Degeneration Internet - Frank Sorge - E-Book

Degeneration Internet E-Book

Frank Sorge

4,3

Beschreibung

Was passiert eine halbe Stunde lang auf dem Twitter-Profil von Justin Bieber? Darf man die SMS wildfremder Leute im Internet mitlesen? Was macht Jesus im Netz, und hört die NSA etwa auch Gott ab? Wann ist ein Nerd ein Nerd? Frank Sorge erzählt Geschichten aus dem Alltag der digitalen Revolution. Als "Digital Native" genießt der Berliner Autor und Vorleser zunächst "digital naiv" die bunte neue Netzwelt. Er begibt sich tief hinein ins World Wide Web, erzählt von seinen Anfängen und den oft sehr schrägen Auswüchsen. Doch dann fällt sein Blick auf die eigene Hand: Hat sich sein Zeigefinger etwa durch hunderttausendfaches Klicken so verdreht? Glücklicherweise gibt es noch das Real Life des Autors im Berliner Stadtteil Wedding - eine Wirklichkeit, die selbst überzeugte Nerds ins echte Leben zurückholen kann.

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Frank Sorge

Degeneration Internet

Surf- & Klickgeschichten

#Frank Sorge

1977 in Berlin geboren und am längeren Ende der Sonnenallee in Neukölln aufgewachsen, hat Germanistik, Philosophie und Klassische Archäologie studiert. Seit 2001 liest er Geschichten und Gedichte auf den Berliner Lesebühnen vor, u.a. jede Woche bei den »Brauseboys«. Er twittert, füllt Blogs und soziale Netzwerke, macht Lesungen für Avatare, programmiert zudem Textadventures und dichtet mit der Suchmaschine. Seine erste Geschichtensammlung »Brunnenstraße 3, Berlin« erschien 2011 als Buch und Hörbuch bei Eichborn.

www.frank-sorge.de

1. Auflage März 2014

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2014

www.satyr-verlag.de

Cover: Jakob Mebes

E-Book-Ausgabe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-35-2

#Linksammlung

1. Geist vor der Maschine

Fingerspitzen

1989

Wählscheibenblues

Meine kleine Farm

Dornrösschen

Wütende Vögel

Spam

2. Im Bildschirm brennt noch Licht

Frühlingsvogel

Umarmt den Computer

Avatar Emptiness

Real Life

Außennetz

Katzenbon^^

Eine halbe Stunde auf Justin Biebers Twitterprofil

Ponys, Titten und die Enterprise

3. Stream of Unconsciousness

Vorerst gelungen

Nachschlag auf der Mittelpromenade

Berühr mich, Gott

Erinnerungen an die Zukunft

Avatarisieren ist schwer

Er schrieb

4. Internet – erfolgreich aussteigen

Selbstmordmaschine

Schwingungen

Dröhnung

Die blaue Armee

Qualitätskontrolle

Weichspeicher

5. Es hat Klick gemacht

Fensterblick

Flüssiges Feedback

Spione

Mäuschen

Doktor Obst

Slechter Handyempfang

6. Ratgeber: Ausschalten von Elektrogeräten

1. Namensgebung

2. Internet abschalten

3. Dinge, für die man keinen Computer und kein Internet braucht

4. Der Bildschirm

5. Werbung ausschalten

6. Soziale Netzwerke

7. Dinge, die man ohne Internet machen kann

8. Dinge, die man mit dem Internet machen kann

9. Weiterführende Dinge, die man ohne Internet machen kann

10. Weiterführende Dinge, die man mit dem Internet (aber auch ohne) machen kann

11. Weiterführende Dinge, die man gemeinsam mit dem Internet machen kann

12. Warum ausschalten?

13. Supernerd und Naturgirl. Ein Dramolett

Epilog

Sitz doch nicht immer vor dem Ding.

Mutter

#1. Geistvor der Maschine

#Fingerspitzen

Ich erschrecke gelegentlich, wenn ich mir meinen rechten Zeigefinger ansehe. Er ist total verdreht, war das aber nicht immer. Vor einigen Jahren ist es mir aufgefallen, halb so schräg wie heute ist er da noch gewesen. An der linken Hand ist alles im Vergleich gerade geblieben, auch bei den anderen Fingern der rechten Hand, nur der Zeigefinger ist schief. Nach außen dreht er sich – wenn er in dieser Geschwindigkeit weitermacht, hat er sich in zwanzig Jahren einmal herumgedreht.

Lange habe ich mich gefragt, warum das so ist. Gerade eben aber habe ich mit einem Mausklick die ersten Sätze dieses Buchs zwischengespeichert, und bei der Gelegenheit konnte ich mir die Finger mal ansehen, wie sie so auf der Plastikmaus ruhen. Klick, klick, klick, plötzlich kenne ich den Grund.

Aber heißt das jetzt, dass ich in den letzten Jahren zu viel vor dem Computer gesessen habe? Und möchte ich überhaupt, dass mir irgendjemand auf diese Frage eine ehrliche Einschätzung gibt? Ist der »Mausfinger« schon als Krankheit erkannt und anerkannt? Gibt es schon spezialisierte Chirurgen für Computererkrankungen, die ihn wieder zurückdrehen können?

Oder ist es gar keine krankhafte, sondern eine natürliche Veränderung? Wenn Fußballer dicke Waden bekommen und Karibikurlauber gebräunt zurückkehren, redet man ja auch nicht gleich von Krankheit. Ein »Tennisarm« wiederum soll ja durchaus ernstzunehmende Schmerzen verursachen, wie kann ich mir sicher sein, zu welcher Kategorie mein schiefer Mausfinger zählt? Er schmerzt immerhin nicht, ist also vielleicht doch wie die dicken Oberarme eines Gewichthebers eine unausweichliche Folge meiner Beschäftigung mit der Maus an sich.

Das Internet kennt meinen Mausfinger nicht, aber ein Krankheitsbild namens »Mausarm«. Bei den ersten Symptomen solle man einen Arzt konsultieren, rät eine Website, bei Kraftverlust der Hand und Missempfindungen etwa. Nicht unbedingt zu meiner Beruhigung steht da auch: »Schmerzen treten erst später auf.«

Ich stelle mir den virtuellen Warteraum eines Netzdoktors vor, Tennisarm und Mausarm bekommen dort Gesellschaft vom »Maurerarm«, von dem ich noch nicht gehört hatte. Der »Malerarm« reiht sich gleichfalls ein, der »Golferarm« ist hingegen privat versichert und wartet nicht. Aus Übersee trifft ein Gast mit »Baseballarm« ein.

Während der Golfer behandelt wird, tauschen sich die Wartenden über ihre beruflichen Situationen aus. Schnell wird klar, dass der mit Maurerarm Maurer ist und der mit Malerarm Maler. Der mit Mausarm ist aber keine Maus, so stellt man zunehmend heiter fest. Aber was dann? Computerarm kann man es wohl auch nennen, aber ein Computer ist er auch nicht. Er ist wohl ein Nerd.

Nachdenklich sehe ich meinen schrägen Finger an. Vielleicht verebbt das Gespräch an dieser Stelle, früher jedenfalls redete man wenig mit Nerds. In meiner Schulklasse gab es sie auch, die zwei vorne mit den Brillen auf der Nase und der Eins in Mathe. Ich gehörte nicht dazu, brauchte keine Brille und schrieb mittelmäßige Mathearbeiten, war aber mit ihnen befreundet. Bei dem einen war der Vater Programmierer, und so reihten sich in seinem Kinderzimmer Anfang der Neunziger mehrere Bildschirme nebeneinander über mehreren miteinander verkabelten Rechnern mit Wechselfestplatten, wie sie heute schon alle im Museum stehen. Der andere war zudem ein begnadeter Tischtennisspieler und hatte eine gute Tischtennisplatte im Keller, auf der wir uns erbitterte Kämpfe lieferten. Beide haben dann ganz dem Klischee nach Informatik studiert.

Ich war nie ein Nerd, glaube ich, wollte es natürlich auch nicht sein. Streber und Computerkid zu sein, das empfanden wir anderen als mittleren Schicksalsschlag, der uns glücklicherweise nicht ereilt hatte. Nie hatte jemand aktiv Nerd werden wollen, man hätte ja im Gegenzug jede Möglichkeit auf Nahzonenkontakt mit dem anderen Geschlecht eingebüßt.

Ich klappe mein Netbook zu und laufe damit durch ein paar Weddinger Straßen zum Mastul, dem Kulturverein meines Vertrauens. Am Tresen sagt die Frau neben mir: »Doch, natürlich bist du ein Nerd.«

Immerhin lächelt sie dabei und setzt sich nicht augenblicklich weg zu den coolen analogen Jungs weiter vorne. Aber sie bringt mich damit doch in schwere innere Verlegenheit. Bin ich es doch geworden? Habe ich nicht aufgepasst? Sie kann unmöglich recht haben, ich habe mein Selbstbild des athletisch agilen Frischluftkünstlers doch einigermaßen im Griff. Denke ich und ziehe unauffällig den Bauch ein.

Schnell schließe ich zudem den kleinen Telnet-Client, mit dem ich in einem MUD eingeloggt bin. Sie wird zwar weder wissen, was Telnet ist noch ein MUD. Aber Nerds würden mit Sicherheit wissen, was Telnet und ein MUD ist, und es gibt sie hier, und es sind welche im Laden. Hätte mir einer von denen zufälligerweise über die Schulter geschaut, hätte der sofort ausgerufen: »Oh geil, das ist so geil, ich bin zum Glück seit zwei Jahren weg von der MUD-Zocke, aber kennst du das noch, das, das, das, das, das und das andere?«

»Was ist denn das? Ein Matt?«, würde sie fragen. »Schach? Schatt matt?«

»Nein, ein MUD«, würde der blasse Informatiker in unserem Rücken zunehmend euphorisch mit rudernden Armen erläutern, »Multi User Dungeon, nur mit Text, wie früher. Das ist so geil.«

Und ich wäre sofort entlarvt gewesen.

»Ach, das Netbook meinst du«, versuche ich, mich aus den dornigen Schlingen des Vorurteils zu winden, ein Nerd zu sein, »das habe ich ja nicht immer dabei.«

»Aber fast immer«, sagt sie, und ja, sie ist in letzter Zeit auch fast immer dabei gewesen.

»Aber erst seit ein paar Wochen, ich muss jetzt am Anfang den Akku immer schön leer machen, und außerdem ...«

»Ja?«

»... ist das WLAN hier so wunderbar schnell, ich ...«

»Nur zu!«

»... kann sogar mit dem kleinen Gerät in Second Life einloggen.«

»Aber du bist kein Nerd?«

»Nein, Quatsch, auf keinen Fall«, ich versuche gelassen zu wirken und souverän zu argumentieren. »Ich kann ja nicht mal programmieren.«

Ich nehme einen Schluck Club-Mate, dass dieses Getränk auch gerne mal Hackerbrause genannt wird, ist ihr hoffentlich bislang entgangen. Wenn sie nicht fragt, was ich heute so den Tag über gemacht habe, muss ich auch nicht zugeben, dass ich den halben Tag an einem eigenen Textadventure geschrieben und getüftelt, im Prinzip also programmiert habe.

»Und hast du heute was anderes gemacht, als vor dem Computer zu sitzen?«

»Na ja, ich bin, äh, hierhergekommen.«

Ich schiebe das Netbook ein wenig beiseite, als würde es mir gar nicht gehören.

»Um hier vor dem Computer zu sitzen?«

»Nein, natürlich um nette Gespräche zu führen.«

Wir wissen nicht mehr weiter. Zwanzig Sekunden schweigen wir, dann schaltet sich der Bildschirmschoner ein, und ich ziehe das Netbook wieder heran. Bin ich halt ein Nerd, so bauchansatzweise ist ja auch was dran. Aber es gibt da noch feine Unterschiede, junges Frollein, denke ich, und überhaupt ist das alles ganz anders. Ich schalte zwar regelmäßig drei Computer aus, bevor ich das Haus verlasse. Aber ich schalte sie aus. Und ich verlasse das Haus. Kleine Details zu meiner Ehrenrettung, aber dann sehe ich wieder dieses schräge Fleischwürstchen an meiner Hand, das jetzt über ein Touchpad wischt und immer noch erschreckend verdreht ist.

»Immer noch besser als ein Stiernacken«, beruhige ich mich und erwerbe ein Pilsator. Und mit einer leichten Berührung der Fingerspitze logge ich mich wieder ein, irgendwo.

#1989

Die ersten komplett verdaddelten Tage vor dem C64 bei Matthias, für einen eigenen »Brotkasten« reicht es nicht. In den Ferien stülpt er ein Gummiteil über einen Telefonhörer und wählt uns in ein Multiplayer-Textadventure ein. Es ist noch kein Internet, aber völlig verrückt. Er ist elf Jahre, ich bin ein knappes Jahr älter. Er zeigt mir Computerprogramme, die als Piepsgeräusche auf einer Audiokassette gespeichert sind, und Disketten, deren Rückseite man bespielen kann, wenn man sie an der richtigen Stelle locht.

#Wählscheibenblues

Wörter wie »Wählscheibentelefon« und »Telefonzelle« waren bis eben noch normal, jetzt sind sie gnadenlos veraltet. Sie klingen, als wären sie aus dem letzten Jahrhundert. Das Erschreckende ist nun, sie sind mittlerweile wirklich aus dem letzten Jahrhundert. Und man selbst auch.

Gerne erzähle ich als ergrauender Digitalopa in Dauerschleife, wie ich schon Anfang des Jahrtausends einer jungen Frau in meiner Wohnung dabei zusehen konnte, wie sie zunehmend über das von mir lange gepflegte Wählscheibentelefon »Graue Maus« verzweifelte. Sie hatte gefragt, ob sie telefonieren dürfte, und das Gerät als das zuständige erkannt. Dann stand sie die eine oder andere Minute davor.

»Damit?«, fragte sie.

»Ja, genau.«

Der erste Dampf in ihrer Stimme war mir nicht aufgefallen, erst als sie mich mit diesem Vulkan im Blick ansah, den Hörer mit der Ringelschnur wie eine giftige Schlange von sich weghielt und langsam und beherrscht die Frage nachlegte, wie dieses verdammte Ding zu bedienen wäre. Sie kenne nur Tasten. Es erschien mir unglaublich, es könne jemand nicht mit der Wählscheibe umgehen. Inzwischen habe ich aber keinen Zweifel mehr, dass man ohne Probleme Millionen Menschen findet, die eine Weile brauchen würden, bis sie mit meiner grauen Maus eine SMS abgeschickt hätten.

Interessant fände ich auch, wie viele junge Menschen sich wohl beim Wort »Telefonzelle« vorstellen, dass darin Telefone eingesperrt wurden, damit man nicht an sie rankam. Oder ob sie denken, das wären so Kabinen gewesen, in denen man genau nicht telefonieren konnte? Oder in die man halt mit dem Handy reinging, um ungestört telefonieren zu können? Oder ob jemand »Telefonzellen« für Vorläufer der »Funkzellen« hält?

Das Tonbandgerät meines Vaters habe ich auch nie richtig verstanden, der konnte wiederum lange den Videorekorder nicht programmieren. Was aber dachte ich damals, was es noch alles geben würde? Wie hatte für mich die Zukunft ausgesehen?

Aus Lego hatte ich Autos mit Flügeln gebaut, hatte aber kaum Hoffnung, dass es absehbar fliegende Autos geben würde. Ein paar fantastische Ideen erschienen mir jedoch möglich. Zum Beispiel lange, schnelle Laufbänder überall, damit sich größere Strecken in der Stadt mit blitzschnellen Spaziergängen ganz ohne Autos überwinden lassen würden. Als ich das erste Mal auf einem Großflughafen so ein Laufband betrat, waren Ernüchterung und Verblüffen über die eingetroffene Zukunft in etwa ausgeglichen, kurz nach dem unvermeidlichen Stolpern. Heute neige ich eher dazu, Science Fiction ohne Autos nicht mehr ernst zu nehmen. Denn absehbar wird sich die Menschheit doch noch Jahrtausende nicht von ihren Sausekisten trennen können, der Freiheit auf Rädern in Fahrgastzellen.

In meinen Raumschiffromanen gab es häufiger Universaltranslatoren, Geräte, die hin und her zwischen den Sprachen übersetzen können. Raumschiffe und Aliens würde es geben, dachte ich, aber auf keinen Fall Universalübersetzer, das würde nie gehen. Jetzt gibt es sie doch, und sie übersetzen sogar schon im eigenen Tonfall, in ein paar Jahren schenken wir sie uns alle zu Weihnachten. Ordentliche Raumschiffe und Aliens sind hingegen leider immer noch nicht in Sicht.

Unsere Spiele damals waren eigentlich wie die Spiele heute – Kerker, Helden, Drachengold –, wir spielten im Grunde schon World of Warcraft, aber ohne Computer, stattdessen mit Papier und Würfeln. So wie ohnehin alles ohne Computer war, bis dann erst nach und nach nichts mehr ohne Computer war. Wir hatten Taschenrechner, und als der, wie meiner, zehn Speicherplätze für Zahlen hatte, in die ich Telefonnummern von Mädchen einspeichern konnte, schien alles Erstrebenswerte erreicht. Was mein Telefon heute kann, brauche ich niemandem zu erzählen. Alles Erstrebenswerte ist damit erreicht, so sehr, dass man gar nicht mehr genau erkennen kann, was eigentlich daran erstrebenswert ist.

Dass es geklonte Menschen geben würde, das war auch klar – die damit verbundene Hoffnung, sich unsterblich machen zu können, ist hingegen immer schon Blödsinn gewesen. Ausgefeilte Roboter würde es geben, auch klar, und gigantische Fernseher mit noch ganz anderen Eigenschaften, als nur Fernseher zu sein.

Als ich meinen ersten Computer bekam, habe ich geweint vor Freude und Glück. Das Internet gab es zwar noch nicht, aber man hat sich trotzdem gefreut. Denn heute wiederum gibt es ohne Internet gar nichts mehr, jedenfalls nichts für Computer, und ohne Internet sind Computer für viele Menschen uninteressant. Am Anfang waren die Menschen, die sich für Computer interessierten, noch deckungsgleich jene, die sich auch für das Internet interessierten. So erzählen es die Legenden. Dann erst kamen die, die sich nur für das Internet interessierten.

#Meine kleine Farm

Es sind ja immer die Freunde, die einen verleiten und verführen. Zum Rauchen, Trinken, Längerbleiben und Geldausgeben. Das steht dir aber gut, der Nachtbus fährt auch später noch, ich geb dir noch einen aus, und ja, nimm ruhig eine Filterzigarette. Digitale Freunde sind da nicht anders, aber es sind schnell viel mehr.

Immer schon sind Empfehlungen von Freunden wichtiger als ein nackter Werbehinweis, und vor allem die Warnungen verleiten zur Nachahmung. Mach es nicht, denke ich also und scrolle den Link zum Facebook-Spiel Farm Ville mit dem Mausrad wieder außer Sicht und gleich wieder hinein. Du hast schon genug virtuelle Verpflichtungen. Deine Online-Fußballmannschaft veraltet und verspielt sich unglücklich den Aufstieg. Deine Umsätze in den virtuellen Läden, in denen du Cartoons und T-Shirts für Avatare verkaufst, sind auch abgeflacht, dort müsstest du unbedingt mal neu dekorieren und ergänzen. Um mit den anderen Elfen deiner Rollenspiel-Gilde mithalten zu können, solltest du auch noch die ein oder andere Stunde durch finstere Kellerverliese rennen und Rohstoffe für die Gildenburg sammeln. Also rate ich dir, lass dieses kleine süße Aufbaustrategiespiel mal aus.

Seit einigen Tagen stapeln sich kleine Nachrichten in meinem Postfach. Man sendet mir digitale Bäume und Tiere für die Farm, die ich nicht habe. Ich treffe Nachbar Paul auf der Straße, aber er entschuldigt sich, er müsse schnell nach oben.

»Ich muss noch Himbeeren pflücken.«

»Himbeeren pflücken?«

»Ja, auf meiner Farm.«

»Mach es nicht«, sage ich zu mir, aber verführerischer als Warnungen von Freunden ist schließlich nur noch die Warnung an sich selbst. Es ist also zu spät, auf meinem Profil erscheint: »Frank hat das Stadtleben aufgegeben, um Bauer in Farm Ville zu werden, wo du köstliche Früchte und Gemüse anbauen und liebenswerte Tiere auf deiner ganz eigenen kleinen Farm großziehen kannst.«

Seitdem grunzt und meckert und wiehert und gackert es aus meinem Arbeitszimmer, Boog Boog Boog, aber die Freundin am Rechner nebenan baut schon viel länger an ihrem ganz eigenen Wurzelimperium, um sich darüber noch zu wundern. Wurzelimperium ist ein ähnliches Spiel, in meinem Bekanntenkreis gibt es eine Reihe Wurzelimperialisten. Auch kenne ich eine Spielerin, die ordentlich Geld und Zeit hineinpumpt. Um in ihrer Liga mithalten zu können, muss jede Entscheidung gut geplant und vorbereitet sein, jeder Handgriff muss sitzen und die Kreditkarte locker. Idealerweise hat man auf jedem der fünfzig Server von Anfang an mitgemischt, erklärt sie mir, und kennt wirklich jeden Kniff des Spiels. Das ist, als wenn man als Zehnjähriger einer Altherrenrunde beim Preis-Skat zusieht, da muss noch viel Bier die Spree runterfließen.

Auf meiner kleinen Farm geht es nicht so verbissen zu. Das halbwegs passende Pixelmännchen harkt hier und da den Boden auf und streut digitales Saatgut für die ersten Erdbeeren aus, und ich kann gottgleich ein paar Obstbäume in die Landschaft setzen. Die Kühe dann so nach links, die Schafe dort irgendwohin. Die ersten überzähligen Taler zum Erwerb allerlei bunten Schnickschnacks wandern in ein »Ausruhzelt«, einen Campingtisch, eine Holzbank und ein Fässchen Rotgereiften, um die richtige Schäferstimmung aufkommen zu lassen. Man kann andere Mitspieler zum Nachbarn machen und deren Felder besuchen, also mal schauen, was die anderen so auf ihrer Farm haben.

Auf der ersten Nachbarfarm ist es recht voll insgesamt, viele Tiere und auch große Häuser stehen da, bunte Heuballen überall und sogar ein Heißluftballon. Der Besitzer hebt gerne ab, das passt, dann schaue ich, was Paul für eine Farm hat. Seine Feldflächen sind maximal ausgenutzt, ganz ohne störendes Getier und mit nur wenigen akkurat ausgerichteten Bäumen am Rand. Dazu eine funktionale Scheune, ein Traktor und eine Sämaschine sowie drei silbrige Getreidesilos, schließlich Himbeeren in Monokultur. Eine andere Nachbarin hat ihren ganzen Garten im Gothic-Look mit spitzen Stahlzäunen, Grabstellen und Fledermäusen gestaltet.

Noch eine andere Nachbarin hat das höchste Level weit und breit, unglaublich eng stehen vermutlich Hunderttausende Hasen, Ziegen und Elefanten. Bei jedem Besuch ihrer Farm klappt mein Computer ein, lässt ein Rauchwölkchen aus einem der Frontschlitze aufsteigen und meldet sich krank.

Alles, was man auf den Feldern pflanzt, kann auch verwelken. Ob die Äpfel verfaulen, die Bäume verdorren und die Tiere skelettieren, wenn man lange nicht eingeloggt war, weiß ich noch nicht, aber ein paar verwaiste Anfängerhöfe finde ich schon. Braune Pflanzenreste verwesen auf den Äckern, und Krähen singen von Tod und Verdammnis. Schnell springe ich wieder zurück zu meiner kleinen Farm, auf der die Schweinchen lustig gucken und pfeifen, saftig-rote Erdbeeren reifen. Alles Tamagotchis, denke ich plötzlich, alles begann mit dem Tamagotchi. Ein Tamagotchi kostete mindestens zehn Mark und war eine digitale Kreatur der Mittneunziger. Es lebte in einem kleinen Plastikteil mit Schlüsselband. Wenn man es aktivierte, schlüpfte es aus seinem Ei und wollte häufiger am Tag versorgt sein, sonst war schnell Schluss mit dem Tamagotchi-Dasein. Ein kleiner Grabstein zierte im japanischen Original fortan das Display, für den europäischen Markt und die zarten Gemüter hier kehrte das Ding besser wieder auf seinen Heimatplaneten zurück.