The Millennials - Melanie Ober - E-Book

The Millennials E-Book

Melanie Ober

5,0

Beschreibung

Ihr Blut heilt. Ihr Leben gehört dem Staat. Luisa ist die Letzte der einhundert Millennials, die exakt zum Jahrtausendwechsel geboren wurden – und die Einzige, die überlebt hat. Ihr Blut kann Wunden und Krankheiten in Sekunden heilen. Genau deshalb will es jeder besitzen. Zehn Jahre lang wich Holger nicht von ihrer Seite. Doch nach seinem Tod übernimmt sein Sohn Yannik den Auftrag, Lou zu schützen. Rachsüchtig. Diszipliniert. Eiskalt – und viel zu nah. Auf endlosen Autofahrten, in Hotelzimmern ohne Tageslicht und unter Befehlen von ganz oben prallen Pflicht und Vergangenheit aufeinander. Je länger sie auf engstem Raum zusammen sind, desto mehr spürt Yannik, dass er die Gefühle, die er schon als Teenager für Luisa hatte, nicht länger verdrängen kann. Während die Welt nach ihrem Blut giert, kämpft Luisa um das, was man ihr nie ließ: ein eigenes Leben. Und Yannik um die eine Grenze, die er nicht überschreiten darf – seine.

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Seitenzahl: 755

Veröffentlichungsjahr: 2025

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narcessia

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

🌌 Rezension: „The Millennials“ von Melanie Ober Selten hat mich ein Buch so tief berührt, zerrissen und gleichzeitig geheilt wie „The Millennials“. Melanie Ober hat mit diesem Roman nicht einfach eine Geschichte geschrieben – sie hat ein ganzes Gefühl geschaffen. Ein Gefühl aus Schmerz, Hoffnung, Liebe und dem unerschütterlichen Glauben daran, dass selbst im dunkelsten Schatten noch ein Funken Licht glimmt. 💔 Eine Geschichte, die unter die Haut geht Im Mittelpunkt steht Luisa – ein Mädchen, das nie Kind sein durfte, weil ihr Blut die Welt retten könnte. Sie ist die letzte ihrer Art, ein Mensch, der nur noch als Experiment betrachtet wird. Doch hinter dieser unglaublichen Prämisse verbirgt sich keine reine Science-Fiction, sondern ein zutiefst menschliches Drama. Jede Seite von Luisas Erzählung ist durchdrungen von Einsamkeit, Angst und dem verzweifelten Wunsch nach einem Stück Normalität. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – wirkt sie unendlich stark. Ihre Verletzli...
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The Millennials

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Ich wünsche mir für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Melly

Für die, die trotz allem das Gute sehen.

The Millennials

Playlist

Panic Room - Au/Ra

Dance in the Dark - Au/Ra

S.O.S. - ABBA

Total Eclipse of the Heart - Bonnie Tyler

Waterloo - ABBA

Tattoo - Loreen

Young Giants - Au/Ra

Moon River - Au/Ra

Prolog

Unser gesunder Menschenverstand würde uns niemals dazu verleiten, einem einzigen Kind die Rettung der Welt aufzubürden. Ihm penetrant Leid und Schmerz zuzufügen, weil es der Wissenschaft diente.

Doch es gab sie. Diese Menschen.

Ärzte, Wissenschaftler, Regierungsbeauftragte und Politiker. Allesamt Leute, die selbst Familie hatten. Und doch waren es genau sie, die diese kranken, gefährlichen Experimente durchführten. So lange, bis jenes Kind aufhörte zu träumen.

Aufhörte, ein Kind zu sein.

Die Menschen, die entdeckten, wozu ich imstande war, interessierten sich nicht dafür, dass ich dieses Kind war. Dass ich Stück für Stück unter dieser Last zerbrach. Dass ich schon als kleines Mädchen den Gedanken hatte, dieses Leben nicht mehr leben zu wollen.

Ich war wertlos.

Doch mein Blut die gefährlichste Waffe aller Zeiten.

Ich bin Luisa. Die mittlerweile Letzte von allen Millennials, die im exakten Moment der Jahrtausendwende geboren wurden.

Die Letzte. Wir waren einhundert. Allein der Gedanke daran schnürt mir die Kehle bis zum Ersticken zu. Neunundneunzig kamen in den ersten vierzehn Jahren ums Leben. Überall auf der Welt entdeckte man unsere Gabe – wobei ich längst überzeugt war, dass sie nichts anderes als ein Fluch war.

Ich wurde nie krank, brauchte keine Medikamente. Wunden heilten im nächsten Moment, als wären sie nie passiert. Und genau das wurde uns allen irgendwann zum Verhängnis.

Während die ganze Welt den Blick auf den Millennium-Bug richtete, weil Computer damit überfordert waren, die richtige Jahreszahl anzuzeigen, digitale Uhren verrücktspielten und Verschwörungstheoretiker den Weltuntergang heraufbeschworen, waren wir längst der wahren Gefahr für die Menschheit ausgesetzt.

Denn wir waren es, die der Jahrtausendwechsel hervorbrachte.

Wir waren der Weltuntergang.

Unser Blut hielt nicht nur unsere Körper gesund und ließ uns Dinge tun, die andere nur aus Science-Fiction-Filmen kannten. Nein, es war zu weitaus mehr imstande. Es konnte die Wunden und Krankheiten aller heilen.

Doch das war all diesen grausamen Ärzten und Wissenschaftlern natürlich nicht genug. Sie wollten nicht einfach helfen. Sie wollten mehr. Unheilbar Kranke heilen, indem sie unser Blut für Millionen verkauften und sich so Stück für Stück die Weltherrschaft sicherten. Denn wenn es etwas gab, das man nie mit Geld kaufen konnte, dann war es Gesundheit.

Unser Blut hatte so viel Macht, doch wir waren dadurch nicht unsterblich. Und so forschte man irgendwann nach Methoden uns umzubringen. Um uns erpressen zu können. Damit wir uns ihnen ganz und gar auslieferten.

Ich war vierzehn, als ich erfuhr, dass ich die Letzte war. Und auch wenn ich dachte, mein Leben sei bis zu diesem Zeitpunkt nicht besonders lebenswert gewesen – von da an verbrachte ich es abgeschottet, in einer metaphorischen, vollkommenen Dunkelheit.

Ich war allein.

Vollkommen allein.

1

Luisa

Holger taumelte rückwärts. Seine Waffe glitt ihm aus der Hand und erst Sekunden später hörte ich das dumpfe Aufprallen auf dem Boden.

Das Blut rauschte in meinen Ohren. Heiße Tränen vernebelten mir die Sicht, mein Gesicht brannte wie Feuer – ein grausamer Kontrast zu meinem eiskalten, tauben Körper.

Zwei fremde, ganz in Schwarz gekleidete Gestalten standen hinter mir. Ihre Hände pressten sich so fest um meine Arme, dass ich mich kaum rühren konnte.

Ich wollte schreien. Nach Luft schnappen. Um mich schlagen. Kämpfen, bis ich ihnen entkam, oder sie mich endlich von diesem Leid erlösten und mir mein Leben nahmen. Es war mir egal. Es sollte nur endlich ein Ende finden.

Regen prasselte in Strömen auf uns herab und wusch meine Tränen vom Gesicht. Ein letztes Mal versuchte ich mich aus ihrem Griff zu befreien, doch meine Kraft war fort. Endgültig.

»Sieh genau hin, Püppchen!«, knurrte einer von ihnen. Seine Fingerkuppen gruben sich schmerzhaft in mein Kinn, bis mir ein unterdrücktes Schluchzen entfuhr. Er zwang meinen Kopf so, dass ich hinauf auf die Plattform sehen musste. Der Regen traf meine Augen und das Brennen wurde immer unerträglicher. Es tat so weh. Mein Herz hämmerte wild und ungehalten in meiner Brust, dass ich jeden Schlag in meinen Knochen spürte.

Ich blinzelte, bis sich meine Sicht klarte.

Holger stand mit erhobenen Händen am Rand des kleinen Vorsprungs, ganz oben auf dem Sprungturm des Schwimmbads. Vor ihm war ebenfalls eine schwarz gekleidete Person, über und über behangen mit schwerer Munition, geschützt von einer so dicken Montur, dass er selbst einen Kugelhagel überleben konnte.

»So etwas machen wir mit Leuten, die uns jahrelang betrogen und verraten haben«, brüllte eine tiefe, kratzige Männerstimme vom Podest.

Dann hob er sein Maschinengewehr und schoss.

Mein Herz setzte aus.

Das Letzte, was ich spürte, war ein stechender Schmerz am Hinterkopf.

Zwei Wochen später.

Ich schreckte hoch, als ein dominantes Klopfen an meiner Zimmertür ertönte. Durch die schmalen Fenster, die direkt unter der Decke verliefen, fielen ein paar wenige Lichtstrahlen in den Raum. Plötzlich wurde es so grell, dass ich mir reflexartig die Hand vor die Augen schlug, um zu verhindern, dass sie vor Überreizung zu tränen begannen.

»Guten Morgen, Frau Dahlmann. Ich hoffe, Sie sind gut ausgeruht. Ab heute beginnt ein neues Leben für Sie.« Die Frau, die seit etwa zehn Tagen alle paar Stunden als einzige Person dieses Hotelzimmer betreten durfte, hatte ein falsches Lächeln im Gesicht. Ihre perfekten, perlweißen Zähne blitzten auf und schüchterten mich nach wie vor etwas ein.

Doch bei diesem Wortlaut wurde mir kotzübel. Ich verzog das Gesicht. »Wieso? Weil ihr endlich den nächsten Vollidioten gefunden habt, der dumm genug ist, diesen Job anzunehmen?«

»Ja«, sagte sie monoton. »Ganz genau so ist es.«

Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Sie wollte ihn mir nicht sagen, und ich empfand es als respektlos, sie einfach irgendwie zu nennen. Manchmal hätte ich mir für meine eigene Gutherzigkeit am liebsten selbst eine gescheuert.

»Und? Mit längerfristiger Absicht? Oder wieder jemand, der schon nach den ersten Tests hinschmeißt?«, fragte ich vollkommen desinteressiert.

Es war mir egal, wer als nächstes meinen Aufpasser spielen würde.

Holger war tot. Und das erinnerte mich nur daran, dass in meinem Leben nichts, absolut nichts, Bedeutung hatte. Zehn Jahre war er jeden Tag an meiner Seite gewesen. Eingestellt und bezahlt von der Regierung, um mich zu beschützen.

Zehn Jahre.

Zehn verdammte Jahre lang hatte mich ein Mann begleitet, der mein Vater hätte sein können – dreißig Jahre älter, mit einer kühlen Miene, die er niemals ablegte. So sehr, dass er vor zwei Wochen als bloßer Bekannter von mir in den Tod ging.

Bis ich etwa sechzehn war, nahm er mich in seine Familie mit auf. Trotzdem zeigte er mir gegenüber nichts. Keine Wärme, keine Emotionen. Auch seine Frau tat sich schwer mit mir. Die Söhne, einer zwei Jahre älter, der andere drei Jahre jünger als ich, wollten die meiste Zeit über nichts mit mir zu tun haben.

Ich war gefangen in einer Familie, in der ich nie willkommen war. Und die der Bürde, die ich ihnen auferlegt hatte nicht lange standhielten. Die Angst von Holgers Frau, ich könnte dafür verantwortlich sein, dass ihren Jungs etwas zustoßen könnte, war viel zu groß. So groß, dass sie sich nach zwei Jahren von ihm scheiden ließ. Danach zogen wir ununterbrochen um. Nirgends war es sicher. Menschen, die es auf mein Blut abgesehen hatten, gab es überall.

Holgers Frau ging mit dem Jüngeren. Der Ältere hielt es noch acht Wochen mit uns aus, dann verschwand auch er. Plötzlich blieb nur ich in Holgers Leben … und er in meinem.

Ich war schuld. Immer, an allem. Und das ließ er mich spüren. Jeden Tag.

Er hätte jederzeit gehen können, mich der Regierung ausliefern und gehen. Ihm blieb die Wahl die Freiheit zu wählen. Doch wenn es nur eines gab, das ihm noch wichtig war, dann sein Job.

Wir blieben nie länger als zwei Wochen an einem Ort. Wir lebten im Auto, wechselten von Unterkunft zu Unterkunft, verbrachten die Tage auf der Autobahn, die Nächte in Hotels. Immer in getrennten Zimmern, aber nie weit voneinander entfernt. Für mich hieß das: still auf der Rückbank sitzen und meinen Gedanken ausgeliefert sein, die mir die schlimmsten Szenarien ausmalten.

Jeder Tag war geprägt von der Angst, in die falschen Hände zu geraten. Aber nicht vor dem Sterben, das erschien mir irgendwann fast wie eine Erlösung. Sondern vor dem, was sie mir antun würden, bevor ich starb.

Holger war nie wie ein Vater für mich. Er war immer nur der Mann, der dafür sorgte, dass ich am Leben blieb … und irgendwann begann ich ihn dafür zu hassen.

Eigentlich hatte ich niemanden in meinem Leben.

Nur mich, meine Gedanken und meinen großen Rucksack. Jeden Abend packte ich ihn auf die gleiche Weise: Ganz unten die Sachen, die gerade nicht Saison hatten. In diesem Fall zwei leichte Kleider und ein paar Tops. Dann die Hosen, erst kurze, dann lange. Darüber die aktuelle Kleidung, Schlafsachen, Unterwäsche. Eine kleine Tasche mit Hygieneartikeln, Make-up für die seltenen guten Tage, und mein winziger Schmuckbesitz: eine Kette, ein Paar Ohrringe, dazu ein zarter Ring am rechten Zeigefinger und eine filigrane Kette mit einem schlichten, runden Goldplättchen. Es war simpel, aber ich mochte es sehr.

Ganz oben lag das Outfit für den nächsten Tag. Das, was ich zum Schlafen trug, tauschte morgens dann den Platz damit. Ansonsten besaß ich nicht viel. Ich hatte mich irgendwann von allem getrennt. Es war einfach zu riskant. Der Schmerz, den ich ohnehin jeden Tag ertrug, war schlimm genug. Ich wollte mich nie an Gegenstände binden.

Das Einzige, was mir wirklich heilig war, war mein Laptop. Es bedeutete Zeitvertreib, Lernstoff, ein winziges Stückchen Privatsphäre. Und Rudi – ein kleines Stoffrentier, das seit meiner Geburt der Einzige in meinem Leben war, der mich nicht verließ. Dazu ein einfaches Notizbuch, in dem ich Kleinigkeiten sammelte. Kleinigkeiten, die für andere absolut bedeutungslos erscheinen mögen. Immerhin findet man darin nur getrocknete Blüten, Zeitungsartikel von Schauspielern, die ich mochte und Schnipsel von Dingen, die mir so vor die Nase fielen.

Vor etwa einem Jahr blieben wir zwei Nächte in einem wunderschönen Seehotel. Auf dem Zimmer lag eine Postkarte des kleinen Ortes, die ich bis heute wie einen Schatz hütete. Jedes Mal, wenn ich sie sah, dachte ich an den Moment zurück, als mich gegen fünf Uhr morgens die Sommersonne weckte und ich zwei Stunden lang nur auf den glitzernden See starrte. Natürlich hinter halbverschlossenen Vorhängen und mit genügend Abstand, doch es ließ mich für kurze Zeit vergessen wer ich war und wie trostlos mein Leben eigentlich war, und das bedeutete mir alles.

»Sie sollten sich fertig machen. Ihr neuer Bodyguard wartet unten im Foyer.«

Mein starrer Blick löste sich vom Rucksack am Boden, hoch zu der Frau, die noch immer wie angewurzelt vor mir stand. Ihr perfekter hellblonder Bob umschmeichelte ihre Wangen, der dunkelrote Lippenstift machte ihr Gesicht gleichzeitig elegant und ausdruckslos. Sie unterschied sich kaum von anderen Hoteliers. Mittlerweile sahen für mich alle gleich aus.

»Luisa«, krächzte ich leise, als meine Augen ihre trafen. Sie blinzelte verwirrt, behielt ihr starres Lächeln aber bei.

»Wie bitte?«, fragte sie und ich bemerkte, wie ihre Augenbraue zuckte.

»Ich bin Luisa. Und Sie?«

Perplex über diese einfache Frage öffnete sie ihren Mund, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen. Das perfekte Lächeln war längst verrutscht und ihre neutrale Visage begann zu bröckeln. »Nicht der Rede wert«, antwortete sie monoton. »Frau Dahlmann, es steht mir nicht zu mit Ihnen derart privat zu werden.«

Ich schluckte trocken und mein Herz pochte schwer in meiner Brust. »Derart privat… Ich wollte nur Ihren Vornamen hören. Tut mir leid, Sie belästigt zu haben«, flüsterte ich.

Jede Abweisung traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Der Umgang mit mir war zu gefährlich, das spürte ich jeden Tag. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Und wenn doch, war es ihnen verboten. Das war ganz allein Holgers Werk.

Irgendwann wirst du noch dankbar sein.

Eine Gänsehaut kroch mir den Nacken hoch.

Ich riss mir ohne ein weiteres Wort die Decke von den Beinen und rutschte aus dem Bett, wo ich nach meinem Rucksack griff.

»In fünfzehn Minuten bringe ich Sie nach unten. Ist das in Ordnung?«

Ich wandte langsam meinen Blick von ihr ab und starrte auf meine nackten Füße. Der dunkelblaue Lack auf meinen Nägeln war das Einzige, das irgendwie nach Normalität schrie. Ich nickte schwach und schaffte es nicht meine Enttäuschung zu verstecken. Schleichend, aber erhobenen Hauptes ging ich in die Richtung des Badezimmers. Ich wollte stark sein, nichts mehr an mich heranlassen. Jeden beschissenen Tag nahm ich mir vor, stark zu sein und doch stiegen mir wieder Tränen in die Augen, nahmen mir den Atem.

»Sie machen einen guten Job. Ihre Familie ist sicher stolz auf Sie«, sagte ich, zwang mich zu einem falschen Grinsen. Doch als ich blinzelte verirrte sich eine Träne geradewegs aus meinem Auge und tropfte von meiner Wange.

Ihre Miene verrutschte und ich hatte das Gefühl spüren zu können, wie flach sie auf einmal atmete. Beinahe so, als würde es ihr leidtun.

Ich lehnte mich gegen die Badezimmertür und drückte die Klinke nach unten. Gerade, als ich mich weggedreht hatte und eigentlich schon mit einem Bein im Raum stand, hörte ich plötzlich einen Namen.

»Vivienne«, rief sie mir zu und ich erstarrte. Alles was ich in dem Moment vor mir wahrnahm waren die tiefgrauen Fugen des Badezimmers.

Ich sah geknickt zu ihr zurück und atmete scharf ein. »Nein, so heißen Sie nicht.« Lieblos wischte ich über mein Gesicht und trieb meine Augen damit vollkommen in den Wahnsinn. Ein schwaches Lächeln huschte über meine Lippen. »Aber ich verstehe Sie. Sie haben Angst, dass ich für Sie gefährlich werden könnte.« Ich schluckte schwer und spürte den dicken Kloß in meinem Hals heiß pochen. »Aber auch, wenn es offensichtlich völlig belanglos ist und es Sie ehrlich nicht interessiert… Ich lebe seit über zehn Jahren so. Ziehe, manchmal täglich, von Hotel zu Hotel weil ich sonst Gefahr laufe, gefoltert und dann ermordet zu werden. Niemand hat sich je von meiner Meinung beeindrucken lassen, mich gefragt wie es mir geht oder von sich aus versucht… Na ja, spielt keine Rolle. Die einzigen Menschen, mit denen ich reden könnte sind fremde Hoteliers und ihre Angestellten. Leider werden diese vorab immer ziemlich gut gebrieft und…« Meine Stimme versagte und ein leises Schluchzen verließ meinen Mund. Ich rieb mit der Handfläche über die Stelle unter der mein Herz schmerzte. Doch es half einfach nicht. »Ich werde gemieden. Ich bin allein… Immer.«

Eine tiefe Falte hatte sich zwischen Viviennes Brauen gebildet. Es machte beinahe den Eindruck als hätte sie so etwas wie Mitleid. »Ich weiß, dass es kein Trost für Sie ist, Luisa…«

Ich sah auf und strich mir mit zitternden Fingern die Strähnen aus der Stirn, die sich aus meinem Haarknoten über Nacht gelöst hatten.

»Aber auf gewisse Art und Weise kann ich Sie gut verstehen. Ich hatte keine Freunde in der Schule, war oft Opfer von Mobbing. Ich kann mich kaum an eine Nacht erinnern, in der ich nicht in den Schlaf geweint habe. Aber der Schmerz wird irgendwann nachlassen.«

Ich schnaubte. »Wann? Wenn ich tot bin?« Heiße Schlieren bildeten sich auf meinen Wangen und die Tränen in meinen Augen vernebelten mir die Sicht. »Ich verstehe Ihre Absicht, aber ich bin nicht hier, um so etwas wie Freundschaft oder Freude zu erleben. Seit meiner Geburt will jeder mein Blut. Ich habe kein Recht auf Freiheit. Von ganz oben kam der Befehl. Ich bin kein Mensch. Nur ein Gegenstand, der von Ort zu Ort gebracht wird.« Ich holte tief Luft und ließ kraftlos die Schultern hängen. »Wenn ich die fünfzehn Minuten einhalten soll, muss ich jetzt duschen gehen.«

»Luisa, ich …« Sie hob die Hand, als würde sie sich damit besser ausdrücken wollen, doch ließ sie im nächsten Moment wieder fallen. »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Ich werde Ihren neuen Bodyguard hinhalten.«

Ich nickte und umklammerte den Griff meines Rucksacks, als könnte er mich beruhigen. »Danke.«

2

Luisa

Ich war ziemlich gut darin geworden, schnell fertig zu werden. Alles hatte ein geregeltes System, und die winzige Auswahl an Klamotten in meinem Leben bereitete ebenfalls keine großen Schwierigkeiten.

Die Tatsache, dass gleich ein fremder Mensch auf mich wartete, jemand, der genauso distanziert mit mir umgehen würde wie alle anderen, machte mir keine Angst mehr. Es war mir schlichtweg egal. Es gab nichts, was den Umstand meines Lebens schöner machen würde. Es war, wie es war.

Vivienne lief vor mir. Mehr als ein schwaches Lächeln, als sie mit zwei Sicherheitsmännern in meinem Zimmer auftauchte, hatte auch sie nicht mehr übrig. Ich überforderte die Menschen mit meinen Worten. Niemand wollte die Wahrheit hören, sie war einfach zu unbequem.

»Ist er nett?«, fragte ich unverhofft und monoton, kurz bevor wir die Lobby erreicht hatten.

Sie grinste. Wir liefen um die letzte Ecke, an der der Flur schließlich endete und in den Eingangsbereich verlief. »Zumindest sieht er nicht schlecht aus. Und er ist immerhin der Sohn von–«

Nein.

Mein Atem beschleunigte sich und wurde unregelmäßig. Ich blieb abrupt stehen und traute meinen Augen nicht.

Das darf einfach nicht wahr sein.

Nicht weit von uns stand ein dunkel gekleideter Mann, dessen Ausstrahlung seine gesamte Umgebung einnahm – ernst, unnahbar, eiskalt.

Er trug einen langen schwarzen Mantel zu dunklen Jeans und Boots, dazu einen hellbraunen Rollkragenpullover, der fast freundlich wirkte. Er wandte den Blick von der Person ab, mit der er sich eben noch unterhalten hatte, und sah mich an. Langsam glitten seine Augen an mir hinab, bis er sich – offensichtlich gelangweilt und unbeeindruckt – wieder abwandte.

Ich schluckte trocken, als Viviennes Hand meine Schulter drückte und mich aufforderte, weiterzugehen. Doch ich konnte nicht.»Wer hat den Befehl gegeben?«, keifte ich zwischen zusammengepressten Zähnen.

»Wie bitte?«, fragte sie verwundert und blinzelte.

»Der Befehl. Wer hat den Befehl gegeben, Vivienne? Die Regierung?« Ich atmete scharf ein. »Wer hat diesen Mann dazu berufen, den Job anzunehmen?« Meine Stimme zitterte. Vivienne festigte ihren Griff und schob mich gegen meinen Willen ins Foyer. Ich spürte, wie meine Finger taub wurden. Ein seltsames Kribbeln breitete sich von meinen Fingerspitzen bis hoch zu der Stelle aus, an der ihre Hand lag.

»Ah, Frau Dahlmann, da sind Sie ja. Ich hoffe, es war alles zu Ihrer Zufriedenheit?« Ich nahm nicht mehr wahr, wer mit mir sprach. Ein schmerzhaftes Pfeifen jagte durch meinen Kopf. Ich biss die Zähne noch fester aufeinander und spürte den Druck in meinem Herzen, der immer unerträglicher wurde.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Vivienne, deren Stimme klang, als käme sie aus einer Million Kilometer Tiefe unter Wasser. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

Mein Mund war staubtrocken, und ich zuckte heftig zusammen, als sie mich wieder berührte, diesmal am Arm.»Ich habe gefragt, wer dafür verantwortlich ist, dass Yannik Krämer Holgers Platz einnimmt?«, platzte es aus mir heraus.

Einen Moment lang herrschte Totenstille um uns herum, und ich hörte nur mein viel zu schnelles Atmen. Ein dünner Schweißfilm überzog meine Handflächen. Am liebsten wäre ich zurück in dieses dunkle Loch gerannt, hätte mir eine Decke über den Kopf gezogen und mein Leben weiter in Gefangenschaft verbracht, statt mit diesem Kerl in ein Auto zu steigen.

»Gibt es hier ein Problem?«, fragte eine tiefe, mir seltsam vertraute Stimme.

Vivienne riss sofort ihre Hand von mir los und räusperte sich. »Herr Bundespräsident«, begann sie übertrieben gefasst, »offensichtlich haben Frau Dahlmann und Herr Krämer bereits Bekanntschaft gemacht.«

Der Bundespräsident trat tiefer in die Mitte des Foyers und kam mit langen Schritten auf uns zu. Das Schallen seiner Anzugschuhe hallte nach, so einprägsam, dass ich es noch einen Moment später hörte.

»Ich bitte Sie«, sagte er mit skeptisch zusammengezogenen Brauen. »Wollen Sie mir jetzt ernsthaft erklären, dass Sie noch nicht auf den Gedanken gekommen sind, dass ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Yannik und Holger Krämer besteht? Der junge Herr dort drüben ist sein Sohn.«

Er legte eine fast einschüchternd lange Pause ein, während ich nur starr auf die Spitzen meiner Schuhe sah.

»Und ganz nebenbei erwähnt: der beste Absolvent seines Jahrgangs auf der Akademie für Personenschutz. Quasi ganz der Vater.«

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich dachte an den Moment zurück, als Holger regungslos nach einem lauten Knall nach hinten fiel.

Ganz der Vater.

»Hmpf«, machte ich. »So wollte er nie werden.« Ich sprach so leise, dass ich hoffte, niemand hatte es gehört. Doch was viel schmerzhafter war: Ich wollte nie, dass Yannik so wird.

»Wie bitte?«, fragte der Bundespräsident, als hätte er wirklich etwas verpasst. Ich schnaubte kleinlaut und schüttelte vage den Kopf. »Frau Dahlmann, ich hoffe doch inständig, dass Ihnen Ihr Wert für das ganze Land nach wie vor bewusst ist. Sie sind unser allerheiligstes Gut und genau deshalb ist es so wichtig, dass Sie beschützt werden.«

Ich hob den Blick und spürte den dicken Kloß in meinem Hals pochen. »Und der Zweitbeste hätte es nicht getan?«

»Also, Frau Dahlmann, ich bitte Sie. Ich denke, diese Frage hat sich längst von selbst beantwortet.«

Einer der Männer reichte mir meinen Rucksack, den ich mir mit zittrigen Armen und etwas abwesend um die Schultern hängte.

»Ich werde gut für sie sorgen«, sagte Yannik plötzlich mit erhobenem Kopf. Mein Innerstes begann zu kochen.

Wen wollte er mit diesem Satz eigentlich beeindrucken? Seinen toten Vater?

Meine Finger gruben sich tief in die Schnallen des Rucksacks, und ich kratzte mit den Nägeln die feinen Rillen des Gurtes entlang. Dann zog ich mir die Kapuze meines dicken Pullovers über den Kopf, bis sie tief in meine Stirn hing.

So tief, dass niemand mehr meine Augen sehen konnte … und die kochend heißen Tränen, die sich unaufhaltsam ihren Weg aus ihnen bahnten.

3

Yannik

Was zum Teufel tat ich hier eigentlich?

Mich, getrieben von der Wut über den Tod meines Vaters, auf diese Stelle zu bewerben, war der dümmste Fehler, den ich je in meinem Leben gemacht habe. Aber ich musste sie sehen. Musste wissen, was aus ihr geworden war. Und das, was ich sah, bestätigte jede meiner Annahmen: Es war ihr egal. Völlig egal, dass er tot war. Er hatte sie mit seinem Leben beschützt. Und jetzt, wo es aufgebraucht war, war es ihr egal. Sie bekam einfach einen Neuen.

Luisa starrte seit zwei Stunden still aus dem Fenster. Wir waren noch etwa fünfzig Kilometer vom nächsten Hotel entfernt und wurden mit Adleraugen über das GPS von der Bundeswehr und dem Geheimdienst überwacht.

Es war ein seltsames Gefühl, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Vor allem, weil wir in den letzten Jahren eigentlich kaum und wenn, nicht besonders freundlich Kontakt gehabt hatten.

Ich redete mir immer wieder ein, ihn nicht zu vermissen. Ihn zu hassen für das, was er mir damals angetan hatte. Doch jetzt, an seiner Stelle in diesem Wagen zu sitzen – mit dem Auftrag, die Frau auf dem Rücksitz um jeden Preis zu beschützen – brachte mich ihm plötzlich näher, als ich je zugeben würde.

Trotz der Wut, die tief in mir saß und wie eine klaffende Wunde schmerzte, hatte ich mir das Wiedersehen mit Luisa völlig anders vorgestellt. Seit meiner Bewerbung für den Job kreisten meine Gedanken nur um diesen einen kleinen Moment. Doch mit dieser Reaktion hatte selbst ich nicht gerechnet. Und das beschäftigte mich mehr, als es sollte.

Etwas abwesend tippte ich auf dem Display herum, bis ich den Sender fand, den ich sonst auch hörte. Als zwei Autos an uns vorbeirasten, warf ich einen Blick in den Rückspiegel und bemerkte, dass Luisa den Kopf gedreht hatte. Sie wirkte perplex, aber gleichzeitig so … glücklich?

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Es war doch nur Musik?

Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Sie schluckte deutlich. Fast so, als wäre sie es nicht gewohnt, angesehen zu werden. Ich wechselte den Blick zwischen Straße und Rückspiegel.»Gibt es ein Problem?«, fragte ich, schärfer als beabsichtigt.

Luisa schüttelte schnell den Kopf und sah wieder hinaus. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Wasserflasche, fest umschlossen wie einen Schatz. Nervös fuhr sie mit den Fingern die kleinen Einkerbungen entlang, und für einen Moment meinte ich, ein zaghaftes Lächeln zu erkennen.

»Was?«, fragte ich trocken, etwas zu laut.

Sie zuckte zusammen und sah zu mir.»Nichts. Die Musik macht das hier nur ein kleines bisschen erträglicher. Dein Vater hat nie das Radio laufen lassen, er–«

Sie verstummte in dem Moment, als ich getrieben von ihrer Offenheit über meinen Vater zu sprechen, auf den Aus-Knopf des Displays einhämmerte.

»Erträglicher?«, fauchte ich verständnislos und schüttelte schnaubend den Kopf. »Erträglicher, um damit dein Gewissen zu beruhigen, weil mein Vater ganz allein wegen dir gestorben ist, oder was?« Mein Herz raste. »Den Gefallen tue ich dir nicht. Saug dieses Gefühl tief in dich auf. Und selbst wenn es dich innerlich zerfrisst, will ich, dass du dich immer wieder daran erinnerst, was mit ihm passiert ist.«

Ihr Kinn begann zu zittern, die Augen wurden glasig, der Atem flach.

Und da spürte ich, was für ein grausames Gewicht meine Worte hatten. Sie stachen in mein Herz, schnürten mir die Kehle zu. Denn tief in mir wusste ich, dass sie nichts dafür konnte. Sein Job. Seine Entscheidungen.

»Fick dich.« Luisa zog sich die Kapuze über den Kopf, schnallte sich ab und rutschte auf die andere Seite. Jetzt konnte ich sie nicht mehr sehen.

Sie war schon immer eine Meisterin darin gewesen, sich lautlos ihren Gefühlen hinzugeben. Früher tat sie dasselbe, um Moms Worten zu entkommen.

Dein Leben ist nun mal wie es ist. Und unseres musstest du auch noch mit in den Dreck ziehen. Kein Grund, ständig zu weinen, du könntest auch jederzeit gehen.

Als die Trennung meiner Eltern endlich durch war, war es für mich eine Erlösung. Ich dachte, es würde Frieden einkehren. Aber das tat es nicht.

Ich wusste, was meine Worte nun mit ihr anstellten. Und doch – nachdem ich sie ausgesprochen hatte – hätte ich mich am liebsten selbst dafür geschlagen.Ich war das Arschloch. Früher schon, und offensichtlich heute noch. Ich hätte für sie da sein müssen und tat es nicht. Daran würde sich auch nie mehr etwas ändern.

4

Luisa

Ich zitterte am ganzen Körper, als wir das Hotel erreichten. Das passierte mir immer wieder aus dem Nichts, seitdem ich plötzlich wieder unter der Obhut der Regierung in diesem Bunkerloch aufgewacht war. Es war definitiv nicht normal und niemand hatte auch nur im Geringsten die Absicht, mir zu helfen. Ich wusste nicht einmal, wohin man mich gebracht hatte, nachdem Holger erschossen worden war. In meinem Kopf klaffte nur ein einziger, schwarzer Filmriss.

Es war gerade mal Mittagszeit. Mit etwas Glück würde ich den Rest des Tages damit verbringen, stillschweigend und mit etwas gutem Essen aus dem halb zugezogenen Fenster zu sehen und den bunten Blättern dabei zuzusehen, wie sie friedlich durch die Luft schwebten.

Ich schnallte mich ab und griff nach meinem Rucksack, der neben mir im Fußraum lag. Dabei spürte ich dieses widerliche Kribbeln in meinen Händen, das immer dann auftrat, wenn mein Körper eine Zeit lang zu wenig Sauerstoff bekam. Lieblos rieb ich mir über das Gesicht und sank anschließend in den Sitz zurück. Ich wartete, bis Yannik ausgestiegen war und mir dann quasi die Erlaubnis erteilte, dasselbe zu tun.

Wir standen in der Tiefgarage des Hotels, als zwei große Männer in schnellen Schritten auf uns zukamen. Sie sprachen per Headset mit jemandem, und erst einen Moment später öffnete mir endlich jemand diese bescheuerte Autotür.

Yannik stand direkt neben mir, doch ich wagte es nicht, auch nur einmal länger als nötig irgendwohin zu sehen. Ich war unsichtbar. Für alles. Für jeden. Und für diejenigen, die mich seit unserer Bekanntschaft wie Luft behandelten, offenbar ein willkommenes Geschenk. Die Kapuze hing mir so tief im Gesicht, dass ich kaum etwas von meiner Umgebung wahrnahm, aber das war egal. Holger hatte immer gesagt, es gäbe in meinem Leben nichts, das wertvoll genug sei, um länger als nötig damit Zeit zu verschwenden.

Was für ein Arschloch.

Aber das entsetzliche Schlimme daran war, dass er es mir so oft sagte, dass ich es selbst irgendwann glaubte, danach lebte und meinen Horizont auf das allernötigste beschränkte.

Nichts war annähernd wertvoll genug. Was für ein Bullshit.

Auf dem Weg zu meinem Hotelzimmer begegnete uns auf den Fluren kein einziger Mensch. Wir liefen verdammt weit. Ein ewiges Wirrwarr, aus dem ich allein sicher nicht wieder herausgefunden hätte. Vor mir gingen einer der Sicherheitsmänner des Hotels und daneben ein Hotelier. Kaum einen Schritt hinter mir lief Yannik. Ich traute mich nicht, mich zu ihm umzudrehen, spürte aber seinen starren, eiskalten Blick im Nacken, als wäre er dort festgefroren. Das Schlusslicht bildete der andere Bodyguard, der seinen Kollegen locker um einen Kopf überragte.

Mir wurde speiübel. Er war längst nicht mehr derselbe wie früher, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er nur hier war, um sich für den Tod seines Vaters zu rächen. Das Bild vor meinen Augen verschwamm, und in meinem Kopf herrschte ein kreischendes Chaos, das sich nicht beruhigen ließ. Ich spürte, wie meine Finger eiskalt und meine Wangen knallheiß wurden.

Ich brauche Abstand. Jetzt. Sofort.

Zu allem und zu jedem.

Alles wäre mir in diesem Moment lieber gewesen. Alles.

Aber ich war hier. Hier mit Yannik Krämer, der alles daran setzen würde dafür zu sorgen, dass mich mein Gewissen auffraß, bis nichts mehr von mir übrig war.

Ich starrte auf meine Füße, die wie ferngesteuert einen Schritt nach dem nächsten taten. Weiter und weiter. Bis–

Yannik

Ich sah, wie Luisa dicht vor mir plötzlich stolperte. Reflexartig griff ich nach ihrer Taille, um sie zu stützen. In dem übergroßen Pullover, den sie trug, ging sie völlig unter und trotzdem spürte ich durch den dicken Stoff ganz deutlich, wie sehr sie unter meinen Händen verkrampfte.

Alle um uns herum blieben wie aufs Kommando stehen und drehten sich zu uns um. »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Hotelier und runzelte die Stirn.

Luisa hob ganz langsam den Kopf. Ihr Atem beschleunigte sich, wurde panisch. Ihr Blick traf meinen und ich erstarrte.

Sie riss sich von mir los und wich so weit wie möglich zurück.

»Fass mich nie wieder an!«, fauchte sie. Tränen stiegen in ihre bereits rot unterlaufenen Augen, und sie wimmerte etwas Unverständliches in meine Richtung, bevor sie hart schluckte. »Machen Sie bitte einfach Ihren Job und bringen Sie mich endlich auf mein Zimmer, okay?«

»Natürlich«, antwortete der Hotelier mit einem selbstverständlichen Lächeln, als wäre es das Freundlichste, was er heute gehört hatte.Unsere Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, und nach einer letzten Kurve lagen am Ende des kurzen Flurs zwei Zimmertüren.

Der Mann vom Hotel zückte die passende Schlüsselkarte und entriegelte die Tür. Ich drängte mich an allen vorbei und nahm den Raum genau in Augenschein, bevor jemand anderes eintreten durfte.

Luisa ließ das alles kalt. Sie starrte auf ihre Fingerspitzen, die nur ein Stück unter den Ärmeln des Pullovers hervorschauten, und spielte an dem Ring an ihrem Zeigefinger.

»Soweit ist alles in Ordnung und unauffällig«, begann ich und beobachtete, wie einer der beiden Männer ihren Rucksack von der Schulter nahm und auf den Sessel neben der Tür legte. Erst jetzt trat Luisa ein, wagte es aber kaum, sich umzusehen. Ihr Blick blieb an dem Gemälde über dem Bett hängen. Für einen Moment blitzte etwas in ihren matten Augen auf. Oder hatte ich mir das nur eingebildet?

»Allerdings«, fuhr ich fort, »ist das große Fenster beinahe fahrlässig, finden Sie nicht auch?«

Zwischen ihren Brauen entstand eine tiefe Furche und Enttäuschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.

»Der weiße Chiffon sorgt für vollkommene Privatsphäre. Wir haben das eigens getestet, vertrauen Sie uns.«

Ich schnaubte und lief zum Fenster. Mit einem Ruck zog ich die dicken, schweren Vorhänge zu, die links und rechts von dem großen Fenster angebracht waren. »Das, meine Herren, ist vollkommene Privatsphäre. Nichts anderes.«

Ein winziger Spalt blieb zwischen den blickdichten Stoffen und schien sich im Raum wie ein Störgeräusch bemerkbar zu machen. Luisa schloss die Augen und atmete zittrig ein.

»Und jetzt, bitte.« Mit einer ausladenden Handbewegung wies ich alle Anwesenden hinaus.

Luisa ging in winzigen Schritten zum Bett und setzte sich vorsichtig. »Wie…« Ihre Stimme brach ab, und sie sah zu mir. »Wie lang werden wir hier sein?«

»Nur bis heute Nacht. Gegen zwei Uhr fahren wir weiter. Ruh dich also etwas aus«, antwortete ich monoton. »Und die Vorhänge bleiben zu.«

Sie senkte den Kopf, starrte ziellos auf den Teppichboden und nickte kaum merklich, bevor sie das Gesicht in den Händen vergrub.

»Und lass dir etwas zu essen bringen. Sie scheinen eine ordentliche Auswahl zu haben«, sagte ich etwas angestrengt.

Luisa zeigte keinerlei Reaktion mehr.

Warum sollte sie auch?

Ich biss die Zähne aufeinander und verließ den Raum.

Luisa

Ruhig segelten bunte Blätter von den Bäumen, und ein sattes Orange knallte mir entgegen. Meine Hände wärmte ich an einer frischen Tasse Kakao, mit ein paar Mini-Marshmallows.

Das hier war es. Mein klitzekleines Stückchen Freiheit, das ich mir nahm. Für die meisten mag es vollkommen irrsinnig klingen, doch selbst jetzt quälte mich mein Gewissen, ob ich nicht zu egoistisch handelte.

Ich beobachtete den Sonnenuntergang durch einen winzigen Spalt, der nicht von irgendwelchen Stoffschichten verhüllt wurde, und versuchte, mich nur einen kurzen Moment lang auf den zuckersüßen Geschmack meines Getränks zu konzentrieren. Mit jedem Schluck wuchs in mir der Wunsch, dadurch etwas tief in meiner Seele zu heilen, das längst zerbrochen war. Er sollte nur zwei winzige Scherben wieder zusammenkitten. Mich einen Augenblick lang vergessen lassen. Den stechenden Schmerz in meinem Herzen lindern.

Doch die Realität holte mich schneller ein, als mir lieb war, und die Schönheit der Natur verschwamm vor meinen Augen.

Ein deutliches Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Der Kakao schwappte gefährlich in der Tasse hin und her. Geistesgegenwärtig griff ich nach der Stuhllehne und zog den Sessel aus dem Licht.

Etwas benommen von der Dunkelheit im Zimmer, die nur durch vereinzelte indirekte Lichtquellen durchbrochen wurde, tapste ich zur Tür. Auf dem Tisch daneben lag mein Smartphone, das kurz aufleuchtete.

»Pünktlich wie jeden Tag«, seufzte ich leise in mich hinein und drückte die Klinke nach unten.

Vor mir standen Yannik und eine Pflegerin, die sicher genauso eingeschüchtert von ihm war, wie sie wirkte.

»Die Schwester ist zur Blutabnahme da«, sagte Yannik monoton, bevor er sich an mir vorbeidrängelte. Er lehnte sich lässig gegen die Wand, an der ein riesiger Flachbildfernseher thronte, und beobachtete uns mit Adleraugen.Die Pflegerin lächelte schüchtern, bevor sie das Hauptlicht des Raums einschaltete.

Dann räusperte sie sich. »Ich… ich hab das noch nicht allzu oft gemacht. Also, natürlich weiß ich, wie es geht, und habe es professionell gelernt, aber ich war dabei noch nicht so oft allein. Ich–«

»Du kannst mir nicht wehtun«, unterbrach ich mit einem Lächeln. Ihr brauner, fransiger Pony verdeckte ihre Augenbrauen so gut, dass ich einen Moment brauchte, um ihre Reaktion zu deuten.

»Richtig«, sagte sie erleichtert. »Hatte ich beinahe vergessen.« Sie wirkte kaum älter als ich.

Yannik schnaubte, und mein Lächeln verrutschte.

Die Schwester deutete auf den Stuhl, auf dem noch mein Rucksack lag. Ich nahm ihn herunter und setzte mich. Dann griff ich zum Saum meines Pullovers und zog ihn mir über den Kopf.

»Oh, Sie sind sehr…« Die Stimme der Schwester versagte.

»Was? Blass?«, fragte ich so, als kenne ich die Antwort bereits. Sie nickte und öffnete den kleinen Medizinkoffer, den sie bei sich trug. »Ich habe den ganzen Sommer keinen einzigen Tag an der frischen Luft verbracht. Vielleicht liegt es ja daran?«

Sie hielt einen Moment inne und starrte auf den Stauschlauch zum Abbinden des Oberarms. »Verarschen Sie mich jetzt?«, platzte es leise aus ihr heraus.

Ich schüttelte langsam den Kopf, zuckte mit den Schultern. »Das Risiko ist zu hoch. Was denken Sie, wozu Sie die Verschwiegenheitspflicht unterschrieben haben? Ich kann mir vorstellen, wie verlockend es ist, jemanden davon zu erzählen. Aber glauben Sie mir: Die Regierung beobachtet uns penetranter als die Stasi ihre Spitzel. Und sie schreckt vor nichts zurück, um Staatsgeheimnisse zu wahren. Deshalb–«

»Deshalb halten Sie jetzt mal schön die Klappe und machen Ihren Job, verstanden?«, fauchte uns Yannik entgegen.

Die Finger der Schwester begannen zu zittern. Sie zögerte, nachdem sie mir das Band angelegt hatte.

»Ganz ruhig«, flüsterte ich. »Hier, fühlen Sie.« Ich führte ihre Finger an die Stelle in meiner Armbeuge, an der sonst gestochen wurde.

Ihr Blick bekam einen Ausdruck ehrlicher Bewunderung. »Wahnsinn… das sind echt krasse Venen.«

»Danke.« Ich schmunzelte und beobachtete, wie sie die Nadel ansetzte und tief durchatmete.

Dann stach sie zu. Das breite Grinsen, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, als der Beutel sich füllte, gab mir ein seltenes Gefühl. Ich glaube, es war Stolz. Stolz, weil sie den Mut gefunden hatte, etwas einfach zu tun und ihren Zweifeln keinen Platz mehr zu geben.

»Sehen Sie? Das war’s schon.«

Die anderen Schwestern und Pfleger vor ihr waren meist routiniert und sprachen kaum ein Wort mit mir.Es dauerte einen Moment, bis der halbe Liter Blut, den sie mir tagtäglich stahlen, in den Beutel gelaufen war. Dann füllte sie drei weitere kleine Röhrchen.

»Ich hoffe, Sie wissen, wie Sie damit zu verfahren haben?«, fragte Yannik schroff.

Was war nur für ein Mistkerl aus ihm geworden?

Früher war er doch auch so ein Moralapostel gewesen, wenn es um Gerechtigkeit ging.

Ich sammelte meinen letzten Funken Schlagfertigkeit und atmete hörbar aus.»Rede nicht mit ihr, als hätte sie keine Ahnung von ihrem Job, verdammt!« Ich fuhr zu ihm herum.

Yannik sah mich einen Moment lang ausdruckslos an, bevor er sich von der Wand abstieß und zwei große Schritte auf uns zumachte.»Wie bitte?« In seinen dunklen Augen blitzte etwas auf.»Du hast mich schon verstanden«, knurrte ich, bevor mich mein Mut wieder verließ.

Die Schwester räusperte sich leise und schloss mit einem Klicken das Codeschloss am Koffer. »Der Kurier wartet bereits. Ich … ich gehe dann mal zu ihm.« Sie schluckte, warf uns einen letzten Blick zu und verließ den Raum mit einem schwachen Lächeln.

Die Zimmertür fiel ins Schloss und nach einem kurzen Moment der Stille folgte eine Eiseskälte, die sich zwischen uns ausbreitete.

»Was fällt dir eigentlich ein?«, presste ich leise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wie in Zeitlupe griff ich nach meinem Rucksack, zog einen leichten Pullover heraus. Das sanfte eukalyptusgrün und der weiche Stoff hatten mich sonst immer aufgemuntert … heute nicht.

»Ich hab mich wohl verhört?«, keuchte Yannik und bäumte sich vor mir auf. Seine Augen formten sich zu dünnen Schlitzen, als ich mir den Pulli überzog.

»Dann würde ich dir raten, lieber zum Arzt zu gehen, statt eine Stellung anzunehmen, die du nur ausnutzt, um mir alles heimzuzahlen. Oder irre ich mich?«

»Nein, da liegst du gar nicht so falsch«, raunte er.

Mein Atem wurde flach. Eine widerliche Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus.»Weißt du, es gibt nicht unbedingt viel, das ein Leben im ewigen Schatten noch schlimmer machen kann.«

»Täusch dich mal lieber nicht.«Mit schnellen Schritten ging Yannik zur Tür und knallte sie so fest zu, dass das Geräusch noch Sekunden später in meinem ganzen Körper nachhallte.

5

Luisa

Nachdem ich irgendwann an diesem Abend die achte Folge meiner Lieblingsserie gesehen hatte, wusste ich wie so oft nichts mehr mit mir anzufangen. Aber in einer halben Stunde würden wir ohnehin weiterziehen.

Ruh dich aus.

Wozu? Und weshalb? Vom Nichtstun? Yanniks Worte hallten in meinem Kopf nach, als hätte er sie gerade erst ausgesprochen. Zumindest bestand eine reelle Chance, dass er mich einfach in Ruhe lassen würde, wenn ich auf der Rücksitzbank schlief.

Ich loggte mich in meinen YouTube-Account ein und checkte die neuesten Videos. Seit etwa einem Jahr folgte ich einem Mann, der einige Wochen in Australien gelebt hatte – nur von den Dingen, die ihm die Natur bot. Irgendwann wurden mir seine Überlebenstipps vorgeschlagen, und im ersten Moment hielt ich das für absoluten Bullshit. Nicht, weil er Mist erzählte, sondern weil ich mir immer ausmalte, dass ich nie die Gelegenheit bekommen würde, etwas davon anzuwenden.

Im neuesten Video zeigte er, wie man einen wirklich wasserdichten Unterschlupf baut: Knoten binden, Äste zu stabilen Konstruktionen zusammenfügen und ein seltsamerweise beinahe bequem aussehendes Bett aus Schilf und Stöcken bauen. Dank diesem Mann würde ich sicher im dunkelsten Teil eines Regenwaldes zumindest ein paar Tage überleben – in der Theorie.

Ein dumpfes Klopfen schallte durch den Raum. Ich klappte den Laptop zu und gähnte herzhaft, bevor ich aufstand, um die Tür zu öffnen.

»Bist du fertig?«, fragte Yannik genervt. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick auf die Uhrzeit.

»Du hast doch gesagt, wir–«

»Ab-fahrts-zeit.« Seine überdeutliche Betonung ließ mir die Nackenhaare aufstellen, und ich schnaubte. Sein Benehmen raubte mir jede Lust, noch ein freundliches Wort an ihn zu richten.

Ich drehte mich um, ging zum Bett, zog meine Jacke an, nahm mein Laptop und schulterte den fertig gepackten Rucksack.

»Erklärst du mir eine Sache?«, fragte ich zuckersüß, als sich unsere Blicke wieder trafen.

Yannik zog verwirrt die Nase kraus.

»Hast du die letzten acht Jahre hart dafür trainiert, so ein Arschloch zu werden, oder warst du tatsächlich schon immer so?«

Sein Kiefer spannte sich gefährlich an, und in einem Cartoon würden ihm jetzt wahrscheinlich schon die Ohren qualmen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich einen Schritt auf ihn zuging. Ich wusste nicht, wie weit ich gehen konnte, bevor er endgültig die Fassung verlor.

»Schade. Als ich dich kennengelernt habe, dachte ich wirklich, dass du eigentlich ganz okay bist.«

Ich hielt seinem Blick stand, entspannte dann aber meine Gesichtszüge und schenkte ihm sogar ein weiches Lächeln.

»Aber wahrscheinlich habe ich mich einfach getäuscht.«

Ohne ein weiteres Wort trat ich aus dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.

Als ich bereits im Auto saß, reichte mir einer der Männer eine mattschwarze Geschenktüte. Ich griff danach, und ein schmales, überrascht ehrliches Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Doch kurz bevor ich sie zu fassen bekam, verschwand sie aus meinem Sichtfeld und auch mein Gesichtsausdruck fiel mir von den Wangen.

Yannik entriss dem Mann die Tüte, warf einen prüfenden Blick hinein und schleuderte sie mir dann achtlos auf den Schoß. Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte kurz dagegen an, nicht vor Wut in Tränen auszubrechen.

»Dankeschön«, flüsterte ich, als Yannik bereits auf dem Weg zur Fahrertür war. Der Mann vor mir schluckte sichtbar und verabschiedete sich nur mit einem knappen Nicken, bevor er die Tür schloss.

Ich sah still auf die Tüte und betrachtete die Schleife, die ihre Seite zierte. Vorsichtig fuhr ich an der Satinoberfläche entlang, bevor ich es wagte einen Blick hineinzuwerfen.

Yannik startete den Motor. Ich war mir sicher, dass es ihn nicht im Geringsten interessierte, was ich auf der Rücksitzbank tat. Also nutzte ich die letzten Lichtblitze der Tiefgarage, griff in die Tüte und ertastete einen kleinen, gefalteten Zettel.

Mein Herz schlug schneller, als ich die Worte darauf las:

»In diesem Leben ist jeder mutig, der nicht aufgibt.«

(Paul McCartney)

Ich dachte, es könnte dir vielleicht auch gefallen.

Es ist mein Lieblingsduft.

Alles Liebe, Sina – die Krankenschwester, die sich nun

endlich traut, allein Blut abzunehmen ;)

P. S. Die Schokolade ist für den Fall, wenn dieser

schreckliche Typ wieder gemein zu dir ist!!

Ich versteckte mein breites Grinsen hinter meiner Hand und betrachtete einen Moment lang nur Sinas wunderschöne Handschrift.

Für mich.

Jemand dachte an mich. Jemand schenkte mir etwas.

Am liebsten hätte ich mich gezwickt, um sicherzugehen, dass das hier echt war. Ich griff erneut in die Tasche und zog ein kleines Fläschchen hervor. Der Flakon trug einen minimalistischen, schwarzen Schriftzug, und die Flüssigkeit darin schimmerte im schwachen Licht in einem zarten Rosa.

Getrieben von Neugier zog ich die Schutzkappe ab und verteilte zwei Spritzer an Hals und Handgelenken. Ein edler, weiblicher Duft stieg mir in die Nase – sofort angenehm, sofort vertraut.

Dann fuhren wir aus dem Parkhaus hinaus, und der Wagen versank bis auf das kurze Aufflackern der Straßenlaternen in völliger Dunkelheit.

Yannik

Der Duft, der sich im Auto ausbreitete, brachte mich beinahe um den Verstand. Er machte die Situation zwischen Lou und mir nicht weniger kompliziert, im Gegenteil: Sie verteilte ihn überall, wie eine unsichtbare Erinnerung. Ich schluckte.

Lou.

Warum hatte ich plötzlich wieder ihren Spitznamen im Kopf? Meinen Namen für sie. So nannte ich sie damals, weil …

Wie in Trance glitten die wenigen Lichter der Stadt und der anderen Autos an mir vorbei. Vier Stunden. Vier verdammt lange Stunden würde ich nun mit ihr und diesem verflucht guten Geruch aushalten müssen.

Ein Rascheln von der Rücksitzbank riss mich aus meinen Gedanken. Ich verstellte den Rückspiegel und sah, was sie tat. Lou zog ein Notizbuch aus ihrem Rucksack, an dem ein Stift befestigt war. Sie schlug es auf, genau an der Stelle, an der es sich in zwei Teile teilte. Die eine Hälfte war glatt, fast druckfrisch und unbeschrieben; die andere wölbte sich so sehr, dass sie trotz weniger Seiten dicker wirkte als die unbeschriebenen. Es sah aus, als hätte sie alles Mögliche hineingeklebt.

Lou zog den Stift aus der Halterung und schrieb etwas auf eine freie Seite. Dann nahm sie einen Zettel aus der Geschenktüte, die ich ihr vorhin so achtlos auf den Schoß geworfen hatte. Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie legte die Notiz in das Buch, als wäre es ein kleiner Schatz. So vorsichtig, als könnte sie im nächsten Moment zerreißen.

Ihr Sanftmut für Dinge, die anderen völlig egal waren, brachte mein Blut zum Kochen. Vor Wut … über mich selbst.

Ich musste sie dazu bringen, mich zu hassen. Es gab keinen anderen Weg, um das hier auf einer professionellen Ebene zu halten.

Plötzlich hob sie den Blick und bemerkte, dass ich sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Ich schluckte und wandte meinen Blick ab. Mein Herz pochte so stark, dass ich es im ganzen Körper spürte. Als Strafe biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange.

Vollidiot.

Wieder Rascheln. Ich festigte meinen Griff um das Lenkrad, bis meine Knöchel weiß hervortraten.

Sieh nicht nach hinten. Sieh nicht na-–

»Darfst du mir sagen, wohin wir fahren?«, fragte Lou vorsichtig und ich sah in den Rückspiegel. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, Müdigkeit und Unwissenheit, gepaart mit einem Fünkchen Hoffnung in ihrer Stimme. Sie nahm etwas aus der Tüte, das wie einer der Schokoriegel aussah, die ich vorhin auch gesehen hatte.

»Sicher, dass du es überhaupt wissen willst?« Mein Hals kratzte, als ich die Worte aussprach.

Luisas Brauen zogen sich besorgt zusammen. »Wieso …« Ihr Atem stockte. »Wieso sagst du das so seltsam?«

Ich hielt den Atem an. »Zerbrich dir mal nicht den Kopf darüber.«

Ihr Mund blieb einen Spalt offen, dann schnaubte sie hörbar. »Okay. Das heißt also, du willst es mir einfach nicht sagen?« Sie wandte den Blick ab und ließ sich genervt in den Sitz zurückfallen. Ihre Augen sprachen Bände, sie war innerlich kurz vorm Überkochen.

Ich fuhr mir durch meine Haare und stützte anschließend meinen Ellbogen am Türrahmen ab.

Wieder ein leises Schnauben. »Du hast definitiv nicht übertrieben, als du sagtest, mein Leben würde die Hölle werden. Aber weißt du, worauf du wirklich nicht stolz sein kannst?«

Ich biss die Zähne zusammen und spielte in dem kurzen Moment, der mir blieb, alle möglichen Szenarien durch, wie sie mich gleich konfrontieren würde. Doch was Luisa dann sagte, ließ in meinem Kopf alle Sicherungen durchbrennen.

»Du bist keinen Funken besser als dein Vater. Du richtest all den Hass und die Wut in dir gegen jemanden, der nichts zu verlieren hat … genau wie er.« Ihre Stimme wurde immer lauter, immer ungehaltener. Gleichzeitig bebte ihr Kinn, und ich konnte nur vermuten, wie kurz sie davor war, endgültig die Fassung zu verlieren und in Tränen auszubrechen. »Aber soll ich dir etwas verraten, Yannik? Es ist mir scheißegal, wie sehr du versuchen wirst, mich zu quälen. Denn alles, was ich bin, alles, was ich jemals war, ist längst gestorben. Du kannst mir nichts mehr nehmen. Du bist der einzige Mensch in meinem Leben, und alles, was ich fühle, wenn ich dich ansehe, sind Unverständnis und Enttäuschung, weil du genau so geworden bist, wie du nie sein wolltest.«

Mein Atem ging unruhig, mein Kiefer zitterte vor Anspannung. »Vergleich mich nie wieder mit meinem Vater, Lou. Nie wieder«, sagte ich gefährlich ruhig.

Dann flammten plötzlich all die Erinnerungen wieder auf. Wie er sie behandelt hatte, wie sie sich gefühlt haben musste, als sie seinen eiskalten Worten schutzlos ausgeliefert war.

Ein leises Keuchen drang zu mir. »Wie hast du mich gerade genannt?«, fragte sie, als hätte sie geglaubt, sich verhört zu haben.

Fuck.

Ich schluckte trocken und richtete meinen Blick starr auf die Straße. »Vergiss, was ich gesagt habe und hör damit auf.«

»Was? Nein!«, fauchte sie. Ich hörte das Klicken ihres Gurtes, dann nahm ich sie schräg hinter mir wahr. Und mit ihr den Duft, den sie wohl öfter tragen würde. »Jetzt pass mal auf. Ich habe keine Lust mehr, mir ständig diese Spielchen gefallen zu lassen. Ich weiß, dass es immer das Einfachste war, mir die Schuld für alles zu geben. Und ja, ich bin offensichtlich naiv und bescheuert genug zu hoffen, dass sich irgendwann alles auszahlt, was ich durchmachen musste. Doch wenn es eins gibt, das ich mir nicht mehr gefallen lasse, ist, mir meinen Mund verbieten zu lassen.«

Ich hielt den Atem an. Jeder Herzschlag wurde unerträglich schmerzhaft, als würde sie mit jedem Wort die Schlinge enger ziehen. »Lou, lass es«, knurrte ich.

»Ich sehe leider nur das, was direkt vor mir passiert. Du kannst es nicht verstecken, Yan. Du bist wie dein Vater geworden. Und ich dachte wirklich, dass du das, was du mir damals gesagt hast, bevor du einfach abgehauen bist und mich mit Holger allein gelassen hast, ernst gemeint hast.«

»Ich hab gesagt, du sollst damit aufhören, verdammte Scheiße! Mein Vater ist tot. Und jede noch so belanglose Streiterei spielt keine Rolle mehr. Ich werde nie wieder mit ihm über all das sprechen können, weil er wegen dir gestorben ist!«

Die Stille hallte einen unerträglich langen Moment lang nach. Keiner von uns wagte zu atmen oder gar etwas zu sagen.

Lou sank in den Sitz zurück. Ein leises, unscheinbares Wimmern war das Einzige, was ich hörte. »Wer hat dir das erzählt? Wer hat behauptet, wir wären wegen mir in die Hände dieser Männer geraten?«

Ich schnaubte. »Tatsachen, Luisa. Du bist eine Gefahr für jeden um dich herum. Du reißt sie wegen deines Bluts ins Verderben. Genau deshalb solltest du dankbar sein, ein Leben fernab von allen zu führen, damit sowas nicht nochmal passiert.«

Sie schluchzte auf. »Ich soll dankbar sein? Dafür, dass ich mein Leben lang einfach nur sterben wollte, um keine Belastung zu sein? Ich war vierzehn, als ich das erste Mal versucht habe, das alles zu beenden.«

Ein Ball aus Lava formte sich in meinem Magen. Meine Hände bebten vor Wut über mich selbst. Ich wog jedes Wort ab, sicher, dass es uns endgültig auseinanderreißen würde … aber es war besser so. »Ich mache nur meinen Job. Erzähl es einem Therapeuten oder irgendwem, den es interessiert, okay?«

Sie atmete scharf ein. »Du bist ehrlich das allerletzte, Yan.«

Und so begann die Zeit, in der ich ihre Stimme für eine Weile nicht mehr hören würde.

6

Luisa

Zwei Wochen später.

Ich sprach kein einziges Wort mehr mit Yannik. Ich ließ mich auf keinen Blickkontakt mehr ein, verbrachte die Stunden im Auto entweder schlafend oder mit Kopfhörern vor dem Laptop.

Es war kaum anders als damals mit Holger, nur dass ich mich an dessen Worte irgendwann gewöhnt hatte. Das mit Yan tat weh. Beschissen weh sogar. Irgendwo tief in mir hatte ich den Wunsch gehegt, dass wir so etwas wie Freunde hätten werden können. Oder zumindest Bekannte, die sich nicht anschwiegen wie Fremde. Doch auf seine Art von Ehrlichkeit hätte ich getrost verzichten können.

Freiburg.

München.

Nürnberg.

Köln.

Erfurt.

Berlin.

Hamburg.

Flensburg.

Düsseldorf.

Frankfurt.

Stuttgart.

Augsburg.

Zwölf Städte in vierzehn Tagen. Nichts Neues, wenn man bedachte, dass mein Leben so als normal galt. Dort, wo irgendein reiches Arschloch für sich oder seine Familie eine Dosis meines Blutes haben wollte, fuhren wir hin.

Yan und ich nahmen uns zurKenntnis. Eigentlich war ich um jede Minute froh, in der wir einfach getrennt in unseren Zimmern saßen. Doch auch er hatte seine Vorschriften und anders als Holger nahm er sie ernster. Verließ er sein Zimmer, musste ich mitkommen. So bekam ich immerhin ein wenig Bewegung.

Yan trainierte viel. Ich verbrachte beinahe täglich zwei Stunden unmittelbar neben ihm, starrte wie im Wagen auf meinen Laptop oder ging spazieren – auf einem Laufband, gegen eine Wand, mit Musik auf den Ohren, die mich von allem um mich herum abschirmte.

Ich gab in jedem dritten Hotel meine getragenen Klamotten zur Wäscherei und lag in jedem zweiten die Nächte wach. Die Zitteranfälle wurden immer schlimmer. Sie raubten mir den Schlaf und brachten mich dazu, vor Schmerz kaum noch richtig gehen zu können. Es fühlte sich an wie ein Muskelkater am ganzen Körper, als wäre ich unvorbereitet einen Marathon gelaufen.

Es war bereits die zweite Nacht in diesem Hotel. Ich saß aufrecht im Bett und hielt Rudi fest umschlossen in meiner Hand, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ich brachte keinen Ton heraus, konnte mich nicht bewegen. Meine Gliedmaßen waren wie gelähmt. Irgendetwas stimmte nicht, und das spürte ich deutlich.

Wieder Klopfen. Dieses Mal schneller, irgendwie besorgter. Ich hob Rudi an meinen Mund und roch an ihm. Er war das einzige kleine Stück Geborgenheit in meinem Leben.

Ich wollte nicht mehr. Und ich konnte auch nicht mehr.

»Frau Dahlmann!«, erklang es dumpf von der Tür her. Mein Kopf war leer, meine Haut eiskalt. Mein Herz schmerzte so sehr, dass ich mir nur noch wünschte, einfach zu sterben.

Ich fiel zurück in die Kissen. Versuchte mit letzter Kraft, die Muskelkrämpfe zu ertragen, die meinen ganzen Körper heimsuchten. Doch es war zu viel und ich schrie auf. Ich krümmte mich unter der Bettdecke und spürte die Schmerzen bis ins Rückenmark.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und benebelt sah ich eine Frau im Hosenanzug und einen Mann im Kasack auf mich zueilen. Meine Hand verkrampfte sich um Rudis kleinen Körper. Ich spürte sein Fell nicht mehr.

»Frau Dahlmann, sehen Sie mich an!«, forderte mich der Pfleger auf. »Schön weiter atmen. Ein und aus.« Er nahm mein Gesicht in seine Hände und zwang mich, ihn anzusehen. »Sie machen das gut.«

Alles, was ich zustande brachte, war ein hilfloses, kehliges Schluchzen und ein abgehacktes Kopfschütteln. Meine Sicht verschwamm, meine Augen brannten. Heiße Tränen liefen über meine Wangen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es aufhörte.

»Ich werde Ihnen jetzt ein krampflösendes Mittel spritzen, okay? Ihr Körper führt gerade einen Kampf gegen sich selbst, den wir dringend stoppen müssen.«

Ich nickte schwach und schloss die Augen. Der Pfleger wandte sich nur kurz von mir ab, bevor er wieder meinen Arm nahm. Er legte ihn zurecht, um das Mittel intravenös zu spritzen. Ich spürte nichts von alldem, was um mich herum geschah. Nahm nur wahr, wie er nach meiner Hand griff und so lange nicht losließ, bis die Krämpfe endlich aufhörten.

Mein Atem beruhigte sich nur langsam. Ich starrte ins Nichts, blendete alles aus – keine Gespräche, keine Gesichter, keine Eindrücke.

So bemerkte ich auch erst nach einer undefinierbaren Zeit, dass Yannik ins Zimmer gekommen war. Seine Stimme wurde so laut und ungehalten, dass sich mein Kopf wieder klarte.

»Was fällt Ihnen ein, ihr irgendwelche Medikamente zu verabreichen, ohne vorher das Go Ihrer Vorgesetzten abzuwarten? Und wieso hat mich niemand informiert? Haben Sie Ihr Briefing verpennt, oder was?«

»Herr Krämer, das war ein akuter Notfall. Frau Dahlmann hatte unerträgliche Schmerzen.«

»Und wer sagt mir das? Ein richtiger Arzt oder ein einfacher Pfleger?«, keifte Yannik.

Der Pfleger schnaubte. »Ich muss mich für meine medizinischen Entscheidungen nicht vor Ihnen rechtfertigen. Hätten Sie früher Hilfe geholt, wäre Frau Dahlmann nicht in dieser Lage. Ist Ihnen ihr Zustand völlig egal?«

Ich sah auf und unsere Blicke trafen sich. Seiner war so eiskalt und unberechenbar, dass es mir einen Stich versetzte. Vorsichtig drückte ich Rudi an meine Brust und meinen Kopf tiefer in das weiche Kissen, als ich meine Augen wieder von Yan löste. Ich hatte keine Kraft mehr, seinem Wesen standzuhalten. Alles, was ich wollte, war Schlaf – erholsam, ohne Krämpfe, ohne schwarze Bilder in meinem Kopf.

»Ich verbiete Ihnen, heute mit ihr weiterzufahren. Falls Sie nicht kooperieren, kommt der Befehl von ganz oben«, sagte der Pfleger scharf. Er fühlte meine Temperatur. »Sie verträgt das Mittel, aber sie braucht Ruhe. Und die bekommt sie nicht von Ihnen.«

»Wollen Sie mir damit etwa sagen, dass ich nicht wüsste wie ich meinen Job zu machen habe?«, fragte Yan mit einem verächtlichen Unterton.

»Alles was ich Ihnen noch sage, ist dass ich Ihnen den Bundespräsidenten persönlich an den Hals hetze, wenn sie sich meinen Worten hinwegsetzen. Eine Nacht länger in diesem Hotel wird sie beide nicht umbringen.«

»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen«, erwiderte Yan genervt. »Ich muss ein paar Telefonate führen. Bleiben Sie bei ihr, wenn Sie sich scheinbar schon so gut verstehen?«

»Natürlich. Gewissenhaftigkeit und Respekt gehören in meinem Job nämlich dazu.«

Yan kam gefährlich langsam auf uns zu und bäumte sich direkt vor dem Pfleger auf. »Dann passen Sie besser auf, was Sie sagen, wenn Sie ihn behalten wollen.«

»Was?«, fragte er scharf und stand ebenfalls auf. »Machen Sie Ihre Gewissensbisse nicht zu den Problemen anderer, nur weil Sie nicht damit klarkommen, wer Sie sind.«

Sie standen so dicht, dass eine kleine Bewegung gereicht hätte, um den anderen mit einer Kopfnuss auszuschalten.

»Denkst du, deinen Job zu verlieren, wird dein größtes Problem sein, wenn du dich mit mir anlegst?«, fauchte Yan und ich zuckte zusammen. Seine Hand ballte sich kurz vor meinem Gesicht zu einer Faust und ich sah, wie seine Knöchel bereits weiß hervortraten.

Ich atmete zittrig ein und tat das, wozu mir meine Intuition plötzlich riet.

Ich griff nach seiner Hand.

»Yan«, krächzte ich und befürchtete, dass er mich gar nicht hörte. »Hör auf, bitte.« Ich atmete flach und spürte wie viel Kraft mich das alles hier kostete. »Lass uns einfach fahren, okay?«

»Frau Dahlmann«, ermahnte mich der Pfleger. »Das ist das Unüberlegteste, was Sie jetzt tun könnten.«

Ich zuckte mit den Schultern und blinzelte schwach. »Ich kann mich doch im Wagen ausruhen. Herr Krämer muss nichts umorganisieren und sie behalten Ihren Job. Win-Win für alle.«

Mein Nacken verspannte sich und ich seufzte leise, als ich versuchte, mich auf die andere Seite zu drehen. Meine Hand glitt kraftlos an Yanniks hinab, und ich war mir sicher, dass ich mir nur einbildete, wie er dabei seine Faust öffnete.

Ich strich mir die Strähnen aus dem Gesicht und schob mir die halb eingerollte Decke unter meinen Kopf. »Gebt…« Ich atmete zittrig ein und spürte den heißen, brennenden Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. »Gebt mir bitte noch fünf Minuten, dann ...«

»In fünf Minuten wird es dir nicht besser gehen«, sagte Yan, und ich erstarrte. »Wir bleiben. Eine Nacht. Morgen Früh gegen sechs komme ich dich abholen, einverstanden?«

»Na, sieh einer an, Sie können ja doch so etwas wie Verstand beweisen«, bemerkte der Pfleger abwertend, und ich presste mir die Handfläche auf mein offenes Ohr. Ich ertrug die beiden einfach nicht mehr. »Wir verzichten heute auf die Blutabnahme, Frau Dahlmann.«

Ich nickte zögerlich und zog die Decke noch ein Stück höher. Mein Herz war so schwer, dass ich jeden Moment in mich zusammenfallen könnte. Alles, was ich spürte, war Angst und das Bedürfnis zu weinen.

Ich wollte wieder für mich allein sein, unsichtbar und allen egal. Der Mittelpunkt zu sein, fühlte sich seltsam an. Ich war es nicht gewohnt, dass sich jemand um mich sorgte.

Wenn ich nachts einschlief, geschah das jedes Mal nur aus bloßer Erschöpfung. Und alles, was ich kannte, war das Geräusch meiner Tränen, die auf das Kissen tropften.

Yannik

Das hier würde kein gutes Ende finden.

Ich wollte sie hassen. Doch je verbissener ich es mir vornahm, desto lächerlicher kam ich mir selbst vor.