Dein Pferd - dein Partner - Mark Rashid - E-Book

Dein Pferd - dein Partner E-Book

Mark Rashid

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  • Herausgeber: Kosmos
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Das Pferd lässt sich nicht einfangen, ist beim Reiten unmotiviert oder schreckhaft? Mit solchen und vielen anderen Problemen wird Mark Rashid tagtäglich in seinen Kursen konfrontiert. Der bekannte Horseman öffnet die Augen für die Denkweise der Pferde und kommt dabei zu überraschenden Einsichten und manchmal verblüffend einfachen Lösungswegen. Er zeigt, was sich in der Einstellung zum Pferd ändern muss, damit der Reiter seine Führungsrolle einnehmen und dabei auch noch das Vertrauen seines vierbeinigen Partners gewinnen kann.

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Seitenzahl: 282

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DEIN PFERD – DEIN PARTNER

Vorwort

Fragen und ihre Antworten

Teil 1: Die Pferde wahrnehmen

Fehler und ihre Folgen

Grenzen setzen

Trauma-Energie verbrauchen

Teil 2: Den Pferden Führung geben

Verhalten ist Information

Tempo, Richtung, Ziel

Energie

Gleichgewicht

Teil 3: Das Pferd in seiner Ganzheit gewinnen

Beständigkeit

Zuverlässigkeit

Vertrauen

Innere Ruhe

Widmung

FÜR MEINEN FREUND GREG MARTIN – DEN GRÖSSTEN GESCHICHTENERZÄHLER, DEN ICH KENNE.

VORWORT

Wie so viele Menschen bezeugen können, ist die erste Begegnung mit Mark Rashid ein Erlebnis, das man nicht vergisst. Als ich im Juli 2001 erstmals bei ihm ritt, empfand ich seine Ruhe und seine freundliche Art des Unterrichts als sehr wohltuend, aber richtig gepackt hat es mich, als er den Unterschied zwischen „leicht“ und „weich“ erklärte. Die Unterscheidung ist sehr wichtig für dieses Buch: „Leicht“ hat mit dem Äußeren des Pferdes zu tun, mit dem „Stoff“, den es schon beherrscht. „Weich“ bedeutet Freude. Das Innere des Pferdes ist offen und jederzeit zugänglich. Von diesem Augenblick an war ich nicht nur entschlossen, diesen Weg in Richtung Weichheit weiterzuverfolgen, sondern ich schätzte mich auch glücklich, Mark dabei zusehen zu dürfen, wie er Menschen in aller Welt hilft, diese Freude in ihren Pferden und in sich selbst zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen.

Diese Freude ist keine kleine Sache. In der heutigen Welt der schnellen Resultate und seichten Geplänkel vergessen wir nur zu schnell, dass der Punkt, an dem wir uns gerade befinden, der Gipfel aus vielen kleinen Augenblicken ist, die sich über Jahre angesammelt haben. Ich glaube, einer der vielen Gründe für die Anziehungskraft von Pferden ist ihre Fähigkeit, uns wieder mit uns selbst zu verbinden und diese Augenblicke zu verlangsamen. Die Zeit, die wir mit ihnen verbringen, erweckt von Neuem Gefühle, die viele von uns nicht mehr bemerken, weil wir viel zu schnell unterwegs sind, nach denen wir uns aber im tiefsten Innern sehnen: gesehen zu werden, zu spüren, dass man uns hört, uns zu verbinden. Wie Walter (der „alte Mann“) so viel Zeit damit zubrachte, Marks Entwicklung als Pferdemann zu fördern, so helfen uns auch unsere Pferde zu wachsen. Herz ist ein wesentlicher Teil dieses Prozesses, dieser Verbindung.

Mutter Teresa sagte einmal: „In diesem Leben können wir keine großen Dinge vollbringen. Wir können nur kleine Dinge mit großer Liebe vollbringen.“ Meinem Gefühl nach haben Menschen und Pferde das Potenzial, sich zu öffnen und diese große Liebe zu geben und zu empfangen, durch Handlungen, die uns klein vorkommen. In diesem Buch weist Mark auf viele solcher Feinheiten hin. Er macht uns Mut, erst in unser eigenes Inneres zu schauen, um das zu finden, was wir von unseren Pferden haben wollen. Dieser Prozess des Innen-Außen kommt nur dann in Gang, wenn wir unseren Pferden von Anfang an das Beste anbieten, das in uns ist.

Seit Mark und ich verheiratet und zusammen unterwegs sind, sagen uns Menschen immer wieder, wie aus tiefstem Herzen dankbar sie dafür sind, dass es in ihrem Leben die Pferde gibt. Unzählige Male haben wir das Lächeln gesehen, das Pferde und die Gefühle, die sie auslösen, auf das Gesicht ihrer Reiter und Besitzer zaubern. Ich selbst habe Freude empfunden, wenn ich beobachtet habe, wie Menschen und ihre Pferde Dinge getan oder gefühlt haben, die sie nie zuvor getan oder gefühlt hatten. Wir haben erlebt, wie Pferde das Leben eines Menschen verändern können und wie Pferde und Menschen „weich“ werden. Ein paar dieser Geschichten sind in diesem Buch enthalten.

Neben diesen Geschichten stehen auch solche von dem alten Mann, mit dem Mark als Halbwüchsiger gearbeitet hat. Ich hätte Walter gern gekannt. Aber wie so viele von uns kenne ich ihn nur durch Mark und die Geschichten, die er von ihm erzählt. Auf einer unserer Fahrten quer durchs Land hatten Mark und ich Gelegenheit, uns anzusehen, was von Walters Hof übrig geblieben ist.

Der einspurige Kiesweg, den Mark zu Walters Ranch immer entlangradelte, ist heute gepflastert und zweispurig ausgebaut, rechts und links flankiert von niedrigen Bungalows mit adretten Vorgärten. Diese Bungalows stehen um das herum, was von den flachen grünen Weiden übrig geblieben ist, auf denen einst Pferde grasten. Beim Anblick dieses schrumpfenden Fleckchens Erde, von Wildblumen bedeckt, ist es nur schwer vorstellbar, dass es hier einmal Ställe, Scheunen, Paddocks, Zäune und einen Reitplatz gab und einen Mann und einen Jungen, die zusammen mit den vielen Pferden arbeiteten, die hier durchkamen. Als Betrachter würden Sie nicht wissen, dass der Same, der in diesen Jahren gelegt wurde, sich nicht in der Erde befand, sondern in einem schlaksigen Jungen, der Pferde liebte und eines Tages das, was der alte Mann ihn gelehrt hatte, mit so vielen Menschen und ihren Pferden in der ganzen Welt teilen würde.

Hier sind wir also, über 100 Jahre, nachdem Walter seinen eigenen Weg mit Pferden begann. Von außen wirken die Dinge fortschrittlicher als das, was Walter zu seiner Zeit sah. Aber ich glaube, innen drin haben wir uns nicht sehr verändert. Unsere Sehnsüchte, unsere Wünsche für uns und unsere Lieben unterscheiden sich nicht von denen unserer Urgroßeltern. Von außen gesehen haben auch die Pferde sich verändert: Es gibt sie in allen Größen und Formen und zu einer Vielzahl von Zwecken. Im Innern des Pferdes aber lebt derselbe Geist. Für mich liegt deshalb ein Sinn darin, dass das, was der alte Mann in seiner Jugend lernte, was er an allen seinen Arbeitsstellen praktizierte und schließlich an Mark weitergab, eine Brücke darstellt. Es ist quer durch die Zeit ein breites Band von Wissen, das unter die oberflächlichen Veränderungen sieht und zum Herzen der Dinge vordringt.

Auch Marks Geschichten sind wie diese Brücke oder wie eine Lieblingsmelodie. Auf dieselbe stille Art, in der er Unterricht gibt, zeigt er eine Richtung auf, gibt Ihnen eine Vision des Weges, der zur Weichheit führt, zu diesem Ort der Freude. Auch wenn Sie und Ihr Pferd Ihren ureigensten Weg beschreiten, möchte ich doch, dass Sie diese Geschichten wie Noten zu der bekannten Melodie betrachten – mit Offenheit und der Bereitschaft, Ihre eigene Stimme dem Gesang beizufügen. Mit etwas Nachdenklichkeit, einer kleinen Sehnsucht und ganz viel Herz können Sie die Lektionen, die Mark anbietet, annehmen und mit ihrer Hilfe Ihren eigenen Weg finden.

Alle guten Wünsche für Sie und Ihre Pferde

Crissi McDonald

August 2008

Estes Park, Colorado

FRAGEN UND IHRE ANTWORTEN

Es ist noch nicht sehr lange her, da wachte ich eines Morgens mit einer Frage auf. In diesem Stadium zwischen Wachheit und Traum hatte ich nicht nur nicht die leiseste Ahnung, woher die Frage kam, ich hatte nicht mal eine Idee, was sie bedeutete. Die Frage nahm nur langsam Gestalt an, und der Anfang war unschuldig genug. Zuerst waren es nur ein paar Worte, die im Nebel umhertrieben. Dann fügten sie sich zu wirren Satzfetzen und schließlich zu einer schlüssigen Frage, welche lautete:

„Was ist mächtiger – das Gestein, aus dem der Grand Canyon besteht, oder der Fluss, der ihn durchschneidet?“

Das ist leicht, dachte ich in meinem halbwachen Zustand. Das Wasser ist mächtiger, denn es hat sich durch den Fels gefressen und den Canyon geschaffen. Schläfrig drehte ich mich zur Seite. Nachdem die Frage nun beantwortet war, dachte ich, ich könnte gut noch zwanzig Minuten dösen, bis die Hunde aufwachten und hinauswollten. Aber kaum hatte ich mich umgedreht, als plötzlich eine andere Antwort auftauchte.

Der Fels ist mächtiger, denn die Wände des Canyons sind immer noch da, sagte mein Unterbewusstsein. Das Wasser, das die Felsen aushöhlte, ist längst weg und vor Jahrtausenden in den Ozean geflossen.

Meine Augen gingen auf, schlagartig war ich hellwach. Auf die Frage, die grundlos aus dem Nichts aufgetaucht war, gab es zwei passende Antworten, die man beide als richtig betrachten konnte. Ein Fluss ist mächtig, weil sein Wasser das Gestein aushöhlen kann. Aber so mächtig er auch ist, er kann nicht verhindern, dass das Wasser flussabwärts davonfließt. Schließlich könnte sich ein Wassertropfen, der gerade noch hier war, schon Sekunden später kilometerweit flussabwärts befinden. Er ist seiner eigenen Strömung ausgeliefert.

Ebenso ist der Fels, der den Fluss umsäumt, mächtig, denn er widersteht seit Millionen Jahren dem wütenden Wasser. Aber so stark der Fels auch ist, selbst er wird irgendwann schwach und gibt ganz allmählich nach.

Im frühen Morgenlicht, hier in unserem Schlafzimmer, begann sich langsam der Grund für diese irgendwie unsinnige Frage herauszuschälen. In den letzten Monaten hatte ich Unmengen von Fragen beantworten müssen: ob ich glaubte, dass Pferde besser mit oder ohne Eisen liefen, ob man sie mit oder ohne Sattel reiten sollte, mit Gebiss oder ohne, mit Bodenarbeit oder ohne … Waren Strickhalfter besser als Kunststoffhalfter? Sollte man Pferde impfen oder nicht? Es gab noch mehr Fragen, zu denen ich eine Meinung hatte, aber keine betrachtete ich als Manifest.

Wochenlang nahm diese Fragerei kein Ende. Und nicht nur das: Wenn meine Antwort nicht zu dem passte, was der Fragesteller schon glaubte, bekam ich zu meiner Überraschung einen Wasserfall von Gegenargumenten zu hören, warum meine Meinung falsch wäre. Normalerweise machen mir solche Dinge nichts aus. Im Laufe der Jahre hatte ich mit meinen Schülern viele, viele Diskussionen über die verschiedensten Themen, zu denen es jeweils zwei ausgeprägte Standpunkte gab. In dieser Zeit kam ich zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnt, jemanden überzeugen zu wollen, der nicht überzeugt werden will. Wozu also die Mühe? Aber diese Fragen müssen mich mehr beschäftigt haben, als mir selbst bewusst war. Ich brachte die Fragen nicht nur nicht aus dem Kopf, ich schien auch nichts dazu beitragen zu können, was für einige der Leute, die anderer Meinung waren, einen Sinn ergeben hätte.

Dann tauchte am frühen Morgen diese Frage auf: Was ist mächtiger – das Gestein, aus dem der Grand Canyon besteht, oder der Fluss, der ihn durchschneidet? Die Antwort war (jedenfalls meiner Meinung nach) sehr einfach: ein Unentschieden. Ich weiß, das klingt seltsam. Aber wenn wir das große Ganze betrachten, ist es einfach die Art und Weise, wie die Natur die Dinge im Gleichgewicht hält. In der Natur haben auch die mächtigsten Dinge ihre Schwächen, und selbst die schwächsten Dinge haben ihre Stärken.

An diesem Morgen wurde mir klar, dass dies auch auf all die Fragen zum Wohl und Wehe des Pferdes zutraf, die mir ständig gestellt wurden. An diesem Morgen verstand ich ein für allemal, dass es egal ist, ob ein Pferd mit oder ohne Eisen geht, ob es ein Gebiss oder einen Sattel trägt oder nicht. Jedes Argument hatte seine Schwächen und seine Stärken, und im Grunde ist nichts davon endgültig entschieden, sondern bestenfalls persönliche Vorliebe. Außerdem brauchen wir nicht wirklich jemanden, der uns erzählt, was das Beste für unser Pferd ist, denn das sagt uns das Pferd schon selbst, wenn wir nur gut genug zuhören. Der Schlüssel ist das Zuhörenlernen.

Ich bin der Überzeugung, dass die meisten dieser Ideen nicht viel mehr als Ablenkungen sind, die uns von dem wirklich Wichtigen wegführen. Und das wirklich Wichtige ist für mich, einen Weg zu finden, der uns erlaubt, klar und effektiv mit unseren Pferden zu kommunizieren. Zwar kann das Sattel- oder Zaumzeug sich durchaus auf die Güte der Kommunikation auswirken, aber im Vergleich zu dem Gefühl, dem Timing, der Balance, den Gedanken und dem Verständnis, die wir als Pferdeleute in die Gleichung einbringen, ist diese Wirkung ziemlich geringfügig.

Kurz gesagt, ich finde, bevor wir von unseren Pferden erwarten können, dass sie uns ihr Bestes entgegenbringen, müssen wir zuerst einen Weg finden, ihnen von uns das Beste zu geben. Dann macht es nichts aus, ob sie mit oder ohne Eisen laufen, ob wir sie mit Gebiss, mit Halfter oder Halsring reiten. Es ist egal, ob wir im Sattel sitzen oder auf dem bloßen Pferderücken, ob wir mit ihnen Bodenarbeit machen oder nicht. Wichtig ist einzig und allein, dass sie verstehen, was wir ihnen zu sagen versuchen, und dass wir verstehen, was sie uns zu sagen versuchen.

Es ist komisch, aber oft, wenn Menschen versuchen, eine Information an ihre Pferde weiterzugeben, kommt es mir so vor, als ob jemand versucht, einen Schokoriegel zu essen, der noch in seiner Plastikhülle steckt. Das Gute ist innen drin, aber wir haben es so eilig, es entweder in uns selbst oder ins Pferd hineinzustopfen, dass wir nicht mal die Verpackung abmachen! Na schön, wir kauen vielleicht eine Weile darauf herum, und auch unser Pferd kaut vielleicht eine Weile darauf herum. Aber im Endeffekt kommen wir auf keinen Geschmack und spucken das Ganze wieder aus. Es hatte nie eine Chance, ein Teil von uns zu werden.

In diesem Buch haben wir versucht, einige Informationen aus ihrer Verpackung herauszuschälen. Wir haben uns ein paar Themen vorgenommen, die als „heikel“ gelten – ein paar Dinge, die uns – und damit auch unsere Pferde –, in negativem Licht betrachtet, manchmal am Wachsen hindern können.

Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie hoffentlich feststellen, dass viele der Themen, die wir erörtern – Fehler, Grenzen, Energie, Balance und vor allem Weichheit – ihre zwei Seiten haben: eine gute und eine weniger gute. Wir haben uns entschlossen, uns an das zu halten, was gut ist an den Dingen, an das, was uns vorwärtshelfen kann, ganz gleich, welcher Rasse unser Pferd angehört, welche Disziplin wir reiten oder welches Sattel- und Zaumzeug wir verwenden. Außerdem haben wir uns zum Ziel gesetzt, diesen Dingen ganz beiläufig etwas von ihrem Nimbus des Geheimnisvollen zu nehmen, und das wird hoffentlich bei Ihnen auch so ankommen.

Was Sie auch auf dem und für das Pferd verwenden oder nicht verwenden – wenn wir dem Pferd unser ganzes Herz anbieten, bekommen Sie am Ende vielleicht das ganze Pferd als Gegengabe. Und mit diesem Endergebnis erhaschen wir vielleicht auch einen Schimmer der dritten Antwort zu dieser morgendlichen Frage – ob nun die Felsen des Grand Canyon mächtiger sind oder der Fluss, der sie durchschneidet.

Wenn Sie am Rande des Canyons stehen und all die Schönheit ringsum betrachten – was spielt es überhaupt für eine Rolle?

Mark Rashid

August 2008

TEIL 1: DIE PFERDE WAHRNEHMEN

FEHLER UND IHRE FOLGEN

Ich war ganz schön müde. Vier Monate lang hatten wir Seminare und Lehrgänge abgehalten, und gerade war die letzte Reiterin des letzten Lehrgangs in diesem Jahr auf den Platz gekommen. Sie hatte einen mittelgroßen braunen Quarter Horse-Wallach dabei, mit einem schiefen weißen Strich über der Nase und zwei weiß bestrumpften Hinterbeinen. Im Genick war die Mähne eine Handbreit fast völlig weggescheuert, nur ein paar dünne Haare standen noch in die Höhe – Anzeichen dafür, dass das Pferd viel Zeit damit verbracht hatte, sich unter einer Zaunlatte nach ein paar Grashalmen zu strecken.

Das Pferd war gesattelt, aber sie führte es noch an der Hand. Ich begann mein Gespräch mit ihr wie mit jedem Reiter, der zu einem meiner Lehrgänge kommt.

„Hallo“, sagte ich und nahm die Sonnenbrille ab, um mit dem Taschentuch die dünne Staubschicht abzuwischen, die sich in den letzten Stunden auf die Gläser gelegt hatte.

„Wie heißen Sie?“

„Hallo“, sagte sie nervös, während der Wallach ihr einen Schubs mit der Nase gab. „Ich bin Jackie, und das ist Arrow.“

„Wenn wir mit unserem Pferd etwas machen, das zu einem unerwünschten Ergebnis führt – ist es dann ein Fehler oder eine Gelegenheit zu wachsen?“

Das Pferd stupste sie heftiger und schob sie zwei Schritte zur Seite.

„Er schubst einen manchmal ganz gern“, sagte sie etwas einfältig.

„Okay“, sagte ich lächelnd, um ihr etwas von ihrer Nervosität zu nehmen. „Was können Sie mir sonst noch über ihn sagen?“

Ich setzte die Sonnenbrille wieder auf und steckte mein Taschentuch zurück. Der Wallach schubste sie wieder.

„Na ja“, sagte sie halbherzig und versuchte, den Wallach mit dem Führstrick einen Schritt zurückzuschieben. „Er ist sieben, und er gehört mir seit zwei Jahren. Ich habe ihn in einem Pferch mit sieben oder acht anderen Pferden entdeckt, alle ganz dürr und voller Ungeziefer.“

Der Wallach gab ihr noch einen Stoß, und wieder versuchte sie ohne Erfolg, ihn etwas von sich wegzuschieben.

„Von einem Nachbarn hatte ich gehört, dass sie alle zum Schlachter sollten, und sie taten mir leid“, fuhr sie fort. „Deshalb bin ich ein paar Tage später noch mal hin, um zu sehen, ob einer dabei war, den ich retten konnte. Ich hatte vorher noch nie ein Pferd, aber ich habe mir immer eines gewünscht …“

Vermutlich war es weniger das, was sie sagte, als die Art, wie sie es sagte, was ihrer Geschichte eine seltsame Vertrautheit verlieh – als ob ich sie schon zuvor gehört hätte.

„Ich ging mit dem Nachbarn zu den Pferchen, und der Besitzer sagte, wir könnten reingehen und uns die Pferde anschauen, wenn wir wollten …“

Ich bin nicht sicher, ob es die Müdigkeit nach der langen Zeit unterwegs war oder einfach die Geschichte selbst, die sie erzählte, aber es passierte etwas ziemlich Ungewöhnliches: Mein Geist begann zu wandern.

„Wir gingen also in die Pferche hinein und sahen uns die Pferde an … die meisten … krank oder verletzt … sah Arrow … der Einzige, der zu mir herkam … sanfte Augen … lief mir nach … mich in ihn verliebt …“

Ich glaube wirklich, dass es äußerst wichtig ist, den Geschichten, die Menschen über ihre Pferde erzählen, zuzuhören und sie zu verstehen, wenn man ihnen helfen will, irgendein Fehlverhalten abzulegen. Deshalb war ich selbst einigermaßen erstaunt darüber, dass ich mich nicht nur nicht auf das, was sie sagte, konzentrieren konnte, sondern dass meine Gedanken immer wieder viele Jahre zurück zu einer Zeit und einer Situation wanderten, die damit augenscheinlich nicht das Geringste zu tun hatte.

„Eine Nacht darüber geschlafen – am nächsten Tag wiedergekommen … den Kauf ausgehandelt …“

Ihre Worte wurden immer leiser, bis ich sie buchstäblich überhaupt nicht mehr hörte. Stattdessen erschien nun vor meinem geistigen Auge das vollständige Bild der Erinnerung, das aus meinem Unterbewusstsein ans Licht strebte. Plötzlich stand ich wieder, in meinem zweiten High School-Jahr, an meinem Spind und versuchte zu hören, was zwei Mädchen zwei Spinde weiter sich erzählten.

Sharon Kingstone war ein Mädchen, für das ich schon seit ein paar Jahren geschwärmt hatte, ohne jemals etwas zu unternehmen. Am Wochenende sollte eine Tanzveranstaltung stattfinden, und ich dachte daran, sie anzurufen und zu fragen, ob sie mit mir hingehen würde.

Damals kam es, jedenfalls für mich, überhaupt nicht infrage, ein Mädchen einfach so, im Eingang zur Schule, zu fragen, ob sie mit mir ausgehen wollte. Sehen Sie, aus meiner Sicht der Dinge war es so, dass, wenn ich ein Mädchen persönlich fragte, ob sie mit mir ausgehen wollte, und sie nein sagte, die ganze Schule es innerhalb von Minuten wissen würde – keine gute Sache für einen gehemmten Sechzehnjährigen. Wenn ich sie dagegen anrief und sie nein sagte, wüssten es nur sie und ich. Dabei machte ich mir natürlich überhaupt nicht klar, dass sie ebenso gut am nächsten Tag all ihren Freundinnen davon erzählen konnte, sodass die ganze Schule es so oder so wissen würde. Wahrscheinlich dachte ich mit sechzehn einfach nicht so weit voraus.

Mehrfache Nachforschungen im Telefonbuch in den letzten Monaten hatten mich mit der traurigen Realität konfrontiert, dass Sharons Familie nicht im Telefonbuch stand und es damit so gut wie unmöglich war, mich mit ihr zu verabreden. Zu meinem Glück wurden die Spinde nach dem Alphabet vergeben, und deshalb hatte Sharons Freundin Julie Rush ihren Spind nur zwei weiter von meinem. Und was soll ich sagen: Gerade als ich den Gedanken an eine Verabredung mit ihr aufgeben wollte, stand doch Sharon zwei Spinde weiter und sprach mit Julie über einen Film, den sie sich an diesem Abend ansehen wollten. Meine Hoffnung war, dass Julie ebenfalls keine Telefonnummer von Sharon hatte und Sharon ihr diese geben würde, wenn ich nur lange genug wartete. Und ich wäre zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort, um sie mitzuhören.

Ich stand ruhig da und suchte in den Tiefen meines Spinds nach – na ja – nichts Besonderem, wobei ich mir alle Mühe gab, so zu tun, als ob ich nicht zuhörte. Leider enthielt ihre Unterhaltung wenig, das für mich von Interesse war, und ich wollte schon aufgeben und in meine nächste Stunde, Sozialstudien und aktuelle Ereignisse, gehen (bei Mr. Kocos, einem Oberst a. D., was man seinem Unterricht noch anmerkte. Es war keine gute Idee, bei ihm zu spät zu kommen), als Sharon ganz beiläufig die Information über die Lippen kam, auf die ich so sehnsüchtig wartete.

„Am besten rufst du mich gegen sechs an“, sagte sie und warf ihr fast hüftlanges Haar mit einem Schwung über die linke Schulter. „Hast du meine Nummer?“

„Nein“, sagte Julie. „Warte einen Moment, ich brauche was zu schreiben.“

„Sie ist ganz einfach zu merken“, lächelte Sharon.

Gut, dachte ich, denn ich hatte auch nichts zum Schreiben zur Hand.

Wir lebten in einer Kleinstadt. Alle Telefonnummern hier und in der nächsten Kleinstadt hatten dieselbe Vorwahl, weshalb ich mir wenigstens diese nicht zu merken brauchte, obwohl Sharon sie erwähnte. Sie sprach langsam und deutlich, und als sie die letzten vier Zahlen aussprach – die, auf die es mir ankam –, hätte ich fast einen Luftsprung gemacht.

„0-3-1-1“, sagte sie, gerade als die Glocke zur nächsten Stunde läutete.

Ich konnte mein Glück kaum fassen! Drei-elf war unsere alte Hausnummer, die ich auswendig konnte, seit ich fünf war. Kinderspiel, dachte ich.

Ich kam etwa dreißig Sekunden zu spät zum Unterricht bei Mr. Kocos, was mich zwei Tadel kostete und ein paar Extras an Lob, um sie wieder auszugleichen, damit ich nicht nachsitzen und sie abarbeiten musste – mit Tafel abwischen, Fußboden wischen oder Fenster putzen. Kein zu hoher Preis, dachte ich, während Mr. Kocos die Strafe austeilte und meine Klassenkameraden leise vor sich hinkicherten. Sicher waren sie einfach froh, dass es nicht sie getroffen hatte.

Am nächsten Abend, nach ungefähr tausend Proben – Sie wissen schon: Man stellt sich vor, man hat den Telefonhörer in der Hand, und übt, was man sagen soll –, wählte ich schließlich ihre Nummer. Das war lange vor der Handy-Zeit; jeder, der von zu Hause aus anrufen wollte, musste dies vom selben Telefon aus tun, von dem, das im Flur zwischen Wohnzimmer und Küche stand. Für damals waren wir Hightech. Unser Telefon hatte die Wählscheibe im Hörer integriert und eine Schnur, die sich ca. 7 m ausziehen ließ (sodass man sie um die Ecke ins Badezimmer mitnehmen und die Tür hinter sich zumachen konnte) und die sich dann wieder zusammenzog, wenn man fertig war und den Hörer wieder einhängte.

Das Telefon läutete drei Mal, bevor am anderen Ende jemand dran ging.

„Hallo“, sagte eine Mädchenstimme, die klang, als ob ihre Besitzerin in die High School ginge.

„Hallo?“, sagte ich mit dem ganzen Selbstvertrauen, das ich aufbringen konnte. „Sharon?“

„Sharon?“, kam die Stimme am anderen Ende. „Nein, hier ist nicht Sharon.“

Es entstand eine peinliche Pause an beiden Enden.

„Äh“, stammelte ich. „Weißt du, wann sie da ist?“

„Genau genommen“, sagte die Stimme freundlich, „genau genommen gibt es hier überhaupt keine Sharon. Was für eine Nummer wolltest du?“

Ich musste einen Augenblick nachdenken. Welche Nummer hatte ich wählen wollen? Fast ohne nachzudenken, sagte ich die Vorwahl, die ich gewählt hatte, und dann … „Null, drei, eins, eins.“

„Da haben wir das Problem.“ In der Stimme klang ein Lächeln mit. „Hier ist Null, zwei, eins, eins. Du hast dich um eine Nummer verwählt.“

Der Schock der verwählten Nummer brachte mich schlagartig auf den Reitplatz zurück, auf dem ich gerade stand. Allerdings nur für ein paar Augenblicke. Vor mir stand Jackie, und ihr Pferd schubste sie immer noch herum.

„Dann habe ich ihn in Beritt gegeben … drei Monate dort … wurde nur schlimmer … holte ihn zurück … ritt ihn wieder auf dem Platz …“

Jackies Stimme wurde leiser, und an ihrer Stelle stand ich in unserem damaligen Badezimmer, mit dem Hörer am Ohr.

„Entschuldige die Störung“, stotterte ich und wollte einhängen.

„Warte mal“, sagte die Stimme. „Deine Stimme kommt mir bekannt vor. Kennen wir uns?“

„Glaub’ ich nicht“, sagte ich im Bestreben, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. Es hatte ungefähr fünfzig Minuten gedauert, bis ich den Mut aufgebracht hatte, überhaupt zu wählen. Nachdem dieser erste Versuch schiefgegangen war, stand es in den Sternen, wann ich den Mut zu einem neuen Versuch aufbringen würde. Jedenfalls ging die Zeit, die ich mit diesem Mädchen verplauderte, von der Zeit ab, die ich mit Sharon sprechen konnte, falls ich sie jemals wirklich ans Telefon bekam.

„Nein, wirklich“, beharrte die Stimme. „Deine Stimme kommt mir bekannt vor. In welche Schule gehst du?“

So langsam begann auch mir nun die Stimme am anderen Ende bekannt vorzukommen. Wider besseres Wissen und auf die Gefahr hin, noch mehr Zeit zu verlieren, sagte ich es ihr also. Es stellte sich heraus, dass die Stimme zu Angela Louden gehörte, einem Mädchen, das in dieselbe Schule ging, aber einige Klassen über mir. Außerdem stellte sich heraus, dass Angela mich in der kleinen Band gesehen hatte, in der ich Schlagzeug spielte, und meine Stimme von daher erkannt hatte. Es war äußerst schmeichelhaft, dass ein älteres Mädchen mich am Telefon an der Stimme erkannt hatte.

Angela war ein Cheerleader und ging mit einem älteren Jungen aus dem Football-Team, und zwar schon ziemlich lange. Deshalb war ich mir nicht so sicher, ob es überhaupt in Ordnung war, dass ich mich mit ihr unterhielt. Nichtsdestotrotz ging unsere Unterhaltung einfach weiter. Wir sprachen über Dinge, über die ich bisher noch nie mit jemandem gesprochen hatte – über Politik, Musik, den Krieg in Vietnam, was wir nach der Schule vorhatten, was unsere Lieblingsautos waren. Wir quatschten fast eineinhalb Stunden lang, über Wichtiges und weniger Wichtiges.

Als wir uns endlich verabschiedeten, fühlte ich mich komplett anders als vorher. Ich konnte das Gefühl nicht richtig festnageln, aber irgendwie kam es mir vor, als ob ich ein Stück erwachsener geworden wäre. Als ich den Hörer einhängte, fühlte ich mich leichter und glücklicher und vielleicht ein bisschen klüger als vorher – das Ergebnis eines glücklichen Fehlgriffs, einer leicht verwählten Telefonnummer.

Einen Augenblick spürte ich hier auf dem Reitplatz wieder das gleiche Gefühl wie damals am Ende meines Gesprächs mit Angela, dann war es verschwunden, gerade als Jackie mit ihrer Geschichte, wie es ihr mit ihrem Pferd ergangen war, zu Ende kam.

„Guckig im Gelände … schwer zu bremsen … wendet gut nach links, nicht so gut nach rechts, und manchmal, wenn ich angaloppieren will, fängt er an zu buckeln.“

Jetzt war ich wieder bei ihr, zurück auf dem Reitplatz.

„Ich habe nicht so viel mit ihm gearbeitet, hauptsächlich weil ich keinen Fehler und die Dinge nicht noch schlimmer machen wollte.“

Ungefähr hier dämmerte mir, warum diese spezielle Erinnerung mich gerade jetzt überfallen hatte. Irgendetwas in der Art, wie sie sprach, schon ganz zu Anfang, und etwas in der Art, wie das Pferd sich benahm, hatte mir gesagt, dass es darauf hinauslaufen würde, dass sie wenig mit ihm gemacht hatte, weil sie keinen Fehler machen wollte. Diese Aussage hatte ich schon oft gehört, von vielen Menschen auf der ganzen Welt. Früher war mir nie eine passende Erklärung eingefallen, warum ich dachte, dass es nicht so schlimm war, in einer Situation wie ihrer einen Fehler zu machen. Schlimm war, gar nichts zu machen.

Es ist komisch, wie der menschliche Geist arbeitet. Jahrzehntelang war mir dieses Gespräch mit Angela nicht mehr in den Sinn gekommen. Aber genau jetzt, in einer dem Augenschein nach völlig anderen Situation, fiel mir die Lektion aus diesem eineinhalbstündigen Gespräch wieder ein, jetzt, wo sie mir am meisten nützen konnte. Die Lektion hieß: Nicht alle Fehler, die wir machen, müssen unbedingt schlimm sein.

Der Umgang mit Pferden ähnelt in vielem meinem Telefongespräch vor so vielen Jahren. Wie bei einer Telefonnummer, bei der wir eine bestimmte Nummernfolge wählen und dann mit einer bestimmten Person sprechen können, gibt es auch im Umgang mit Pferden oft eine Reihe von Schritten, auf denen wir unser Training aufbauen. Wir gehen Schritt für Schritt vor und erwarten dann ein bestimmtes Endergebnis. Wenn wir aber unbemerkt auch nur eine Zahl falsch wählen oder, bei den Pferden, einen Trainingsschritt auslassen, sprechen wir nicht nur plötzlich mit jemand ganz anderem, wir sind auch an einem ganz anderen Ort, manchmal sogar in einer anderen Stadt oder einem anderen Land!

Viele Menschen haben, besonders bei der Arbeit mit Pferden, Angst davor, einen „Fehler“ zu machen, der vielleicht nicht mehr reparabel wäre. Aber wenn wir diesen Gedanken nur ein wenig umdrehen, verstehen wir sehr bald, dass Fehler nicht nur unumgänglicher Teil des Lebens sind, sie können auch sehr viel Gutes bewirken, wenn wir es nur zulassen. Das Problem besteht für manche einfach darin, dass der simple Gedanke, einen Fehler zu machen, sie schon in einen lähmenden Zustand der Inaktivität und der andauernden Furcht vor dem Unbekannten versetzt.

Wenn wir uns verwählt haben, entschuldigen wir uns meist nur, hängen auf und denken über die Person am anderen Ende nicht weiter nach. In meinem Fall führte mich die verwählte Nummer – eine einzige falsche Zahl – allerdings zu einem Menschen, der einen so starken Einfluss auf mein Leben hatte, wie wir es uns beide wohl nie vorgestellt hätten.

Die Frage lautet deshalb vielleicht: War dieses Verwählen, im Ganzen gesehen, wirklich ein Fehler, oder war es etwas, das sich ereignen musste, damit meine Persönlichkeit dadurch wachsen konnte? Wenn wir etwas mit unserem Pferd machen, das zu einem unerwünschten Ergebnis führt – ist es dann ein Fehler oder eine Gelegenheit zu wachsen? Wenn wir es nur als schädliches Versehen betrachten, wird es ohne Zweifel auch genau das sein. Wenn wir aber nach dem Guten darin suchen (und es gibt in allem immer etwas Gutes), werden wir auch etwas Gutes finden.

In diesem Zusammenhang finde ich es auch wichtig zu verstehen, dass nur sehr wenige Dinge im Leben nur gut und nur sehr wenige Dinge nur schlecht sind. Dasselbe Feuer, das unser Heim wärmt, kann einen Wald niederbrennen. Dasselbe Wasser, das eine Stadt überflutet, kann einem Baby als Bad dienen. Mit Elektrizität kocht der Mensch sein Essen, Elektrizität kann aber auch den Menschen töten …

Um beim Bespiel von Jackie zu bleiben: Sie hatte sehr wenig bis gar keine Erfahrung mit Pferden. Deshalb würden sicher viele Leute das, was sie getan hatte, als Riesenfehler betrachten. Ihr erstes Pferd überhaupt wurde ein, wie sich herausstellte, ungerittener Fünfjähriger mit mehr als nur einem Verhaltensproblem, den sie vor dem Schlachter rettete. Aber bedingt durch die Wahl dieses bestimmten Pferdes hatte sie auch einen Crash-Kurs in Tiermedizin, Hufpflege und Fütterung gemacht und sich außerdem, wenn auch mehr gezwungenermaßen, einen ziemlich festen Sitz im Sattel sowie eine recht gute und gefühlvolle Zügelhand erworben. Darüber hinaus hatte sie in sehr kurzer Zeit herausgefunden, in welche Richtung ihr Pferdetraining gehen sollte, und sich die Menschen ausgesucht, die ihr und ihrem Pferd dabei am besten helfen konnten.

Auf den ersten Blick mag Jackies Wahl dieses bestimmten Pferdes daher als Fehler erscheinen, in Wirklichkeit aber hatte sie sich schneller bessere Pferdekenntnisse erworben, als wenn sie sich für ein einfacheres Pferd entschieden hätte (obwohl ich trotzdem keinem Neuling empfehlen würde, sich als erstes ein ungerittenes Pferd mit psychischen und physischen Problemen auszusuchen).

„Wollen Sie es mal versuchen?“ fragte ich die Reiterin, mit deren Pferd ich die letzten dreißig Minuten Bodenarbeit gemacht hatte.

Sie hatte geklagt, dass das Pferd extrem hart im Maul und deshalb schwer zu reiten sei. Genau genommen so schwer, dass sie sich nicht mehr hinaufgetraute. Statt sie zu zwingen, in den Sattel eines Pferdes zu steigen, vor dem sie Angst hatte, wollte ich erst sehen, ob ich das Pferd mit etwas Fahren vom Boden aus weicher machen konnte. Wenn er sich dann etwas besser anfühlte, wollte ich sie dazubitten, damit sie ein Gefühl für die Bodenarbeit entwickeln konnte. Ich dachte, wenn ich den Wallach durch die Bodenarbeit etwas durchlässiger machen und der Besitzerin zeigen könnte, wie man das macht, würde es ihrem Selbstvertrauen zugute kommen und sie sich allmählich auch imstande fühlen, aufzusteigen und ihn vom Sattel aus zu arbeiten.

„Ich habe noch nie Bodenarbeit gemacht“, sagte sie, ohne sich auch nur einen Millimeter von ihrem Standplatz außerhalb des Tors fortzubewegen. Es war klar, dass ihr Vertrauen zu ihrem Pferd und zu sich selbst einen Tiefpunkt erreicht hatte.

„Das hatte ich auch nicht, vor meinem ersten Mal“, antwortete ich so entwaffnend wie möglich.

„Na ja, aber bei Ihnen sieht es so leicht aus“, kam es von ihr.

„Ach, wissen Sie, das war nicht immer so“, versicherte ich. Und das war mein voller Ernst. Mein erster Versuch im Fahren vom Boden aus war alles andere als eine Glanzleistung gewesen. Ich war mir nicht mal sicher gewesen, ob wir, Pferd oder ich oder beide, das überleben würden.

Ich hatte Walter Pruitt, dem „alten Mann“, dem ich als Junge bei seiner Arbeit geholfen hatte, einige Male beim Fahren vom Boden aus zugesehen, obwohl er nie sehr viel auf einmal machte. Damit meine ich, dass ich ihn vielleicht im April einmal gesehen hatte, wie er ein Pferd vom Boden aus fuhr, und dann im Juni oder Juli mit einem anderen Pferd und dann wieder monatelang gar nicht. Es sah bei ihm nie sehr kompliziert oder schwierig aus, weshalb ich annahm, es sei auch nicht besonders kompliziert oder schwierig.

Nachdem ich einmal zugesehen hatte, wie er ein Pferd am langen Zügel kreuz und quer über seineWiese geführt hatte, fragte ich Walter, ob ich es auch einmal versuchen dürfte. Er sagte ja, erwähnte aber weder die Zeit, noch den Ort, noch das Pferd für meinen Versuch. Aber er hatte ja gesagt, und das reichte mir. Allerdings muss ich zugeben, dass der alte Mann diese Arbeit vom Boden aus so sporadisch einlegte, dass ich es bald wieder vergaß, einfach weil ich es nicht mehr sah.

An einem Mittsommertag ungefähr zwei Monate, nachdem ich den alten Mann zuletzt bei der Arbeit vom Boden aus beobachtet hatte, fuhr er ein Pferd vom Boden aus, das zu jung war, um geritten zu werden, aber zu alt, um gar nichts zu tun. Üblicherweise fing er damit an, das junge Pferd an das Gefühl der langen Leinen am Körper zu gewöhnen. Das dauerte insgesamt ein paar Stunden, verteilt über mehrere Tage, und das junge Pferd kannte das schon.