Dein Fortsein ist Finsternis - Jón Kalman Stefánsson - E-Book

Dein Fortsein ist Finsternis E-Book

Jón Kalman Stefánsson

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Beschreibung

Erzählen heißt Erinnern – und ohne sind wir nichts »Erzähl meine Geschichte, und ich bekomme meinen Namen zurück.« Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an nichts. Doch die Frau, der er auf dem Friedhof begegnet, erkennt ihn wieder. Rúna berichtet von ihrer verstorbenen Mutter, und sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, mit der ihn eine brüchige Nähe zu verbinden scheint. Mithilfe ihrer und anderer Erzählungen setzt er sein Leben neu zusammen – bis sich nicht nur sein, sondern das Schicksal aller Menschen dieses einsamen Fjords vor uns erhebt. Ein raunendes, gewaltiges Meisterwerk, das die Kraft der Literatur feiert! »Jón Kalman Stefánsson gehört zu den größten isländischen Autoren unserer Zeit.« Livres Hebdo »Ein wundervolles Fresko, voller Humanität und Poesie.« France Inter »So schillernd, zärtlich und schön, dass man sich wünscht, das Buch würde nie enden.« Le Point

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig

 

Die isländische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Fjarvera þín er myrkur bei Benedikt, Reykjavík.

Diese Übersetzung wurde mit einem Stipendium im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der VG Wort gefördert.

 

 

 

 

© Jón Kalman Stefánsson, 2020

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverabbildung: norris-niman/unsplash

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

 

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Erzähl meine Geschichte, und ich bekommemeinen Namen zurück, oder mit anderen Worten:Der erste Widerstand

Irgendein Trost findet sich immer

Selbst die Toten lächeln,und ich bin am Leben

Verlieren die Toten ihre Namen, wenn wirihre Geschichte nicht erzählen; erzähl meine Geschichte,und ich bekomme meinen Namen zurück?

Und damit sind wir bei der ersten Geschichte

It’s all over now, Baby Blue –ist es Sturheit oder Mutlosigkeit,sich mit seinem Schicksal abzufinden?

Wohin gehst du, wenn du das Denken eingestellt hast?Zwanzig Gedichte auf die Liebe und einsauf die Frau des Leutnants

Hat dir schon mal jemand gesagt,was für unglaublich blaue Augen du hast?

Nordlichter sind Gottes Joint

Was für eine Frau bin ich denn?

Jemand schießt mit einer Schrotflinte auf einen Lkw,ein Literaturwissenschaftler verkauft Triebwerke,aus Syrien geflohene Frauen kochenwahnsinnig leckeres Essen

Die einzigen Worte, auf die es ankommt

Was wir lebenund was wir konstruieren

Ich heiße Robert Desnos, und ich weiß,dass es Überwindung kostet, um Hilfe zu bitten,doch lass dich trösten, ich trage unterschiedliche Socken,und das Leben ist sonnenscheingesättigt

Ein Bahnsteig wird vermisst,und der Zug fährt wieder und wieder mit dem davon,wonach du dich sehnst

Ein Jeep voll fröhlicher Hunde

Gibt es so etwas wie ein Weltklasselächeln?

Du bist überall du selbst, doch nirgends derselbe –trotzdem gibt es noch Grund zum Lachen in diesem All

Ich bin Dunkelheit und Nebel

Du bist totund somit schon ein Stück weiter

Anders lässt sich nicht erzählen

Vielleicht sind es die Fehler,die das Leben ausgleichen

Es wird kaum zur Nachahmung empfohlen,einen Freund mit Einsamkeit zu trösten;Abend im Februar, Mitternacht im November

Ich nenne den Regenwurm einen Gedanken Gottes

Unter diesen Umständenkonnte man nur den Verstand verlieren

Und was glaubst du, wohin du unterwegs bist?

Welchem Umstand verdanken wir die Ehre?

Was kommt als Nächstes,wohin vergeht die Zeit?

Der Tod enttäuscht einen nie

Und dann tritt sie hinaus in die Helligkeit

Wie lässt man die Dunkelheit hinter sich?

Miss you, baby, sometimes –der Mensch hat den Teufel erfunden,um seine Sünden zu ertragen

Selbst bei Sonnenschein gibt esin uns tiefe Täler – doch dakommt Herr Ásmundur!

Die Natur ist ständig im Fitnessstudio,aber man kann nicht Johnny Cash hören und gleichzeitigTerrassenöl auf dem Mond trocknen sehen

Jeder braucht einen Namen, auch die,die verschwinden müssen

Ihr Lachen klingt wie weiche,kitzelnde Glöckchen

Hast du Harry Potter gelesen,den ältesten Baum von Paris gesehen,ist Sex gefährlicher als Mord?

Was ist aus deinem Versprechen geworden,uns mit den Einzelheiten zu verschonen?

Annalen aus der Hölle

Miss you, baby, sometimes –anschließend nehme ich an Demonstrationengegen die Einsamkeit teil

Nenn mich Schnuffi.Oder: Ich bin so froh, dass du gekommen bist.Das werde ich dir nie verzeihen

Die Zeit ist eine geladene Pistole,sie ist der gestrige Tag, der niemals kam

Hier kommt der Frühling so spätwie in der Hölle, aber, Gott strafe mich dafür,ich bin so froh, hierhergekommen zu sein

Sei vorsichtig, meine Liebe –das Schlimmste von allem ist, so langsam zu sterben,dass man es fast nicht mitbekommt

Und es gibt keinen Weg zurück

Da oben kommt der Frühling so spät wie in der Hölle –anschließend kratzt sie sich am Steißbein

Ein Mal hat er gestohlen,ein Mal hat er etwas Verbotenes getan

Ein paar allgemeine Anmerkungen,wozu sich Socken benutzen lassen

Ich habe niemals Augen so leuchten sehen –ist er schon jemals so hart gewesen?

Der Bruder des Teufels istein alter Buchhändler in Kopenhagen

Manche Menschen sind Zaunpfosten,andere stellen Playlistsfür den Tod zusammen

Vielleicht lebt manzu allen Zeiten

Man ist so gehorsam geworden, dass man sichdafür schämen muss – dann setzen wirI love Paris auf die Playlist des Todes

Jeder dachte sich sein Teil, und dannzerbiss er seine Zigarre

Über Zaunpfosten

Da lachte ich wie ein Mädchen

Die Bluessaite

Passiert alles nur in meinem Kopf?

Jetzt kommt’s

Ein Leben ohne dich kann ich mirgar nicht vorstellen

Man darf die Liebe nicht töten

Ich weiß, dass der Tag …

Was für Zeiten! Ach, und jetzt vergangen

Bist du sauer, sei wieder lieb –doch an diesen Augenblick will und werde ich mich erinnern,selbst wenn ich hundertsiebzig Jahre alt werden sollte!

Gib mir Dunkelheit,dann weiß ich, wo das Licht ist

Ich kann mir ein Leben ohne dicheigentlich nicht vorstellen

Du triffst keine Entscheidungund wirst gelähmt

Ich weiß nicht mehr,ob ich mich zu leben traue

Es ist Juni, und manche Sätze erklären alles. Falls sie nicht gar nichts erklären

Es ist so süß, aber wozu sollte Gott sich hier herauf verirren, ist nicht alles, was Rang und Namen hat, im bewohnten Gebiet unten?

Vielleicht ist ein Gedanke Gottes nicht geradeschön, aber zumindest trägt sie neue Schuhe, und darinpinkelt es sich leichter zwischen Wiesenhöckern

Arme Welt,was soll nur aus dir werden?

Dass manche besser zu Pferd sitzenals andere, lässt sich nicht bestreiten

Pferde mögen es, neue Orte zu sehen,hochachtungsvoll und stets bereit

Kurz zu Zaumzeug und dem achten Weltwunder

Jemand verwandelt sich in eine Kirche,und die Menschen, die die Eitelkeit überwinden,sind großer Gedanken fähig

Der Teufel macht einen Stich, er liest Dante,Die Unterwerfung der Frau, und dann wollen sieÉmile Zola verhaften!

Denk an mich,und die Teufel weichen zurück

Ich blicke auf, und du bist nicht mehr am Leben

Wo gibt es denn eine Zuflucht?

Wieder Búðardalur also? Ein weiteres Mal?

Alle dänischen Frauen heißen Tove

Ihr seid von Glück gesegnet.Wie schaffen wir das?

( … )

In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit

Jetzt solltest du kommen

Wie soll ich sterben,wenn du nicht bei mir bist?

Diese stolzen Frauenbeleidigt man nicht

Meine Liebe, ich habe die ganze Welt gesehen

Es ist so schön, dir zuzuhören,das weißt du, oder nicht?

Weißt du noch, wie ich dir im Gufudalureine runtergehauen habe?

Man versteht nur, was unbegreiflich ist

Können sich die Toten miteinander unterhalten?

Schwimmt der Fisch, wenn man ihmdas Wasser genommen hat?

Junge, du machst mich an!

Ganz allein zu sein und ohne dich,das ist der Tod

Und er lachte

Nur fünfzehn Prozent Leben

Das Schicksal ist erstaunlicher als die Güte

Manchmal lügst und betrügst duaus Liebe

Fast alle sind gestorben,aber es gibt hier keine Buchstaben,die wie Hunde bellen

Manchmal lügst du, weil du liebst

Der Brief unter dem Heubinder.Oder: Erklärung für die Reizbarkeit der Hühner

Einschub über Zusammenhang,Verantwortung und brennende Häuser

Und Welten verschmelzen

Ein rostiger Traktor verschickt einen Brief,was soll das denn sein?

Wir müssen auf gestern warten

Niemand sollte je sein Lebenanderen anvertrauen

Etwas über den Tränenpegelund wie hoch er steigen kann

Wo die Worte stehen bleiben

Er weiß nicht, wer Émile Zola ist,und verliert deshalb das Wertvollste,das er hat. Das muss die Strafe sein

… scared to say I love you –und Welten verschmelzen

Über Betrug, über das, was wir nicht begreifen,und die Schwierigkeit, die passende Musik auszusuchen

Darf ich dich fesseln?

Wer die Wirklichkeit sucht,findet Fiktion

Ich habe dich ausgesucht, weil duvon hier fortgehen wirst

The next day they’re gone –wahrscheinlich ist es die Vorfreude,die die Menschen von einem Universumins andere befördert

Alles geht einmal zu Ende

Dann verstummt alles,dann geht alles verloren

Sie habe ich geküsst

Manchmal ist es so schwer zu leben,dass es vom Mond aus zu sehen ist

Was wir nicht begreifen,macht die Welt größer

Dann ist es vorbei

Ich existiere, weil Weltenaus den Fugen geraten

Sie schliefen kaum

Bacchi Diener

Vielleicht gibt es mich gar nicht

Hallo, Papa,hallo, Sonnenschein

Bier, Champagner oder eine Schusswaffe?

Zu vergeben ist manchmal das Gleiche,wie zu sich selbst zu stehen

Deswegen machen wir weiter

Hölderlin ist verrückt geworden und kann daheralles bestätigen, was ich sage

Und wir werden immer zusammen sein

Playlist des Todes (Auszug)

Personenverzeichnis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Erzähl meine Geschichte, und ich bekommemeinen Namen zurück, oder mit anderen Worten:Der erste Widerstand

 

Was wichtig ist und dauerhaft Einfluss auf dich hat, tiefgehende Gefühle, leidvolle Erfahrungen, schockierende Erlebnisse, unbändiges Glück, Heimsuchungen oder Gewalt, die in die Gesellschaft einbrechen oder in deine Welt, das alles kann so tief eindringen, dass es sich in den Genen niederschlägt, wo es an andere Generationen weitergegeben wird – und so bereits die Ungeborenen prägt. Das ist ein Naturgesetz. Die Gene tragen Eindrücke, Erinnerungen, Erfahrungen und Erschütterungen von einem Leben ins nächste, und in diesem Sinn existieren manche von uns noch lange, nachdem wir bereits verschwunden und vollständig vergessen sind. Die Vergangenheit lebt so ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst. Ein Kontinent mit Bergen und Meeren, die permanent Einfluss auf das Klima und die Lichtverhältnisse in dir nehmen.

Irgendein Trost findet sich immer

Möglicherweise träume ich Folgendes:

 

Dass ich in einer kalten Kirche irgendwo auf dem Land in der ersten Bankreihe sitze; die tiefe Stille draußen wird hier und da von Schafsblöken und fernem Vogelgeschrei unterbrochen, die Fenster rahmen blauen Himmel ein, Meer, Streifen von grünen Wiesen, einen kahlen Berg.

 

Ich hoffe, es ist bloß ein Traum, weil ich nichts von mir weiß, nicht einmal, wer ich bin oder wie ich hierherkam, ich weiß nicht …

… aber ich bin nicht allein in der Kirche.

 

Ich drehe mich um, und hinten in der letzten Reihe sitzt ein Mann dicht neben einer verwitterten Fahnenstange, die quer über fünf Bankrücken liegt. Schlank, etwa mittleren Alters, hageres Gesicht, hohe Geheimratsecken, markante Falten auf der Stirn. Und er sieht mich spöttisch an.

Vielleicht bin ich schlichtweg tot.

Vielleicht geht es so vor sich: Alles erlischt, das Individuum wird ausgelöscht, dann wirst du in so einer kleinen Kirche wieder hochgefahren, und der Teufel sitzt ein paar Reihen hinter dir – ist gekommen, um deine Seele zu holen.

 

Ich sehe mich schnell noch einmal um. Nein, das ist kaum der Böse persönlich. Doch etwas im Verhalten des Mannes lässt vermuten, dass er sich hier auskennt. Ich drehe mich um, blicke ihn direkt an und räuspere mich: Entschuldige, bist du vielleicht der Pfarrer dieser Kirche?

 

Der Mann starrt mich lange schweigend an. Peinlich lange. Pfarrer, wiederholt er schließlich. Sollte mich allein der Umstand, dass ich hier auf einer Kirchenbank sitze, zum Pfarrer machen? Was bist du dann, wo du doch viel näher am Altar sitzt, Bischof? Wäre ich Busfahrer, wenn ich neben einem Bus stünde, oder Arzt, wenn diese Kirche ein Krankenhaus wäre? Räuber oder Banker, wenn wir uns in einer Bank begegnen würden? Und wenn ich all das wäre, wie lange ist man, was man ist, ändert einen das Leben nicht andauernd? Sofern du auch wirklich lebendig bist, heißt das. Wann also ist man nicht länger Pfarrer oder Verbrecher und wird etwas ganz anderes? Sollte es nicht auch Antworten geben, wenn es diese Fragen gibt? Wann heißt man zum Beispiel Dingdong und wann Schnuffi, und was von beidem ist besser? Denk also daran, dass Fragen manchmal das Leben bedeuten, Antworten aber den Tod, und sei entsprechend vorsichtig, Mann!

Seine Stimme klingt nicht direkt finster, aber doch nach einem Anflug von Düsternis, und in seinem Gesicht drückt sich eine gewisse Kraft aus. In den kantigen Zügen, der gefurchten Stirn, den blauen Augen. Solche Menschen können gefährlich sein, denke ich unwillkürlich.

Du glaubst also, ich sei gefährlich, sagt der Mann.

Ich erschrecke. Ich wollte nicht …, sage ich, aber da wedelt er mich mit einer Handbewegung fort, als wolle er mir über den Mund fahren, mich wegwischen oder auffordern, mich zu verziehen. Ich entschließe mich zu Letzterem, stehe auf, nicke ihm zu. Die alten Dielen knarren, als ich hinausgehe und …

 

… und die alte Kirche verlasse, die nahe der Mündung eines kurzen Fjords steht, von niedrigen Bergen und einer weiten, kühlblauen Bucht weiter draußen umgeben. Die kahlen Berge steigen landeinwärts etwas an und wirken dort auch grüner. Der Friedhof ist offenbar viel älter als die Kirche, denn die ältesten Gräber sind nur noch kaum zu identifizierende Wiesenhöcker und die, die darunterliegen, längst vergessen, aber das grüne Gras fängt den Sonnenschein und leitet ihn zu ihnen nach unten in die Dunkelheit. Vielleicht gibt es doch immer einen Trost.

 

Die jüngsten Gräber liegen südlich der Kirche, und das frischeste, das ich auf meinem Weg über den Friedhof sehe, ist sorgfältig gepflegt. Der Name der Toten auf dem Grabkreuz ist zwar von Vogelkot überdeckt, aber die Inschrift darunter deutet darauf hin, dass sie geliebt wurde: »Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis.« Das gilt nicht unbedingt für ihren Nachbarn, einen gewissen Páll Skúlason vom Hof Oddi, denn sein Grabstein, ein großer, schwerer Uferstein, weist nur ein Zitat von Kierkegaard auf: »Wenn ein ewiges Vergessen allezeit hungrig auf seine Beute lauerte, und es keine Macht gäbe, stark genug, sie ihm zu entreißen – wie leer wäre dann das Leben, wie trostlos!«

 

Dein Fortsein ist Finsternis.

Ewiges Vergessen lauert auf deine Erinnerung.

Wo finden wir Trost?

Selbst die Toten lächeln,und ich bin am Leben

Irgendwer – vielleicht ich – hat einen blauen Volvo so dicht an der hohen Friedhofsmauer geparkt, dass man ihn von drinnen nicht sehen kann. Zu meiner großen Erleichterung ist der Wagen nicht abgeschlossen, doch als ich gerade einsteigen will, sehe ich von dem Betonhaus auf dem Hofhügel etwas oberhalb der Kirche eine Frau auf mich zukommen. Schlank, langes, dunkles, krauses Haar, einen braunen Rucksack nachlässig über die Schulter geworfen. Sie ist nicht allein, denn ein dunkelbraunes Schaf läuft vor ihr her und schnurstracks auf mich zu, schnuppert an meinen Schuhen und springt mich dann mit demselben Eifer an wie ein Hund, sodass ich beinah hintenüberfalle. Aus, Hrefna, ruft die Frau streng, und da lässt das Schaf von mir ab.

Du musst Hrefna entschuldigen, sagt die Frau grinsend, als sie bei mir ankommt. Manchmal führt sie sich so auf. Aber herzlich willkommen! Jesus, ich kann kaum sagen, wie froh ich vorhin war, als ich aus dem Fenster guckte und dich über den Friedhof gehen sah. Froh, aber natürlich auch überrascht. Mit meinem Tod hätte ich eher gerechnet als mit dir. Wann bist du gekommen? Ich habe gar nicht mitgekriegt, dass du zur Kirche gefahren bist, obwohl man so etwas normalerweise mitbekommt; so früh an einem Sonntagmorgen sind kaum Autos unterwegs. Ich nehme an, du bist auf dem Weg zum Hotel, zu Sóley. Die wird Augen machen, wenn ich ihr sage, wer da kommt!

 

Diese Frau kennt mich! Womöglich kann sie mir bei meinem Gedächtnisverlust helfen, mir wenigstens meinen Namen nennen. Das könnte ein paar Türen öffnen.

Aber etwas hält mich zurück. Vielleicht die Worte des Pfarrers in der Kirche, wenn er denn kein Busfahrer und auch nicht der Teufel in Person war: Denk daran, dass Fragen manchmal das Leben bedeuten, Antworten aber den Tod, und sei entsprechend vorsichtig, Mann!

Die Frau sieht mich mit einem Lächeln in ihren großen, dunklen Augen an und wartet anscheinend darauf, dass ich etwas sage, doch da blökt das Schaf und schaut zum Haus, von dem ein schwarz-weißer junger Hund angefegt kommt, die Zunge hängt ihm vor Begeisterung aus dem Maul, er ist so voller Lebensfreude, dass selbst die Toten lächeln. Ich knie mich zu ihm, so brauche ich erst einmal nichts zu sagen. Während ich den Hund kraule, reibt sich Hrefna so fest an mir, dass ich nur mit Müh und Not das Gleichgewicht halten kann. Pfui, sagt die Frau streng zu dem Schaf und bittet mich dann noch einmal um Nachsicht, dieses ungewöhnliche Schaf glaube nämlich, es sei ein Hund.

Es schnuppert ständig überall herum und markiert ein Revier, statt in Ruhe zu grasen und vor Menschen wegzulaufen, wie es sich für ein Schaf ziemt. Aber es kann nichts dafür, es wurde von einer Hündin aufgezogen, die letzten Sommer von einem Ehepaar aus Norwegen überfahren wurde. Das gehört wohl zu dem Preis, den wir für die Touristenschwemme zahlen müssen. Meine arme Snotra, einen besseren Hund und Kameraden kann man sich kaum denken. Die Norweger waren tief bestürzt, das muss ich ihnen lassen, Weihnachten schickten sie eine Karte und ein Stück norwegischen Ziegenkäse, was ja nett ist, mich aber auch immer wieder an Snotra erinnert. Als ob ich vergessen könnte, wie ich sie, übel zugerichtet, am Straßenrand, an den es sie geschleudert hatte, auf die Arme nahm und mit ihr hinters Haus ging, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Snotra sah mich die ganze Zeit an, und ihr Blick war voller Vertrauen und Gewissheit, dass ich ihr helfen würde. Stattdessen habe ich sie erschossen.

Es tut mir leid um deinen Hund, sehr leid, sage ich, ohne nachzudenken und zu überlegen, was ich angemessen dazu sagen könnte. Sehr leid, wiederhole ich nur.

Du warst immer ein großer Hundenarr, sagt die Frau so warm, dass es mir die Kehle zuschnürt. Nachdem es passiert war, konnte ich nicht ohne Hund sein und habe von Eiríkur diese Freude hier bekommen, einen reinrassigen Border Collie, er heißt Cohen. Das hätte meiner Mutter gar nicht gefallen. Snotra hat Hrefna hier gleich als neugeborenes Lämmchen adoptiert. Das war ein schönes Verhältnis, doch als Hrefna ein Jahr alt war, wurde Snotra überfahren. Das arme Schaf stand wochenlang blökend vor dem Haus und verstand nicht, was aus seiner Mutter geworden war. Das blöde Vieh wird geschlachtet, dieses Geblöke hält ja kein Mensch aus, sagte mein Vater manchmal, wenn es gar nicht mehr aufhörte, aber er hat es nicht so gemeint. Er … sie bricht ab, oder ihr bleibt die Stimme weg. Die Sonne steigt höher, es wird wärmer, und die Frau zieht den Reißverschluss ihrer Fleecejacke auf. Darunter trägt sie eine dünne, grüne Bluse, deren oberste Knöpfe offen stehen. Ich erkenne die Ansätze ihrer runden Brüste und schaue weg, als ich sehe, wie die Brustwarzen am Stoff reiben, als sie das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert, und tief unten in mir spüre ich etwas wie Lust oder Traurigkeit. Sollte ich den Unterschied nicht kennen?

Die Frau lacht, ein wenig dunkel. Ach, ich freue mich so, dich zu sehen! Du hattest dich ja förmlich in Luft aufgelöst. Darf ich dich einfach mal in den Arm nehmen? Das ist doch nicht gefährlich, setzt sie hinzu, scheint kurz zu zögern, stellt den Rucksack ab, kommt zu mir und umarmt mich. Sie drückt mich so fest an sich, dass ich ihren warmen, weichen Körper deutlich spüre. Dann lehnt sie sich zurück, vermutlich, um mich besser ansehen zu können, und streicht mir mit der rechten Hand übers Gesicht. Ihre Hand ist so feingliedrig, dass sie an einen Schmetterling erinnert. An einen Schmetterling mit Schwielen allerdings, denn ihre Hände künden von körperlicher Arbeit. Vielleicht habe ich mich bei dieser überraschenden Annäherung etwas versteift, sie spürt es und will die Umarmung lösen, doch da halte ich dagegen und drücke sie fest, sauge ihre Wärme und Weichheit in mich ein, während ich gegen die Tränen kämpfe.

Und ganz sicher bin ich am Leben.

Verlieren die Toten ihre Namen, wenn wirihre Geschichte nicht erzählen; erzähl meine Geschichte,und ich bekomme meinen Namen zurück?

Der Volvo rollt über die schmale Schotterstraße voller Schlaglöcher, die hundert Meter über dem Ufer verläuft, ziemlich gerade, aber mit einigen nicht einsehbaren Hügelkuppen. Rechts und links der Straße nimmt der Bewuchs zu, je weiter ich in den Fjord hineinfahre, der doch länger ist, als es vom Friedhof aus den Anschein hatte.

Ich bin auf dem Weg zu dem Hotel, in dem Sóley »Augen machen« wird, wenn sie mich sieht. Ich weiß allerdings nicht, wo dieses Hotel liegt und wie diese Sóley aussieht. Es dürfte aber nicht schwer sein, es zu finden, der Fjord ist nur dünn besiedelt, und ein größeres Haus sollte leicht zu erkennen sein. Hier leben nicht mehr als drei Dutzend Seelen.

Davon sechs Kinder, hatte die Frau gesagt. Kein gesundes Verhältnis.

 

Sie meinte, sie wolle mich nicht gleich wieder ziehen lassen. Ich habe etwas zu essen im Rucksack, sagte sie, lass uns das schöne Wetter genießen und uns zu Mutter setzen.

Doch statt zum Haus zu gehen, marschierte sie zum Friedhof, und ich folgte ihr. Wie sich herausstellte, war ihre Mutter die Frau mit dem unleserlichen Namen und dem finsteren Fortsein. Vor drei Jahren gestorben. Als sie an dem großen Grabstein mit dem Kierkegaard-Zitat vorbeiging, grüßte die Frau den Nachbarn ihrer Mutter, Páll von Oddi, so unbeschwert, wie man einen alten Bekannten grüßt, zog dann verschiedene essbare Dinge aus ihrem Rucksack, die sie, wie sie sagte, »in aller Eile« eingepackt hatte, und zuletzt eine Decke, die sie auf dem Boden ausbreitete. Darauf stellte sie Teller mit Fladenbrot, Butter, geräuchertem Lammfleisch, vier Stück Blechkuchen, zwei Weingläser und eine Flasche Rotwein, die sie mich zu öffnen bat. Ich ließ mich mit dem Rücken zur Kirche nieder, sie mir gegenüber, nah am Grab. Sie setzte sich in den Schneidersitz, Sonnenlicht spielte auf ihrem dunklen, krausen Haar, und ihre großen, dunklen Augen, umgeben von feinen Lachfältchen, blickten mich so warm an, dass mir wieder ein Kloß in den Hals stieg.

 

Rotwein an einem sonnigen Sonntagvormittag mit einem lange vermissten Freund, so soll man leben, sagte sie. Weißt du, dass meine Mutter diese Ecke des Friedhofs Vaters Lieblingscafé genannt hat? Hier ist man vor Wind geschützt, egal, aus welcher Richtung, und hier haben die beiden gesessen, als ihre Lebenswege sie zusammenführten. Oder als das Leben endlich anfing, wie Mama immer gesagt hat. Du kennst die Geschichte. Ich will dich nicht mit ihr langweilen. Obwohl es eine schöne Geschichte ist.

 

Ich glaube, der Gedächtnisverlust, antwortete ich in meiner Befürchtung, etwas Falsches sagen zu können, ist ein schwarzes Loch, das mitten zwischen den Galaxien lauert, um das Licht auszulöschen, das die Erinnerungen ausstrahlen. Ich kann mich vage an die Geschichte erinnern, aber nicht an die Einzelheiten. Erzähl sie mir! Es ist so schön, wenn du etwas erzählst.

Sie lächelte, beugte sich vor, wischte den Vogelkot vom Grabkreuz ihrer Mutter, und es kam ein Name zum Vorschein: Aldís.

Ihre Mutter heißt also Aldís.

Oder besser hieß, denn sie ist ja tot, und dann heißt man nicht mehr. Der Tod nimmt uns unseren Namen und lässt uns namenlos zurück. Ihr Vater aber heißt Haraldur, er lebt ja noch, und auch wieder nicht.

Hier saßen Mama und Papa vor bald einem halben Jahrhundert, sagt die Frau. Vor fast einem halben Jahrhundert. Als noch mehr am Leben waren als heute.

Sie sieht das Kreuz an, trinkt dann ihr Glas aus, schenkt sich wieder ein und sieht mich an.

Und damit sind wir bei der ersten Geschichte

Der erste Widerstand?

It’s all over now, Baby Blue –ist es Sturheit oder Mutlosigkeit,sich mit seinem Schicksal abzufinden?

Aldís kam hierher in den Norden, um mit ihrem Freund im Schwimmbad auf Krossnes Sex zu haben. Sie war neunzehn, hatte im Frühjahr in Reykjavík Abitur gemacht und sich zum Wintersemester an der Uni eingeschrieben. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, sich länger im Fjord aufzuhalten. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Krossneslaug, das kleine Freibad hundert Kilometer weiter im Norden, ein »betoniertes Schwimmbecken direkt am Meeresufer, 12 × 6 Meter«, war der einzige Grund für ihren Ausflug. Es war ihre Verlobungsreise. Aldís’ Mutter Ólína hatte in ihrem großen Haus in Laugarás eine Feier für sie ausgerichtet, es war wohl das letzte Fest in diesem Haus, Aldís’ Vater war im Herbst zuvor an Krebs gestorben, und das Haus musste verkauft werden.

Das junge Paar hatte gehört, Krossneslaug läge nicht nur einsam und fern jeder menschlichen Ansiedlung unmittelbar am offenen, wogenden Eismeer und werde deshalb manchmal das »Schwimmbad am Ende der Welt« genannt, sondern verfüge auch über magische Kräfte. Also fuhren sie die ganze Strecke in den Norden, acht Stunden über mehr oder weniger holprige Schotterstraßen, nur um sich, vom warmen Wasser des Beckens umspült, direkt im Angesicht der wütenden Kraft des aufgewühlten Eismeers zu lieben. Es sollte eine besondere Art der Weihe sein und zugleich ein Appell oder ein Versprechen an das Schicksal, dass ihr Leben von der Kraft des Meeres erfüllt und von der Wärme der Liebe umflossen sein solle.

Dann platzte unterwegs ein Reifen. Zwei Kilometer südlich von Nes und hundert Kilometer vor Krossnes. Der Wagenheber erwies sich als unbrauchbar.

Andererseits war herrliches Sommerwetter, schwacher Wind, vierzehn Grad warm, knisternd trocken, der Fjord duftete nach Heuernte, die Luft roch nach Meer.

Auf Nes war allerdings niemand zuhause.

 

Haraldurs Mutter war mit dem zweiten Traktor nach Oddi gefahren, um den Heuwagen zu holen, den sie sich mit den Nachbarn teilten, und dazu noch einen der Söhne dort, Halldór oder den kraftstrotzenden Páll, damit sie vor dem Abend noch mit der großen Wiese fertig würden, die Haraldur schon mit dem roten Zetor mähte. Die Türen der neuen Kabine standen bei dem Wetter weit offen, und Bob Dylans Greatest Hits dröhnten in voller Lautstärke aus dem Kassettenrekorder, als das junge Paar aus Reykjavík über die Wiese getrottet kam und durch den Lärm des Heuwenders hindurch einen bekannten Song hörte.

Ein Bauerntölpel, der Dylan hört! Ich dachte, der würde es nicht nördlicher als bis Borgarnes schaffen, geschweige denn bis an diesen Arsch der Welt, hatte Aldís’ Verlobter Jóhannes verdutzt, aber nicht ohne Anerkennung gesagt, während sie dem Bauern beim Heuwenden zusahen. Das Heu war schon so trocken, dass Haraldur das gewendete Heu im Gegenlicht nur mit Mühe vom ungewendeten unterscheiden konnte, aber er genoss es, mit sich und dem gerade einsetzenden It’s all over now, Baby Blue allein zu sein, als er, von den neugierigen Hofhunden umgeben, diese beiden Fremden auf seiner Hauswiese erblickte. An ihrer Kleidung und daran, wie sich der Mann den Hunden gegenüber verhielt, steif und etwas eingeschüchtert durch ihre Neugier und ihr Ungestüm, war leicht abzulesen, dass es sich um Leute aus der Stadt handelte. Haraldur seufzte, wendete und fuhr auf die beiden zu, während Dylan weiter gegen den Lärm des Heuwenders und das raue Motorengeräusch ansang: Leave your stepping stones behind now, something calls for you, forget the dead you’ve left, they will not follow you.

Guter Song, rief Jóhannes, nachdem Haraldur den Heuwender und den Motor abgestellt hatte und aus dem Fahrerhaus ins Gras gesprungen war, schlank, braun gebrannt, in Bluejeans und einem karierten Arbeitshemd, das zuzuknöpfen er offenbar nicht für nötig hielt.

Guter Song.

Er gab darauf keine Antwort und schaute vor sich zu Boden, um seine Neugier zu verbergen. Es kam ja nicht alle Tage vor, dass in Nes Fremde auf der Wiese standen – aus der Hauptstadt noch dazu. Als er näher kam, hob er den Blick und wischte sich beiläufig die Haare aus der Stirn.

Drei Dinge haben mich wahrscheinlich umgehauen, sollte Aldís ihren Töchtern später mehr als einmal erklären: Wie euer Vater aus dem Zetor gesprungen ist, wie er sich die Haare aus den Augen strich, und dann, wie er mich schnell, forsch und ein bisschen dreist ansah, nachdem er unser Auto aufgebockt hatte und der arme Jóhannes sich daranmachte, den Reifen zu wechseln.

In jenem Frühjahr hatte Haraldur seinen Abschluss an der Landwirtschaftsschule in Hvanneyri gemacht und sollte im Lauf der Zeit den Hof auf Nes übernehmen. Wie ihn sein Vater Ari von seinem Vater übernommen hatte, der wiederum von seinem und so ununterbrochen sechs Generationen hindurch. Haraldur, das einzige Kind seiner Eltern, nachdem sein älterer Bruder einige Jahre zuvor auf See ertrunken war, würde die siebte Generation sein. Das stand so sonnenklar fest, dass sie darüber kein Wort zu verlieren brauchten. Doch gut zwei Monate, bevor Aldís und Jóhannes in der Nähe des Hofs der Reifen platzte, hatte Haraldur mit seinen Eltern abends bei Kaffee und Kuchen am Küchentisch gesessen; Ari über seine Schafbuchhaltung gebeugt, wie viele Schafe schon Lämmer bekommen hatten, wie viele noch trächtig waren und bei wie vielen es bald so weit war, Agnes summte über ihren Stricknadeln, einer der Hunde döste unter dem Tisch, im Radio lief leise Am Abend vorgelesen: Maxim Gorkis Die Mutter. Ein normaler Abend in Island auf dem Land, wo alles nach festen Routinen verlief. Solides, beharrliches menschliches Leben, in dem alles seinen Platz hatte, gegen eine schwierige, unbeherrschbare, herausfordernde und doch fruchtbare Natur. Haraldur hatte mit einem Becher langsam kalt werdenden Kaffees in den Händen dagesessen und seine Eltern beobachtet, ihre Ruhe, ihre Abgeklärtheit: Menschen, die sicher geerdet in ihrem Leben ruhten. Sie sind glücklich, hatte er gedacht. Dabei war ihm vorher noch nie in den Sinn gekommen, dieses Wort, Glück, auf seine Eltern zu beziehen. Doch nun sah er, dass sie trotz aller Schläge, die ihnen das Leben versetzt hatte, trotz mühevoller Kämpfe und langer Arbeitstage an dem Ort lebten, den sie liebten. Dass sie sich kein anderes Leben vorstellen konnten und die Gewissheit, dass Haraldur einmal den Hof übernehmen würde, all ihren Mühen Sinn verlieh.

Das war gewissermaßen der Resonanzboden des Daseins.

Haraldur schaute auf den massiven Küchentisch, den sein Großvater vor sechzig Jahren aus Treibholz im Fjord gezimmert hatte. Seine Eltern ahnten nicht, dass er sich in letzter Zeit eingeklemmt fühlte wie in einer Felsspalte, in der er sich nicht rühren konnte. Er hatte gehofft, das Studium in Hvanneyri würde den Großteil seines Bildungshungers stillen und ihn mit seinem vorgezeichneten Lebensweg und der Pflicht gegenüber seinen Eltern, seinem verstorbenen Bruder und ihren Vorfahren versöhnen, dem ununterbrochenen Aufeinanderfolgen von Generationen, die auf dem Friedhof ruhten und ihn schweigend beobachteten. Doch sein Verlangen nach mehr Wissen und sein Wunsch wegzukommen waren im Winter noch gewachsen, und als er im Frühjahr nach Hause zurückgekehrt war, hatte er sich entschlossen, zu sich selbst und seinen Träumen zu stehen, die Universität zu besuchen und nach Möglichkeit ein paar Jahre im Ausland zu leben.

Er brachte es aber nicht über sich, seinen Eltern darüber reinen Wein einzuschenken. Er wusste, dass er seine Mutter damit verletzen und sehr traurig machen würde. Auch sein Vater wäre verletzt, und Haraldur fürchtete, er wäre damit so unzufrieden, dass der Riss zwischen ihnen nie wieder vollständig heilen und dieses Zerwürfnis das Verhältnis zwischen ihnen und nicht zuletzt das Leben seiner Mutter vergiften würde, die dann zwischen den beiden Männern, die sie liebte, stünde. Sie ging ohnehin schon immer gebeugt wie in tiefen Gedanken, sofern sie sich diese Haltung nicht angewöhnt hatte, um nicht größer zu erscheinen als ihr eher klein gewachsener Mann. Von ihr hatte Haraldur sein fröhliches Naturell und seine Begeisterungsfähigkeit, die mehr als dreißig Jahre bäuerlicher Arbeit auf kargem Land und die Monotonie des Landlebens bei ihr ein wenig gedämpft hatten.

Haraldur starrte auf die Tischplatte, hörte seine Mutter stricken und Alle Wege stehen offen von Ellý Vilhjálms mitsummen, das auf die Lesung des Abends gefolgt war. Sein Vater brummte über seiner Buchhaltung etwas vor sich hin. Er war zwar nicht groß, aber so zäh, dass ihn einige Nachbarn in der Gegend untereinander den Ironman nannten.

Alle Wege stehen offen, keiner bestimmt den Kurs.

Stehen wirklich alle Wege offen und damit auch die Möglichkeit, von dem Ort wegzugehen, wo immer man sich aufhält? Das Einzige, was du tun musst, ist …

Er sah auf, als er merkte, dass die Nadeln nicht mehr klapperten und seine Mutter nicht mehr summte; sah auf und begegnete ihrem Blick. Ist alles in Ordnung, Halli, fragte sie so geradezu und offenbar voller Sorge, dass Haraldur klar wurde, dass er sein wachsendes Unbehagen und die Niedergeschlagenheit seit seiner Rückkehr aus Hvanneyri vor ihr nicht hatte verbergen können. Seine Augen wanderten zu seinem Vater, der sich über die Buchhaltung beugte, als wären sie gar nicht vorhanden, das Murmeln jedoch eingestellt hatte. Da legte Haraldur los. Ohne nachzudenken sprudelte es aus ihm heraus, vor Herzklopfen hörte er seine eigenen Worte nicht. Allerdings hatte er sich in den vergangenen Wochen genauestens überlegt, wie er ihnen die schlimme Nachricht am schonendsten beibringen könnte, und er wollte es ihnen so erklären, dass sie verstanden, wie schwer es auch für ihn war. Doch wisse er inzwischen …

 

… dass er als Bauer einfach unglücklich werden würde. Ich liebe unser Land, den Grund und Boden, aber ich kann mir nicht vorstellen, den Hof zu übernehmen. Der Gedanke ist mir unmöglich. Ich möchte mir Wissen aneignen. Ich bin hungrig nach Bildung. Ich kann mir kein Leben vorstellen, ohne zunächst Bildung zu erlangen. Ich möchte gern glücklich werden. Vielleicht kann ich den Hof in zwanzig Jahren übernehmen. Ihr seid doch noch gar nicht so alt. Bestimmt sogar. Ich werde euch nicht enttäuschen. Aber ich möchte so schrecklich gern glücklich werden, und ich möchte mehr lernen. Ich muss weg von hier. Vergebt mir.

 

Auf seine Worte folgte ein langes Schweigen, nichts war zu hören bis auf das Murmeln im Radio. Tja, Junge, das kommt nun ziemlich unerwartet, sagte seine Mutter schließlich und legte die geschundenen Hände auf den Tisch, als müsse sie sich abstützen. Haraldurs Vater blieb weiterhin stumm über seine Bücher gebeugt, stopfte aber langsam seine Pfeife, zündete sie an und rauchte mit halb geschlossenen Augen.

Glück, sprach Ari nach, als wäre er sich des Wortes nicht sicher und hätte es noch nie in den Mund genommen. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sah zu, wie die Glut darin erlosch. Dann klopfte er sie im Aschenbecher aus, stand auf, steckte Pfeife, Tabakbeutel und Streichhölzer in die Tasche und ordnete an, ohne seinen Sohn anzusehen: Du löst mich um drei Uhr ab. Damit ging er zu seinen trächtigen Schafen.

Sechzig Schafe, die noch nicht abgelammt hatten. Das Lammen hatte sich aufgrund des nasskalten Frühjahrs verzögert, sie hatten die Tiere im Stall halten und rund um die Uhr beobachten müssen. Auf das Leben achtgeben. Seine Mutter deckte den Tisch ab, er sah, dass ihre Hände zitterten. Es wird sich eine Lösung finden, sagte sie, als wolle sie sich Mut zusprechen, doch ihre Stimme hatte einen Knacks. Dann vergingen die Tage.

Der Winter zog sich endlich zurück.

Anfang Juni düngten sie die Hauswiese. Haraldur fuhr den Traktor, damals noch ohne Kabine, Ari leerte die Säcke in den Düngerstreuer. Über die Angelegenheit war nicht wieder geredet worden; als ob der Vater Haraldurs Worte durch Schweigen auslöschen wollte. So tun, als wären sie nie ausgesprochen worden. Manches ist auch so dumm und verantwortungslos, dass man kein Wort darüber verliert, bis sich das Schweigen darüberlegt.

Haraldur wusste, dass es ihm zukam, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen, sofern er die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen und sich in sein Schicksal fügen wollte. Es ist gut, Träume zu haben, doch auf der anderen Seite trägt auch jeder seine Verantwortung, hat seine Pflichten.

Der Zweifel aber ist da; und was ist es, Sturheit oder Ängstlichkeit, sich mit seinem Schicksal abzufinden? Zeugt das von Verantwortungsgefühl oder von Feigheit?

Haraldur tuckerte auf dem offenen Zetor eine Runde nach der anderen über die Wiese, während sein Denken einen unklaren bis verzweifelten Kreis nach dem anderen drehte. Sein Vater war an diesem Tag außergewöhnlich redselig gewesen, aber es wurde auch endlich Sommer. Sie sahen die alten Schneefelder zusammenschmelzen, unter dem Schnee kam die Erde zum Vorschein, nach einem langen, schweren Winter und einem wechselhaften Frühjahr kehrte das Leben zurück. Haraldur setzte mit leerem Düngerstreuer rückwärts an den Stall, wo sein Vater mit vollen Düngersäcken auf ihn wartete.

Jetzt ist die Gelegenheit, dachte Haraldur, als er vom Traktor sprang und nach hinten ging. Ari bückte sich nach dem ersten Sack, richtete sich mühelos auf und kippte den Inhalt in den Streuer. Haraldur räusperte sich. Sein Vater warf ihm einen schnellen Blick zu, lächelte dabei fast und bückte sich nach dem zweiten Sack. Papa, sagte er und erschrak, wie entschlossen, nahezu schneidend seine Stimme klang. Er räusperte sich noch einmal und versuchte, einen milderen Ton anzuschlagen. Papa, das, was ich euch neulich gesagt habe … das bedrückt mich sehr, Papa, und es tut mir unendlich leid, wirklich, ich fühle mich unsagbar schlecht deswegen, aber ich fürchte, ich kann es nicht … Er brach ab, weil er den Eindruck hatte, dass sein Vater zusammenklappte. Papa, fragte er unsicher, Papa, ist alles in Ordnung mit dir?

Sein Vater antwortete nicht und sank auf die Säcke, als müsse er sich ein wenig ausruhen, vielleicht sogar kurz schlafen – die Dummheit seines Sohns durch Schlaf überwinden.

 

Er stand nie wieder auf, sondern musste zehn Tage später auf dem Friedhof beigesetzt werden. Am Tag darauf bestellte Haraldur die Kabine für den Zetor.

Wohin gehst du, wenn du das Denken eingestellt hast?Zwanzig Gedichte auf die Liebe und einsauf die Frau des Leutnants

Jóhannes zieht den Ersatzreifen auf, verstaut den geplatzten Reifen im Kofferraum, das Pärchen verabschiedet sich vom Bauern und setzt seine Fahrt fort. Reichlich zwei Stunden Fahrt nach Norden zu jenem Schwimmbad. Über Hochheiden und durch einen Fjord, in dem die Straße manchmal wie ein Eindringling an einem Steilhang hängt. Sie lieben sich in dem Schwimmbecken gleich neben dem schweren, saugenden Eismeer. Jóhannes brüllt, als er in Aldís kommt, die sich am Beckenrand abstützt und die ganze Zeit an diesen Bauern denkt.

Am Tag darauf fahren sie in die Stadt zurück. Ein paar Tage später nimmt sie den Überlandbus nach Hólmavík. Es ist Anfang September, Mitte der Siebzigerjahre.

 

Natürlich wusste Aldís’ Mutter Ólína, was zu tun war, als ihre Tochter völlig durcheinander und ziemlich außer sich von ihrer Verlobungsreise zurückkehrte, sich in ihrem Zimmer einschloss, Jóhannes nur selten zurückrief, wenn er sich meldete, kaum etwas aß und am vierten Tag heulend auf dem Schoß ihrer Mutter zusammensackte.

Erst weinte sie, dann brach es aus ihr heraus, anfangs zusammenhanglos, dann setzte sich das Bild zusammen: Sie könne nicht aufhören, an diesen Bauern zu denken, von dem sie gar nichts wisse. Außer dass er Haraldur heiße, Dylan höre und unglaublich blaue Augen habe. Dabei habe sie geglaubt, mit Jóhannes glücklich zu sein, sich auf ein Leben mit ihm zu freuen und darauf, ein schönes Haus zu haben, drei Kinder zu bekommen, weite Reisen zu unternehmen. Nun aber sei ihr das von einem Moment auf den anderen alles genommen, und sie stehe am Rand eines Abgrunds und würde nichts lieber tun, als sich hinabzustürzen.

Ich muss verrückt sein, Mama. Das Einzige, woran ich denke, ist, wie er mich angesehen hat, mit diesen Augen. Das Einzige, was ich überlege, ist, dahin zurückzufahren und … Aber das ist doch verrückt. Wozu sollte ich das tun? Ich würde mich doch bloß bis auf die Knochen blamieren. Außerdem ist er auch noch Bauer. Und das Letzte, was ich mir vorstellen kann, wäre ein Leben da am Arsch der Welt. Trotzdem kann ich an nichts anderes denken. Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ich habe mich noch nie so elend gefühlt. Aber auch noch nie so gut.

Selbstverständlich wusste Ólína, was sie zu tun hatte: an Aldís’ Verantwortungsgefühl zu appellieren, daran, wie glücklich sie sich schätzen müsse, mit einem finanziell so gut gestellten, netten und verlässlichen jungen Mann wie Jóhannes verlobt zu sein, der sie liebe und alles für sie tun würde, und anschließend mit ihr nach New York zu fliegen, wo Aldís’ Bruder studierte; die Großstadt würde ihr die Flausen mit diesem Einödbauern schon austreiben.

In den vorangegangenen Wochen hatte Ólína einen Umzug in eine kleinere Wohnung vorbereitet und im Zuge dessen alles durchsehen müssen, was sich in den dreißig Jahren ihrer Ehe so angesammelt hatte. Sie hatte Fotos aussortiert, Briefe, Papiere, Kleider, Bücher … Wer aus irgendeinem Grund sein Leben demontieren muss, sucht nach Erinnerungen, durchlebt sein Leben noch einmal und wägt es ab. Ólína erkannte, dass sie ein gutes Leben geführt hatte, ein beneidenswertes sogar, doch dass sie ihren Mann Þorvaldur, den Vater ihrer Kinder, nie geliebt hatte.

Sie demontierte ihr Haus, schraubte ihre Vergangenheit auseinander, vermisste manchmal Þorvaldurs Gesellschaft. Sie hat ein gutes Leben gehabt und doch das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein. Sie schämt sich dafür, sich auf ein Leben ohne ihn zu freuen, und dann weint Aldís in ihren Armen.

Sie weint und brabbelt wie von Sinnen von irgendeinem Bauern, der sie mit seinen bemerkenswert blauen Augen angesehen und dadurch alles verändert haben soll. Sie und Jóhannes hätten ihre Reise fortgesetzt, er sei so fröhlich gewesen, sie aber wie paralysiert, sie habe sich antworten und lächeln sehen, wenn sie es für angebracht hielt. Sie seien zu dem Schwimmbad gekommen, seien dort zusammen gewesen … und, Mama, da wusste ich, dass ich ihn nicht liebe. Ich habe Jóhannes unheimlich gern, er ist so lieb und tut alles für mich, aber ich kann ihn nicht lieben. Ich bin schrecklich. Vielleicht habe ich geglaubt, ich müsse ihn nicht unbedingt heiß und innig lieben. Ja, vielleicht dachte ich, zu viel Liebe würde mich verwundbar machen, verantwortungslos, und mich zu sehr verwirren. Aber sieh mich jetzt an, Mama! Es ist so blöd. Es ist vollkommen idiotisch. Es ist fünf Tage her, und ich kann kaum atmen. Ist das Liebe? Ist sie so verrückt, blind, realitätsfremd? Glaubt sie wirklich, ich würde mir etwas aus einem Bauern in einem hässlichen Fjord am Ende der Welt machen? Es ist dermaßen absurd. Ich glaube, ich muss wieder hinfahren.

 

Und anstatt die völlig konfuse Aldís, die offenbar nicht in der Lage ist, einen klaren Gedanken zu fassen, zur Vernunft zu bringen und dann Flugtickets nach New York zu besorgen, begleitet Ólína sie zwei Tage später in aller Frühe zum Busbahnhof.

Du sollst die Chance haben, die andere Frauen nie bekommen haben oder die zu ergreifen sie nie den Mut aufbrachten, nämlich deinen Lebensweg selbst zu bestimmen. Fahr in den Norden und schau, was dich da erwartet! Du kannst jederzeit zurückkommen. Vielleicht stellst du ja fest, dass alles nur ein dummer Traum war, auch das ist in Ordnung. Man lernt aus seinen Fehlern. Und man muss erst einmal weggehen, um zurückkommen zu können.

Sie gab Aldís etwas Geld und zwei Bücher, die sie neulich in ihrem Bücherklub gelesen hatte. Bücher, die sie bei ihren Umzugsvorbereitungen irgendwie gerührt und zum Überdenken ihres eigenen Lebens gebracht hatten. Es war eine Gedichtsammlung von Pablo Neruda, Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung, und der relativ neue Roman eines jungen englischen Autors namens John Fowles, Die Geliebte des französischen Leutnants. An diesem Morgen regnete es, und Ólína stand dicht an der Wand des Busbahnhofs, eine Hand auf ihr Herz gelegt, mit der anderen warf sie ihrer Tochter eine Kusshand zu, als der Bus abfuhr. Dem Ungewissen entgegen.

 

Die Fahrt dauerte ewig. Viel länger als die Fahrt im Sommer, und die meiste Zeit regnete es so heftig, dass die Landschaft und mit ihr die Welt im Regen unterging. Die Straße schlängelte sich schmal dahin, der Bus gab unterwegs vor Anstrengung an den Steigungen einige Male fast den Geist auf. Einerseits wünschte sich Aldís heiß und innig, der Bus möge abheben und sie schnell an ihren Bestimmungsort fliegen, dann wieder wäre es ihr lieber gewesen, wenn die Fahrt nie geendet hätte und die Ewigkeit diese Busfahrt mit Fowles’ Roman und Nerudas Gedichten an ihrer Seite gewesen wäre.

Doch jede Fahrt endet einmal, und es ging schon sehr auf fünf Uhr zu, als sie bei acht Grad in schneidend kaltem Wind auf dem Platz vor dem Genossenschaftsladen in Hólmavík stand. Im Hrútafjörður war es vorübergehend aufgeklart, doch über Hólmavík lagen die Wolken schwer wie Bleiplatten, das Meer war aufgewühlt, kühl, die Leute verdrossen, schweigsam, würdigten sie keines Blicks.

An diesem Ort hätte Neruda niemals ein Gedicht über Liebe und Verzweiflung schreiben können. Vermutlich wäre er lediglich depressiv geworden und hätte keinen einzigen Vers zu Papier gebracht, außer vielleicht über Fische, Schafe, Rheuma, graue Monotonie und Schnaps.

Aldís zog die Nase hoch, schnäuzte sich, suchte Zuflucht im Imbiss des Ladens, wo sie einen Hotdog bestellte, aber gar keinen Hunger verspürte und das Würstchen nach dem ersten Bissen in die Tonne warf. Das Brötchen lag auf dem Rücken, schien in Tränen ausbrechen zu wollen. Neruda hat nie ein Gedicht über ein weinendes Hotdog-Brötchen geschrieben.

Aldís hatte versprochen, sich nach ihrer Ankunft in Hólmavík gleich zuhause zu melden, doch dazu musste sie erst die Post finden, die einzige Möglichkeit, nach Reykjavík zu telefonieren. Sofern sie nicht geschlossen war. Und was sollte sie ihrer Mutter sagen? Es hatte alles so einfach gewirkt, als sie ihre Fahrt planten, ihre Mutter war geradezu enthusiastisch, redete, als würde Aldís zu einem wunderbaren Abenteuer aufbrechen, und meinte, sie würde sie beneiden.

Ein Abenteuer?

Sie betrachtete das kühlblaue Meer, die grauen Häuser, den Staub, den der heftige Wind aufwirbelte. Dieser Ort war hässlich. Hier gab es nichts Schönes. Wie war sie nur darauf gekommen, an diesen Ort zu fahren? Wie konnte ihre Mutter ihr nur erlauben, den Bus in dieses Elend zu nehmen? Ach, wenn doch jetzt bloß Jóhannes mit seinem Toyota hier aufkreuzte, um sie abzuholen. Wie hatte sie ihn nur verlassen können, sollte sie ihn anrufen?

Sie schloss die Augen, holte tief Luft, schalt sich eine dumme Pute. Mit geschlossenen Augen dachte sie an den Bauern, wie er von seinem Traktor gesprungen war, wie er sich die Haare aus der Stirn gewischt und sie angesehen hatte. Sie schlug die Augen wieder auf und war bereit. Das Postamt suchen, zuhause anrufen. Was sie sagen sollte, wusste sie allerdings nicht. Sie wollte ihrer Mutter keine Sorgen oder gar eine Enttäuschung bereiten.

Und wie sollte sie von diesem verdammten Nest wegkommen, zu diesem Kap Weltende, Ystanes?

Ach, du bittest einfach jemanden, dich mitzunehmen, hatte ihre Mutter gesagt, keiner kann einer so hübschen jungen Frau diesen Gefallen abschlagen.

Aldís sah sich um, entdeckte aber niemanden, der sich dafür erwärmen könnte, einer »hübschen jungen Frau« einen Gefallen zu tun. Zwei junge Kerle kamen mit ein paar Kleinigkeiten aus dem Laden, stiegen in einen flammend roten Willys, preschten mit durchdrehenden Reifen los und verschwanden. Zurück blieben lediglich der Wind, das kalte Meer, die verschlafenen Häuser und ein krummer Bauer, der seinen blauen Land Rover betankte, sowie das pummelige Mädchen in einer viel zu engen, braunen Bluse an der Kasse, das Aldís anfangs mit sichtlicher Neugier beobachtet, sich dann aber in eine Illustrierte vertieft hatte und nun mit einem Bonbon im Mund den Klatsch über Promis studierte. Aldís ging zu ihr, musste sich aber zwei Mal räuspern, um sie von ihrer Zeitschrift loszueisen und sich nach der Post zu erkundigen.

Das Mädchen ließ sich Zeit, mochte vielleicht nicht von seinem Karamellbonbon lassen, an dem es eifrig lutschte, um an den süßen Geschmack zu kommen. Dann seufzte es genervt, nahm das Bonbonpapier und wickelte das halb gelutschte Ding sorgfältig ein. Die Hände wischte sie an der Bluse ab, kam um die Theke und bemerkte: Echt cooler Mantel. Sie fasste Aldís am Ellbogen. Und wie weich er ist! Guck, sie zeigte auf die Häuser, da ist die Post, die schließt aber gleich, du musst dich beeilen. Ich habe dich hier noch nie gesehen. Kommst du aus Reykjavík? Hast du Verwandtschaft hier? Holt dich jemand ab? Ich meine, du fährst doch nicht etwa raus aufs Land, das geht nicht, ich meine, nicht in diesem Mantel, ich könnte ihn für dich verwahren, ha, ha, ha! Ist alles okay mit dir?

Über die unerwartete Wärme, die aus dem Redeschwall des Mädchens strömte, wären Aldís fast die Tränen gekommen, aber sie konnte sich beherrschen und halbwegs vernünftig erklären, dass sie zuhause, ja, in Reykjavík, anrufen wolle und anschließend zu diesem Hof auf Ystanes müsse. Ob das Mädchen wisse, wie sie da hinkommen könne.

Nach Ystanes willst du? Zu Haraldur? Hätte ich mir ja denken können, dass der sich eine in so einem feinen Mantel angelt. Ich hätte ihn ja längst gebumst, wenn ich nicht einen festen Freund hätte. Bist du sicher, dass ich den Mantel nicht für dich verwahren soll? Ha, ha, ha, ich foppe dich nur. Aber du hast Glück, denn gerade ist es ganz einfach, da hinzukommen. Siehst du den Typen da an der Zapfsäule, der gerade seine Karre und die beiden Kanister vollmacht? Das ist nämlich der Skúli von Oddi. Oddi ist nicht weit von Nes, erklärte sie, als sie Aldís’ verständnisloses Gesicht sah. Der nimmt dich sicher mit. Der hat so viel Grips in der Birne, dass man meinen könnte, er wäre auf der Uni gewesen. Ist aber trotzdem ein netter Kerl. Bestimmt sitzt seine Frau Hafrún mit im Auto. Die beiden sind immer zusammen, und sie ist eine Seele von Frau.

Zögerlich ging Aldís über die Freifläche. Der Bauer sah sie auf sich zukommen, nahm die Zapfpistole aus dem zweiten Kanister und richtete sich auf. Groß, hager, harte Gesichtszüge. Eindringliche graue Augen schienen sich in Aldís hineinzubohren und sie bis auf den Grund zu durchschauen. Sie betrachtete seine großen Hände, die Hände eines Mannes, der hart arbeitete, und Angst lief ihr den Rücken hinab. Einem solchen Mann konnte sie wohl kaum erklären, dass sie acht Stunden mit dem Bus gefahren war, nur um die Augen des Bauern auf Nes wiederzusehen. Es kam ihr so unglaublich albern vor. Die Leute in der Gegend würden noch jahrelang über sie lachen. Das konnte ihr natürlich egal sein, denn sie würde den nächsten Bus zurück in die Stadt nehmen und nie wiederkommen.

Kann ich dir helfen, fragte der Bauer, und Aldís bemerkte, dass der Abstand zwischen seinen Augen enorm breit war. Ob er von der Welt mehr sieht als andere, dachte sie, blickte zu Boden, wollte eigentlich ihre kleine Tasche absetzen, stellte aber fest, dass sie mit ihren feinen Lederstiefeln mitten in einer Pfütze stand. Mist, dachte sie, blickte auf, sah eine Frau mit grau meliertem schwarzem Haar mit einem Paket unter dem Arm aus der Post kommen. Der Bauer folgte Aldís’ Blick. Da sind ja Haraldurs Platten, sagte er. Ja, das sind sie, bestätigte die Frau, das wird den Jungen freuen. Und wen haben wir hier, fragte sie und sah Aldís an. Tja, sagte der Bauer und kratzte sich im Nacken, das wollte ich gerade herausfinden, war aber nicht sehr erfolgreich. Ich schätze, das ist eher eine Aufgabe für dich.

Die Frau öffnete die Hecktür des Land Rovers, legte das Paket hinein und ging dann zu Aldís, die fast einen Kopf größer war als sie. Willkommen, meine Liebe, sagte sie und streckte die Hand vor. Sie war warm, kräftig und mit Schwielen besetzt, stellte Aldís fest, als sie sie ergriff. Ich bin Hafrún, und der Kerl da ist mein Mann Skúli. Wie können wir einer so jungen, hübschen und vornehmen Frau behilflich sein?

Wie können wir behilflich sein … Die Formulierung, der feste Händedruck, die steingrauen, warmen Augen der Frau bewirkten etwas in Aldís, der Knoten in ihrem Hals löste sich, und sie erklärte, sie sei mit dem Bus gekommen, kenne aber niemanden und müsse eigentlich zu einem bestimmten Hof kommen, der Ystanes heiße. Oder auch einfach nur Nes, jedenfalls hat das Mädchen an der Kasse ihn so genannt, wenn ich das richtig verstanden habe. Jedenfalls, nun ja, sie müsse eben raus zu diesem Nes. Oder sagt man hier im Norden nach Ystanes? Ich weiß nicht, ob man hier hin, hinaus, hinein oder zu einem Hof fährt. Ich habe keine Ahnung, wie man hier Richtungen bezeichnet. Ich kenne mich nämlich kein bisschen aus. Bin nur ein einziges Mal in der Gegend gewesen. Und eigentlich auch nicht so richtig. Aber zuallererst muss ich noch von der Post aus in Reykjavík anrufen. Also zuhause, bei meiner Mutter.

Das Paar hörte sich schweigend an, was da so zusammenhanglos aus ihr heraussprudelte. Ist ja kein Problem, dass wir dich mitnehmen, sagte Hafrún danach. Allerdings musst du dann zwischen uns sitzen. Hinten ist alles voller Kartons, wie immer, wenn wir zum Einkaufen im Ort waren.

Sie warteten, während Aldís zur Post ging und ein Telefongespräch in die Hauptstadt anmeldete, dann hatte Aldís ihre Mutter sofort am Apparat. Es geht alles gut, Mama, sagte sie schnell. Ich bin in Hólmavík, und jemand nimmt mich mit hinaus zu dem Hof. Ich melde mich wieder, setzte sie noch hinzu und beendete dann das Gespräch, bevor ihr die Tränen kamen.

 

Dann fuhren sie aus dem Ort.

Hafrún schaltete das Radio ein, Haukur Morthens sang Einar Markans Fyrir átta árum mit dem Text von Tómas Guðmundsson, der besagt, wie sich das Leben in trauriges Bedauern verwandelt, wenn du die Gelegenheit, die sich dir bietet, ungenutzt verstreichen lässt.

Schönes Lied, sagte Hafrún, bloß ein bisschen traurig, nicht? Aber können wir nicht auf die eine oder andere Weise auch ein wenig Traurigkeit vertragen? Das Dasein hat so viele Zimmer, und wir kennen nur die wenigsten davon. Viel Gepäck hast du nicht gerade. Ich wusste gar nicht, dass sich Haraldur und Agnes eine Haushaltshilfe zulegen wollen. Aber ich bin froh, dass sie es tun. Sie können wirklich eine gebrauchen. Es war ein so großer Schlag, als Ari im Frühjahr gestorben ist, völlig überraschend, er war ja noch keine sechzig und nie krank. Wir haben uns, offen gesagt, Sorgen um die beiden gemacht, besonders um Haraldur, dem geht es nicht gut, er fühlt sich nicht wohl mit … Ach, was rede ich denn da alles? Sag ihm bitte nichts davon, er mag es nicht, bemitleidet zu werden, der gute Junge.

Ich habe nur die kleine Tasche bei mir, weil ich nicht vorhabe zu bleiben. Und ich bin auch keine Haushälterin, sagte Aldís. Ich habe in Reykjavík mein Abitur gemacht und weiß gar nicht, ob ich richtig arbeiten kann, jedenfalls nicht in der Landwirtschaft.

Was willst du dann bei Haraldur auf Nes, meine Gute?

Das weiß ich nicht. Mir scheint, ich habe das Denken eingestellt.

Fährt man raus nach Nes, wenn man nicht denkt, erwiderte die Bäuerin.

Ich glaube, ich liebe den Bauern da, diesen Haraldur. Ihr müsst entschuldigen, normalerweise rede ich wirklich nicht solches Zeug.

Ich finde, sagte Hafrún, das ist ein voll und ganz berechtigter Grund für einen Besuch. Auch wenn man nicht mehr denkt und nicht arbeiten kann. Ich wusste nur gar nicht, dass Haraldur eine Freundin hat. Das ist ja eine schöne Neuigkeit.

Darauf Aldís: Er weiß kaum, dass es mich gibt. Er hat mich nur ein einziges Mal angesehen.

Hafrún: Und er rechnet überhaupt nicht mit deinem Kommen?

Aldís: Ich bin mit dem Bus gefahren. Mein Verlobter hat gesagt, er würde sterben, wenn ich ihn verlasse. Und wenn ich unsere Verlobung löse. Aber meine Mutter hat mich zu der Fahrt hierher ermutigt. Sie meinte, man müsse wegfahren, um zurückkommen zu können. Ich glaube, sie wollte damit sagen, dass man eine Gelegenheit beim Schopf packen solle. Wie gerade in dem Lied.

Hafrún: Deine Mutter scheint sich auszukennen.

Aldís: Ich weiß aber nicht, ob ich mich noch auskenne. Ich fühle mich wie betäubt, so als hätte ich komplett die Kontrolle verloren. Meine Mutter hat mir für die Busfahrt zwei Bücher mitgegeben, einen englischen Roman und Gedichte aus Südamerika über Liebe und Verzweiflung.

Hafrún: Für diese langen und ermüdenden Fahrten mit dem Bus braucht man unbedingt etwas zu lesen. Aber bist du nun mit einem anderen verlobt?

Aldís: Nein, nicht mehr. »Ex-Verlobter« hätte ich besser sagen sollen. Ich habe den Ring bei meiner Mutter gelassen, zusammen mit einem Brief an ihn, in dem ich versucht habe, es ihm zu erklären, und ihn um Verzeihung bitte.

Skúli: Und du hast keine Angst, dass er sich umbringen könnte?

Aldís: Nein, er kann Chaos und Ungeplantes nicht ausstehen.

Hafrún: Und Haraldur hat dich erst ein Mal gesehen?

Aldís: Ich weiß.

Hafrún: Was weißt du?

Aldís: Dass es sich anhört, als wäre ich eine hysterische Idiotin. Wahrscheinlich bin ich das auch. Aber er hat mich auf eine Weise angesehen, die alles verändert hat. Ich habe seitdem nur noch an ihn denken können. Dabei kenne ich ihn überhaupt nicht. Er hat so blaue Augen. Ja, sicher, er ist Bauer, und ich kann kaum ein Schaf von einer Kuh unterscheiden. Ich denke, ihr werdet sagen, ich hätte meine Hände noch nie unter kaltes Wasser gehalten. Genauso kann man sagen, ich hätte mir noch nie meine Kleidung schmutzig gemacht. Ich war noch nie in einem Schafstall und habe eine Heidenangst, ich könnte von dem Gestank in Ohnmacht fallen. Von so jemandem könnt ihr kaum eine hohe Meinung haben. Entschuldigt, normalerweise rede ich nicht so dummes Zeug daher. Man kann ja glauben, ich wäre nicht gut erzogen worden.

Hafrún: Ach, darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Liebe und Vernunft haben sich wohl selten gut vertragen. Es wäre besser, wenn es anders wäre. Doch dann müssten wir uns Sorgen um die Menschen machen. Besonders die Jungen brauchen sich nicht immer an die Vernunft zu halten. Überlass es uns Älteren, vernünftig sein zu wollen. Wenn ihr jungen Leute nie etwas Unvernünftiges tut, stirbt das Leben doch vor Langeweile.

Skúli: Soweit ich weiß, ist an der Schule noch eine Lehrerstelle für das kommende Schuljahr zu besetzen. Falls du Haraldurs Blick irgendwie missverstanden haben solltest oder falls ihr Zeit braucht, bis sich alles findet, denn manchmal brauchen die Dinge Zeit, um sich in die richtige Richtung zu entwickeln, dann sagen wir doch, du wärst die neue Lehrerin. Manchmal hört man in dieser Gemeinde auf unser Wort, weshalb, weiß ich auch nicht. Aber du hast Abitur und bist somit in der Lage zu unterrichten. Und unser Fjord kann eine Frau wie dich gut gebrauchen.

Aldís: Was für eine Frau bin ich denn?

Skúli: Eine, die bereit ist, für einen einzigen Blick alles aufzugeben. Solange es solche Menschen gibt, stagniert und erstarrt das Leben nicht.

Hat dir schon mal jemand gesagt,was für unglaublich blaue Augen du hast?

Haraldur karrt gerade mit dem Heuwagen Treibholz vom Strand zum großen Geräteschuppen, um es den Winter über trocknen zu lassen, als Aldís zusammen mit dem Ehepaar von Oddi auf den Hof fährt. Die beiden verschwinden schnell auf einen Kaffee zu Haraldurs Mutter ins Haus und überlassen es dem Schicksal, sich um die beiden jungen Menschen zu kümmern.

Haraldur kommt im Zetor von der Landzunge heraufgetuckert, die Kabinentüren wieder weit offen, und der junge kanadische Sänger Leonard Cohen singt von seiner ersten Platte: I showed my heart to the doctor, he said I’d just have to quit, then he wrote himself a prescription, and your name was mentioned in it. Haraldur biegt auf den Platz vor dem Hof, sieht Aldís an der hohen Kirchenwand stehen, setzt den großen Hänger rückwärts an den Schuppen, stellt den Motor und Cohen ab und steigt vom Traktor.

Wieder einen Platten, fragt er.

Sie trägt ihren schicken Mantel. Wahrscheinlich ist in der Gegend noch nie jemand in einem solchen Mantel gesehen worden oder in so hohen, schwarzen Stiefeln.

Wieder ein geplatzter Reifen?

Sie beißt sich auf die Lippe, ihr Herz klopft so heftig, dass es wehtut. Vielleicht war alles nur ein dummes, demütigendes Missverständnis, dieser Blick und was sie daraus in dem Bauern gesehen hat, einen gewissen unbekümmerten Wagemut und Trauer. Vielleicht hatte er sie bloß ganz beiläufig angesehen, wie man es so macht, wenn man mit seinen Gedanken woanders ist. Oder vielleicht hatte er sie auch mit einer gewissen Lüsternheit gemustert, war so ein Bauernrambo, der nur im Kopf hat, wie viel Heu er einfährt, wie es seinen Schafen geht und welchen Preis er für seine Lämmer bekommt, und der sich nur ausgemalt hatte, wie er sie gleich an der Kirchenwand von hinten nageln könnte, wie er ihren Rock hochschieben, ihr befehlen würde, sich auf alle viere zu knien, und sie dann von hinten rammeln würde wie ein Schaf. Vielleicht waren seine Augen doch gar nicht so blau, wie sie gedacht hatte.