Dein Gestern bestimmt nicht dein Morgen - Eva Merg - E-Book

Dein Gestern bestimmt nicht dein Morgen E-Book

Eva Merg

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Beschreibung

Eva Merg wächst in einem belastenden Elternhaus auf: Ihre Mutter muss die Pflege ihrer an Krebs erkrankten Großmutter und Urgroßmutter übernehmen. Für die lebhafte Eva bleibt kein Platz. Stattdessen wird sie in einer Umgebung von Krankheit, Elend und Tod groß, in der sie funktionieren muss. Als Jugendliche sucht Eva die ersehnte Annahme in der Punkbewegung und beschäftigt sich mit Satanismus. Alkoholmissbrauch, oberflächliche Beziehungen und eine lockere Einstellung zur Sexualität bringen Eva fast um. Sie überlebt einen Selbstmordversuch. Bis ihr Leben eine unerwatete Wendung nimmt. Sie kommt mit dem Glauben in Kontakt und erfährt die lebensrettende Botschaft: Ich kann frei werden von den Lasten meiner Kindheit, sie müssen nicht über meine Zukunft bestimmen! Immer wieder holt sie zwar ihre Vergangenheit ein, und immer wieder braucht sie den Mut, sich ihr zu stellen ... Eine zutiefst ermutigende Biografie, die zeigt, dass Veränderung auch in den schlimmsten Umständen möglich ist.

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Inhalt

Vorwort

Prolog

Teil I

Ein glücklicher Start in die Lebensstraße

Krebs und der Feind allen Lebens und aller Freude

Das letzte Einhorn

Lagerfeuer und die Stimme Gottes

Glaube und Verzweiflung

Metal, Satanismus und ein großer Bahnhofsvorplatz

Abitur mit meiner kleinen Schwester

Teil II

Kleine Insel, große Freiheit

Versorgungswunder

Heilung und afrikanische Tänze

Ein Jahr für Gott

Encounter, Seelsorge und Panikattacken

Das Beste kommt zum Schluss

Nachwort

Danksagung

Vorwort

Manche werden sich vielleicht fragen, wie eine junge Frau in ihren Dreißigern dazu kommt, ein autobiografisches Buch zu schreiben. Nun, es hängt sehr viel damit zusammen, dass kaum jemand, der mich heute kennt, sich im Geringsten vorstellen kann, durch welche Tiefen ich in meinem Leben bereits gegangen bin. Wenn ich davon erzähle, dass ich ein Buch über mein bisheriges Leben schreibe, werde ich oft sehr überrascht angeschaut: „Oh, worum geht es denn darin?“ Ich schaue die Person dann durchdringend an und sage: „Es geht um die Lebenskrisen, durch die ich mit meiner gesamten Familie gegangen bin und wie der Glaube mein ganzes Leben verändert hat und unser Familienleben wiederhergestellt hat. Wir haben eine sehr innige und freundliche Beziehung zueinander, und das war nicht immer so. Ich weiß, man sieht es mir heute nicht mehr an, aber ich bin durch viele Extreme gegangen. Ich war depressiv, selbstmordgefährdet, bin mit Punks, Gothics und Metalheads durch die Straßen gezogen. Ich hatte viele flüchtige Beziehungen, One-Night-Stands, Alkoholexzesse und habe mich einige Zeit lang sehr aktiv mit Satanismus beschäftigt.“ Dann herrscht Stille. Die häufigste Reaktion, die danach folgt, ist: „Oh, das hätte ich wirklich nicht vermutet, so wie ich dich kenne. Du bist so ein lebensfroher Mensch und du stehst wirklich fest im Leben. Das ist sehr erstaunlich – wann kommt dein Buch? Ich möchte es lesen!“

Wie kam es zu diesem Buch? Vor ein paar Jahren wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, auch über die Tiefpunkte im Leben zu sprechen. Es gab zu viele Dinge, über die ich lange nicht gesprochen hatte. Zu viele Dinge, die es wert waren, erzählt zu werden. Ein Schmerz, von dem ich wusste, dass ihn nur allzu viele Menschen kennen. Für diese Menschen könnte das reine Erzählen meiner Geschichte bereits wie eine Erlösung sein. Sie sollten wissen, dass sie nicht allein in ihren Tiefen sind. Und noch mehr: dass es eine Antwort auf ihre Fragen gibt. Eine Ermutigung zum Leben.

Also fasste ich einen Entschluss. Ich wollte schreiben. Ich sprach ein tiefes Herzensgebet aus, dass Gott meine Geschichte dazu verwenden sollte, vielen Menschen eine Stimme zu schenken, die nicht gehört und gesehen werden. Ich bat ihn, sich ihnen zuzuwenden und ihnen eine himmlische Begegnung zu schenken. Dann begann ich zu schreiben. Es floss nur so aus meinen Fingern. Erinnerungen wurden lebendig vor meinen Augen. Es war wie Magie, doch viel stärker und reiner. Gott hat so viel in meinem Leben getan und ich musste es einfach aufschreiben.

Nun, es ist nicht leicht, über die schweren Kapitel im Leben zu schreiben. Auch wenn die Erlebnisse schon einige Jahre zurückliegen. Ich habe während des Schreibprozesses professionelle Hilfe und Unterstützung in Anspruch genommen und war für einige Zeit in einer Klinik, um alte Schmerzen aufzuarbeiten, die dabei zutage gefördert wurden. Besonders bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen könnte meine Geschichte an manchen Stellen existenzielle Gefühle hervorrufen und wie ein Trigger wirken. Mein Wunsch ist, dass meine Geschichte bei der Aufarbeitung von Erlebnissen unterstützt und nicht retraumatisiert. Falls also negative Gefühle hervorgerufen werden, bitte ich alle Lesenden, sich Hilfe zu holen und nicht zu versuchen, die Situation allein durchzustehen.

Eine meiner wichtigsten Erfahrungen war zu erkennen, dass es Hilfe gibt. Auch wenn ich immer wieder Momente hatte, in denen ich mir sehr sicher war, dass mich kein Mensch auf dieser Welt wirklich verstehen könnte – so hat es doch immer Menschen gegeben, die ein offenes Ohr für mich hatten. Manchmal gibt es nicht direkt eine Lösung für die konkrete Situation, aber in einem vertrauten Umfeld von den eigenen Gefühlen zu erzählen, kann vieles verändern und verbessern.

Also, meine Ermutigung gleich vorneweg: Trau dich, dich zu öffnen und zu erzählen. Und sollte dir eine Person einreden, dass du von einem bestimmten Geschehnis nichts verraten darfst, dann möchte ich dir sagen: Höre auf dein Herz. Wenn es sich für dich nicht gut anfühlt, dann spricht das dafür, dass diese Person dein Vertrauen missbraucht. Es wird dir guttun, wenn du dich jemandem anvertraust. Am besten einer Person, die dir den Eindruck vermittelt, dass sie fest im Leben steht und gut mit anderen Menschen umgehen kann. Du musst nicht von jedem Detail erzählen, das dir passiert ist, aber erzähle bitte von deinen Gefühlen. Das ist wichtig für dich und kann dir sehr weiterhelfen.

In meinem Buch erzähle ich auch davon, wie verletzt ich von dem Verhalten meiner Familienmitglieder war. Mir ist es wichtig, einen offenen Umgang damit zu haben, denn nur so wird sichtbar, wie groß das Wunder ist, dass wir trotz einer so verfahrenen Vergangenheit wieder zueinandergefunden haben. Ich habe meine Familienmitglieder in alles mit hineingenommen, was ich in diesem Buch geschrieben habe. Sie sind einverstanden, dass ich offen von unserer Vergangenheit erzähle, und sprechen seit vielen Jahren ebenfalls sehr offen darüber. Meine Eltern ermutigen andere Eltern in ihrem Umkreis, wenn diese Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihren Kindern erleben, darauf bin ich sehr stolz.

Prolog

Es ist schwer zu sagen, was genau für eine Szene es war, der ich in dieser großen Stadt begegnete. Linksradikale Skinheads tummelten sich mit Skatern, mit Metalheads, mit Punks. Emos mit dicken Eyelinern und ihrem Pony im Gesicht tranken ihr Bier mit nietenumgürteten Irokesenträgern. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass es so viele Menschen gab, die das lebten, wonach ich mich sehnte: das Gefühl, anders zu sein, nach außen zu tragen. Sich nicht anzupassen, sondern auszubrechen. Ich spürte, dass all diese Jugendlichen, die ich dort sah, Außenseiter waren – und gleichzeitig waren sie für mich die bewundernswertesten Menschen auf dem Planeten. Ich spürte einen neuen Wind, eine Kraft und eine Freiheit. Insgeheim wusste ich, dass ich hier, in der Gemeinschaft mit diesen Leuten, einen Ort gefunden hatte, an dem ich mich für nichts schämen müsste. Und genau so war es auch.

Als ich das erste Mal dort war, saugte ich all die Einflüsse wie ein Schwamm auf und war völlig aufgeregt. Es wurde viel getrunken, auch wenn keiner wirklich Geld dafür hatte. Es berührte mein Herz, wie alle das teilten, was sie hatten. Wenn jemand eine Kiste Bier hatte, teilte er sie mit allen. Es war keine Schande, wenig zu besitzen. Abgetragene Kleider wurden gefeiert. So manch einer leistete sich ein Bandshirt seiner Lieblingsband oder ein Nietenarmband. Manche, die arbeiten gingen, ließen sich Tattoos stechen oder piercen. Andere steckten sich Sicherheitsnadeln in die Ohren, die sie vorher mit einem Feuerzeug erhitzt hatten.

Ich lernte sehr schnell Leute kennen. Aber um 23:30 Uhr war der Zauber zu Ende. Das war die Zeit, zu der der letzte Bus nach Hause fuhr. So bald wie möglich fuhr ich wieder hin, lernte mehr Leute kennen und saugte den Lifestyle weiter auf. Unsere Gespräche waren erfüllt von Sarkasmus, Selbstironie und – das war neu für mich – auch von Hass. Es wurde eine Wut kundgetan über „das System“, über Scheinheiligkeit, über biedere Familienverhältnisse, die nicht das halten konnten, was sie versprachen. Über aufgehübschte Außenfassaden und tiefgreifenden Schmutz im Inneren von Menschenleben. Es war für mich eine große Erleichterung, Raum zu finden, Worte für etwas zu finden, was ich die ganze Zeit tief in meinem Herzen trug.

Zu Beginn dieser Zeit war ich noch sehr gewissenhaft, was den letzten Bus nach Hause anging. Aber in mir regte sich der Wunsch, genauso frei zu sein wie meine neuen Freunde. Also blieb ich einfach dort, ohne zu wissen, wo ich schlafen sollte, und sagte meinen Eltern am Handy, dass ich bei Freunden unterkommen würde. Dann verbrachte ich meine erste Nacht mit dem „Gesöcks“ in der Tiefgarage. Es war schweinekalt und ich konnte nicht schlafen. Es stank nach Autoabgasen und Urin, aber es war unvergesslich. Am nächsten Morgen tranken wir Bier und holten uns einen Kaffee bei McDonald’s.

Jedes Mal, wenn ich dort war, tranken wir, was das Zeug hielt. Es war mir ein großer Spaß, betrunken vom Bahnhofsvorplatz in die Stadt zu laufen und dabei das Gefühl zu haben, dass die Häuser neben mir flüssig wurden und ich schnell war wie ein Windhund. Doch viel zu trinken, war teuer und kaum jemand von uns hatte viel Geld. Ich ließ mich gerne einladen, was nicht selten in einem Flirt oder auch mehr endete. Ich lernte Menschen kennen, die mir die Haare festhielten, wenn ich mich am Straßenrand übergab, solche, die mich auf mein nächstes Getränk einluden, und solche, die mir ihre Überlebensstrategien in der Szene zeigten.

In mir gab es einen Hunger, der immer mehr wuchs: Ich wollte ein Teil dieser Szene sein. Ich wollte, dass die anderen wussten, wie ich bin. Ich wollte einen Namen haben.

Teil I

Ein glücklicher Start in die Lebensstraße

Mein Leben begann so harmonisch, dass ich es heute selbst kaum begreifen kann. Mit meinen Eltern wohnte ich in einer kleinen Seitenstraße meines Heimatortes, in der kaum Autos fuhren. Nicht nur das: Überall konnte man Kinder spielen sehen und hören. Kleine Fahrräder, Bobbycars und ein Rudel lachender Kinder gehörten zum täglichen Bild unserer kleinen Welt.

Die Nachbarn kannten sich nicht nur, nein, sie lebten enge Freundschaften. Einer half dem anderen. Mehrmals im Jahr trafen sich alle Familien zu großen Straßenfesten. Mitten auf der Straße standen die Bierbänke und jeder brachte einen Salat mit, dann wurde der Grill angeworfen.

Es war ein freundliches Umfeld, in dem ich auf die Welt kam. Meine Eltern wünschten sich ein Kind und es gab ein großes Fest, als meine Mama mit mir als frisch geschlüpftem Würmchen nach Hause kam. Meine Eltern pflegten einen engen Kontakt zu meinen Großeltern mütterlicherseits. Jedes Wochenende waren wir dort. Wir haben mit unseren Cousinen und Cousins im Garten gespielt, sind gerutscht, haben geschaukelt und im Planschbecken getobt.

Diese Wochenenden waren wie eine Feier unseres Lebens für mich. Ganz besonders schön waren dann noch unsere Geburtstage. Meine Schwester und ich hatten viele Kinder und unsere große Verwandtschaft zu Besuch. Meine Mama war an Kreativität nicht zu schlagen und dachte sich die spannendsten Spiele für uns aus. Sie konnte eine Schar von Kindern sehr gut in ihren Bann ziehen und steckte alle mit Freude und Abenteuerlust an.

Auch Musik war zu dieser Zeit oft zu hören. Zusammen mit unserer Mama sangen wir Lieder, die aussagten, dass Gott sich schon auf uns gefreut hat – noch bevor wir eigentlich geboren wurden.

Meine Mama war stolze Mutter und Hausfrau und hat Dienste in unserer Kirchengemeinde übernommen. Die freie Zeit, die meine Mama hatte, nutzte sie, um jeden Tag gesund zu kochen, mit uns schöne Dekorationen zu basteln oder Ausflüge zu machen, uns Dinge beizubringen und uns zu versorgen, wenn wir krank waren. Oder auch, um einfach mal Quatsch mit uns zu machen.

Mein Papa war sehr verspielt und freiheitsliebend. Unsere schönsten Momente hatten wir mit ihm, wenn wir uns auf dem Sofa an ihn gekuschelt haben, während er Zeitung gelesen hat oder wenn er uns herumgetragen hat. Ich glaube, den häufigsten Satz, den er in der Zeit gehört hat, war: „Nochmal, Papa, nochmal!“ Er hat wirklich viel gelacht und hatte viele verrückte Ideen. Eine seiner großen Leidenschaften war es, mit der ganzen Familie in Schwimmbäder, Tierparks oder Freizeitparks zu fahren. Wir haben noch Tausende Fotos aus dieser Zeit. Er arbeitete in einer Firma als Außenhandelskaufmann und liebte seinen Beruf sehr. Er war mit allen Kollegen und seinem Chef per Du und fuhr ab und zu mit einigen von ihnen Motorrad.

Eine der schönen Erinnerungen, die ich habe, ist die Erinnerung an unsere Dorfgemeinschaft. Jeder im Ort kannte meinen Namen. An Sankt Martin oder Fastnacht gab es große Events, bei denen wir uns alle versammelt haben und wir Kinder Süßigkeiten bekommen haben. Wenn ich durch die Straße gelaufen bin, haben die Leute mich gegrüßt und gesagt: „Ach guck, dat is doch et Bopste1 Eva! Wie, is dat awer groß woor!“

1 Der Rufname entstand aufgrund desjenigen, der das Haus gebaut hatte, in dem man lebte. In dem Fall „Papst“, also „Bobste“.

Krebs und der Feind allen Lebens und aller Freude

Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass diese Idylle in meiner Kindheit nicht lange gehalten hat. Sonst wäre ich nicht die Person, die ich heute bin, und dieses Buch wäre nie entstanden.

Es begann damit, dass meine Oma immer öfter ins Krankenhaus musste. Sie hatte einen bösartigen Tumor, der so versteckt in einer Dünndarmschlinge lag, dass die Ärzte ihn viel zu spät entdeckten. Er hatte bereits gestreut. Dennoch versuchte man es mit Bestrahlungstherapie. Nun stellte sich die Frage, wer aus unserer Familie meine Oma pflegerisch unterstützen konnte, und die Wahl fiel auf meine Mutter. Meine Tante kam wegen eigener gesundheitlicher Belastungen nicht infrage, mein Onkel wohnte für eine so aufwendige Pflege viel zu weit weg und hatte ein Weingut zu verwalten.

Deswegen zogen wir, als ich sechs Jahre alt war, in das Mehrgenerationenhaus meiner beiden Omas um. Oma, Opa und Uroma im Erdgeschoss, wir in der Mitte und über uns meine Tante und ihre beiden Kinder. Meine Freunde wohnten mit einem Mal sehr weit entfernt. Weit weg von meinem gewohnten Umfeld und losgelöst von den spielerischen Zeiten mit den Großeltern in der Vergangenheit, begann ich, die Umgebung im Haus meiner Großeltern anders wahrzunehmen. In unserer Nachbarschaft wohnten alte Menschen und wirklich furchteinflößende Landwirte mit einem sehr bissigen Hund, der jedes Mal gegen den stark nach außen gewölbten Zaun sprang, wenn wir vorbeiliefen. Es schepperte gewaltig und meine kleine Schwester und ich waren uns nie sicher, ob der Zaun dieses scheinbar seelenlose Geschöpf überhaupt aufhalten konnte. Unsere Nachbarn hassten Kinder und drohten uns mit der Mistgabel, wenn wir zu nah an ihr Grundstück kamen. Die Straße vor unserem Haus war die Hauptstraße des Dorfes. Dort fuhren die Autos sehr schnell vorbei und es gab immer Verkehr.

Ich war mit der Situation überfordert und fühlte mich einsam. Die Stimmung im Haus war nun mehr bedrückend als einladend. Von der fröhlichen Atmosphäre, die ich als kleines Kind mit meinen Großeltern erlebt hatte, schien nicht mehr viel übrig zu sein. Dennoch gestaltete meine Mama mit aller Liebe unser Kinderzimmer. Wir hatten ein Hochbett, eine wundervolle Wandbemalung mit Tieren, die mit einem Fahrrad über einen Regenbogen fuhren, und eine Hängematte. Es gab viele Kisten mit schönen Spielsachen und Papa hatte eine Tellerschaukel an die Decke unseres Zimmers montiert, mit der wir wie wild im Raum umherschaukeln konnten. Diese kleine Idylle war wie eine Insel in dem stürmischen, unbarmherzigen Meer, in dem ich mich nun befand.

Immer häufiger wurde ich gebeten, mich um meine kleine Schwester zu kümmern. Und auch meine Hausaufgaben galt es zu erledigen, doch es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mama saß oft bis spätabends mit mir an den Aufgaben. Doch sonst war sie immer schwerer für mich zu erreichen. Manchmal hatte ich eine Frage und ging auf die Suche und fand sie einfach nicht.

Der Stress durch die Pflege ihrer eigenen Mutter begann sich in meiner Mama immer deutlicher zu zeigen. Irgendwann sprach er aus ihr heraus. Sie war ungeduldig mit mir. Sie band mich immer mehr in Verantwortlichkeiten ein, hatte aber gleichzeitig keine Zeit, um mir zu erklären, was sie von mir forderte. Ich war häufig verunsichert darüber, was ich zu tun hatte. Es gab keinen festen Plan oder Absprachen, alles musste spontan irgendwie funktionieren. Sie kam oft herein und ärgerte sich über etwas. Wie etwa, wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt oder das Zimmer nicht aufgeräumt war. Es war, als erwartete sie von mir, ihre Gedanken und Wünsche zu kennen, ohne sie vorher ausgesprochen zu haben. Dann war sie enttäuscht, wenn sie nicht das gewünschte Ergebnis vorfand. Das konnte schon bei scheinbar unbedeutsamen Kleinigkeiten so sein. Manchmal machte ich Dinge nicht, weil ich nicht daran gedacht hatte oder weil ich dazu eine Frage hatte. Aber für Fragen war keine Zeit. Es musste einfach irgendwie weitergehen. Meine Mama hatte selbst nicht richtig gelernt, Bedürfnisse zu kommunizieren. Das fehlte uns nun im Umgang miteinander.

Ich wurde unruhig. Fixierte mich mehr und mehr auf meine Mama, versuchte sie zu verstehen, ohne ihre Anweisungen, ihre Wünsche und Bedürfnisse überhaupt zu kennen. Das verursachte eine gewaltige innere Unruhe in mir, die von nun an zu meinem Alltag gehörte und lange Zeit unbemerkt blieb. Nachdem dieser Zustand einige Monate anhielt, entwickelte ich Allergien und Ticks. Ich träumte in der Schule und träumte zu Hause.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich wieder einmal mit meiner Mama noch bis um 6 Uhr abends an den Hausaufgaben gesessen hatte. Wir hatten gleich nach dem Mittagessen damit begonnen.

„Mama, wieso kann ich nicht mit den anderen Kindern spielen gehen?“, fragte ich.

„Das hier ist viel wichtiger als die Zeit mit anderen Kindern, Eva! Erstmal musst du diese Aufgabe verstehen, danach kannst du etwas anderes machen.“

Ich gab mein Bestes, versuchte, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Doch wie sehr ich mich auch bemühte, ich las Sätze durch und wusste nicht mehr, was darin gestanden hatte. In der Schule hörte ich die Lehrerin sprechen, doch es war wie ein Rauschen für mich. Ich hatte keinen Zugang zu dem, was sie mir sagen wollte. Manchmal war ich so unaufmerksam, dass ich nicht einmal mitbekam, dass sie mich aufgerufen hatte.

Ich hatte aber eine ausgeprägte Fantasie und verbrachte viel Zeit mit meinen Kuscheltieren, mit denen ich Abenteuer durchspielte. Meine Schwester und ich bauten uns Höhlen aus Decken und Kissen. Doch auch sie war nicht immer erreichbar für mich.

Meinen Papa sah ich in dieser Zeit noch weniger. Er war arbeiten. Wenn er nicht arbeiten war, traf er sich oft mit Freunden. Bei Anliegen innerhalb der Familie orientierte er sich sehr an meiner Mama. Wenn ihr etwas nicht passte, war er auch unzufrieden. Wenn sie etwas einforderte, pflichtete er ihr bei.

In dieser Zeit vermisste ich es, Menschen um mich herum zu haben, die wirklich zu mir hielten oder sich für meine Bedürfnisse einsetzten. Wenn ich mich einmal verletzte oder mir etwas fehlte, reagierten meine Eltern häufig mit Sätzen wie: „Ach, ist doch nicht so schlimm.“ Oder: „Stell dich nicht so an.“ Meinem Vater fiel es nicht leicht, mich zu fragen, was ich auf dem Herzen hatte. Es kam vor, dass es Spannungen gab, die so weit gingen, dass mein Papa mir mit Schlägen drohte. Dadurch fühlte ich mich sehr schlecht und wurde ängstlich.

Auch wenn ich verträumt war als Kind, war ich dennoch nicht gänzlich in mich gekehrt. Ganz im Gegenteil, ich konnte sehr ausdrucksstark sein. Ich hatte eine sehr sensible und empfindliche Wahrnehmung und konnte sie gut zu Papier bringen, indem ich Geschichten schrieb oder malte. Mein Lachen war schon früh sehr durchdringend und kraftvoll, weshalb ich in der Zeit, in der wir mit meinen Großeltern im Haus lebten, oft Zurückweisung durch sie erfuhr. Auf der Suche nach Gemeinschaft ging ich zu meiner Oma und Uroma. Begann zu erzählen, zu singen, zu lachen. Doch sie hatten dafür nicht viel übrig. Die beiden, oder auch meine Mama, wiesen mich in solchen Momenten regelmäßig scharf zurecht: „Geh raus! Wir können dich hier nicht gebrauchen!“ Wenn sie es auch genossen hatten, mich und die anderen Kinder unserer Großfamilie im Kleinkindalter um sich herum zu haben, so waren sie nun völlig wesensverändert und abweisend. Diese Abweisungen rissen eine tiefe Wunde in mir auf, die sehr lange brauchen sollte, um zu heilen. Noch viele Jahre später war sie mein ständiger Begleiter. Es sollte eine Zeit kommen, in der ich alles daransetzte, um die Anerkennung von jungen Männern zu bekommen, damit ihre Nähe ein Balsam auf dieser Wunde werden konnte. Doch mit jeder Begegnung wurde die Wunde nur noch größer. Aber davon erzähle ich später.

Die Luft im Haus meiner Großeltern war mittlerweile so dick, dass man darin kaum atmen konnte. Jede Freude wurde gleich im Keim erstickt.

Dabei hatte ich immer wieder kreative Ideen. Ich mochte es, mit meinen kleinen Cousins und Cousinen Raubtier zu spielen oder unseren Garten in einen Wasserspielplatz zu verwandeln. Das stieß aber auf ärgsten Widerstand bei den Erwachsenen. „Du hast ja nur Dummheiten im Kopf! Du bist zu nichts zu gebrauchen! Kannst du denn nicht mal ein Vorbild für die Kleineren sein?! Du bist ja die Schlimmste von allen zusammen!“ Sie konnten nicht verstehen, warum ich nicht etwas in ihren Augen Sinnvolles tat. Zum Beispiel im Haus zu arbeiten. Für meine Spielereien und Fantastereien hatten sie nicht viel übrig.

Doch ich war nicht die Einzige, die mit Ablehnung konfrontiert war. Auch mein Vater war in den Augen meiner Oma und Uroma ein Anstoß. Und selbst meine Mutter musste sich – trotz ihres großen Einsatzes – ständig Nörgeleien und Vorwürfe anhören. Meine Oma drangsalierte sie regelrecht und forderte sie ständig auf, etwas für sie zu tun. Wenn ihr etwas nicht passte, gab es großen Ärger. Eigentlich gab es in jeder Hilfestellung meiner Mama etwas, das sie falsch machte und „übersehen“ hatte. Meine Mama war überladen mit Schuldgefühlen und verlor ihr Selbstvertrauen. Sie war massiv verunsichert und drehte sich um sich selbst und all ihre Sorgen. Ich werde nie vergessen, wie oft meine Oma mit einem sehr lieblosen Tonfall nach meiner Mama rief. „Heikeeee, Heikeeee!“ Meine Mama bekam dann immer den Blick von einem scheuen Reh, das eine Gefahr witterte, und lief sofort los. Es war, als ob jemand mit einer Peitsche hinter ihr her war. Sie kam kaum noch zur Ruhe. Ihre Gespräche drehten sich nur noch darum, was zu tun war, damit alle im Haus versorgt waren. Wer braucht wann welche Versorgung, was essen wir als Nächstes, was muss eingekauft werden, braucht noch jemand etwas aus der Apotheke? Letztlich hörte sie nie damit auf zu versuchen, ihr Bestes zu geben. Es kostete sie alles.

Es gab nur wenige Momente, in denen meine Mama von ihrer Mutter und Großmutter wahrgenommen und scheinbar akzeptiert wurde – und das war, wenn sie selbst Unzufriedenheit oder Bitterkeit über etwas ausdrückte, was sie im Alltag durchmachen musste. Es war, als ob die beiden keine andere Sprache verstanden. Lebensfreude, Zufriedenheit oder Lachen war ihnen fremd. Sie empörten sich regelrecht, wenn jemand in ihrer Gegenwart mit Leichtigkeit durch den Tag ging. Jeder sollte Anteil an ihrem Leid nehmen. Es war ihnen, als machte man sich über sie lustig oder als wollte man sie beleidigen, wenn jemand sich in ihrer Gegenwart über etwas freute.

Meine Mama ließ sich immer mehr auf die bittere und lieblose Lebensmelodie ihrer Mutter und Großmutter ein. Auch ihre Gedanken waren mit der Zeit nur noch von Schmerz und Krankheit bestimmt. Sich etwas Gutes zu tun und eine Pause zu machen, kam für sie nicht infrage. Es erschien ihr egoistisch. Sie war geplagt von einem schlechten Gewissen gegenüber meiner Oma und Uroma. Von Mal zu Mal fühlte meine Mama sich immer mehr von etwas gestört. Dazu kam, dass sie wirklich permanent am Ende ihrer Kräfte war.

Da ich die größere von uns Schwestern war, waren Mamas Erwartungen an mich entsprechend hoch. Sie war oft überfordert mit mir und begann bei meinen Großeltern über mich zu klagen. Es vergingen einige Wochen, einige Monate und sie steigerte sich in diese Klage hinein. Es war nicht so, dass sie ständig mit mir schimpfte oder mir sagte, was ich verbessern könnte. Wenn wir in unserer Wohnung waren, dann hatten wir oft einfach Gemeinschaft und lebten den Alltag. Doch sobald wir die Wohnung meiner Großeltern betraten, war es, als tauchten wir in eine finstere Blase ein. Meine Mama sagte dort Dinge über mich, von denen ich nicht wusste, dass dies ihre Meinung war. Sie beschwerte sich über mich, lauthals. Während ich dabei war. Sie ärgerte sich über Dinge, die sie zuvor mir gegenüber nie erwähnt hatte. Wie lästig es sei, dass ich mich in der Schule nicht konzentrieren könne. Wie anstrengend es sei, mich durch den Alltag zu begleiten. Dass nichts funktioniere, was sie mir zeigte. Ich weiß, dass es wirklich schwer für Mama war und sie in diesen Momenten eine ganz reale Not hatte. Doch das Resultat war, dass meine Oma und Uroma mich regelrecht verachteten. Zusätzlich machte es mir sehr zu schaffen, diese Klage über mich anzuhören. Ich war schockiert, weil ich scheinbar viele schlimme Dinge tat, die mir selbst nicht gesagt wurden. Dies nun aber im Kreis meiner Großfamilie ausgebreitet zu hören, war für mich, als würde mich jemand auf offenem Feld völlig unvorbereitet und schutzlos von allen Seiten attackieren. Meinen Opa erlebte ich in dieser Zeit nicht als hart oder abweisend, sondern mehr als zurückhaltend und besorgt. Auch er schien seine Zweifel zu haben, was aus mir werden sollte.

Alles, was ich nicht konnte, wurde durchexerziert bis ins letzte Detail. Ich war in den Augen meiner Großfamilie ein richtiges Problemkind und sie scheuten nicht davor zurück, mir das genau so zu sagen. Das war für mich sehr schmerzhaft und ich hatte das Gefühl, ein Störfaktor zu sein. Was auch immer ich tat, dachte, äußerte – ja alles, was mich ausmachte –, brachte scheinbar eine Belastung in das Leben meiner engsten Mitmenschen. Dadurch legte sich eine Schwere auf mein Leben. Diese Schwere und das Gefühl, dass mein Leben nichts als eine Last darstellte, hätten viele Jahre später fast dazu geführt, dass mein Leben viel zu früh beendet gewesen wäre. Aber auf diese Kapitel komme ich später zurück.

Einmal im Jahr gab es diese Tage, an denen sich auf wundersame Art und Weise eine Türe öffnete und ich plötzlich durchatmen konnte. Das war, wenn mein Papa mit meiner Schwester und mir zur Vater-Kind-Freizeit fuhr. Ich war noch nicht im Schulalter, als wir dort zum ersten Mal hinfuhren. Ab da waren wir immer an Christi Himmelfahrt für vier Tage dort. Diese Zeit konnte ich das ganze Jahr über schon kaum abwarten.

Die Freizeit fand in einem evangelischen Veranstaltungshaus im Westerwald statt. Das Gebäude war groß und aus dem Speisesaal roch es immer herrlich nach frischen Speisen. Es gab eine sehr große Gartenanlage am Haus, mit einem liebevoll gestalteten Bereich für Kinder, mit einem Kletterparcours und einigen Hütten aus Weidesträuchern.

Das größte Highlight für mich war ein Atelier, das sich im Erdgeschoss des Anbaus befand. Dort standen große Staffeleien und mit Farbe bekleckste Stühle. Im Zimmer nebenan gab es eine Werkstatt, in der mit Holz gearbeitet werden konnte. Es roch dort überall nach Acryl, frisch verarbeitetem Holz und Ton. Später in meinem Leben machte ich immer wieder die Erfahrung, dass die Kunst ein Weg für mich war, um mich auszudrücken. Selbst – oder gerade – dann, wenn ich eine große Leere in mir fühlte und mich von niemandem verstanden glaubte.

Ich erinnere mich noch an unsere gemeinsamen Aktivitäten auf dieser Freizeit. Wir begannen jeden Morgen mit einer großen Versammlung, in der sich alle Väter mit ihren Kindern in einem lichtdurchfluteten Saal zusammenfanden. Es gab eine kleine Andacht, die von dem Leiter der Freizeit gehalten wurde, und wir sangen ein paar Lieder zusammen. Das war oft urkomisch, weil die Väter meistens in einem sehr tiefen Ton sangen und die Kinder mit ihren hellen Stimmen kaum dagegen ankamen. Wir gaben uns oft Mühe, besonders schrill zu singen, um die Väter zu übertrumpfen. Diese ließen sich die Herausforderung nicht nehmen.

Zum gemeinsamen Frühstück gab es ein ganz herrliches Büfett. Danach unternahmen wir Ausflüge, spielten große Gemeinschaftsspiele oder lebten unsere Kreativität im Atelier aus. Wir gingen in den Park und tobten über die Wiese. Wir spielten Schnitzeljagd im ganzen Wald und bauten Staudämme im Fluss. Im großen Saal veranstalteten wir Olympiaden und Wettkämpfe. Abends saßen wir zusammen am Lagerfeuer und machten Stockbrot.

Es gab nicht viel, was mir damals so viel bedeutete wie diese Freizeiten. Einmal fiel diese Zeit genau auf meinen Geburtstag. Wir veranstalteten dort eine große Feier für mich und ich wurde auf einem Stuhl durch den ganzen Saal getragen. Alle sangen mir Geburtstagslieder und es gab einen leckeren Kuchen für uns alle. Das war sowas von großartig! Es war eine lebensfrohe Zeit, die mir Kraft gab, um durch den Alltag zu kommen und die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Zumindest bis zum nächsten Zwischenfall.

Das letzte Einhorn

In der zweiten Klasse schrieb meine Lehrerin mir folgende Einschätzung in mein Zeugnis: „Eva muss häufig zu mehr Beteiligung am Unterricht aufgefordert werden, sie ist oft verträumt und unaufmerksam. Mit den schriftlichen Arbeiten beginnt sie nur zögernd, sie trödelt oder ist abgelenkt. Bei der Ausführung von Arbeitsaufträgen zeigt sie oft Unsicherheit und braucht zusätzliche Hilfe.“

„Stell dir vor, du und ich. Wir sind die letzten Einhörner. Wir müssen uns im Wald verstecken!“

„Ja, wir müssen schnell sein! Sie sind uns dicht auf den Fersen! Am besten verstecken wir uns in einer großen Höhle! Aber wie können wir dort nur etwas zu essen finden?“

„Ich weiß es, wir gehen tiefer hinein. In der Mitte der Höhle, da finden wir eine unterirdische Oase. Dort gibt es einen Baum. Seine Wurzeln müssen wir essen. Sie machen uns satt und sie heilen sogar Krankheiten!“

„Ja, jetzt aber schnell, sie finden uns sonst noch!“

„Eva, was habe ich gerade gesagt? Hörst du mir überhaupt zu? Eva! Ihr beiden solltet nicht zusammensitzen. Beim nächsten Mal setze ich euch auseinander!“

Ich hatte eine Freundin in der Grundschule, die genauso verträumt war wie ich. Ihr Name war Frederike. Ich mochte sie wirklich gerne. Ihre Mama arbeitete im Theater als Maskenbildnerin und wir durften ab und zu in die Theaterwerkstätten kommen, um ihr und den anderen Mitarbeitenden bei der Arbeit zuzuschauen. Das waren unvergessliche Erlebnisse. Wir schauten uns Kinderoperetten an und lernten die Darsteller von Papageno und Tamino aus der Aufführung der Zauberflöte kennen. In den Werkstätten der Oper gab es schillernde Kostüme aus verschiedenen Epochen. Große Ballkleider, königliche Anzüge. Regale standen voll mit hohen Perücken und flauschigen Tiermasken. Ein Bärenkopf schaute mich mit seinen Knopfaugen an. Staunend erkundeten wir die verschiedenen Räume. In der Malerwerkstatt wurden große Requisiten erstellt. Jemand malte einen zauberhaften Wald auf große Sperrholzplatten.

„Kannst du dir vorstellen, Eva, wie lange es dauert, so eine Perücke herzustellen?“, fragte mich Frederikes Mama. „Es dauert mehrere Wochen. Schau mal, das sind alles echte Haare. Wir müssen jedes einzelne Haar in die Perücke einnähen. Das machen wir mit einer Nähnadel.“

„Boah!“

Nicht nur die Theaterwerkstatt versetzte mich in märchenhafte Welten. Meine Schwester und ich liebten es auch, Hörbücher anzuhören. Wir mochten gerne Märchen und Geschichten mit Tieren. Als ich in der zweiten Klasse das Lesen einigermaßen gut beherrschte, verschlang ich ein Buch nach dem anderen. Ich hatte eine große Sehnsucht, etwas Besonderes zu erleben. Etwas wie ein Abenteuer. Ich liebte es, den Jungen in unserer Klasse zuzuhören, wenn sie von ihren großen Visionen sprachen. Vom Fliegen, von starken Kämpfern, von Detektiven, Erfindern und Piraten. Sie spielten es nach, Tag für Tag. Der Pausenhof war immer wieder erfüllt von marschierenden Soldaten, von Funkrufen der Piloten, von starken Polizisten während der Festnahme von Einbrechern, die sie auf frischer Tat bei einem Beutezug erwischt hatten.