in Japan - Alphaville

1

Elana

Was für ein beschissener Tag.

Ich ließ mich schlapp in den Sitz des Busses fallen und seufzte. Draußen hatte es sicher über dreißig Grad, und die Luft hier drin war kein Stück erfrischender. Eine Mischung aus dem miefigen Körperschweiß der anderen Fahrgäste und dem abgestandenen Kühlwasser der Klimaanlage stieg mir in die Nase - grässlicher Geruch.

Die Sonne knallte heiß durch die Fenster und ließ mich ohne größere Anstrengung sofort schwitzen. Ich trug ein weißes Top und kurze Stoffshorts, die es mir gerade noch erlaubten, auf dem Schalensitz zu hocken, ohne mit meinen Schenkeln diesen kratzigen Bezug zu berühren.

Ich zog müde das Case mit meinen Kopfhörern aus der Tasche und verpasste mir die volle Dröhnung Linkin Park.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass nur Chester verstand, was in meinem Kopf los war. Ich schloss die Augen und lauschte den Texten, die sich jedes Mal wie ein schmerzhaftes Gespräch zwischen uns anfühlten.

Ich hatte genug von diesem Tag. Seit sechs Uhr morgens war ich in der Wäscherei beschäftigt, und jetzt war es fast siebzehn Uhr. Die Einzige, die mich dort hielt, war Jolie. Ohne sie hätte ich wahrscheinlich längst hingeschmissen. Ich tat das alles nur, um mein Geschichtsstudium zu finanzieren und nicht, weil ich es besonders toll fand, Kunstblutflecken und Matsch aus den Kostümen der Darsteller zu waschen.

Die Wäscherei gehörte zu einem Filmset oben drüber. Und obwohl die Studios täglich von unzähligen Menschen betreten wurden, bekam man nie etwas von den Dreharbeiten mit. Vor allem uns »unteren« Mitarbeitern war es verboten, das Gelände überhaupt nur zu betreten. Aber ehrlich gesagt war ich auch nicht besonders scharf drauf, auf ein paar hochnäsige Schauspieler zu treffen, weshalb wir jeglichen Kontakt mit den Leuten dort mieden. Kostüme entgegennehmen, waschen, trocknen, bügeln und wieder abholen lassen. Das war’s.

Der Bus hielt und ich schwang mich viel zu schnell aus dem Sitz, um auszusteigen. Ich konnte es kaum noch erwarten, endlich bei Charlie zu Hause zu sein und mit ihm die letzten hellen Stunden des Tages auf unserer Dachterrasse zu ver-bringen. Ich hatte zwar noch einiges für meine abschließende Klausur zu lernen, doch der Kleine war der einzige Kerl, der mir das Leben nicht unnötig schwer machte.

Auf dem Weg zur Haustür kramte ich in meiner Tasche und fischte den Haustürschlüssel heraus. Besonders eilig hatte ich es nicht bei diesen Temperaturen bis in den vierten Stock zu stapfen, doch es half nichts. Unser Aufzug ging kurz nach meinem Einzug vor zwei Jahren kaputt und die Hausverwaltung scherte sich natürlich einen Dreck darum.

Ich trat in den sogar einigermaßen kühlen Hausflur und öffnete meinen Briefkasten. Ein ganzer Schwall an Prospekten, Flyern und dem einen oder anderen Umschlag kam mir entgegen und landete in einem Rutsch vor meinen Füßen. Ich schnaubte genervt und fing an, alles wieder vom Boden aufzuklauben.

Ich stieg kaputt die Treppenstufen nach oben und mit jedem Höhenmeter, den ich überwand, wurde die Luft wieder stickiger. Doch ich hielt durch. Charlie wartete sicher schon vor der Klimaanlage auf mich und hatte den halben Tag verpennt. Was man als Kater halt so macht, wenn draußen die Welt den Sommer genießt.

Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte an-schließend die Tür auf. Seufzend kickte ich meine Sandalen von den Füßen und wurde mit fröhlichem Maunzen begrüßt.

»Hey Tiger!«, quiekte ich und setzte mich zu ihm auf den Boden. Er schmiegte sich an mich und begann zu schnurren. Ein paar seiner langen, grauen Härchen blieben an mir kleben, doch das störte mich nicht weiter.

»Charlie-Schatz, hast du schon wieder was angestellt?«, fragte ich skeptisch. Immer, wenn er so unglaublich verschmust war, hatte eine meiner Pflanzen entweder keinen Topf mehr oder ein paar Blätter weniger. Ich stand langsam vom Boden auf und ging direkt links von mir ins Badezimmer. Dort drehte ich den Wasserhahn auf kalt und wusch mir mein Gesicht, was eine unglaubliche Wohltat war. Ich spritzte mir etwas Wasser aufs Dekolleté und hinter die Ohren, um dann kläglich am Versuch, mich noch etwas mehr abzukühlen, zu scheitern.

Es war einfach viel zu heiß.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und ging gegenüber in meinen kleinen Wohnbereich. Das größte Zimmer meiner Wohnung teilten sich meine Küche und mein Wohnzimmer, das nur aus einem Dreisitzersofa und einem Fernseher auf einer Kommode bestand. Um sie herum standen verschieden große Bilderrahmen mit Kunst, die ich so sehr liebte. Ich hatte mir nach und nach welche von einem Straßenmaler in der Stadt gekauft. Jedes Mal, wenn ich einen für mich großen Erfolg zu feiern hatte, hab ich mir ein neues zugelegt. Sie zierten auch die Wände meiner restlichen Wohnung und ich war mir sicher, dass der Künstler mich längst für verrückt hält.

Auf dem Weg zum Kühlschrank hörte ich plötzlich ein Klopfen hinter mir. Die Terrassentür ging von außen auf und ein verschwitzter, oberkörperfreier Vince trat ein.

»Vincent Breuer. Hast du auch nur die geringste Ahnung was es kostet, diese fünfundvierzig Quadratmeter einigermaßen kühl zu halten, damit er«, brummte ich und fuhr herum, um auf Charlie zu deuten, der einfach nur vor uns saß und uns beobachtete, »hier drin nicht eingeht? Mach sofort die Tür wieder zu!«

»Ah, da hatte wohl jemand einen miesen Tag was?«, fragte er frech grinsend, als er langsam auf mich zuging und hinter sich die Tür zu fallen ließ.

Ich starrte auf seine Brust und zog eine Augenbraue nach oben. »Ich ‘nen schlechten Tag? Viel Spaß mit dem Sonnenbrand morgen«, kicherte ich und holte zwei Wassereis aus meinem Kühlfach.

»Wird schon nicht so schlimm.« Vince klang so überzeugt und trotzdem wusste ich, dass ich in dem Fall mal wieder Recht behalten würde.

»Hm, klar. Wehe du klaust mir dann wieder jammernd den Quark aus dem Kühlschrank.«

»Du hast gestern unsere letzte Milch mitgenommen.«

Ich zuckte mit den Schultern und drückte ihm das Eis in die Hand. »Dafür hab ich wegen euch kein Mehl mehr da.«

»Oh, ich denke wir sind dann quitt?«, fragte er mit einem verschmitzten Grinsen.

Ich verdrehte die Augen und schob ihn zurück nach draußen. »Als ob das hier ein Wettbewerb wäre. Natürlich sind wir quitt.« Ich schnappte mir meine Unterlagen vom Sofa und folgte Vince auf unsere Dachterrasse.

»Elana, du alte Streberin. Ist das dein Ernst, dass du jetzt lernst?« Wenige Meter von uns entfernt stand Rebecca mit verschränkten Armen und sah drein, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Leute, ich weiß, heute ist unser Grillabend. Aber die Prüfung ist bald und ich fühle mich irgendwie so schlecht vorbereitet. Ihr wisst, dass ich nur diese eine Chance hab zu bestehen.«

Rebecca kam zu mir rüber und nahm mein verschwitztes Gesicht in ihre Hände. »Ich weiß, Süße. Das war ja auch ein Scherz«, antwortete sie beschwichtigend und starrte dann auf mein Eis. »Oh ja, genau das brauch ich jetzt.« Sie nahm es mir einfach aus der Hand und schob es sich in den Mund.

»Ey, das war schon angeleckt«, rief ich ihr lachend nach und beobachtete, wie sie schulterzuckend wieder auf ihre Seite hopste.

Unsere Dachterrassen wurden nur durch einen windigen, hölzernen Aufbau getrennt, den wir direkt nach dem Einzug vor zwei Jahren entfernt hatten. Sie gab uns die Möglichkeit einer, wie wir es nannten, on-off WG.

Ich kannte Becca und Vince schon mein halbes Leben. Wir gingen auf dieselbe Schule und lernten uns in der siebten Klasse kennen. Seitdem waren wir eine dieser berühmten, unzer-störbaren Dreieckskonstellationen.

Das Pärchen und der Einzelgänger. Und auch, wenn wir das Klischee damit vollkommen erfüllten, war es uns egal. Es funktionierte einfach. Sie hatten ihre Zweisamkeit und ich hatte meine Ruhe ohne einsam zu sein.

Ich ließ mich in die Liege vor mein Wohnzimmerfenster plumpsen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Mir tat alles weh. Die Schichten in der Wäscherei verlangten mir immer einiges ab, doch sie zahlten gut, weshalb ich es gerne in Kauf nahm.

»Elana, du wirst angerufen«, sagte Vince und riss mich damit aus meinem winzigen Moment der Ruhe. Ich tastete nach meinem Handy und warf einen Blick darauf. Mama.

Ich hob ab. »Hey, Mami. Was gibt’s?«, begrüßte ich sie während ich versuchte, meinen Nacken zu entspannen.

»Elana, wo bist du gerade?«, fragte sie mit schwacher Stimme. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

»Zu Hause, wieso? Was ist los?« Ich saß sofort wieder aufrecht und verlor die Hälfte meiner Notizen auf dem Terrassenboden.

»Omas Werte sind im Laufe des Tages enorm schlechter geworden. Ich denke, es ist das Beste, wenn du vorbei kommst. Jetzt.« Das Wimmern in ihrer Stimme entriss mir fast den Boden unter den Füßen. Ich presste die Augenlider aufeinander und vergrub mein Gesicht in meiner freien Hand. Mein Kinn begann zu beben und ein dicker Kloß hatte sich in meiner Kehle gebildet.

Nein. Bitte Gott, nein. Nicht jetzt.

»Ich… Ich bin so schnell wie ich kann bei euch. Ich fahre sofort los«, krächzte ich in den Hörer. Plötzlich wurde mir eiskalt, und ein widerlicher Schauer durchdrang meinen Körper.

Ich hörte Stille am anderen Ende der Leitung und dann das leise Tuten der aufgelegten Leitung.

Fuck.

Ich sprang auf und sammelte hektisch meine Blätter zusammen. »Ich muss ins Krankenhaus. Könnt ihr Charlie später bitte füttern? Ich weiß nicht wie spät es wird.«

»Was? Natürlich doch. Ist alles in Ordnung?«, frage Becca, die auf mich zugerannt kam.

Ich zuckte hilflos mit den Schultern und spürte, wie sich Tränen in meinen brennenden Augen bildeten. »Omis Werte sind wieder massiv schlechter geworden. Sie wissen nicht, wie lange sie noch hat.«

Becca hielt die Luft an. »Das tut mir so leid, Mäuschen. Sollen wir mitkommen?« Jetzt kam auch Vince zu uns. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ich ertrug dieses Mitleid nicht. Sie war noch nicht tot.

Ich schüttelte den Kopf und ging wortlos in mein Schlafzimmer. Wie ferngesteuert riss ich meine Schranktüren auf und suchte aufgekratzt nach dem roten Sommerkleid, das sie so mochte. Es war übersät mit weißen kleinen Blümchen. Als ich es mir vor einigen Jahren gekauft hatte, sagte sie, dass ich sie an ihr junges, gesundes Ich erinnern würde. In meinem Alter war sie die freundliche Rebellin, die als Hippie für Frieden und Freiheit protestierte.

Ich war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen Augen, die gleiche Haarfarbe. Die Generation zwischen uns wirkte beinahe non-existent.

Ich riss mir die verschwitzten Klamotten vom Leib, schlüpfte in das Kleid und hechtete an meine Kommode, um ein wenig Schmuck anzulegen.

Alles nur für sie.

Genau so sollte sie mich in Erinnerung behalten.

Meine Bewegungen waren so mechanisch, dass ich mich wie in einer dicken Blase gefangen fühlte.

Auf so einen Tag kann man sich nicht vorbereiten. Du kannst stundenlang mit Familienmitgliedern, Freunden, behandelnden Ärzten oder auch Therapeuten reden - doch wenn der Moment des Abschieds wirklich da ist, hilft dir gar nichts. Sie werden um dich herum sein, versuchen, dich aufzufangen. Doch der Schmerz, der dich innerlich auffrisst, ist ganz allein nur für dich selbst bestimmt. Und egal, wie sehr du versuchst, dich darauf vorzubereiten, egal wie oft du dir vorstellst, wie es sein könnte, der Schmerz trifft dich mit einer so enormen Wucht, dass es dich beinahe niederreißt. Es presst dir die Luft zum Atmen aus den Lungen, versucht dir dein Herz zu zerquetschen und trotzdem schreist du alles um dich herum in Grund und Boden.

Die letzten Wochen waren die Hölle. Mal wurden die Werte etwas besser und dann gingen wir wieder zehn Schritte zurück, weil die Therapie nicht mehr anschlug.

Krebs ist ein erbarmungsloses Arschloch.

Im Badezimmer kämmte ich mir hektisch die Knoten aus den Haaren und fasste sie in einem hohen, unordentlichen Dutt zusammen. Ich schlüpfte in meine Sandalen, griff nach meiner Tasche und raste dann ungehalten die Treppen im Hausflur hinunter.

Ich fühlte nichts und ich wollte auch nichts fühlen. Am liebsten hätte ich mir zur Beruhigung einen Schnaps in den Rachen gekippt, doch dafür war die Zeit einfach zu kostbar.

Wie ferngesteuert holte ich die Kopfhörer wieder aus meiner Tasche und stopfte sie mir in die Ohren. Nur Chester würde mir jetzt genug Mut zuschreien können, um nicht heulend und auf der Stelle zusammen zu brechen. Ich schloss die Kette meines Fahrrads auf und raste los ins Krankenhaus.

2

Elana

Es kotzte mich jedes Mal aufs Neue an. Diese grässliche Vertrautheit, die dieser Ort seit viel zu langer Zeit auf uns ausübte. Schon beim Betreten des gläsernen Vorbaus stieg mir der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase. Draußen war es viel zu schön und viel zu heiß, um den Tag so verbringen zu müssen. Doch sie durfte nicht raus. Nie.

Alles stellte immer in irgendeiner Weise eine Gefahr für sie dar. Während bei den Temperaturen andere draußen schwitzten und alles dafür taten, dass es der Sommer wird, lag Omi in ihrem abgedunkelten, klimatisierten Zimmer und wartete auf ihren Tod.

Der Gedanke daran ließ mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen und ein schmerzhafter Kloß bildete sich in meiner Kehle, während Tränen in meine Augen stiegen. Sie brannten unaufhörlich und ich verlor mit einem Mal wieder die Mauer, die ich mir so mühselig selbst errichtet hatte.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und bereits mit dem Betreten der Station breitete sich eine ekelhafte Gänsehaut auf meiner ganzen Haut aus.

Die Onkologie. Ich hasste die Tatsache so sehr, dass mir hier kein einziges Gesicht fremd war. Kein Einziges. Die meisten Schwestern und Pfleger kannte ich mittlerweile beim Namen und mit den behandelnden Ärzten waren wir beinahe beim Du.

Omi lag schon so lange hier. Sie ist eine enorme Kämpfernatur, doch das würde ihr bald nicht mehr helfen. Ihr Blutkrebs war viel zu aggressiv. Es grenzt an ein Wunder, dass sie schon so lange Zeit mit ihm lebt. Selbst ihre Ärzte, von denen sie die letzten Jahre eine Unmenge hatte, sagten ihr ausnahmslos, was für ein großes Vorbild sie ist.

Zimmer 4. Meine Schritte wurden mit jedem Meter langsamer, je näher ich kam. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde und das war meine größte Angst. Die Zimmertür öffnete sich und bei dem Anblick blieb mir beinahe das Herz stehen.

»Hallo Opa«, krächzte ich.

Shit. Es tat so weh. Atmen, schlucken, reden - sein Anblick.

Er ließ schon seit viel zu langer Zeit beim Gehen seine Schultern hängen und krümmte damit seinen Rücken so ungesund nach vorne.

»Hallo Spätzchen. Schön, dass du so schnell kommen konntest.« Seine Stimme klang tief und belegt.

»Ist etwas passiert? Ist sie-?« Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Ich konnte es nicht aussprechen. Dadurch hätte es sich viel zu real angefühlt.

»Nein, sie lebt«, antwortete er und es ließ mich aufatmen. Wenn auch nur kurz, aber ich konnte sie sehen, bei ihr sein. Ihr erzählen, was draußen los war und mich wie immer über die Arbeit in der Wäscherei beschweren. Das brachte sie immer zum Lachen, weil sie genau wusste, wie besessen ich von meinem Geschichtsstudium war.

»Nichts in der Welt würde meine Enkelin von ihren Plänen abhalten!« rief sie dann immer. Selbst ihre Ärzte blieben von der Information nicht verschont.

Ich trat vor meinen Opa, der sich auf einen Stuhl vor Omis Zimmer fallen ließ. Er war bereits über achtzig und trotzdem der fitteste und adretteste Mann seines Alters, den ich kannte. Er trieb Sport, hielt sich fit und achtete schon immer auf eine gesunde Ernährung. Omi auch. Ein Grund mehr, weshalb ich nie verstehen werde, warum es ausgerechnet sie treffen musste.

»Ist alles okay, Opi?«, fragte ich vorsichtig und ging direkt vor ihm in die Hocke. Ich griff nach seiner Hand und zwang mich zu einem schmalen Lächeln. Er nickte schwach und wandte dann den Blick von mir ab. Seine Augen hatten kein festes Ziel, sie starrten wahllos die Decke entlang, und ich sah, wie sehr er mit seinen Emotionen kämpfte. Ich erhob mich wieder und zog eine kleine Flasche Wasser aus meiner Tasche.

»Hier«, flüsterte ich und hielt sie ihm hin. »Ich will nicht, dass du umkippst bei den Temperaturen.« Er nahm sie schweigend an sich und ich drehte mich zur Zimmertür. Der Anblick ließ mich erstarren. Ich hatte nicht damit gerechnet, diese Konstellation an Frauen zu sehen.

»Ihr habt Martha aus dem Altersheim geholt?«, fragte ich und schluckte schwer.

»Hm«, brummte Opa. »Es war Katharinas Wunsch.«

Fuck. Mir wurde bewusst, wie nah sie vor dem Tod stehen musste. Und es jagte mir eine enorme Angst ein. Martha war Omis Mama, meine Urgroßmutter. Sie lebte seit einigen Jahren im Altersheim und nicht mehr bei meiner Mutter. Trotz ihren beeindruckenden fünfundneunzig Jahre war sie im Kopf noch außergewöhnlich fit.

Sie saß am Krankenbett neben ihrer Tochter und hielt ihre Hand. Der Anblick zerriss mir das Herz. Für uns alle war es schlimm, doch niemand litt mehr als meine Uroma. Ich würde bald meine Großmutter, meine Mom ihre Mom und mein Opa seine geliebte Frau verlieren. Doch ich wagte zu behaupten, dass es Martha am härtesten treffen würde. Sie würde ihr einziges Kind sterben sehen.

»Kommst du mit rein?«, fragte ich starr, als ich die drei im Zimmer beobachtete.

»Ich bleibe noch ein wenig hier sitzen«, antwortete Opa. Ich nickte kaum merklich und drückte die Tür auf. Wie auto-matisiert hoben alle drei die Köpfe und sahen mich an.

»Elana«, krächzte Oma. Sie zwang sich zu einem Lächeln und ich sah, wie sehr sie litt. »Wie schön, dass du gekommen bist. Das Kleid war pure Absicht, richtig?«

»Darauf wirst du keine Antwort kriegen, Omi«, antwortete ich mit einem schwachen Lachen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich löste mich von ihr und sah sie einen Moment lang an. Sie legte ihre schwache Hand auf meine Wange. Ihre Finger waren eiskalt.

»Setzt du dich zu uns?«, fragte sie leise.

»Natürlich.«

Als sie ihren Arm langsam zurückzog überkam sie ein schmerzlicher Ausdruck.

»Tun dir deine Gelenke wieder weh? Soll ich sie massie-ren?« Meine Stimme klang besorgter als ich eigentlich wollte. Omi nickte schwach.

»Das Personal ist so unterbesetzt, dass es für Extrabe-handlungen aktuell keine Kapazitäten gibt«, sagte Mom mit knirschenden Zähnen.

»Ist doch nicht schlimm, Mama. Ich übernehme das gerne, wozu bin ich denn Physiotherapeutin geworden? Außerdem bin ich mir sicher, dass die Schwestern und Pfleger alles geben, um ihre Runden zu schaffen. Sie sitzen sicher nicht mit ‘nem Kaffee in der Hand im Team-Raum und warten darauf, dass der Tag rum geht.«

»Sie hat recht Hanna.« Martha klinkte sich ein. »Ich sehe es doch bei mir jeden Tag. Du glaubst gar nicht, wie froh die Mädels und Jungs sind, dass ich das Allermeiste noch alleine schaffe.«

»Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken? Ja?«, platzte es aus Mom heraus.

»Hanna, es ist doch alles in Ordnung«, keuchte Omi schwach. Sie versuchte sich in ihrem Krankenbett ein wenig aufzusetzen.

»Nein, Mama! Gar nichts ist in Ordnung, verdammt noch-mal.« Mom sprang von ihrem Stuhl auf und raste schluchzend auf den Flur, geradewegs in die Arme ihres Vaters. Omi schloss die Augen und stieß ein hilfloses Seufzen von sich. Ich nahm vorsichtig ihren Arm und begann ihre Gelenke zu massieren, und ein wenig zu mobilisieren.

»Es ist nicht leicht für sie. Für keinen von uns«, flüsterte ich.

»Ich weiß das, Elana. Und trotzdem bin ich diejenige, die sterben wird. Sie hat ihr Leben doch im Grunde noch vor sich. Sie hat noch immer so viel Zeit, das Leben so zu führen, wie sie es will und trotzdem sitzt sie hier und denkt, wenn ich weg bin, ist alles vorbei. Gar nichts ist vorbei. Ihr werdet als Familie weiterleben, auch wenn ich nicht mehr da bin. Versprich mir, dass ihr dafür sorgt, dass sie sich nicht aufgibt!« Omi hatte plötzlich eine ungewöhnlich starke und klare Stimme. Diese Ansage brauchte ihre letzten großen Kraftreserven und sie sank atemlos mit dem Kopf zurück ins Kissen. Sie schnappte nach Luft und tastete nach ihrer Sauerstoffbrille.

»Warte, ich helfe dir«, sagte ich und zog sie ihr vorsichtig über den kahlen Kopf. »Besser?«

Sie nickte schwach und ich ließ mich zurück in den Stuhl fallen. Ich senkte den Kopf und wiederholte gedanklich ihre Worte. Ohne sie weiterleben. Ich konnte mir nicht einmal vor-stellen, wie es sein würde. Die Welt würde dann ein Stückchen dunkler werden, so viel stand fest.

»Elana?«

»Hm?«, brummte ich leise und sah sie schweren Herzens wieder an.

»Du weißt, dass ich nur diesen einen Wunsch habe, ja?«

Ich nickte und zwang mich zu einem aufgesetzten Lächeln. »Ich weiß. Ich werde mein Bestes geben.«

»Danke, Spätzchen.«

Vorsichtig spähte ich zu Martha, die ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte.

»Herrgott Mama, nicht du auch noch«, schimpfte Omi und hatte größte Mühe, nicht selbst anzufangen zu weinen. Sie schluckte schwer und atmete ein paar Mal tief durch. »Erzähl mir von deinem Studium. Ist alles, wie du es dir vorgestellt hast?«, versuchte sie uns nun abzulenken.

»Ja alles gut. Manchmal ist es mit den ganzen Jobs drum-herum wirklich anstrengend, aber es klappt alles. In ein paar Tagen ist die letzte Prüfung und dann stellt sich raus ob be-standen oder nicht.«

Jetzt war definitiv der falsche Moment ihnen zu sagen, dass ich kurz davor war, durch meinen Bachelor zu fliegen. Die mündliche Prüfung Ende nächster Woche war meine allerletzte Chance. Meine Bachelorarbeit wurde mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert, denen sie nicht standhielt. Ich war nämlich dumm genug, mich immer viel zu übermüdet an die Überarbeitung zu setzen. Die Zusatzpräsentation in wenigen Tagen, die mir mein Prof mit Ach und Krach irgendwie ermöglicht hatte, war meine letzte Chance, um nicht drei Jahre meines Lebens für das Studium vergeudet zu haben

»Du siehst müde aus«, sagte Martha und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Ach, halb so wild«, antwortete ich mit einer beschwich-tigenden Handbewegung. »Ich bin nur sehr früh aufgestanden und war den ganzen Tag arbeiten. Später wartet noch ein ganzer Stapel Unterlagen auf mich, die ich noch irgendwie in meinen Kopf bringen muss. Aktuell bleibt mir nachts nicht so viel Zeit zum Schlafen.«

»Ja, und genau deshalb wirst du jetzt nach Hause fahren und schlafen gehen. Dich kann man ja nicht mit ansehen«, scherzte Omi und setzte ein breites Grinsen auf.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich lass euch jetzt nicht allein.«

»Spätzchen, ich weiß, dass du Angst hast. Meine Werte sind wieder schlechter geworden, aber so schnell werdet ihr mich nicht los, versprochen.«

Ich warf Martha einen hilflosen Blick zu. Omi konnte furchtbar sein. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie niemand davon abbringen. Genau wie mich.

»Fahr nach Hause, Elana. Tu mir den Gefallen. Sie werden dich anrufen, wenn ich ins Gras beiße. Keine Sorge.« Sie lachte.

Wie konnte sie nur so gelassen in so einer Situation sein?

»Omi, du kannst so taktlos sein«, sagte ich empört.

»Ich weiß. Es geht aber auch um mich und sonst niemand anderen.«

Sie kam mit ihrem Tod besser zurecht als wir anderen. Omi lebte ihr Leben, genau so wie sie es für richtig hielt. Sie heiratete den Mann ihrer Träume, bekam eine Tochter und eine Enkelin. Und was ich noch schöner fand, auch wenn die Situation keineswegs schön war, ihre Mama war noch immer bei ihr.

3

Elana

»Argh! Was für eine bescheuerte Idee in dieser blöden Wäscherei einen Job anzunehmen«, hörte ich Jolie schnaubend aus der Entfernung rufen. Ich betrat die große Wäschereihalle und balancierte zwei Kaffeebecher in der einen und meinen Schlüsselbund in der anderen Hand. Plötzlich fiel etwas laut polternd auf den Fußboden. »Verdammte Scheiße!«

Ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Uhr. Es war noch nicht mal sechs Uhr morgens. »Ich freu mich auch, dich zu sehen«, rief ich ihr kichernd entgegen.

Jolie hockte am Boden und klaubte unzählige Knöpfe auf. Neben ihr lag die große Blechwanne, in die sie sie achtlos hineinwarf.

Sie reckte mir genervt den Kopf entgegen und ihr fielen die zerzausten, blonden Strähnen ins Gesicht. Sie hatte sich vor kurzem einen Longbob schneiden lassen, mit dem sie noch überhaupt nicht zurechtkam.

»Oh mein Gott. Kaffee, Kaffee, Kaffee!«, rief sie wie ferngesteuert, als sie die großen orangefarbenen Pappbecher in meiner Hand sah. »Elana, du bist ein Schatz!«

»Ih, du schwitzt ja jetzt schon«, stellte ich grinsend fest und streckte ihr den Kaffeebecher entgegen.

»Hör bloß auf. Heute Mittag soll es über fünfunddreißig Grad geben und wir stecken in diesem stickigen Loch fest, anstatt splitterfasernackt in ‘nen See zu springen.«

Ich verdrehte lachend die Augen und nippte an meinem Kaffee. »Glaub mir, ich wäre auch lieber woanders. Aber meine Miete muss sich auch irgendwie bezahlen.«

Ich hörte, wie sich hinter mir die große, schwere Verbindungstür zum Treppenhaus öffnete und schlagartig, mit einem heftigen Knall wieder zufiel.

»Hm, leider.« Jolie trank einen großen Schluck von ihrem Kaffee und verzog angeekelt das Gesicht. »Ih, da ist kein Zucker drin. Elana, der ist voll bitter.«

»Sorry, war alle«, antwortete ich schulterzuckend und grinste sie an. »Aber im Gemeinschaftsraum ist noch was.«

Jolie schob die Unterlippe vor und versuchte, mitleids-erregend zu wirken.

»Nein. Geh selbst.«

»Mann, Elana. Aber ich bin so müde«, motzte sie.

»Hallo? Ey, ist hier jemand?«, rief eine aufgebrachte Stimme die uns immer näher kam.

»Ich bin selbst todmüde«, antwortete ich gähnend und zeigte mit dem Daumen über meine Schulter. »Ich kümmere mich in der Zeit um ihn hier.«

Jolie tapste um mich herum und ging dann rückwärts in Richtung des Gemeinschaftsraums. Sie öffnete den Deckel und roch an dem tiefschwarzen Gebräu darin.

»Ich sag dir eins, Elana. Irgendwann… ja irgendwann schwimmen wir so im Geld, dass wir dann selbst eine Wäscherei besitzen. Dann hab ich Angestellte, die meine Wäsche waschen. Dann werde ich nie wieder-«

»Jolie, pass auf! Hinter dir.«

In dem Moment, in dem sie sich umdrehen wollte, stieß sie mit dem Mann zusammen, der auf uns zugerast kam.

»Verfluchte Scheiße!« Er schrie auf und hatte den knall-heißen Kaffee überall auf seinem weißen Hemd verteilt.

»Oh Gott, das tut mir so, sounendlich leid!«, stammelte Jolie und starrte erst auf den Kaffeefleck und dann in das wütende Gesicht des Fremden. Auf seinem Hals bildeten sich rote Flecken, die zunehmend dunkler wurden und sein Kiefer war so angespannt, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis seine Zähne zu knacken begannen.

»Kann… Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie vollkommen unbeholfen.

»Helfen? Mir helfen? Bist du vollkommen bekloppt und blind? Wie kann man sich nur so unfassbar blöd anstellen?« Seine Stimme wurde immer lauter und ungehaltener. Jolie wich ein Stück zurück und ich sah, wie ihre Hände begannen zu zittern. Ich war völlig perplex, wie man nur so ausrasten konnte, wegen ein wenig verschüttetem Kaffee.

»Eins versprech ich dir: den Job hier, den bist du los. Wer so unfähig ist und sich so bescheuert anstellt, sollte nirgends arbeiten dürfen!« Er rückte ihr noch weiter auf die Pelle und kam ihr mit seinen fuchtelnden Armen viel zu nahe.

Das war genug. Ich raste auf die beiden zu und drängte mich zwischen sie. Mit einem kräftigen Stoß gegen seine Brust bewegte ich ihn zwei Schritte zurück.

»Sonst geht’s aber noch, oder?«, fauchte ich ihn an, »Was fällt dir ein, sie so dumm anzumachen? Es war ein Unfall!«

Er sah mich gar nicht an. Er hob drohend den Finger und versuchte an mir vorbeizukommen, doch ich stellte mich ihm immer wieder in den Weg.

»Das wirst du mir noch büßen! Du kleine-«

»Ey, es reicht jetzt!« Mir brannte eine Sicherung durch und ich schrie ihn an. Oh Gott, tat das gut. Wir mussten uns hier unten ohnehin viel zu viel gefallen lassen. Ich stieß ihn noch ein Stück weiter zurück und sah, wie eine Vene an seinem Hals deutlich hervortrat. Er starrte mich viel zu eindringlich an und beinahe wäre ich einfach abgehauen. Doch für Jolie wollte ich standhaft bleiben.

»Entweder du reißt dich jetzt auf der Stelle zusammen und fährst ‘nen Gang runter oder du kriegst den hier ins Gesicht. Verstanden?«, drohte ich und hielt ihm siegessicher den heißen Kaffeebecher vors Gesicht.

Er sah von oben auf mich herab und setzte ein fieses Grinsen auf. Der Mann war sicher einen Kopf größer als ich. Erst nahm ich ein dunkles Funkeln in seinen Augen wahr, dann riss er sie auf. Plötzlich packte er mich fest am Oberarm und schleifte mich hinter sich her, bis wir in den menschenleeren Gemeinschaftsraum rumpelten.

»Bist du noch ganz dicht?«, fuhr ich ihn an. »Was fällt dir überhaupt ein?« Ich versuchte mich mit aller Kraft aus seinem Griff zu befreien und stieß gegen die kleine Küchenzeile hinter mir. Die Schrankgriffe rammten sich in meine Haut und ich stöhnte vor Schmerz kurz auf.

»Das könnte ich dich auch fragen. Ich dachte ja am Anfang wirklich, dass Ava eine unfähige Partnerin war, aber du übertriffst echt alles. Abhauen und dann hier unten arbeiten.« Er stieß ein gleichgültiges Lachen von sich. »Noch naiver und offensichtlicher ging es scheinbar nicht mehr?«

Wovon sprach er da?

Sein ganzes Auftreten wirkte so unruhig und aufgekratzt, als hätte er eine Menge Probleme an der Backe. Er sah gar nicht wirklich aus wie ein Schauspieler. Hätte er über seinem Kaffeefleck-Hemd ein Sakko getragen, wäre er mit seiner gestriegelten Föhnfrisur auch als Investor oder Bankangestellter durchgegangen. Unter seinen Augen zeichneten sich deutliche Augenringe ab. Er wirkte nicht viel älter als ich selbst war. In seinen Armen hielt er schon die ganze Zeit über ein SS-Offizierskostüm. Es war eins der Kostüme, die gestern nach einer offensichtlichen Kampfszene bei uns abgegeben wurden.

»Jetzt pass mal auf. Ich weiß weder, wer du bist, noch, wer Ava sein soll oder was du eigentlich von mir willst. Wärst du dann bitte so freundlich und lässt mich wieder an die Arbeit gehen? Kann ja nicht jeder ein neureiches Arschloch sein, das sich alles erlauben kann.«

Er packte mich grob am Kinn und drehte unsanft meinen Kopf hin und her. »Oh, ist die arme Elisa wohl auf den Kopf gefallen und erinnert sich nicht mehr?«

Ich riss seine Hand von mir los und wich einen Schritt zur Seite. »Ich heiße nicht Elisa. Wer soll das überhaupt sein?«

»Was soll heißen, du heißt nicht Elisa?«

»Na genau das, was dieser Satz aussagen soll. Ich heiße Elana Ziegler, falls es dich interessiert und nicht Elisa. Nicht mal mit Zweitnamen.«

»Willst du mich verarschen? Ich hab deinen perfiden Plan doch längst durchschaut.«

Die Situation wurde immer seltsamer. Er kniff die Augen zusammen und sah mich musternd an.

»Beweis mir, dass du nicht Elisa bist.« Sein Ton war ernst, doch mit dem riesigen Kaffeefleck auf seinem Hemd fiel es mir sichtlich schwer auf seine Glaubwürdigkeit zu setzen.

»Was? Wie soll ich dir das denn beweisen, wenn ich keine Ahnung habe, wer das sein soll?«

»Dreh dich um und zieh dein Shirt hoch.«

»Wie bitte?« Ich riss die Augen auf und schnaubte. »Du bist doch komplett verrückt.« Übertrieben tippte ich mit meinem Zeigefinger gegen meine Stirn, um ihm bildlich zu zeigen, was ich von ihm hielt.

»Du sollst dich verdammt nochmal umdrehen und dein Shirt hochziehen!«

Ich zuckte zusammen und wusste sofort, er würde es kein drittes Mal sagen. »Woah, okay. Ist schon gut, ich hab verstanden.« Misstrauisch drehte ich mich langsam um und zog mein weißes Shirt hoch bis knapp unter die Brust. Dann verharrte ich einen Moment in dieser Position und wartete auf eine Reaktion. Nichts.

»Das ist unmöglich«, hörte ich ihn flüstern. »Wer bist du?«

Ich riss mein Shirt nach unten und drehte mich schwer schluckend wieder zu ihm. »Elana Ziegler. Und sonst niemand. Ich schwör es dir.«

Er ging ein paar Schritte auf Abstand und sah mich langsam von oben bis unten an, bis er schließlich wieder bei meinen Augen landete.

»Was hast du denn auf meinem Rücken erwartet?«, fragte ich vorsichtig und rieb mir nervös über die Oberarme.

»Ein Geburtsmal unterhalb der Rippen und ein Blitz-Tattoo, das im Nacken beginnt und sich über den gesamten Rücken bis zum Steißbein zieht.«

»Okay, du hast ja jetzt gesehen, dass ich nicht sie bin. Kannst du uns dann wieder in Ruhe lassen? Die Show, die du hier abziehst, ist nämlich echt krank.«

Er rieb sich verwirrt über den Hinterkopf und scheint selbst nicht zu begreifen, was gerade passiert war. Ich war drauf und dran den Raum einfach wieder zu verlassen, doch er sprang auf und hielt mich zurück. »Du weißt also wirklich nicht wer Elisa Nowak ist?«

»Nein. Tut mir leid.«

»Sie wird sie gleich kennenlernen. Danke Niclas, Sie haben ihre Zwillingsschwester gefunden.« Von draußen kam ein älterer Mann auf uns zu, der zwei riesige Securitymänner neben sich stehen hatte.

Ich fuhr zu ihm herum und starrte wortlos zwischen den Gesichtern hin und her. Er trug eine ähnliche Frisur wie der Kerl, der uns angegangen war, einen klassischen, dunkelblauen Anzug und ein überheblich teures, finsteres Lächeln.

Ein flüchtiges, erleichtertes Lachen überkam mich. »Ach richtig, ihr seid ja vom Fernsehen. Dreht ihr jetzt auch versteckte Kamera Pranks?«

Der Mann zwischen den Securities machte eine für mich nichts sagende Handbewegung und dann kamen sie auf mich zu. Sie packten mich an beiden Armen und zogen mich widerwillig aus dem Gemeinschaftsraum. Ich versuchte mich zu wehren und irgendwie aus ihren Griffen zu befreien, doch sie hatten meine Arme so unter Kontrolle, dass es nichts als Energieverschwendung war.

»Elana«, schrie Jolie verzweifelt. Ich drehte mich keuchend und nur halb zu ihr um und nahm ihren erschrockenen Ge-sichtsausdruck wahr. Sie wurde ebenfalls von einem Mann festgehalten.

Was für ein kranker Mist ging hier nur vor sich?

Sie schleiften mich durch die große, schwere Zwischentür ins Treppenhaus. Bis vor wenigen Minuten war das hier noch verbotenes Terrain. Wir durften nicht mal einen Fuß über die Schwelle setzen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, sofort gefeuert zu werden. Links von uns befand sich ein großer Aufzug der sich nach einem kurzen Moment selbstständig öffnete. Niemand wagte es, mich anzusehen, geschweige denn ein Wort zu sagen.

Wir gingen in einen großen, dunklen Saal in dem nichts weiter als ein riesiger Tisch mir sicher zwanzig Sitzplätzen und einem gigantischen Flachbildfernseher auf Rollen stand.

Außer uns war sonst niemand hier. Der Raum hatte eine seltsame Ausstrahlung auf mich. Draußen lebte ein neuer Sommertag auf und hier drin bekam man den Eindruck, unter Vampiren gefangen zu sein.

Die Securities setzten mich unsanft auf den ersten Stuhl am einen Ende des Tisches und verließen den Saal direkt wieder. Der jüngere Mann von vorhin nahm zwei Stühle weiter Platz und starrte dannausdruckslos auf seine Hände, die gefaltet auf dem Tisch lagen.

»Okay. Frau Ziegler, ich hoffe Sie können gut mit streng geheimen Informationen umgehen«, sagte der ältere Mann, der an mir vorbeischlich und sich dann vor den großen Bildschirm stellte. Ich schluckte schwer und wagte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. »Ihren Partner haben Sie ja bereits kennengelernt. Das ist Niclas von Hagen, er wird mit Ihnen die Aufträge antreten und Ihnen alle Fragen be-antworten«, erklärte er und brachte mit einer Handbewegung den Fernseher zum Leuchten.

Verwirrt wanderte mein Blick zu Niclas, der von all dem hier offensichtlich mehr Ahnung hatte als ich. Er stand plötzlich so schwungvoll auf, dass sein Stuhl geräuschvoll nach hinten wegflog. »Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Sie wollen, dass ich mit ihr die Aufträge abschließe?«, brüllte er und deutete dabei abwertend mit seinem Finger in meine Richtung.

»Sie wissen genau, was wegen Elisa Nowak auf dem Spiel steht«, fauchte der Ältere.

Die beiden rasten aufeinander zu. Mein Herz begann unruhig zu klopfen und ich hoffte immer noch inständig, dass das hier entweder eine Verwechslung oder eine verdammt witzlose Show war.

»Sie hat doch überhaupt keine Ahnung was sie erwartet! Ihr Lebenslauf weist nichts auf, dass mir in irgendeiner Art garantiert, nicht dabei draufzugehen, wenn sie mit mir arbeitet!«

»Sie hat übrigens einen Namen«, warf ich ein und stand genervt von meinem Platz auf.

»Halt die Klappe!«, fauchte mich Niclas an und beachtete mich gar nicht länger. Verdutzt starrte ich die beiden an und beobachtete ihre Diskussion.

»Frau Ziegler ist Elisa Nowaks Zwillingsschwester, falls es Ihnen noch immer nicht aufgefallen ist. Das erleichtert uns einiges und die Tatsache, dass sie einen Bachelor in Geschichte hat, sowieso. Das sind doch die perfekten Bedingungen, finden Sie nicht?«, fragte wieder der Ältere, dessen Namen ich noch immer nicht kannte.

Ich räusperte mich laut und deutlich. »So, ich denke das ist der Moment in dem Sie mir endlich mal erklären sollten, was für ein Mist hier eigentlich läuft. Und übrigens ist das Studium noch nicht abgeschlossen, ich-«

»Du sollst verdammt nochmal deine Klappe halten!«, kläffte Niclas grob.

Stille.

Was ein blöder Wichser. Was fällt ihm eigentlich ein?

»Niclas es reicht jetzt. Wenn Sie sich nicht auf der Stelle zusammenreißen und Frau Ziegler mit Respekt entgegen-kommen, wars das für Sie. Und zwar endgültig!«, ermahnte ihn der Mann. »Es steht Ihnen nicht frei, Ihre Partner zu wählen, wie es Ihnen gerade recht ist. Wir haben ja gesehen wozu das führt.«

Niclas sagte nichts mehr. Er drehte sich wortlos um und warf mir einen düsteren Blick zu. Genervt packte er den Stuhl, den er so achtlos von sich gestoßen hatte, an der Lehne, stellte ihn geräuschvoll wieder hin und setzte sich schnaubend zurück an den Tisch.

Es war so früh am Morgen und trotzdem wusste ich, dass ich wegen ihm heute sicher nicht gut schlafen werde. »Entschuldigen Sie Herr…«, fing ich an und betonte den Satz so, dass er mich richtig verstand.

»Rudolph Westenberg«, presste Niclas zwischen den Zähnen hervor.»Danke, Niclas«, antwortete ich mit einem zuckersüßen Lächeln und ging dann mit einem genervten Augenrollen an ihm vorbei und direkt zum Monitor. »Herr Westenberg, würden Sie mir nun bitte verraten was hier los ist? Wieso sprechen Sie die ganze Zeit davon, dass Elisa Nowak meine Zwillings-schwester wäre? Ich bin Einzelkind. Ich habe keine Ge-schwister. Das muss eine Verwechslung sein.«

»Frau Ziegler, ich kann Ihnen erst alle Details schildern, wenn Sie diese Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet haben. Vorher geht das nicht«, antwortete Herr Westenberg. Er schob mir ein mehrseitiges Dokument über den schwarzen Glastisch zu und schlug die letzte Seite auf. »Hier unter-schreiben, dann erfahren Sie was es mit all dem hier auf sich hat.« Mit seinem Finger deutete er auf Anhieb auf die richtige Zeile und sah mich eindringlich an.

»Was ist das hier? Die NSA?«, fragte ich lachend, als ich einen Stift in die Hand gedrückt bekam. »Oder doch eher die Stasi?« Ich drehte mich zu Niclas um jedwede Information aus seinem Gesicht lesen zu können. Er hob ganz langsam die Lider und sah sofort wieder weg.

Okay?

»Wenn Sie dann bitte unterschreiben würden.« In Herrn Westenbergs Stimme lag etwas seltsam Ungeduldiges.

»Finden Sie nicht, dass es besser wäre, wenn ich mir das erstmal durchlesen würde?«, fragte ich skeptisch.

»Falls Sie noch länger hierbleiben wollen gerne. Ansonsten würde ich Sie bei vollem Gehalt den Rest des Tages freistellen.«

»Erpressen Sie mich jetzt?«, scherzte ich.

»Nein, ich würde Ihnen nur gerne entgegenkommen.«

Niclas stieß ein Schnauben von sich, das mich einen Moment lang stutzig machte. Ich sah zwischen den beiden hin und her bis mich ein Impuls traf.

»Wissen Sie was? Scheiß drauf«, sagte ich erhobenen Hauptes. Und unterschrieb.

»Willkommen in der Hölle«, knurrte Niclas neben mir, »Und herzlichen Glückwunsch zum neuen Job. Vollidiotin.«

Ich drehte mich zu ihm um und starrte ihn mit großen Augen an. »Wovon sprichst du?«

»Guck nicht so. Auf seine Masche sind alle anderen vor dir auch schon reingefallen«, sagte er und fing an auf seinem Stuhl zu kippeln.

»Was soll das heißen?«

Herr Westenberg legte alle Blätter wieder ordentlich zusammen und rollte den Stapel so ein, dass er in seine innere Jackettasche passte. »Herzlich willkommen im Team Elana, du wirst sicher ein toller Ersatz für deine Schwester sein.«

Er wischte auf dem Monitor nach links und ein großes Bild erschien. Ich traute meinen Augen nicht.

In dicken, weißen Lettern stand »Elisa Nowak« am unteren Rand. Die Frau auf dem Bild sah aus wie ich, doch ich wusste, dass ich das nicht war.Das war unmöglich. Es konnte nicht wahr sein. Sie sah genauso aus wie ich.

Ich ging einen Schritt zurück und riss ungewollt den Stuhl hinter mir mit. Er stieß mit Niclas’ zusammen und ich wartete nur auf den nächsten unverschämten Kommentar.

Doch er blieb still.

Ich drehte mich wie ferngesteuert zu ihm um und starrte ihn an. »Wie kann das sein? Meine Mom hat nur mich bekommen. Keine Zwillinge.«

Niclas senkte den Blick auf seine Schuhe und sagte kein Wort. Ich sah nur, wie seine Gedanken in ihm rasen mussten, so sehr wie seine Kieferknochen heraustraten.

»Das fragen Sie sie am besten selbst, wenn Sie die genauen Umstände wissen wollen. Mein Part wäre hiermit nämlich erledigt«, sagte Westenberg und klopfte Niclas provokant auf die Schulter, bevor er sich in Richtung Ausgang machte. »Niclas, Ihre Partnerin, Ihre Verantwortung.«

»Was heißt hier bitte Ihre Partnerin?«, platzte es aus mir heraus.

»Du hast gerade einen Vertrag unterschrieben aus dem du nur rauskommst, wenn einer von uns beiden verreckt«, fauchte Niclas und starrte Westenberg nach.

»Was?«, schrie ich und raste ihm nach. »Ey, Westenberg! Bleiben Sie sofort stehen!«

Er ließ sich nicht beirren und hielt seinem Tempo an. Westenberg riss die Flügeltüren auf, bevor ich ihm nahe genug kommen konnte und zwei Securities in schwarzen Anzügen traten ein, um mich zurück zu halten. Sie waren sicher zwei Köpfe größer als ich und ich fühlte mich mickrig neben ihnen.

»Frau Ziegler, beruhigen Sie sich. Es ist doch alles in bester Ordnung«, versuchte mich Westenberg zu beschwichtigen, doch er erreichte dadurch nur das Gegenteil. Ich nahm die letzten Meter die uns trennten ordentlich Anlauf und hätte ihm am liebsten etwas hinterher geschmissen.

Plötzlich spürte ich auf Höhe meines Magens einen vor Muskeln strotzenden Arm, der mich keinen Zentimeter mehr weiter ließ. »Fassen Sie mich nicht an, verdammt!«, krächzte ich und schwebte plötzlich über dem Boden. Einer der Securitymänner hatte mich so fest im Griff, dass alles, was ich an Energie in meinem Körper fließen ließ vollkommen zwecklos war. Ich kam nicht von ihm los.

»Sie sind der kränkste Mistkerl, den ich seit langem vor die Augen bekommen habe! Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was ich Ihnen unterschrieben habe, verdammt!« Ich zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und keuchte auf, als ich wieder auf dem Boden abgestellt wurde.

»Die Herren, bitte bringen Sie die Dame zurück an ihren Platz. Ach und Herr von Hagen«, begann er mit stolzgeschwellter Brust und reckte sein perfekt rasiertes Kinn nach oben. »Nur noch ein Fauxpas und ich schwöre Ihnen, Sie sind dran!«

Der Security, der mich noch immer festhielt, schliff mich auf die andere Seite des Tisches und setzte mich grob mit beiden Händen an den Schultern auf den Stuhl, der vor uns stand. Der andere stand mit grimmiger Miene und den Armen vor der Brust verschränkt im Türrahmen und wartete, bis sein Kollege mit ihm nach draußen kam.

Die Tür knallte zu und es wurde still.

4

Niclas

Es machte mich wahnsinnig, wie sie aussah.

Schlichtweg war sie nur die langweilige, brave Version ihrer Schwester. Und jetzt zog Westenberg sie in diesen Dreck, weil es das bequemste für ihn war.

»Also«, ich räusperte mich und ließ mich auf meinem Stuhl nach vorne fallen, »Irgendwelche Fragen, Frau Ziegler?«

»Irgendwelche? Irgendwelche? Nein, ich will alles wissen und zwar sofort!« Sie sprang fauchend auf und knallte beide Fäuste auf den Tisch. »Und nach deiner mehr als beschissenen Aktion vorhin kannst du dir das Siezen echt sparen, Herr von Hagen.«

Wow, ganz schön viel Feuer hinter dieser Blumenmädchenfassade.

Ich rümpfte die Nase und sah zu ihr hoch. »Um eine gewisse Distanz zu wahren, schlage ich vor, wir bleiben beim Sie«, antwortete ich mit bedachter Stimme.

»Noch ein Fauxpas, und ich schwöre Ihnen, Sie sind dran.« Westenbergs Worte waren wie festgebrannt in meinem Gehirn.

Dieser Scheißkerl.

Ich konnte mir keinen Fehltritt mehr erlauben und hatte auch noch diese Anfängerin am Hals. Sie stützte sich auf die Tischplatte und ich wartete nur darauf, dass sie gleich explodieren würde. Ihre Haare waren vorhin, als ich sie in der Wäscherei angegangen war, noch zu einem ordentlichen Knoten auf ihrem Kopf zusammengefasst. Jetzt sah sie aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen.

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte ihrem aufflammenden Blick standzuhalten. Ihre Wangen röteten sich und plötzlich rutschte der Knoten von ihrem Hinterkopf auf die Seite und hing über ihrem Ohr. Der Anblick war viel zu witzig, als dass ich mir mein Prusten verkneifen konnte.

»Weißt du was?«, sie stieß sich vom Tisch ab, riss sich die große Klammer aus den Haaren und raste auf mich zu. »Du bist wahrscheinlich kaum älter als ich und machst dich wie ein zwölfjähriger, pubertätsgetriebener Vollidiot über mich und meine Situation hier lustig. Nicht gerade die besten Eigenschaften, um sich ein respektvolles Sie zu verdienen, oder?«

Jetzt stand sie vor mir. Ihr beinahe hüftlanges, braunes Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie warf es mit einer schnellen Handbewegung am Scheitel auf eine Seite - genauso, wie ihre Schwester es auch immer tat.

»Na schön, Elana. Ich bin Niclas«, antwortete ich neutral und streckte ihr die Hand aus. Ihr Blick verharrte eine Sekunde lang auf meinen Fingern, bis sie den Handschlag skeptisch erwiderte.

»Also Niclas, dann lass mal hören, in welcher Scheiße wir stecken. Und vor allem will ich wissen, was es mit der Frau auf dem Bildschirm auf sich hat.« Elana zeigte über ihre Schulter auf den großen Monitor. Es handelte sich vermutlich nur noch um wenige Minuten, bis auch sie alles Existierende in Frage stellen würde. Ich räusperte mich und stand auf, um ihr zu folgen.

Elana starrte das Bild ihrer Schwester an und gab im ersten Moment keinen Ton von sich. »Sie ist so schön«, flüsterte sie und trat noch einen Schritt auf den Bildschirm zu.

»Sie sieht aus wie du«, antwortete ich lachend. »Na ja, also bis auf die Nasenflügel und das Muttermal am Kinn.«

Elisa war ein völlig anderer Typ als Elana. Sie trug ein Smiley-Piercing, das vor dem Gremium nicht nur einmal für eine hitzige Diskussion sorgte. Das Blitz-Tattoo, das über ihren gesamten Rücken lief, kam auf dem Bild ziemlich gut zur Geltung. Sie trug es mit so viel Stolz, dass sie es nicht wagte, im Sommer auch nur eine einzige Spitze des Blitzes mit Stoff zu bedecken. Ihre Haare waren dunkler als Elanas und alles in allem war sie, was ihr Auftreten betraf, wesentlich rebellischer als der Rest der Stadt.

Westenberg war so blind. Wie konnte einem bei diesem Look und ihrem aufmüpfigen Charakter nicht von vornherein klar sein, dass es schiefgehen würde.

»Hast du sie gut gekannt?«, fragte Elana mit zittriger Stimme und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Nein. Ich hatte nur wenige gemeinsame Trainingseinheiten mit ihr und nach dem ersten Auftrag ist sie spurlos verschwunden.«

Ich sah in ein verwirrtes Gesicht und atmete zischend ein. »Elana, dass das hier keine Medienproduktion oder ein Filmstudio ist, ist dir klar?«

Sie zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Ich hab mir schon fast gedacht, dass das hier kein typisches Filmset ist. Aber wofür hab ich dann die letzten Monate so viele Requisiten und Kostüme gewaschen und geflickt?«

Ich senkte den Blick und überlegte mir ganz genau, wie ich ihr das nur verklickern wollte. »Sagt dir »GPH« etwas?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hier ist die GPH. Die German Preservation of History.«

Elana zog die Brauen zusammen und tiefe Furchen bildeten sich auf ihrer Stirn. »Und was bedeutet das jetzt? Ist das ein Archiv oder eine Zeitzeugenorganisation?«

»Nein. Wir wahren die Geschichte. Und das tun wir, indem wir persönlich verhindern, dass die Vergangenheit verändert wird.«

Sie gab ein misstrauisches Lachen von sich. »Aber das hieße ja…« Elana riss die Augen auf und taumelte ein Stück zurück.