Dein Schatten tanzt in der Küche - Barbara Frischmuth - E-Book

Dein Schatten tanzt in der Küche E-Book

Barbara Frischmuth

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Beschreibung

"Eine große, souveräne Erzählerin mit vielen Registern.« Der Standard.

Barbara Frischmuth hat schon immer von starken, sensiblen, sinnlichen Frauen erzählt, die sich behaupten müssen. Darya, Agnes, Amelie und Paula hat das Leben bereits zugesetzt, sie haben existenzielle Entscheidungen getroffen, und sie zahlen einen hohen Preis: Sie können nicht über ihre Gefühle sprechen, und vor allem sind sie einsam. Gibt es ein Entkommen aus dieser Einsamkeit?

Fünf Variationen über Selbstbehauptung und Einsamkeit, fünf Frauenschicksale, fünf Versuche, sich nicht unterkriegen zu lassen - weder von den Zeitläuften noch von Männern und schon gar nicht vom Alter.

„Sie konnten nicht aufhören, einander Geschichten zu erzählen, Geschichten von früher, die sie schon vor Zeiten zurechtgeschliffen hatten. Geschichten zum Lachen, wahre Geschichten, die erst recht den Anklang an Literatur atmeten. Vor allem solche, die von Niederlagen sprachen, wobei die Niederlage der Gescheiterten sie erst recht zu Heroen machte.“

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Über das Buch

»Eine große, souveräne Erzählerin mit vielen Registern.« Der Standard

Barbara Frischmuth hat schon immer von starken, sensiblen, sinnlichen Frauen erzählt, die sich behaupten müssen. Darya, Agnes, Amelie und Paula hat das Leben bereits zugesetzt, sie haben existenzielle Entscheidungen getroffen, und sie zahlen einen hohen Preis: Sie können nicht über ihre Gefühle sprechen, und vor allem sind sie einsam. Gibt es ein Entkommen aus dieser Einsamkeit?

Fünf Variationen über Selbstbehauptung und Einsamkeit, fünf Frauenschicksale, fünf Versuche, sich nicht unterkriegen zu lassen – weder von den Zeitläuften noch von Männern und schon gar nicht vom Alter.

»Sie konnten nicht aufhören, einander Geschichten zu erzählen, Geschichten von früher, die sie schon vor Zeiten zurechtgeschliffen hatten. Geschichten zum Lachen, wahre Geschichten, die erst recht den Anklang an Literatur atmeten. Vor allem solche, die von Niederlagen sprachen, wobei die Niederlage der Gescheiterten sie erst recht zu Heroen machte.«

Über Barbara Frischmuth

Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee (Steiermark) geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik und ist seitdem freie Schriftstellerin. Seit vielen Jahren lebt sie wieder in Altaussee. Nach ihrem von der Kritik hochgelobten Debüt »Die Klosterschule« und dem Roman »Das Verschwinden des Schattens in der Sonne« wurde sie vor allem mit der zauberhaften und verspielten Sternwieser-Trilogie bekannt, der die Demeter-Trilogie folgte. Neben weiteren Romanen wie »Die Schrift des Freundes«; »Der Sommer, in dem Anna verschwunden war«; »Vergiss Ägypten« und »Woher wir kommen« veröffentlichte sie u. a. Erzählungen und Essays. »Der unwiderstehliche Garten« war das vierte ihrer literarischen Gartenbücher. Zuletzt erschien der Roman »Verschüttete Milch« (2019), der zum Bestseller wurde.

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Barbara Frischmuth

Dein Schatten tanzt in der Küche

Erzählungen

Inhaltsübersicht

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Dein Schatten tanzt in der Küche

Enkelhaft

Kein Engel vor meiner Tür

Die Katze, die im Sprung gefror

Die Rötung der Tomaten im Winter

Doris

Ödön

Impressum

Dein Schatten tanzt in der Küche

Sie wurde angeschwemmt. Das Schlauchboot, ein älteres Modell, hatte einen Riss bekommen, nachdem eines der kleineren Kinder in einem unbeachteten Moment ein Taschenmesser gefunden und an der Schlauchbootwand versucht hatte, dessen Tauglichkeit zu prüfen.

Land war in Sicht, aber Adnan wollte nicht aus dem Boot, dem langsam, aber spürbar die Luft ausging. Er hatte nie auch nur angedeutet, dass er nicht schwimmen konnte. Das Boot war bereits so gut wie leer, als er Darya erklärte, dass er sich so lange daran festhalten wolle, bis die Küstenwache komme und ihn berge.

Bis die Küstenwache kommt, ist es zu spät, rief sie, dabei brach ihr beinah die Stimme. Dennoch versuchte sie, gelassen zu wirken, und schlug ihm vor, sich mit ihr ins Wasser zu lassen, sich auszustrecken und an ihren Schultern festzuhalten. Er müsse so ruhig wie möglich bleiben und sich so wenig wie möglich bewegen. Sie traue sich zu, ihn auf diese Weise an Land bringen zu können.

Das eher kleine Boot war nicht nur preiswert, sondern auch schlecht ausgestattet und bei Weitem überfrachtet. Die vorhandenen Schwimmwesten waren vor der Abfahrt auf die paar Kinder und deren des Schwimmens unkundige Mütter verteilt worden. Adnan war voller Scham und Hoffnung gewesen, die Überfahrt ohne Schwimmweste überstehen zu können.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es dämmerte schon. Gut so, denn die Lampen, die für spärliches Licht gesorgt hatten, waren längst über Bord gegangen, als die Ersten das Boot verließen. Rundum versuchten die Mütter, sich an die Schwimmwesten zu gewöhnen, das hieß, mit ihrer Hilfe zu schwimmen, wobei die Kinder sich an ihnen festhielten. So versuchten sie, sich mit Wasserschlägen und ungezielten Beinbewegungen dem Ufer zu nähern. Wobei die schwimmenden Väter ihnen die Tempi vormachten und Mut zusprachen, während sie gleichzeitig husteten und immer wieder Wasser, nämlich das von ihnen aufgewirbelte Wasser, schluckten, das in ihre offenen Münder schäumte.

Erst als das Boot unter Wasser war und sie kaum mehr seinen Boden unter den Füßen verspürten, schien auch Adnan bereit zu sein, sich Daryas Hilfe zu überlassen. Als ihm dann das eiskalte Wasser bis zum Hals reichte und sie ihm noch einmal erklärt hatte, wie er seine Hände auf ihre Schultern legen und sich von ihr ziehen lassen sollte, griff er nach ihr, doch als sein Körper absackte, begann er zu zappeln, und sein Griff wurde zusehends verkrampfter.

Bleib ruhig, beweg dich nicht, schrie sie, schon hatte auch sie den Mund voll und erbrach den Schwall sofort, was auch ihre Achseln zum Zucken brachte, während Adnan an ihr rüttelte und mit den Beinen wie wild nach dem Wasser trat, um wieder nach oben zu kommen. Sie hörte, wie ihr Name, einer Welle gleich, über sie hinwegschwappte. Darya, Darya! Und spürte zur selben Zeit, wie Adnan sie nach unten zog.

Es war eingetreten, was sie sich vor Jahren in einem Wasserrettungskurs zu lernen vorgenommen hatte. Der nächste Schritt wäre gewesen, Adnan mit einem Faustschlag so weit zu betäuben, dass er bewegungslos auf der Wasseroberfläche lag und sie ihn unterm Kinn fassen und auf dem Rücken schwimmend ans Ufer ziehen konnte. Sie hatte die Bilder von jenem Kurs noch vor Augen, jedoch fehlten ihr die Kraft und der Halt, Adnan bewusstlos zu schlagen. Im Gegenteil, seine Umklammerung wurde immer bedrohlicher, auch sie, Darya, war bereits unter Wasser, bekam keine Luft mehr, und anstatt Adnan wie eine Rettungsschwimmerin ins Trockene zu holen, verfiel sie selbst in Panik. Ihr eigener Körper begann, ob sie es wollte oder nicht, um sein Leben zu kämpfen, und das mit derselben Härte, mit der Adnans Körper um das seine kämpfte, ob er es wollte oder nicht.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie es ihr möglich gewesen war, sich von Adnan zu trennen. Hatte sie ihn tatsächlich geschlagen, oder hatte er, weil schon länger unter Wasser als sie, so ohne Luft nicht mehr die Kraft gehabt, sie weiter mit sich hinunterzuziehen?

Sie wusste nur, dass sie geschwommen war und das Land in der Sonne glänzte, während sie ihm näher kam.

Als sie wieder bei Bewusstsein war, kniete jemand neben ihr, drückte mit beiden Händen auf ihre Brust, und jedes Mal schoss ein Schwall Meerwasser aus ihrem Mund.

Glück im Unglück! Der wasserdichte Rucksack hatte der Flut standgehalten. Sie hoffte, dass Reisepass und Zertifikate, die ihren Abschluss als Pharmazeutin sowie ihre Qualifikation als Englischlehrerin bestätigten, es ihr nicht nur erleichtern würden, einen Asylantrag zu stellen, sondern auch gute Gründe dafür nennen zu können, und das in bestem Englisch, das sie nicht bloß ihrem Studium, sondern vor allem ihrer Mutter, einer Engländerin, verdankte, die einen Araber und Pharmazeuten geheiratet hatte.

Als der Beamte es genauer wissen wollte, erklärte sie ihm, wie ihr Vater (er gehöre einer nicht muslimischen Minderheit an, derselben wie der Präsident des Landes) von ihr verlangt hatte, den Sohn eines der höchstrangigen Generäle, eines Protegés des Präsidenten, zu heiraten, um ihre Familie zu schützen. Es habe sie sehr getroffen, aber ihr Vater habe den Präsidenten im Familienkreis oft kritisiert, und vielleicht war er nicht vorsichtig genug gewesen und deshalb so unter Druck geraten. Und da ihre Geschwister (ein bereits Eingezogener und ein demnächst Wehrpflichtiger, dazu zwei Mädchen, acht und zehn, also noch im Schulalter) diesen Schutz unbedingt brauchen würden, habe er diese Heirat für unumgänglich gehalten.

Warum sie dem Wunsch ihres Vaters nicht nachkommen habe wollen, fragte der Beamte, der ihre Dokumente offen vor sich liegen hatte.

Weil sie bereits mit einem anderen Mann, den sie sehr geliebt habe, heimlich verlobt gewesen war, der noch dazu einer anderen, dem Präsidenten gegenüber eher feindlich gesinnter Minderheit angehörte, der jedoch bei der Überfahrt ertrunken sei. Es fiel ihr schwer, das zu sagen, ohne dass ihre Stimme sich veränderte.

Der Beamte schaute auf und ihr gerade ins Gesicht, so als würde er sie erst jetzt als Person wahrnehmen.

Es war ihr unangenehm, von ihm so unverhohlen gemustert zu werden, und sie fügte hinzu, dass sie die Flucht deshalb riskiert habe, weil sie wisse, dass Zwangsheiraten in Europa unter Strafe gestellt seien.

Und Ihre Familie?, fragte der Beamte.

Ich fühle mich mehrfach schuldig, sagte sie. Aber sobald der Sohn des Generals von ihrem Geliebten erfahren hätte, und das hätte er bestimmt irgendwann, wäre ihr weiteres Leben zum Skandal geworden, und das konnte und wollte sie ihrer Familie erst recht nicht antun.

Verstehe, sagte der Beamte und überprüfte weiter ihre Papiere.

Glauben Sie mir, sagte sie ungefragt, ich fühle mich tatsächlich mehrfach schuldig, aber es war mir nicht möglich, anders zu handeln.

Darya hatte, nachdem sie am Strand der Insel aufgegriffen worden war, als traumatisiert gegolten und war mit einem Flüchtlingskontingent in ein Auffanglager gebracht worden, von dem sie einige Zeit später in ein Flüchtlingsheim des Landes, in dem sie jetzt lebte, überstellt wurde. Aufgrund ihrer Traumatisierung wurden ihr einige Sitzungen bei einer Therapeutin genehmigt, die tatsächlich hilfreich gewesen waren. War doch die Therapeutin die einzige Person, der sie anvertrauen konnte, was sie mit nichts zu begründen können glaubte, nämlich dass sie nicht ihrer Muttersprache – ihre Mutter habe meist Englisch mit ihr gesprochen –, sondern ihrer Vatersprache verlustig gegangen sei. Und am schlimmsten sei, sagte sie zur Therapeutin, dass sie sich nicht einmal mehr an den Namen ihres Geliebten erinnern könne. Sie habe versucht, sich diese ihre Vatersprache durch Lektüre wieder in Erinnerung zu rufen, indem sie arabische Zeitungen kaufte, was dort, wo sie untergebracht war, gar nicht so einfach gewesen sei, aber es habe nicht funktioniert. Die Buchstaben würden ihr zwar einigermaßen bekannt vorkommen, manchmal verstehe sie auch ungefähr, was gemeint sei, aber sobald sie die Zeitung zur Seite gelegt habe, sei ihr auch das Gelesene wieder entfallen. Wohingegen sie sich die Vokabeln, die sie im Deutschkurs zu lernen habe, sofort merke. Ja sogar das Lehrbuch habe sie bereits zur Gänze in sich aufgenommen, obgleich sie im Kurs über Lektion vier noch nicht hinausgekommen seien.

Die Therapeutin, die zugab, noch nie einen Fall wie diesen gehabt zu haben, riet ihr, sich ihre offensichtliche Sprachbegabung zunutze zu machen und sie als gute Chance für einen positiven Asylbescheid zu sehen.

Aber was mache ich, wenn jemand mich auf Arabisch anspricht oder mich um eine Übersetzung bittet?

Die Therapeutin dachte eine Weile nach. Versuchen Sie, Situationen wie diesen aus dem Weg zu gehen, und warten Sie ab. Sie haben viel Schlimmes erlebt, sehr Schlimmes, das muss erst verarbeitet werden und braucht Zeit.

Aber wie kann man eine Sprache, die man von Kindheit an gesprochen und geschrieben hat, also die eigene Landessprache, vergessen?, fragte Darya. Ich schäme mich so dafür. Und was, wenn ich auch mein Englisch verliere?

Wenn Ihr Gehirn das für nötig erachtet hätte, hätten Sie es schon verloren.

Die Tränen rannen Darya bis in den Mund hinein, was sie für einen Augenblick an das Schlucken von Meerwasser erinnerte.

Die Therapeutin legte ihr den Arm um die Schultern und schaute auf die Uhr: Es gibt kein Mittel, um den Verlust Ihrer Landessprache auf der Stelle ungeschehen zu machen. Denken Sie nicht daran, konzentrieren Sie sich auf das Neue, auf die neue Sprache. Je weniger Sie sich um die alte kümmern, desto eher kommt sie zurück.

Als sie sich verabschiedeten, bat Darya die Therapeutin, keiner Menschenseele davon zu erzählen und ihr damit die Demütigung zu ersparen, in den Verdacht von Demenz zu geraten.

Sie sehen in Wirklichkeit so viel besser aus als auf Ihrem Passbild. Offensichtlich geht es Ihnen gut bei uns, sagte der Beamte, bevor er ihr den Pass zurückgab. Die Dokumente wolle er sich noch bis zur endgültigen Entscheidungsfindung dabehalten, ihr jedoch eine Bestätigung dafür geben. Sobald über ihr Ansuchen entschieden worden sei, würde er sie persönlich davon in Kenntnis setzen.

Nachdem dieser Antrag zehn Monate später positiv entschieden worden war, arbeitete sie eine Zeit lang als Vertretung in einer Apotheke, doch als ihre Vorgängerin aus der Karenz zurückgekehrt war, bewarb sie sich um eine Anstellung im pädagogischen Sektor. Ihre Deutschkenntnisse waren inzwischen weiter fortgeschritten, hatte sie sich doch, nachdem sie die offiziell vom Staat verordneten und auch finanzierten Deutschkurse mit gutem Ergebnis abgeschlossen hatte, einer von privater Hand gesponserten Konversationsgruppe angeschlossen.

Sie las viel, hatte auch bald die für sie relevanten öffentlichen Bibliotheken gefunden. Dort, wie auch im Konversationszirkel, hatte sie Kontakt zu den Ansässigen gefunden, es jedoch, wie die Therapeutin ihr empfohlen hatte, vermieden, sich mit ehemaligen Landsleuten zu treffen oder auch nur mit ihnen zu sprechen.

Eins gab das andere, und was dem Arbeitsmarktservice innerhalb von zwei Jahren nicht gelungen war, ermöglichten ihr die neuen Gesprächspartner in nicht einmal einem halben. Sie wurde in der Nachmittagsbetreuung einer Privatschule für Sechs- bis Zehnjährige angestellt, zur Aufsicht einerseits, und andererseits sollte sie auf spielerische Weise, ohne Druck, sondern durch Motivierung, die Kinder ins gesprochene Englisch einführen.

Sie schätzte sich glücklich, ein Angebot wie dieses annehmen zu dürfen. Da es noch einige Wochen hin war bis zum Schulanfang, hatte sie Zeit, sich intensiv vorzubereiten.

Ein Mann namens Bernhard, den sie in diesem Konversationszirkel kennengelernt und mit dem sie sich schon einige Male im Café getroffen hatte, lud sie zu sich nach Hause ein, um ihr seine Sammlung von englischen Kinderbüchern – er selbst unterrichtete in einem staatlichen Gymnasium Englisch und Latein – zu zeigen. Vor allem die skurrilen, die es den Kindern leichter machen würden, den Lerndruck der Schule zu vergessen. Sie könne sich gerne einige mit nach Hause nehmen, um die für sie brauchbaren Stellen zu kopieren.

Er hatte ihr bereits erzählt, dass seine Frau vor nicht einmal einem Jahr an einem Sarkom gestorben war, womit er sich noch immer nicht habe abfinden können. Doch die Freundschaft, die er ihr anbiete, käme von Herzen.

Sie fand auf seinen Regalen einige Bücher, die sie aus ihrer Kindheit kannte, aber auch solche, von denen sie nicht einmal gehört hatte. Während sie sich immer mehr in Limericks, kleine Geschichten und Kinderreime vertiefte, hatte Bernhard Tee aufgesetzt, und als sie nicht einmal gehört zu haben schien, dass der Tee fertig sei, ging er zu ihr hin und strich über ihre Wange, zog seine Hand aber sogleich zurück, als sie dabei unwillkürlich zuckte. Sie hatte sich mit glänzenden Augen ihm zugewandt, und er sagte, es freue ihn, dass er ihr wohl das Richtige vorgeschlagen habe. Er hatte sogar Kuchen gekauft, doch als er ihr nach dem Tee ein Glas Wein anbot und sie es zurückwies, entschuldigte er sich und meinte, er habe nicht bedacht, dass sie Muslimin sei.

Nein, erwiderte sie, sie komme zwar aus einem muslimischen Land, aber ihre Familie gehöre einer religiösen Minderheit an, die ihren Mitgliedern nicht verbiete, Wein zu trinken. Sie habe nur schon so lange keinen Wein mehr getrunken, dass sie fürchten müsse, bereits von einem Glas betrunken zu werden.

Bernhard lächelte und verneigte sich leicht, um anzudeuten, dass er ihre Bedenken respektiere.

Als es Zeit war, sich zu verabschieden, bot er ihr an, sie nach Hause zu begleiten oder zumindest bis zur U-Bahn-Station, zu der es etwa acht Minuten wäre. Sie nahm dankend an, und als sie ihm auf dem Bahnsteig die Hand reichte, küsste er sie auf die alte Weise und meinte, er würde sich ungemein freuen, wenn sie ihn wieder besuche.

Sie hatte sich einiges durch den Kopf gehen lassen, bevor sie das erste Mal mit einer Gruppe von Kindern, die gerade mit dem regulären vormittäglichen Englischunterricht – einer Stunde pro Woche – begonnen hatten, allein war. Die Therapeutin, mit der sie noch immer, wenn auch privat, in Kontakt war, empfahl ihr, es lässig anzugehen. Mach es, wie du es dir von deiner Lehrerin in diesem Alter gewünscht hättest.

Als sie die Kinder zum ersten Mal sah, hockten etwa zehn Achtjährige im Kreis auf dem Boden. Einige saßen auf den Kissen, andere hatten diese auf den gekreuzten Beinen liegen und stützten sich mit den Ellbogen darauf. Dort, wo der Kreis sich schloss, lag ein Kissen, das ihr zugedacht war.

Hello, everybody! My name is Darya and yours? Sie hatte erst vor zwei Tagen die Nachmittagsaufsicht angetreten, die für alle Schulstufen galt, und sich noch nicht die Namen aller Kinder gemerkt.

Bereits im Schneidersitz, schaute sie den Kindern der Reihe nach so lange in die Augen, bis sie begriffen, was sie von ihnen erwartete, und ihre Namen sagten. Und als sie sie alle durchhatte, fing sie noch einmal von vorne an, nur dass jetzt sie jedes der Kinder mit seinem Namen ansprach.

Let’s make a deal!

Die Kinder redeten inzwischen wieder miteinander, kicherten, waren noch nicht konzentriert.

Sie sprach weiter Englisch, versuchte zu erklären, welche Art von deal sie im Sinn hatte, kehrte aber immer wieder zu Let’s make a deal! zurück. Langsam begannen die Kinder ihr zuzuhören. Einigen konnte man ansehen, dass sie herausfinden wollten, was Darya mit Blicken und kleinen Handbewegungen deutlich zu machen versuchte.

Plötzlich sagte Karin: What is a deal?

Darya deutete auf jedes der Kinder, dann auf sich, dann auf ihre Handys, die sie vor sich liegen hatten. Dabei machte sie mit dem Daumen eine entsprechende Bewegung.

Die Gesichter fragten noch immer.

Look at me! Sie wiederholte ihre Gesten und sagte: Switch off your mobiles!

Mit einem Mal hatten sie begriffen.

And you?, fragte Erol und hielt dabei die Hand auf, als fordere er eine Gegenleistung ein.

Auch Darya brauchte ein paar Sekunden, bis sie verstanden hatte. Sie zeigte auf sich: I will tell you some great stories. But first I want to know which English words you already learnt.

Das schienen alle zu verstehen, auch wenn es nicht dieselben Wörter waren, die sie bereits kannten.

First, sagte Johanna.

Story, sagte Ferdinand.

All of them, flüsterte ein dunkelhäutiger Schüler, der neben ihr saß und beide Hände gegen sein Kissen stemmte. Amrita hielt dabei die Lider gesenkt, als schämte er sich.

Then we have an interpreter. Does anybody knowwhat an interpreter is? Please, Amrita, tell them!

Amrita zögerte, offenbar kannte er das deutsche Wort dafür nicht.

Explain it, Amrita.

Wenn man das englische Wort auf Deutsch sagt.

Übersetzer?, fragte Carolus.

Darya klatschte in die Hände: Correct!

Laura schaltete demonstrativ ihr Handy aus und fragte: And the stories?

You may select.

Aussuchen, sagte Amrita.

Select what? Es war wieder Laura, die nach den Geschichten gefragt hatte.

Who knows about »Winnie-the-Pooh«?

Beinah alle zeigten auf. »Cinema«, sagte Johanna, die bereits »first« entschlüsselt hatte.

»The Wonderful Wizard of Oz«?

»Musical«, sagte Vanessa, deren Mutter Soubrette war, wie auch Darya bereits wusste.

»The Water-Babies«? So gut wie alle zuckten die Achseln.

»The Jumblies«? Detto.

Sie dachte einen Augenblick nach: Let’s begin with »The Jumblies«. Their story is shorter and more amusing.

Wobei Darya mit hochgehobener Hand den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger verringerte und dazu lautlos lachte, während Amrita: Kürzer und lustiger, sagte.

And »The Jumblies«?, fragte Johanna.

Amrita schüttelte den Kopf.

Da sagte Darya plötzlich auf Deutsch: Wirre, winzige Wesen.

Sie sprechen Deutsch?, fragten alle im Chor.

Ich versuche es. Also diese winzigen, wirren Wesen namens Jumblies machen Folgendes:

Sie stachen in See per Sieb, so war’s,

Per Sieb stachen sie in See!

Und all ihre Freunde riefen Halt,

Es war Winter, stürmisch und wohl sehr kalt,

Per Sieb stachen sie in See!

Ungenau, fern im Grau

Schwimmt das Land, das den Jumblies lieb;

Ihr Kopf ist grün, ihre Hände sind blau,

Und sie stachen in See per Sieb …

Für einen winzigen Augenblick tauchte das Meer auf, in dem sie geschwommen war, aber dann kamen wieder die wirren, winzigen Wesen in ihren Fokus, und sie freute sich über das Lachen der Kinder. Die Stunde war so rasch vergangen, dass sie auf die Uhr schauen musste, um es zu glauben.

Nur eines der Mädchen hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Es war eine Neue in dieser Schule. Sie hieß Olga und kam aus der Ukraine. Offenbar hatte sie sowohl mit dem Deutschen als auch mit dem Englischen Probleme. Auch schien sie traumatisiert zu sein, vielleicht sollte sie sich um sie kümmern.

Next time I’ll bring you the original in English, then we can read it together.

Nächstes Mal bringt sie’s auf Englisch mit, wisperte Amrita, während alle anderen aufstanden, miteinander zu reden begannen und noch immer über die wirren, winzigen Wesen lachten.

Es war Daryas beste Zeit, seit sie wieder an Land war. Die Kinder schienen gerne zu ihr zu kommen, und sie war selbst überrascht, welche Fortschritte sie machten. Sie wollte jedes Mal wissen, was sie in der letzten regulären Englischstunde gelernt hatten, und schon indem sie es erzählten, blieb es besser in ihrem Gedächtnis haften.

Wann immer sie sich mit Bernhard traf, sprach sie von den Kindern und wie detektivisch sie die Bedeutung mancher Wörter mithilfe ihrer Gesten aufspürten, wenn Amrita nicht dabei war oder das richtige deutsche Wort nicht kannte. Oder darüber, dass einige in der Gruppe Bilder von den Jumblies gezeichnet oder gemalt hatten, so wie sie sich die wirren, winzigen Wesen vorstellten.

Sie zuckte auch nicht mehr, wenn er sie bei der Verabschiedung auf beide Wangen küsste. Sogar ein Glas Wein hatte sie neulich mit ihm getrunken und hatte sich danach keineswegs betrunken gefühlt, außer dass ihr das Lachen leichter fiel.

Schuldig fühlte sie sich immer noch, sowohl an der Gefährdung ihrer Familie als auch – wie sie meinte – am Tod ihres Geliebten.

Nach Allerheiligen – Darya und die Kinder beschäftigten sich gerade mit den Gedichten von Christopher Robins »Winnie-the-Pooh«, die relativ leicht zu entschlüsseln waren – kam ein neuer Schüler hinzu, der sich Daryas Gruppe anschloss und ihr zunächst gar nicht auffiel. Sie waren alle mit dem Gedicht »Missing« zugange, so dass sie ihn noch nicht einmal nach seinem Namen hatte fragen können.

Eine ihrer Kolleginnen war in Karenz gegangen, und so kam es immer häufiger vor, dass sie den ganzen Nachmittag, die englische Konversationsstunde ausgenommen, zur allgemeinen Aufsicht eingetragen war. Dann hatte sie dafür zu sorgen, dass alle Kinder in Ruhe ihre Schulaufgaben machen konnten, ohne dass der Lärmpegel stieg, und sie fragten Darya, wenn sie nicht ganz verstanden hatten, was man aufgabenmäßig von ihnen verlangte.

Auch der Neue, der ihr jetzt irgendwie bekannt vorkam, selbst wenn sie nicht wusste, an wen er sie erinnerte, saß an seinem Pult, vor ihm seine Schulbücher und -hefte, aber nicht so, als beschäftige er sich damit. Im Gegenteil, er schrieb ein paar Zeilen in ein liniertes Heft, das anders aussah als die üblichen Schulhefte, kaute an seinem Stift und schrieb weiter. Eine gute Gelegenheit, ihn nach seinem Namen zu fragen.

Adnan, sagte er.

Darya griff nach ihrem Kopf, als hätte jemand sie geschlagen, und für einen Augenblick musste sie sich an seinem Stuhl festhalten.

Adnan blickte erschrocken zu ihr auf, aber sie hatte sich wieder unter Kontrolle: Und was schreibst du da, einen Aufsatz?

Nein, die Schulaufgaben hab ich schon gemacht.

Olga, das ukrainische Mädchen, das nach zwei Monaten schon ein wenig Deutsch, wenn auch mit starkem Akzent, sprechen konnte, saß neben Adnan und antwortete für ihn: Er ist Dichter, sagte sie.

Adnans Gesicht rötete sich.

Darf ich? Darya wartete, bis er genickt hatte, dann nahm sie das Heft.

Ich schreibe Gedichte, die keine Gedichte sind, sagte Adnan.

Was meinst du damit?

Dass mir auf Deutsch keine Reime einfallen.

Sie strengte sich an, wieder auf neutralen Boden zu gelangen: Welche Sprache sprichst du denn zu Hause?

Meine Mutter spricht Arabisch mit mir, damit ich es nicht verlerne.

Olga beugte sich zu ihr hin: Adnan schreibt komisch, man muss lachen. Und ist traurig.

Darya versuchte zu lesen. Sie ließ die Seiten durch ihre Hände gleiten, nach ein paar Zeilen war der jeweilige Text zu Ende, und nach zwei Leerzeilen fing ein neuer an. Manchmal gab es auch Zeichnungen zu den »Gedichten ohne Reim«. Sie spürte das Wasser wieder, das damals in sie eingedrungen war. Als sie bei dem Satz ankam, den Adnan gerade geschrieben hatte, sagte sie ihn sich laut vor, damit er nicht gleich im Tohuwabohu ihrer Vorstellungen und Wahrnehmungen verschwand. »Dein Schatten tanzt in der Küche« stand da, mit einem blauen Stift geschrieben.

Ist schön, sagte Olga geradezu ergriffen.

Darya wollte auch etwas dazu sagen, aber es schien ihr nicht und nicht zu gelingen. Und als sie endlich den Mund aufmachte, war es auf Arabisch: Wen meinst du mit »Dein Schatten«?

Adnan lächelte, unsicher, in welcher Sprache er ihr antworten sollte, dann sagte auch er auf Arabisch: Meine Mutter. Ich möchte, dass sie tanzt und nicht immer traurig ist.

Und dein Vater?

Ist auf der Flucht im Meer ertrunken. Meine Mutter und ich sind schon viel länger hier bei einer meiner Tanten. Mein Vater wollte erst nachkommen, nachdem er mit dem Studium fertig war. Ich kann mich kaum an ihn erinnern.

Darya entschuldigte sich, aber sie fühle sich nicht gut. Zuerst ging, dann rannte sie hinaus zur Toilette.

Dort kniete sie nieder, und all das Wasser, das in sie eingedrungen war, schoss wieder in einem riesigen Schwall aus ihr heraus, einem Schwall, an dem sie beinah zu ersticken glaubte.

Die Nachmittagsaufsicht ging gerade zu Ende, so dass ohnehin alle den Raum verlassen würden und ihr Erbrechen niemandem auffiel.

Zu Hause legte sie sich aufs Bett, aber sie fand keinen Schlaf. Die Wut der Betrogenen gab ihr die Kraft, im Zimmer auf und ab zu gehen, obgleich der Schmerz es nicht zulassen wollte.