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Weltliteratur & Kultmusik: Über Zuflucht in düsteren Zeiten Ein Schriftsteller trifft in einem Londoner Park den alten Paul McCartney, der dort Schutz sucht vor der Sonne, der Hitze, dem Ruhm. Gleich spricht er ihn an, sagt sich der Mann, doch die Erinnerung funkt ihm dazwischen: Da wächst er in den Siebzigern ohne Mutter in Reykjavík auf, wo die Trauer alle Gipfel des Landes überragt. Er flüchtet sich ins Buch der Bücher, findet aber nur einen jähzornigen Gott, so fehlbar wie der trinkende Vater. Über die Jahre wird er selbst zum Schreibenden. Denn was, wenn nicht die Literatur, bringt das Licht der Tage zurück, und mit ihm all die, die wir liebten? »Dies ist ein Buch über Traurigkeit, Sehnsucht und Einsamkeit, aber auch über die andere Seite des Würfels, nämlich die Liebe.« RÚV »›Mein gelbes U-Boot‹ erfasst die Essenz unserer Existenzen, die miteinander verbunden und doch wunderbar reich in ihrer Einzigartigkeit sind.« Le Point »Der Isländer erinnert vor allem an einen Iren: James Joyce.« L'express »Stefánssons romantische Meisterschaft ist hier auf ihrem Höhepunkt.« Livres Hebdo
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum ePUB
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((bei fremdsprachigem Autor:))
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig
Die isländische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Guli kafbáturinn bei Benedikt, Reykjavík. Auf Wunsch des Autors wurden einige Passagen gegenüber dieser Ausgabe geändert.
© Jón Kalman Stefánsson, 2022
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Covergestaltung: Cornelia Niere, München, nach einem Entwurf von Christian Bourgois Editeur
Coverabbildung: Alamy Stock Photo (Mark Bourdillon; graham whitby boot)
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Du darfst dich anschnallen
–
Gott wäre nie an die Beatles herangekommen
–
Als Spaltung und Unfrieden aufkamen
Engelsglocken und Gottes Fluch
Ein paar Worte zum Trabant, dem Todund zahllosen Möglichkeiten
McCartney mit dem ältesten Gedichtder Welt in Versuchung geführt
Helden des Himmels?
Von der Ewigkeit, einer karierten Thermoskanneund der Größe von Nägeln
Ein toter Dichter ruft mich – Manchmal braucht man nur eine Schaufel
Aus einem alten Gedicht aus Mesopotamien,gedichtet wohl zwischen 2600 und 2300 vor Christusauf Sumerisch, Autor unbekannt, frei übersetzt
Das ist die Sachlage:Sie starben immer am Leben, und dennoch leben wir
Gibt es womöglich zwei Weltenund somit zwei Götter?
Vielleicht erinnere ich michan Dinge, die es nie gab
Was dem Himmel näher ist
Der Liebe sind Tatsachen völlig egal,und darum war es schön zu leben
–
Manche Augen sind wieHochlandnebel Ende August
Was treibt er so?Tja, was kann man machen, wennuns Erinnerungen aus der Vergangenheit rufen?
Unglaublich, wie es regnet
Über drei Waisen und das,was man mit in die Kiste nimmt
Die Liebe und jene massigen, dunklen Hände
Weiß nicht, was verwunderlicher ist,der Mensch oder das Leben
Wie kann ich denn tot sein,solange du mich liebst?
Wo endet alles?
Manchmal ist das Lebenein frisch erlegter Wal am Ufer, aber – Wo zum Teufel steckt Johnny Cash?
–
Ich weiß nicht, wie es mir geht,doch manchmal ist das Lebenzum Trauern zu kurz
Wer behauptet, die Welt zu verstehen,ist entweder ein Idiot oder ein Lügner – Diverses über Messer, Italien und eine große Reise
Ich beneide meine Knie in der Hoseund meine Ellbogen im Pullover,aber was wird aus dem Leben,wenn die Zeit stirbt?
Musik kann die Welt retten,aber Tíminn macht Island bewohnbar
Geschichte einer Freundschaftund düsterer, schwieriger Zeiten
Wahrscheinlich ist der Roman die Welt,in der die Toten leben.Der Reisekrankheit ist das egal
Ein tröstliches Lied
Denn all das ist das Leben
Ein paar Songs, echt cool – aber was das Leben lenkt,steckt in dir
–
Das kommt alles zu mir
Wo das Leben endet und der Tod anfängt
Eine Welt ohne Beatles
Grabsteine sind bittende Münder
Gott ist ein Kuss auf der Erde,außer wenn er der Teufel ist.Ich liege zwischen Wiesenhöckern,und die Helligkeit lässt den Himmel verschwinden
Was ich im Kopf habe,doch im Tod ist alles seltsam,und Ringo Starr ist Bischof von Hólar
Keiner hier auf Erdenlebt ohne die Toten
Fernsehen ist etwas für die,die morgen schon nach Reykjavík abwandern –Versuch, einen schlechten Bauern zu definieren
Nicht über die Lebenden aufregen,dann bekommen sie Angst –Der Himmel kehrt zurück
Super Songs, total cool, sagt Gott –Betrachtungen über Ungewissheit, Treuebruchund ein Liebchen in jedem Hafen
Es gibt Zeiten, da helfen dir nicht einmalso herrliche Wörter wie Heuselbstladewagen
Das ist die Lage:Es ist gleichzeitig August 2022 und Juli 1970,und was das Leben lenkt, steckt in dir
Papa steigt aus dem Auto,Ringo Starr wurde geköpft
Ergebnis
Mein Kopf wird zu einem Metronom
Ich fühle mich nicht besonders gut
Meine Zehen melden sich zu Wort,die Küstenseeschwalben gehen auf Gott losund hacken über England auf seinen Kopf ein.Das hat Konsequenzen
Irgendwer muss am Leben sein
–
… und ich werde so traurigwie Ringo Starrs Mundwinkel
–
Der Besuch
Ohne Traurigkeit entsteht keine Kunst, sagt McCartney, und dann gehe ich zur Schule
Eine schwebende Möwe, windgraue See,und meine Finger sind Wesen aus dem All
Das ist saulustig, brüllt Gott, saulustig!
Der Tod schickt dem Leben Blumen,jemand macht aus Härte Weichheit,aber Gott will mir die Augen ausreißen
–
Jawohl, ich schnappte mir Ringo …
Bei dir wird einem nie kalt – Liebesgeschichte vom Lande
Womit habe ich das verdient?
Der Herr steigt auf die Erde herab, hockt sich zu Vater in den Trabbi,und jemand weint vor Freude
Es sei denn, du willst, dass ich dichmit ägyptischen Wunden schlageund Napalm hineinreibe
Mein Vater kann Gott besänftigen
Weise ist nur, wer zu trösten vermag
Ich fürchte, es ist zu spät
Die Maurerkelle schimpft mit mir,und ich weine dreiundfünfzig Jahre zu spät
–
Sieh doch, wie schlecht es ihm geht – Wir nähern uns Reykjavík
Das ist Keflavík, bitch,jemand schlottert vor Liebe,Lennon blutet die Tageszeitung voll,und Fahrlehrer Benjamín erlebtsein blaues Wunder
–
Mag irgendwer Keflavík?Über Schafe, die Band Steinarund ein wenig über Sex
Eine weitere Abschweifung, Verlangsamungder Geschichte und ein kurzes Liedüber einen schüchternen Riesen
Jemand bebt vor Liebe und vor Sonnenschein,und ein sensibles Herz bekommt Risse:Fahrstunde in Keflavík vor vierzig Jahren
Eine Wunde, die sich niemals schließt
Das Leben nimmt mich in die Mangel,weil hier Menschen ruhen, die ichhätte kennenlernen sollen.Mit anderen Worten: KeflavíkAnfang der Achtzigerjahre
–
»Die Fantasie führt uns oft an Orte,die nie existiert haben – doch ohne siewürden wir nie etwas entdecken«
Januar 1986: Stadtbücherei Keflavík
Come on, sugar
Möchtest du etwas anderesanstelle von Gefühlen?
P. S.: Es geht durch Wände,ich pralle gegen sie
Vieles kann helfen –Nur nicht aufgeben
Das ist das Fazit, das Urteil:Du bist immer allein
Erst muss mich das Lebenin die Mangel nehmen
Über Liebe, Trauer und die Einflüsseder US-Armee auf der Miðnesheiðiauf das Alltagsleben in Keflavík
»Flüge zwischen Sternen und glühende Hirnzellen… stehen mir nicht mehr zu Gebot«
Sein Kopf ist größer als die Dunkelheit – Alles ist sonnenklar
Stern ohne Licht und Traurigkeit,so schwer wie ein Sack Zement
Und das Meer, …
… natürlich nicht …
Wir müssen weitermachen
Weine nicht um michOder: Du wirst immer bei mir sein
Die Toten brauchen das Leben
–
Ich vermisse ihn so sehr,dass es mich verändert
–
Was mit dem Eismeer spricht
Entschuldige, ich rede so viel, dass manmich für hysterisch halten könnte
Hot legs, und ich bin weg
»Mit besten Grüßen!«
Du darfst mich einen Helden nennen –Gut, dass ihr kommt, wir verzweifelten schon
Von dort sehen sie mich an
–
Denk an mich,und die Panzer werden stehen bleiben
–
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Das gelbe U-Boot ist meinem Freund gewidmet,Eiríkur Guðmundsson (1969–2022)
Vergessen ist der Vogelgesang des gestrigen Tages,ist er nie erklungen?
Vergessen ist der gestrige Tag selbst,hat es ihn nie gegeben?
(Aus einem alten Gedicht aus Mesopotamien,gedichtet wohl zwischen 2600 und 2300 vor Christusauf Sumerisch, Autor unbekannt, frei übersetzt)
Wir werden uns auf den folgenden Seiten in diverse Richtungen bewegen und an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten innehalten: in Mesopotamien vor 5000 Jahren, am Ende des Mittelmeers im Jahr 33, in der Reykjavíker Straße Safamýri und etwa um 1970 in Strandir im Norden Islands, in Keflavík etwa zehn Jahre später und an weiteren Orten, die ich jetzt nicht aufzählen will – doch alle Wege führen auf die eine oder andere Weise an einem sonnigen Augusttag des Jahres 2022 hierher in diesen schönen Londoner Park, wo ich mit übergeschlagenen Beinen nicht weit von dem achtzigjährigen Paul McCartney entfernt sitze, dem alten Beatle, der hier Schutz sucht vor Sonnenschein, Hitze und Berühmtheit, unter einer großen Eiche, die deutlich älter und bei besserer Gesundheit ist als das Britische Empire.
Ich habe ein wichtiges Anliegen an McCartney, aber es ist so komplex und so kompliziert und verwickelt, dass ich es noch nicht richtig entwirren konnte. Darum spreche ich ihn noch nicht an. Manche Angelegenheiten bedürfen einer langen Vorbereitung, in ihnen stecken verschiedenste Dinge, Ereignisse, Erinnerungen, Vergessen und Geschichten, in denen sich Wunder und Alltag, Lächerlichkeit und Trauer, Freude und Tod mischen und nebeneinander vorkommen. In ihnen zwingen Gott und mein Vater Johnny Cash, einen fürchterlichen Shanty zu singen, komponieren die Beatles in der hintersten Sitzreihe eines Busses am Ende des Hvalfjörður einen neuen Song, heulen junge Seehunde, hackt die Seeschwalbe auf den Tod ein, ist Sehnsucht der höchste Berg Islands, verwechseln die Toten Ringo Starr mit einem Bischof von Hólar, hält die Zeitung Tíminn Island in der Zivilisation, in ihnen vergeht die Vergangenheit nie, und der Berg fragt nach uns, wo ein Roman über Keflavík von Liebe und einem Kleiderhaufen handelt, wo das Herz von Fahrlehrer Benjamín Risse bekommt, wo jemand wie ein dunkler Stern in das dunkle Meer zwischen Keflavík und Garður stürzt, wo Christus am Kreuz seine Angst und seine Abneigung eingesteht, und schließlich wird nach dem ersten und verlorenen Buch der Bibel gesucht.
Ich glaube, deswegen darfst du dich jetzt ruhig anschnallen, denn hier kann alles Mögliche passieren.
Vor allem das, was wir nicht begreifen.
Things We Said Today und Yellow Submarine, Letzteres von Ringo Starr gesungen, waren Ende des Jahres 1969 und in den ersten Monaten des folgenden Jahres meine Lieblingssongs der Beatles. Meine Begeisterung für das Erstere brauche ich wohl kaum zu erklären und zu rechtfertigen, aber bei Yellow Submarine, das nur wenige für einen bedeutenden Beatles-Song halten, liegt die Sache natürlich anders. Meine Mutter versuchte, es mir auf einer kleinen Mundharmonika beizubringen, die ihre Schwester uns aus dem Ausland geschickt hatte. Sie erklärte mir auch den Text, der von unserem kindlichen und wehen Verlangen nach sicherem Schutz im Leben handelt, nach Fantasiewelten, wo uns die Forderungen der Welt und ihre Schläge nicht erreichen.
Doch dann starb meine Mutter und verschwand in die Finsternis. Verschwand in das Schweigen, in dem sie zu einer sprachlosen Sehnsucht wurde, dem höchsten Berg Islands, und nur Monate später versprengten das Leben und irgendwelche Schmarotzer die Beatles. Die Band löste sich im Streit auf, die Welt begann auseinanderzufallen und die Menschheit verloren zu gehen.
Ich übertreibe vielleicht ein wenig.
Und habe mich gleich verzettelt.
Schließlich ist es eine zweifelhafte Behauptung, die Welt sei jemals eine Einheit gewesen, ich spreche von der Welt der Menschen, in der die Möglichkeit eines Auseinanderfallens überhaupt bestanden habe. Man kann ebenso gut behaupten, der Hang zur Zersplitterung liege in unserem Wesen, er sei so etwas wie der Fluch unseres Erbes und genau das, wenn man dem Alten Testament irgendwas glauben will, schon immer gewesen, seit Gott Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieb. Er machte sie heimatlos, verwandelte sie in Flüchtlinge und donnerte ihnen in seiner Wut hinterher: »Friedlos sollt ihr fortan sein!«
Gottes Verständnis von »fortan« scheint ein anderes zu sein als unseres, denn sein schwer lastender Fluch scheint im Lauf der Zeit so weit nachzulassen, dass er sich einige Jahrhunderte später genötigt sah, eine große Sprachverwirrung über die Menschen zu bringen, damit sie einander nicht länger verstanden. Die Folge war, dass Zersplitterung und Friedlosigkeit wieder zunahmen.
Seitdem sind uns Eintracht und Harmonie nicht mehr angeboren.
Meine Mutter, die mir oft vorlas, sagte manchmal, Bücher seien klüger als Menschen. Nicht alle, setzte sie hinzu, aber in den besten finden wir Antworten. Was für Antworten, Mama, fragte ich, doch da starb sie schon und redete überhaupt nicht mehr mit mir.
Erst dachte ich, sie sei mir böse, weil ich nicht zusammen mit ihr gestorben war. Später stellte ich fest, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Wer stirbt, verliert seine Stimme. Die Toten sind vollkommen hilflos, was das Sprechen angeht, und darum ganz auf die Lebenden angewiesen.
Was bedeutet, dass Mama auf mich angewiesen ist.
Ich bin der Einzige, der ihr wieder eine Stimme geben kann. Vater ist in der Hinsicht ein hoffnungsloser Fall.
Deshalb fange ich an, wie ein Besessener zu lesen.
Aber ich bin leider erst sechs oder sieben Jahre alt, die Welt ist groß, und im Bibliotheksbus gibt es unglaublich viele Bücher, manche von ihnen sind so unverständlich, dass ich nach drei Seiten aufgebe. Aber Tarzan ist gut, sehr gut und so stark, dass der Gott des Alten Testaments Probleme gehabt hätte, mit ihm fertigzuwerden. Die Bücher über ihn kommen mir allerdings nicht sehr klug vor. Ich lese sieben Stück hintereinander weg und komme kein bisschen weiter damit, Mutter ihre Stimme wiederzugeben oder die Türen zu öffnen, die Leben und Tod trennen. Da fällt mir die Bibel ein. Bei Mutters Tod hatte mein Vater von seiner ältesten Schwester ein Exemplar mit den Worten in die Hand gedrückt bekommen, dieses Buch enthalte nicht bloß alle Antworten, sondern spende auch Trost. Heile alle Wunden. Das ist natürlich irre. Ich konnte allerdings nicht feststellen, dass Papa darin las, denn es lag unangetastet auf Mamas Büchern im Regal und sammelte Staub an und Schweigen. Vielleicht wollte Papa sich nicht trösten lassen oder wollte keine Antworten hören.
Ich weiß nicht, warum.
Vielleicht deshalb, weil Antworten manchmal die schlimmsten Schmerzen verursachen.
Wer sich trösten lässt, hört auf, um die Toten zu trauern, lässt sie sprachlos in der Finsternis zurück. Trauer und Vermissen halten die Toten bei uns – lass dich trösten, und sie verschwinden spurlos im Dunkel.
Also suche ich nicht nach Trost, bin daran nicht interessiert. Meine Aufgabe ist es, den Toten eine Stimme zu geben, die Schlüssel zu finden, die die Türen zwischen Leben und Tod öffnen. Dazu muss man sicher die richtigen Bücher lesen; die, die klüger sind als alle Menschen.
Darum fange ich an, die Bibel zu lesen.
Sie ist allerdings schwerer zu verstehen als Tarzan. Manche Sätze sind so ernst und schwer, dass man schon nach einer Seite völlig fertig ist; andere Kapitel sind so langweilig, als würde das Licht ausgehen. Manchmal gibt es auch richtig Action, aber dann sind diese langbärtigen Typen im Alten Testament so durchgeknallt, grausam und gnadenlos gegenüber allen, die nicht ihrem Volk angehören, dass ich Schiss vor ihnen bekomme.
Obwohl die Lektüre zäh ist und ich oft nur wenig verstehe, wird mir klar, dass Gott zur Zeit des Alten Testaments furchtbar kleinlich war und an allem etwas auszusetzen hatte. Nie war er zufrieden, brüllte immer rum, knallte Türen und befahl den Israeliten zwischendurch, ihre Nachbarvölker abzuschlachten, niemand dürfe verschont werden, ob Säugling oder tatteriger Greis. Tötet und verbrennt alles Lebende, befiehlt er, und die Israeliten gehorchen ihm bedingungslos, denn Gott verlangt die völlige Unterwerfung. Sie brennen Städte nieder und töten alle Einwohner. Gleichzeitig unterläuft Gott ein Patzer nach dem anderen, sodass Moses gar nicht mehr nachkommt, ihn zu beschwichtigen und ihm irgendeinen Unsinn auszureden. Gott ist selten milde gestimmt, er ist nie warmherzig, dagegen oft blutrünstig, jähzornig, verlangt andauernd Essen, Schnaps und Gold – für mich ähnelt er mehr einem wütenden Nashorn als einem allumfassenden Gott. Ich fürchte, er hätte alles vor die Wand gefahren, wenn Jesus nicht zur Welt gekommen wäre.
Ich verstehe das nicht, alle reden von Gott als dem Allerbesten der Welt, ohne ihn sei das Leben sinnlos und ohne jede Barmherzigkeit, Gott sei das Licht, seine Abwesenheit die Dunkelheit, dabei schlägt er im Alten Testament zu wie ein heftiges Hagelgewitter. Blutrünstig, jähzornig, unfair. An einer Stelle steht, Gottes Söhne seien am Anfang über die Erde gezogen und hätten bei Frauen gelegen oder sie vergewaltigt; andererseits wird uns gelehrt, Jesus sei Gottes eingeborener Sohn gewesen. Und was wurde aus den anderen?
Ich muss irgendwas missverstanden haben.
Und brauche offensichtlich Hilfe und Anleitung, um weiterzulesen und das Alte Testament begreifen zu lernen.
Darum beginne ich, fleißig die Sonntagsschule im Versammlungssaal über dem Laden von Söbekk zu besuchen. Ich lese zu Hause in der Bibel, gehe dann zur Sonntagsschule und höre mir an, was der lange, magere, strenge und glaubenseifrige Ágúst von Gott, Moses, Abraham, Sara, Salomon, Hiob und all den anderen aus dem Alten Testament zu erzählen hat, und auch von dem so sanften und warmherzigen Jesus, der dermaßen anders ist als sein Vater, dass ich zeitweilig überzeugt bin, man habe ihm den falschen Vater angehängt.
Wenn Ágúst einmal schweigt, spielt seine Frau Líney erbauliche Lieder auf dem Harmonium.
Wir Kinder nennen sie Brillenschlange, weil sie so dicke Brillengläser trägt, dass wir bezweifeln, ob sie dadurch überhaupt etwas sieht. Meist guckt sie zum Himmel hinauf, und vielleicht helfen ihr die Spekuliergläser, da oben Gott zu sehen.
Wer aber immer nur zu Gott aufblickt, sieht manchmal die Menschen nicht.
Wenn Líney ihr Harmonium traktiert und dazu eins der Lieder singt, die, wie mir scheint, allesamt von Gott, über Gott und für Gott komponiert sind, dann lächelt sie in einem fort. Sie und Ágúst singen beide lauthals, heben die Gesichter zum Himmel und gucken dabei so verzückt, dass ich halbwegs damit rechne, Gott könnte in den Wolken erscheinen und einstimmen.
Dabei bin ich sehr überrascht, wie schwach diese Lieder sind. Viel schwächer als beispielsweise die Songs, die Ringo Starr mit den Beatles geschrieben hat. Daran siehst du schon, dass sie echt nicht viel hermachen. An die Beatles wäre Gott nie herangekommen. Mit diesen Liedern hätte er nicht mal den Rolling Stones das Wasser reichen können.
Meine Bedenken hinsichtlich Gottes Temperament und mein Erschrecken über sein Auftreten in der Bibel werden durch den Unterricht in der Sonntagsschule nicht geringer. Ágúst scheint nämlich mit allem, was Gott sagt und tut, vollkommen einverstanden zu sein, wie drastisch, widersprüchlich und gnadenlos es auch sein mag. Israel ist Gottes auserwähltes Volk, sagt er, und alles soll und wird vor ihm weichen. Ewige Verdammnis und Höllenqualen erwarten die Ungläubigen, und Gott wird die Ungehorsamen streng bestrafen, Amen!
Ágúst wörtlich: Und dann vernichtete Gott alles Leben auf Erden, weil der Mensch ihm nicht gehorsam war.
Auch die Kinder, fragt Skúli, mein Freund aus dem Block.
Ágúst: Er zerstörte alles Leben, alles musste sterben, weil der Mensch sündigte. Der Mensch hatte Gott enttäuscht.
Aber warum hat Gott auch die Tiere tot gemacht? Was hatten die denn verbrochen, fragt Gunnhildur von der zweiten Etage in meinem Treppenhaus. Ihre dunklen Augen glänzen vor Wut und Tränen, und in diesem Augenblick beginne ich sie so heftig zu lieben, dass es wehtut.
Gott ist die Antwort, und darum dürfen wir nicht fragen. Mit Finsternis und Unglück werden die geschlagen, die zweifeln.
Und dann erzählt er weiter davon, wie Gott alles Leben ausgetilgt hat und die Erde dann neu errichten ließ, die Stadt Sodom aber ausradierte, alle Kinder, alle jungen Hunde und alle Kätzchen darin umbrachte.
Und siehe, der fürchterliche Tag des Herrn wird kommen, brennend heiß wie ein Ofen, und die, die nicht glauben an den Herrn, werden braten, und sie werden brennen, doch die, die da glauben, werden umherhüpfen wie die jungen Kälber, und sie werden unter ihren Füßen die zertreten, die nicht glauben, denn die Welt des Herrn ist eine Welt ohne Hoffnung, Amen.
Skúli: Mein Opa sagt, er ist Kommunist und glaubt nicht an Gott; mein Papa aber schon. Wird sich Papa also in ein Kalb verwandeln und Opa zertrampeln?
Und Gott, fährt Ágúst fort, ohne Skúli anzusehen, wird denen die Zunge ausreißen, die nicht zu schweigen verstehen.
Dann schaut er zu Líney, die nickt und spielt Oh die Gnade, Jesus zu haben. Den Text singen beide voller Hingabe, sie mit ihrer hohen, schrillen Stimme, die Ágúst Engelsglöckchen nennt. Die seine ist dagegen so tief, als käme sie direkt aus der Erde.
Nach dem Lied kommt Ágúst auf Jesus zu sprechen und redet die beiden nächsten Sonntage nur von ihm.
Von Jesus sind wir ganz begeistert, das ist unser Mann, er ist ganz anders als sein Vater. Wo Gott gnadenlos ist, ist Jesus barmherzig. Gott vergibt nicht, doch Jesus hat ein Herz. Gott befiehlt den Israeliten, ihre Feinde auszurotten, Jesus aber sagt, man solle Gewalt immer mit Friedfertigkeit begegnen. Wenn Gott Essen und Gold verlangt und den Israeliten befiehlt, ihre Nachbarn totzuschlagen, dann fordert uns Jesus auf, einander zu lieben und den Armen zu geben, was uns gehört.
Ich mache mir schwere Sorgen, dass Gott auf Jesus sauer wird, weil dieser ständig von Vergebung spricht. Jesus scheint vergessen zu haben, dass Gott überhaupt nicht will, dass die Israeliten ihre Nächsten oder Nachbarn lieben, sondern er will im Gegenteil, dass sie sie ausrotten und all ihren Besitz rauben. Er fordert die Israeliten auf, Reichtümer anzuhäufen, und befiehlt ihnen, ihm einen Teil davon abzugeben. Der Herr lässt sich von Salomon einen großen Tempel bauen, mit schierem Gold bedeckt, und als der Tempel fertig ist, opfert Salomon Gott zweiundzwanzigtausend Rinder und hundertzwanzigtausend Schafe.
Ich begreife nicht, was Gott mit all diesem Essen gemacht hat und wieso so viele Tiere für ein einziges Gebäude sterben mussten.
Ich denke, Jesus versteht das auch nicht, denn manchmal scheint er allen Ansichten seines Vaters zu widersprechen, und von daher kommt mir allmählich der Verdacht, Gott habe irgendwann die Nase voll gehabt und Jesus deshalb kreuzigen lassen.
Sicher möchte ich Ágúst dringend fragen, ob Gott selbst dafür gesorgt hat, dass sein Sohn am Kreuz landete, und ob er auch die Mutter von Jesus hat umbringen lassen, denn mir scheint auf der Hand zu liegen, dass die Jungfrau Maria zwar klasse ist, aber nicht seine echte Mutter sein kann. Es muss aber jeder eine Mutter haben, das steht fest. Man kommt ganz gut ohne Vater aus, auf den kann man verzichten, aber wer keine Mutter hat, ist wie die Erde ohne Himmel.
Ich traue mich nicht so recht, denn wenn man Ágúst mit einer Frage dumm kommt, kann er genauso böse und bedrohlich werden wie Gott. Ich warte ab, und Wochen vergehen. Ágúst erzählt ständig vom Leben Jesu und all dem Guten, das Jesus gesagt und getan hat und das so schön ist, dass er gut und gern der fünfte Beatle hätte werden können – aber seine Mutter erwähnt er mit keinem Wort. Irgendwann geht meine Geduld zu Ende. Der Winter ist schon fortgeschritten, und Ágúst fängt die meisten Stunden mit der Erschaffung der Welt an. Da waren Gott und Adam zusammen, nur die beiden, da war alles gut.
Dann spielt Líney drei Lieder des Herrn.
Doch sobald sie ihre Augen zum Himmel richtet und die Hände hebt, um die ersten Töne anzuschlagen, hebe ich die Hand und frage eifrig: Sag mal, wo war eigentlich die Mutter von Jesus, ich meine seine richtige Mutter und nicht die Stiefmutter? Wie hieß die, und war sie nicht mit Gott verheiratet, als die Welt erschaffen wurde? Hat sie ihm vielleicht dabei geholfen? Warum kommt sie nie vor? Ist sie darüber nicht sehr traurig? Ist sie vielleicht gestorben, und nun sind alle so in Trauer, dass keiner darüber reden kann, nicht einmal Gott und Jesus?
Die letzte Frage, ob sie vielleicht gestorben sei und Vater und Sohn nicht darüber reden können, vielmehr so tun, als ob es sie nie gegeben hätte, stammt aus meiner eigenen Erfahrung: Wir haben über Mama nicht ein einziges Mal gesprochen, seit Papa mich im Herbst mit dem Trabant nach Keflavík gebracht hat, wo die gezackte schwarze Lava rechts und links der Straße an einen Fluch Gottes denken lässt.
Mutter stirbt, während ich bei Vaters Schwester in Keflavík bin, und daraus ergibt sich schnell eine Änderung beim Eintrag im Wörterbuch zum Wort Tod. Vorher stand da: »Lebensende, Sterben, Aufhören aller Lebensvorgänge, Erlöschen.«
Seitdem heißt es: »Lebensende, Sterben, Aufhören aller Lebensvorgänge, Erlöschen, Keflavík.«
Vater holt mich mit dem Trabant ab.
Der Trabbi ist weiß mit einem roten Dach, sehr freundlich, fährt etwa so schnell, wie ein Hund laufen kann. Er und Papa erscheinen überraschend eines Vormittags mitten in der Woche, was bedeutet, dass Papa sich bei der Arbeit freigenommen hat. Das ist vorher noch nie vorgekommen, und die Erwachsenen gucken ziemlich komisch. Er selbst guckt, als hätte er keine Ahnung, was das soll.
Dann fahren wir nach Keflavík.
Und reden kein Wort.
Das ist okay. Ich gucke nur auf die zackige schwarze Lava neben der Straße. Sieht aus wie ein Fluch Gottes zur Zeit des Alten Testaments.
Ich denke, wir sind auf dem Weg zu Mama.
Als ich sie das letzte Mal im Krankenhaus besucht habe, hat sie mir gesagt: Wenn du das nächste Mal kommst, hast du ein Gedicht geschrieben, das sich so reimt, dass es mich überrascht.
Seitdem sind viele Tage vergangen, und als Papa mich holen kommt, ist die Strophe fertig. Doch auf der Hälfte der Strecke von Reykjavík nach Keflavík räuspert er sich plötzlich. Räuspert sich, hält das Lenkrad des Trabants mit beiden Händen fest, so fest, als hätte er Angst, dass man ihm das Auto wegnehmen könnte, räuspert sich drei Mal und sagt schließlich, ohne den Blick von der Straße zu wenden: Ich fürchte, deine Mama ist gestorben.
Er räuspert sich ein viertes Mal, nickt und setzt hinzu: Ja, so ist es, ich fürchte, das ist eine Tatsache.
Seitdem wird mir von Tatsachen schlecht, und ich versuche nach Kräften, sie infrage zu stellen, sie zu bezweifeln, sie zu bekämpfen und zu ändern. Warum sollte ich das nicht tun? Was heute abwegig erscheint, ist morgen oftmals Alltag geworden. Wir scheinen doch erheblichen Einfluss auf die Welt nehmen zu können.
Was hindert uns?
Paul McCartney hat eine hübsche rote Decke ausgebreitet, die er in seiner Schultertasche hatte, und sitzt, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, unter der Eiche. Schuhe und Strümpfe hat er ausgezogen, ist so barfuß wie auf dem Cover von Abbey Road, zieht ein Buch aus der Tasche und fängt an zu lesen.
Ich zucke unwillkürlich zusammen, und die Eitelkeit, die jeden von uns kleiner macht, knabbert an mir: Kann es sein, dass Paul McCartney einen meiner ins Englische übersetzten Romane liest?
Eitelkeit, eines der schlimmsten Laster, gewiss. Aber es würde vieles vereinfachen, wenn er da mit einem meiner Romane säße. Dann bräuchte ich mir nicht länger einen Vorwand auszudenken, um mit McCartney ins Gespräch zu kommen. Ich könnte einfach zu ihm rübergehen und kumpelhaft bis verschmitzt sagen: Hello, Sir Paul! Er würde überrascht aufblicken, nicht gerade erfreut, von einem Wildfremden angequatscht zu werden, weil er hier ja seine Ruhe gesucht hat, in Ruhe gelassen werden wollte, aber dann würde er schnell begreifen, abwechselnd mich und das Foto auf dem Umschlag ansehen und sagen: Ach, was für ein Zufall!
Obwohl ich jetzt seit geraumer Weile in McCartneys Nähe sitze und kein Zweifel daran besteht, dass mein Anliegen an ihn dringend ist, habe ich mich noch nicht aufgerafft, den alten Beatle anzusprechen. Ein dringendes Anliegen, ja, aber so komplex und kompliziert und verwickelt, dass ich es noch nicht richtig entwirren konnte, ich könnte es kaum halbwegs gescheit vorbringen. Was aber würde passieren, wenn es sich in Paul McCartneys Ohren völlig konfus, absurd und nach den Fantastereien eines Geisteskranken anhört, der alles tut, um an sein Idol heranzukommen? Vielleicht käme McCartney der Gedanke, ich könnte ein zweiter Mark Chapman sein, der Mörder John Lennons, und eine Pistole in der Tasche haben.
Und man würde mich verhaften.
Außerdem geht man nicht einfach so auf einen Menschen wie Paul McCartney zu. Das geht einfach nicht. Sonst hätte er ja nie seine Ruhe. Er könnte praktisch nicht vor die Tür treten. Darum lauern bestimmt irgendwo seine Leibwächter hier in der Nähe, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der versucht, ihn zu stören oder zu belästigen. Vielleicht hockt einer im Laubwerk der Eiche, und ein anderer verbirgt sich in den Sonnenstrahlen, keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie Leibwächter agieren. Habe nie einen Leibwächter gebraucht; aber einen heilen Leib.
Auf den ersten Schritt kommt es also an, alles hängt davon ab, ich muss seiner Aufmerksamkeit wert sein, überzeugend auftreten, fesselnd, aber vernünftig, damit er die Dringlichkeit begreift und bereit ist, mich anzuhören. Ich erinnere dich daran, dass wir es hier mit einer der berühmtesten Persönlichkeiten der Welt zu tun haben. Ein völlig Unbekannter, der einen Paul McCartney anspricht, sollte ein wirklich wichtiges Anliegen haben.
Er gehört nicht nur zu den prominentesten Menschen, sondern dürfte auch einer der bedeutendsten sein – wenn man an all die Songs denkt, die er uns solo oder zusammen mit den Beatles geschenkt hat. Du würdest in Ohnmacht fallen, wenn ich sie hier alle aufschriebe. Ich vermute mal, wenn Außerirdische zu Forschungszwecken auf die Erde kämen, etwa um Proben zu sammeln, die die Wichtigkeit der Erde für das Universum beweisen würden, dann wäre Paul McCartney wohl einer von zehn Menschen, die sie mitnähmen.
Was für eine Vorstellung: Sie würden den barfüßigen Paul McCartney in diesem Moment zu sich raufbeamen, hier, vor meinen Augen – und er hätte einen Roman von mir in der Hand … Großartiger Gedanke!
Und eine noch großartigere Schlagzeile: Paul McCartney gewaltsam in ein anderes Sonnensystem entführt, Hunderte Lichtjahre entfernt, und das Einzige, was er von der Erde mitnimmt, ist ein Roman von mir.
An den er sich natürlich klammert wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring: Das Buch würde sein Trost, sein Freund in der Einsamkeit des Alls, sein einziger irdischer Freund sein, und McCartney würde bald unter dem Einfluss dieses Buches ein Lied, wenn nicht mehrere komponieren. Es ist ja bekannt, dass er gar nicht anders kann, er kann kaum ausatmen, ohne dabei gleichzeitig zu komponieren.
Paul McCartney hat übrigens länger nicht mehr umgeblättert, guckt aber in das Buch, als würde er eine Stelle wieder und wieder lesen. Es ist vielleicht ein Gedichtband, möglicherweise von seinem Freund, dem irischen Dichter Paul Muldoon. Oder etwas viel Älteres, eine Gesamtausgabe von Sappho oder Catull, den manche Übersetzer noch heute, zweitausend Jahre nach seiner Zeit, immer noch nicht anders zu übersetzen wagen, als indem sie umformulieren und seine deutlichen, manchmal ordinären sexuellen Schilderungen abmildern und so mit ihrer Zimperlichkeit und Feigheit die Dichtkunst verraten. Dabei können die alten Gedichte von Sappho oder Catull geradezu als neu und zeitgenössisch gelten, wenn man das Gilgamesch-Epos danebenstellt, eine gut viertausend Jahre alte Dichtung aus Mesopotamien, die ich in meinem Rucksack habe, vor ein paar Stunden erst in der Buchhandlung der London Review gekauft und als Geschenk für Paul McCartney gedacht. Eine umfassende und sorgfältige Ausgabe des Epos, »translated directly from Accadian«.
Das älteste Epos der Welt.
Vielleicht wäre es das Einfachste, rüberzugehen zu McCartney, ihm die Gabe zu überreichen und zu sagen: Sir Paul, das älteste Epos der Welt, bitte sehr!
Aber sicherer und besser ist es doch immer, erst einmal zu grüßen und sich dann vorzustellen: Schriftsteller aus Island.
A writer from Iceland, a poet.
Ein Dichter.
Als wäre dieses Wort, dieser Begriff, diese Berufsbezeichnung oder wie man es nennen will, ein Schlüssel, der alle Türen öffnet. Eine Einladung zu jeder Feier.
Writer, ein Dichter, gestern nach London gekommen, weil ich ein Anliegen an Sie habe. Ich bitte um nicht mehr als fünf oder zehn Minuten, danach dürfen Sie mich wegschicken. Und ich werde auf der Stelle gehen. Aus diesem Tag verschwinden. Ich werde aus seinem Sonnenschein treten und mich auflösen. Das heißt, sobald ich Ihnen eine kleine Gabe verehrt habe, das Gilgamesch-Epos, das älteste bekannte Epos der Welt – es ist zum Teil der Grund, weshalb ich jetzt vor Ihnen stehe. Ja, man könnte sagen, ein mehr als viertausend Jahre altes Epos hat mich zu diesem Treffen geschickt. Das ist schon eine beträchtliche Zeitspanne. Das Epos und ebenso einige Verse oder Bruchstücke aus noch älteren Epen, die mich neulich mit der Post erreichten, haben mir schnell deutlich gemacht, dass ich nicht länger zögern durfte, Sie aufzusuchen. Doch davon erst einmal genug, hier ist das Geschenk!
Dann würde ich ihm das Buch mit den Worten überreichen: Sir Paul, das Gilgamesch-Epos, bitte sehr!
Das Epos, das schon seit rund tausend Jahren ein Klassiker war, als Homer und die Verfasser des Alten Testaments ihre Werke begannen, dieses Buch ging verloren, als Mesopotamien Mitte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts unterging; es ging verloren und blieb verschollen, bis es gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wiederentdeckt und einige Jahre später publiziert wurde. Es übte auf den deutschen Dichter Rilke einen solchen Einfluss aus, dass er vor Aufregung und Begeisterung nicht schlafen konnte. Er suchte einen Freund nach dem andern auf und las aus diesem Schatz vor, den die Menschheit verloren und nun zweitausend Jahre später wiedergefunden hatte.
Ihr Epos, lieber McCartney, ist aus dem Akkadischen übertragen, wie es im Klappentext heißt, das Fragment, das ich mit der Post bekam, ist jedoch auf Sumerisch geschrieben, was lange die Sprache Mesopotamiens war, aber um 2500 vor Christus zugunsten des Akkadischen aufgegeben wurde. Sumerisch ist mit keiner anderen Sprache der Welt verwandt, etwa so, als wäre es mit einem Asteroiden auf die Erde gekommen, es handelt sich also um Verse, die ein Asteroid verfasst hat, und ich glaube …
Da klingelt McCartneys Handy, und er antwortet erfreut. Offensichtlich jemand, den er gut kennt. Ringo vielleicht?
Im Grunde bin ich erleichtert.
Sein Telefonat gibt mir nämlich mehr Zeit zur Vorbereitung. Ich spüre, dass ich noch nicht bereit bin, noch nicht alle Fäden in meiner Hand halte. Bei Weitem nicht! Gerade habe ich Ágúst gefragt, ob Jesus keine Mutter gehabt habe, ob sie vielleicht gestorben sei und Jesus und Gott so getrauert hätten, dass es in den benachbarten Sonnensystemen seit zweitausend Jahren nicht hell geworden sei.
Und was hat Ágúst darauf geantwortet?
Wir stehen auf dem Hügel oberhalb von Söbekks Laden an der Háaleitisbraut, weniger als hundert Meter von meinem Block im nördlichen Teil von Safamýri entfernt. Es wird Frühling, und die Beatles gibt es nicht mehr, die Band hat sich aufgelöst, die Mitglieder sind untereinander total zerstritten, tiefe Trauer liegt über der Erde, und daher gerät der Planet so ins Schlingern, dass ein paar heftige Schockwellen ins All geschleudert werden und das Raumschiff Apollo 13 treffen, das gerade Richtung Mond fliegt, mit der Folge, dass die Astronauten jede Kontrolle verlieren. Das Raumschiff kommt vom Kurs ab, und es sieht alles danach aus, als könnten sie den Kurs nicht korrigieren und würden in einer Entfernung von 167 Kilometern an der Erde vorbeifliegen, ohne dass ihnen jemand zu Hilfe kommen könnte. Sie würden an der Erde vorbeifliegen und auf ewig in der Dunkelheit des Alls verschwinden.
Zwei oder drei Tage wird von kaum etwas anderem geredet, in Schulen, auf Fußballplätzen, in Geschäften, auf der Arbeit. Alle möglichen Menschen blicken ständig nach oben, als hofften sie, die Raumkapsel mit den drei zum Tod verurteilten Astronauten noch einmal zu sehen. Doch der Himmel ist an diesen Tagen dermaßen heiter und sonnig, voller heller Bläue, ein Frühlingsversprechen auf Hoffnung und ein Leben ohne Grenzen, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sich hinter diesem Blau endlose Dunkelheit erstreckt. Schwer, sich klarzumachen, dass die Erde kaum mehr ist als ein von dunklem Tod umgebener blauer Tropfen. Die Menschen schauen in den Himmel, wo die drei Raumfahrer um ihr Leben kämpfen, ihre Namen, Jim, Jack und Fred, sind in aller Munde. Man spricht von ihnen wie von engen Freunden, von lieben Familienangehörigen. Frauen entflammen für Jack, manche träumen von einem Leben mit ihm oder heimlich von verbotenem, schnellem Sex: Ihr Mann ist gerade zur Arbeit gefahren, da klingelt es an der Haustür, und in der Sprechanlage ertönt Jacks markante Stimme: Hi, it’s Jack here! Ohne Zögern lassen sie ihn ein, sind ganz gespannt, denn ein Mann, der gerade den Himmel kennengelernt hat, ist bestimmt ein wunderbarer Liebhaber.
Das drohende Schicksal der drei Astronauten beherrscht alle, füllt alle Ecken des öffentlichen Lebens, und vielen fällt es schwer, sich auf ihre Arbeit oder Haushaltstätigkeiten zu konzentrieren. Die Astronauten werden zu gemeinsamen Kindern der ganzen Menschheit, und die Vorstellung, dass sie an der Erde vorbeifliegen und für immer in der Dunkelheit verschwinden könnten, wird so überwältigend, dass der Rektor Ágúst und Brillen-Líney bittet, in die Aula zu kommen und alle gemeinsam für die Raumfahrer zu beten, für die Helden des Himmels, wie sie genannt werden. Bei diesem Anlass sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben Erwachsene weinen. Ágúst hat noch gar nicht lange gesprochen, als drei Frauen, die unter einem Foto von Jack sitzen, das ein Lehrer der Schule hat vergrößern und aufhängen lassen, zuerst schluchzen und dann in Tränen ausbrechen. Sie schluchzen und heulen los; das halte ich nicht aus und renne aus der Aula. Man ruft mir nach, aber ich höre nicht, renne, was das Zeug hält, und kriege mich erst am Meeresufer unterhalb der Skúlagata wieder ein, völlig erledigt von der Erschöpfung und dem Hass auf diese Raumfahrer. Ich sehe zum Himmel auf und hoffe inständig, die Finsternis möge sie verschlucken und nie mehr zurückgeben.
Beim Tod meiner Mutter hat keiner geweint.
Und die Zeitungen, die jetzt überlaufen von Nachrichten und Storys über die drei Astronauten, haben sie mit keinem Wort erwähnt. Als hätte es sie nie gegeben.
Wir sind eins, hatte sie gesagt, als wir einmal zusammen in ihrem Bett lagen. Sie hatte mich so fest gehalten, dass mich ihre Knochen stachen. Wir sind eins, und du bist mein Atem.
Du bist mein Atem.
Wie konnte sie da sterben, ich aber weiterleben?
Habe ich sie verraten, indem ich weiterlebte?
Oder hat sie vielleicht mich verraten?
Nein, das würde sie nie tun! Aber könnte das die Erklärung für Papas seltsames Gesicht am Steuer auf der Straße nach Keflavík mit allen Flüchen Gottes um uns sein: Wusste er, dass ich Mama verriet, indem ich weiterlebte?
Wenige Tage später höre ich ihn am Telefon sagen: Der Junge will nicht mit mir reden. Ich bekomme kein Wort aus ihm heraus. Er will mich nicht mal angucken. Ich bin völlig ratlos.
Er telefonierte mit seiner ältesten Schwester, und die war, fand ich erst viel später und viel zu spät heraus, der einzige Mensch, dem gegenüber er wehrlos war und folglich aufrichtig.
Völlig ratlos?
Er, der uns alle verriet, sich selbst, Mama und mich, indem er mich am Leben ließ.
Abend für Abend liege ich zwischen Hoffen und Bangen im Bett und warte darauf, dass er leise die Tür zu meinem Zimmer öffnet und flüstert: Bist du wach? Dann will ich totenstill daliegen, als wäre ich im Tiefschlaf. Mit geschlossenen Augen würde ich darauf warten, dass er hereinschleicht und tut, was er tun muss.
Ich weiß natürlich nicht, wie er es machen wird, hoffe aber, er wird mich ersticken, indem er mir Mamas Kopfkissen aufs Gesicht drückt. Wenn Vater zur Arbeit gefahren ist, lege ich mich oft auf das Kissen und weiß daher, dass noch etwas von ihrem Duft darin ist. Aber ich weiß nicht, ob er es mir mit den Händen fest aufs Gesicht pressen oder sich einfach draufsetzen wird.
Das ist mir aber auch egal, solange er nicht seine bloßen Hände nimmt, um mich zu erdrosseln.
Viele Abende warte ich, und in vielen Nächten schrecke ich aus dem Schlaf, weil ich das Gefühl habe, mir würde mein Name ins Ohr geflüstert. Aber nichts dergleichen geschieht.
Als es auf Ostern zugeht, erzählt Ágúst uns das Evangelium auf so eindringliche Weise, dass wir bald überzeugt sind, er habe selbst an diesem einzigartigen Ereignis teilgenommen.
Die Evangelien seien also Ágústs persönliche Erinnerungen, und darum gebe er sich solche Mühe, die längst vergangenen Erlebnisse wachzurufen.
Die Worte fließen nur so aus ihm heraus, die grauen Augen sprühen vor Freude, blitzen vor Zorn und werden dunkel vor Trauer, je nach Lage der Dinge. Und er weint. Ringt nach Atem, zittert, fällt auf die Knie, rauft sich seine dunklen, strähnigen Haare, ringt die langen Arme, ruft, flüstert, und wir Kinder lassen uns so vollständig von seiner Geschichte mitreißen, dass alles andere um uns verschwindet. Wir befinden uns nicht mehr im Obergeschoss über Söbekks Laden im Háaleitisviertel in Reykjavík, sondern stehen zweitausend Jahre zuvor am Rand des Mittelmeers. Wir fühlen die heiße Sonne auf unserer Haut, lauschen Vögeln, deren Namen wir nicht kennen, sehen Luftspiegelungen über den Dächern der großen Stadt Jerusalem zittern. Und wir schauen Jesus Christus! Sehen ihn so deutlich, als würde der Erlöser leibhaftig vor uns stehen. Als wäre er gerade aus Söbekk auferstanden, kurz in den Fisch- und Milchladen gegangen und dann schnell zu uns heraufgekommen, um seinen alten Freund zu besuchen.
Wir sehen Christus mit Ágústs Augen. Wir erkennen seine Schönheit, seine Sanftmut, sehen Augen, die alle Weisheit dieser Welt enthalten, aber auch ihr Leid. Wir sehen und wir erleben seinen Schmerz und seine Furcht in Gethsemane, und dann …
Dann wird Jesus gequält, verhöhnt, gefoltert, er wird gekreuzigt!
Ágúst bebt vor Zorn und Trauer, als er von der Verhaftung des Heilands, dem Verhör, der Gewalt und der Verurteilung berichtet. Seine Stimme zittert, als der Pöbel Barabbas wählt und nicht Jesus. Die Menge zieht das Schmutzige, Schändliche dem Besten vor, das je auf Erden gelebt hat.
Und dann spucken sie ihn an.
Sie nehmen einen Rohrstock und schlagen ihm damit auf den Kopf.
Sie verspotten ihn.
Sie treten ihn.
Ágúst zittert. Er bricht in Tränen aus.
Die meisten Mädchen weinen auch, selbst einige Jungen, obwohl die meisten alles in ihren Kräften Stehende tun, um die Tränen zurückzuhalten, indem sie die Fäuste ballen, lautlos oder flüsternd fluchen: Scheiß-FC, als sie hören, wie die Römer Jesus mit Knüppeln und Peitschen und voller Niedertracht schlagen.
Diese Schufte und Drecksäcke traten die Sanftmut mit Füßen, sie verhöhnten die Barmherzigkeit in Person!
Und dann, ja dann …, lieber Gott! Nachdem sie Jesus windelweich geprügelt haben, lassen sie ihn in brütender Hitze das schwere Kreuz tragen, aus der Stadt bis zu dem Hügel, der sich wie eine Bastion des Todes über Jerusalem erhebt.
Ágúst zittert und bebt, Líney guckt zu Boden, ihre Schultern zucken, und in einem fort strömen Tränen aus ihren hellblauen Augen und lassen unter ihren dicken Brillengläsern kleine Stauseen entstehen.
Und wir Kinder hocken auf dem Boden und schmoren in der Sonne, die sich wölbt wie ein Höllenofen am Himmel. Wir atmen trockene, heiße Luft, Staub, hören die Rufe der Menge und das Stöhnen Jesu, der neben Ágúst vorwärtswankt, denn Ágúst hat sich durch die Menge und die römischen Soldaten einen Weg zu ihm gebahnt, dem Heiland das Kreuz abgenommen und schleppt es nun hinter sich her, während die Römer ihn lachend wie die Teufel vorwärtspeitschen.
Blutend stolpern sie den Hügel hinauf.
Jesus wankt unter dem Leid, unter der Trauer, den Sünden und der Unvollkommenheit der Menschen, Ágúst unter dem Gewicht des Kreuzes und den Schlägen der Römer. Wir Kinder aus den Blocks in Safamýri und Háaleiti sind aufgestanden und folgen ihnen dichtauf.
Auf der Kuppe des Hügels heben sich Tod und Teufel wie zwei riesige, dunkle Schatten vom schwitzenden Himmel ab. Sie haben schon ein Loch für das Kreuz ausgehoben. Der Tod ist niedergeschlagen vom Kummer, weil seine Arbeit nie endet und er sich nicht davor drücken kann – der Teufel aber frohlockt.
Das ist ja irre, sagt er zum Tod und haut ihm kumpelhaft auf die Schulter, völlig irre! Ich finde, ganz im Ernst, das ist einer der schönsten Tage, die ich seit mindestens tausend Jahren erlebt habe!