Die Mystifikationen der Sophie Silber - Barbara Frischmuth - E-Book

Die Mystifikationen der Sophie Silber E-Book

Barbara Frischmuth

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Beschreibung

Die märchenhafte Welt der Feen und Waldgeister ist in diesem phantastischen Roman auf wunderbare Weise mit der Geschichte der jungen Schauspielerin Sophie Silber verwoben. Sophie wird als einziger menschlicher Gast zu einem merkwürdigen Kongress in ein entlegenes Hotel in der Steiermark eingeladen, wo Elfen, Feen, Wassermann und Berggeist über sie den Dialog zu den Menschen suchen. Aber Sophie begegnet nicht nur ihnen und der Fee Amaryllis Sternwieser, sondern auch ihrer eigenen Vergangenheit. 

»Sehr vielschichtig, humorvoll und zauberhaft verspielt, zugleich aber auch voll Dramatik und voll wunderbarer Intensität.« Die Presse.

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Informationen zum Buch

Die märchenhafte Welt der Feen und Waldgeister ist in diesem phantastischen Roman mit der Geschichte einer jungen Frau verwoben. Sophie wird als einziger menschlicher Gast zu einem merkwürdigen Kongreß in ein entlegenes Hotel in der Steiermark eingeladen, wo Elfen, Feen, Wassermann und Berggeist den Dialog zu den Menschen suchen. Aber Sophie begegnet nicht nur ihnen, sondern auch der eigenen Vergangenheit.

»… sehr vielschichtig, humorvoll und zauberhaft verspielt, zugleich aber auch voll Dramatik und voll wunderbarer Intensität.« Die Presse

Barbara Frischmuth

Die Mystifikationen der Sophie Silber

Roman

Inhaltsübersicht

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Über Barbara Frischmuth

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Der Stein war an einem warmen Vorsaison-Abend des letzten Saturn-Jahrs ins Rollen gekommen, genauer gesagt in dem Augenblick, als Amaryllis Sternwieser über denselben stolperte und alle Feenkraft ihr den ersten plötzlichen Schmerz in der großen Zehe nicht ersparen konnte. Erst als die Fee der beginnenden Kühle den Fuß in ihre zartgliedrigen Hände nahm und Pari Banu ihren linden Zephyr-Atem darüberwehen ließ, löste der Schmerz sich in ein warmes Prickeln auf, und als dann noch Max Ferdinand, Amaryllis Sternwiesers Dackel in siebzehnter Generation, mit seiner Zunge darüberfuhr, ging auch die Schwellung so weit zurück, daß der Fuß wieder in den Schuh paßte.

Die drei Feen waren auf ihrem Spaziergang – sie hatten vor, um den See zu gehen – bereits bis nach hinten zur Seewiese, wo die Bergkette etwas zurücktritt, gekommen und suchten nun einen Platz, an dem sie sich ein wenig ausruhen und etwas zu sich nehmen konnten. Unglücklicherweise war der Tag ein Samstag, an dem die in Frage kommende Jausenstation geschlossen hatte, da die Pächter mosaischen Glaubens und der heiligen Ruhe pflegten. Bevor die drei sich jedoch entschlossen, zu solch geringem Anlaß ihre geheimen Kräfte anzuwenden, hielten sie erst einmal gründlich Umschau.

Bald standen sie vor einem reizenden alten Jagdhaus, das in der Nähe des Sees auf einer saftigen Wiese zwischen kleinen, von Sträuchern, Moos und Bäumen bewachsenen Felsbrocken stand. Das Holz, aus dem es erbaut war, sah grau und verwittert aus, und auf die Fenster fiel bereits so viel Schatten, daß nicht zu erkennen war, ob sich jemand dahinter befand.

Amaryllis Sternwieser hatte ein geübtes Auge für seltsame Anzeichen in ihrer heimischen Umgebung. Sie bemerkte sogleich, daß mehrere Feuerlilien zu beiden Seiten der Tür wuchsen, die über Nacht aus dem Boden geschossen sein mußten. Und so glitt unter ihrem bebänderten Strohhut ein kaum wahrnehmbares Lächeln von ihren tiefliegenden Augen zu dem kleinen schmalen Mund hinab, und es bedurfte nur weniger gewisperter Worte, und vor den neidlos staunenden Augen der beiden anderen Feen erblühten mehrere Narzissen vor der Haustür.

Wir wollen einen Augenblick verweilen, sagte Amaryllis Sternwieser, und sie setzten sich auf eine Holzbank, von der aus sie das Jagdhaus gut überblicken konnten.

Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, waren die drei Feen in die landesübliche Tracht gekleidet. Sie trugen Steirergewänder, die ihnen allen recht gut anstanden, wenn auch das Gesicht der chinesischen Fee der beginnenden Kühle und das der persischen Fee Pari Banu in apartem Gegensatz dazu standen. Doch ihre Hälse ragten schlank und zart aus den gefransten Seidentüchern, und Amaryllis Sternwieser hatte akkurat die richtige Farbzusammenstellung der Dirndlgewänder getroffen, als sie bei der Ausführung mit zauberkundiger Hand nachgeholfen hatte. Sie selbst hatte, seit sie hier am Ort ansässig war, nichts anderes mehr getragen, und sie kannte jede Finesse des gut fallenden Saums, der schmalen, aber wirkungsvollen Borten und der zartesten Garnspitzen an den gezogenen Blusenärmeln. Was Wunder, wenn alles aufs beste übereinstimmte, Schuhwerk, Strümpfe, Tuchspenzer und Bortenbeutel mit eingeschlossen. Ja selbst das dunkle schwere Haar hatte sie den beiden Feen zu einer kunstvollen Flechtenfrisur aufgesteckt. Es war eine Freude, sie anzusehen, und Amaryllis Sternwieser konnte sich eines gewissen Stolzes nicht erwehren. Glücklicherweise waren noch nicht so viele Sommerfrischler da, die sie hätten bestaunen können. Die Einheimischen aber hatten sich durch all die Jahre so an Amaryllis Sternwieser und ihre gelegentlichen Besucherinnen gewöhnt – es gab niemanden mehr, der genau hätte sagen können, wann sie zugezogen war –, daß sie ihnen kaum mehr auffielen.

Es dauerte nicht lang, und der Duft der Narzissen mußte seinen Weg ins Innere des Jagdhauses gefunden haben, denn mit einemmal öffnete sich die Haustür von selbst sperrangelweit, und Max Ferdinand, der davor liegengeblieben war, trottete mit erhobener Schnauze, schnuppernd und niesend hinein. Ihm folgten die drei Feen, und sobald sie die Schwelle überschritten hatten, schloß sich die Haustür wieder hinter ihnen. Sie standen in einem schmalen, finsteren Gang, der zu einer halboffenen Tür führte, aus der Licht – nämlich das der untergehenden Sonne – und die Stimmen mehrerer Herren drangen. Sowie die drei Feen die Stimmen gewahrt hatten, glätteten sich ihre Gesichter, die ansonsten nicht gerade alt, aber von einer gewissen Dignität, die ein Zeichen der besseren Jahre ist, geprägt waren. Ihre Wangen überzogen sich mit Rosenglanz, und ihre Augen wurden groß und strahlten, als hätten sie Belladonna eingetropft. Und selbst von den Armen der Amaryllis Sternwieser verschwanden die Sommersprossen und leidigen Fältchen, und sie wurden straff und weiß wie seinerzeit, als Alpinox ihr den Hof gemacht hatte, aber das ist eine andere Geschichte. Max Ferdinand hatte inzwischen in seinem Ungestüm die Tür ganz aufgestoßen, und sie erblickten vier Herren, die sich, die Tarock-Karten noch in der Hand, gerade vom Tisch, an dem sie gesessen und gespielt hatten, erhoben.

Der Alpenkönig, sagte Amaryllis Sternwieser zu ihren beiden Begleiterinnen, bevor einer der Herren, die jeder noch rasch ins nun aufgedeckte Blatt des anderen geschaut hatten, etwas sagen konnte.

Der so bezeichnete, ein großer stattlicher Mann mit schlohweißem Haar und in älpischer Kleidung, verbeugte sich und reichte Amaryllis Sternwieser die Hand. Welch ein Glanz von Ihnen ausgeht, Verehrteste … Und er konnte nicht umhin, sie obendrein auch noch zu umarmen. Alpinox, sagte er dann, als Amaryllis Sternwieser ihm die Namen der beiden Feen nannte.

Auch die drei anderen Herren waren näher getreten. Es handelte sich um von Wasserthal, den ortsansässigen Wassermann, der so genannt sein wollte, seit einst ein Schriftsteller namens Wassermann am Ufer seines Sees gewohnt hatte, mit dem er aus Kompetenzgründen nicht verwechselt werden wollte. Weiters waren da noch Herr Drachenstein, ein Zwerg und Venedigermandl, und der Waukerl Eusebius, Ältester des legendären Stammes der Waukerln, einer herdentreibenden Seitenlinie der Zwerge, die sich etwa zur Zeit der Völkerwanderung von der Bergbau treibenden Hauptlinie getrennt hatte und in ihren obersten Belangen direkt dem Alpenkönig unterstellt war.

Ich hoffe, wir stören nicht gar zu sehr, lächelte Amaryllis Sternwieser und sah dabei vor allem Eusebius an, der für seine Tarockleidenschaft bekannt war. Tuat eahm nix, sagte Eusebius und nahm dabei sogar die Pfeife aus dem Mund, han eh scho gwunna.

Die Fee der beginnenden Kühle und Pari Banu, die seine Worte nicht verstanden hatten, zogen erschrocken die Brauen hoch und wußten nicht, was sie von den vermeintlichen Bannworten zu halten hatten. Da aber weder Böses noch Unangenehmes geschah, beruhigten sie sich wieder, und gleich darauf wurden sie von den Herren Drachenstein und von Wasserthal zu Tisch geführt.

Besser hätten wir uns gar nicht zusammenwünschen können, sagte Alpinox zu Amaryllis Sternwieser. Er hatte seinen Arm unter den ihren geschoben und ging mit ihr zwischen dem Tisch und dem alten gekachelten Herd auf und ab, wobei er ein Tempo anschlug, als befänden sie sich beim Aufstieg zu einer Alm, so daß Amaryllis Sternwieser bald ihren Arm wieder aus dem seinen zog und mitten im Zimmer stehenblieb, um zu verschnaufen.

Wenn Sie so mit mir umspringen, sagte sie mit fliegendem Atem, werde ich mir einen anderen Ort zum Ausruhen suchen müssen.

Bewahre, bewahre … Alpinox führte sie lachend nun ebenfalls zum Tisch und bot ihr auf der mit bestickten Sitzkissen belegten Eckbank Platz an.

Wir wollten einen hübschen Spaziergang machen, natürlich nichts Alpinistisches, aber so, daß meine beiden Gäste sich ein richtiges Bild von der schönen Landschaft ringsum machen können, und soweit wäre auch alles bestens gewesen, hätte ich mir nicht plötzlich an einem Stein die Zehe wundgeschlagen, begann Amaryllis Sternwieser zu erzählen und schlüpfte dabei unter dem Tisch wie zur Bestätigung aus dem Schuh.

Aha, der Stein … meinte Alpinox, und ein spöttisches Lächeln huschte über sein wind- und wettergezeichnetes Gesicht, daß die Falten um die Augen sich wie Fächer zusammenschoben.

Das ist die Höhe, rief Amaryllis Sternwieser mit einemmal, das ist nun wirklich die Höhe. Drachenstein, von Wasserthal, wie finden Sie das? Als aber auch die beiden Herren bloß schmunzelten, besänftigte sie ihren Groll und begann zu lächeln.

Daß Sie bloß nicht glauben, Sie hätten mich überlistet, Sie Alleswisser, fuhr sie in versöhnlicherem Ton an Alpinox gewendet fort. Daß Sie heute hier sind, nämlich ausgerechnet an diesem Abend … und sie blickte zu Eusebius hinüber, an den nun die Reihe gekommen war zu schmunzeln.

Eusebius, du …? rief Alpinox, und die Überraschung schien vollkommen. Ich gebe mich geschlagen, liebste Amaryllis, ich gebe mich, was Sie betrifft, zum tausendunderstenmal geschlagen.

Und nun … sagte Amaryllis Sternwieser, nachdem sie ihren Triumph ein Weilchen ausgekostet hatte, nun, ich meine … sie räusperte sich sogar, … haben die Herren eigentlich schon gegessen?

Bewahre, bewahre … Alpinox räusperte sich ebenfalls, … wir haben natürlich damit gewartet. Und nachdem er aufgestanden war und die eisernen Ringe vom Herd genommen hatte, blies er mit einem einzigen Atemstoß die Glut an, daß die Holzkohlen nur so erröteten. Gleich darauf kam Eusebius mit einer größeren Anzahl von Weidenstecken, auf die die herrlichsten Saiblinge gespießt waren, und plazierte sie so kunstgerecht über dem offenen Herd, daß sie sofort zu brutzeln anfingen. Dann holte er einen Korb gewaschener Erdäpfel, die er in Scheiben schnitt und auf den Herdrand legte. Drachenstein hatte inzwischen allen als Aperitif ein Buderl Enzian gereicht, während von Wasserthal nach dem eingekühlten Wein sah. Es dauerte nicht lange, und schon konnten den beiden ausländischen Feen die ersten gebratenen Fische zusammen mit den gebähten Kartoffelscheiben gereicht werden. Das alles ging unter Lachen und Scherzen vor sich, und bald hatte die Stimmung einen ersten Höhepunkt erreicht. Die Herren machten den Feen Komplimente, die Feen hinwiederum zogen die Herren auf, der Enzian hatte eine gute Grundlage geschaffen.

Die Fee Pari Banu, die ihren Ahmed schon längst überlebt hatte, begann mit dem melancholisch dreinblickenden, aber sehr charmanten von Wasserthal zu flirten, während Drachenstein sich mit der Fee der beginnenden Kühle über die Verarbeitung von Jade unterhielt. Eusebius widmete sich weiterhin den Aufgaben eines Mundschenks, während Alpinox und Amaryllis Sternwieser so manches alte Histörchen aufwärmten, worüber sie am Ende jeweils herzlich lachten. Wir sollten wieder öfter zusammenkommen, sagte Alpinox.

Und besser zusammenarbeiten, erwiderte Amaryllis Sternwieser. Unsereiner hat es nicht leicht heutzutage, wo die Enterischen uns bereits in so vielem voraus sind.

Wem sagen Sie das … Alpinox starrte betrübt in sein Glas, um es dann in einem Zug zu leeren. Einen Landsitz um den anderen habe ich aufgelassen, und auch diesen habe ich nur nach einer Abmachung mit der Fürstin halten können, die als Besitzerin zeichnet. Mit dem Erfolg, daß das Haus in den Monaten Juli und August an Fremde vermietet wird. Um nicht aufzufallen, wie die Fürstin erklärt hat.

Auch bei mir, lamentierte Amaryllis Sternwieser, kommt alle paar Tage jemand vorbei, und ich wohne gewiß in einer abgelegenen Gegend, um zu fragen, ob ich nicht ein Zimmer frei hätte.

Und helfen läßt sich auch keiner mehr. Zumindest legen die Enterischen keinen Wert mehr auf die Art von Hilfe, die wir ihnen bieten können. Versuche ich doch da neulich …

Ich weiß, ich weiß, lieber Alpinox, mir geht es um keinen Deut anders. Es ist noch keine Woche her, daß ich …

Wir haben uns überlebt, Verehrteste, das ist die traurige Wahrheit. Wir sind für die Enterischen unnütz geworden, glauben Sie mir.

Und das soll unsere einzige Daseinsberechtigung sein, den Enterischen zu nützen? Es war nun an Amaryllis Sternwieser, traurig in ihr Glas zu starren, um es dann in einem Zug zu leeren. Eigentlich haben Sie recht, so recht, lieber Alpinox. Dazu kommen noch all die großen und kleinen Feindseligkeiten unter unseresgleichen, die wir seit Jahrtausenden pflegen und hätscheln. Es geschieht uns recht. Wie sagen die Enterischen, wenn sie alle ihre Kräfte zusammennehmen? sann Alpinox vor sich hin.

Ich glaube, sie sagen: Einigkeit macht stark! oder so ähnlich, meinte Amaryllis Sternwieser. Aber in unserem Fall …

Warum nicht, Verehrteste, warum sollten nicht auch wir uns zusammentun, bevor wir es endgültig aufgeben, Gestalt anzunehmen? Da wir nun einmal nicht sterben können oder zumindest außergewöhnlich lang existieren, bleibt uns sonst nur mehr die Rückkehr in die Dinge. In diesem Fall sind wir den Enterischen erst recht ausgeliefert.

Ihr Gespräch wurde durch den Ruf nach Musik unterbrochen. Die beiden Paare hatten Lust auf ein Tänzchen bekommen, und man bat Alpinox, bei Eusebius ein gutes Wort einzulegen, dessen es aber gar nicht bedurfte, denn schon hatte Eusebius seine Zither ausgepackt und auf den Tisch gestellt, und gleich darauf erklangen die flottesten Weisen, die derart in die Beine gingen, daß die beiden ausländischen Feen sich noch im Stehen zu wiegen begannen und darauf warteten, daß die beiden Herren sie im Steirischen unterwiesen. Diese hinwiederum warteten darauf, daß Alpinox den Tanz eröffne, und obwohl Amaryllis Sternwieser sich anfänglich zierte, nahm sie die Aufforderung an, und Alpinox, der trotz seiner würdigen Erscheinung ein schwungvoller Tänzer war, führte sie in die Mitte des Raumes und begann sich mit ihr aufs anmutigste zu drehen. Er kannte all die Figuren, die zumeist schon in Vergessenheit geraten sind, und Amaryllis Sternwieser stellte sich seiner Führung, zumindest was den Tanz betraf, mit Freude anheim.

Als sie ihren Schautanz geendet hatten, klatschten die Fee der beginnenden Kühle, die noch selten jemand so fröhlich gesehen hatte, und Pari Banu begeistert in die Hände, und dank ihrer feenhaften Verständigkeit bedurfte es keiner langen Lehrzeit, und sie landeten durch sämtliche Räumlichkeiten des alten Jagdhauses – man hatte alle Türen geöffnet –, als hätten sie zeit ihres Lebens mit den zierlichen Füßen den Boden gestrampft.

Daß es dabei lustig zuging, kann man wohl sagen, und so darf es auch nicht wundernehmen, wenn die Ausgelassenheit allerlei nächtliches Volk anlockte, das schon längere Zeit ums alte Jagdhaus geschwirrt war. Erst als jemand ans Fenster klopfte, wurden die Drinneren aufmerksam. Es war Rosalia, die Salige, eine der letzten Wildfrauen, die es in der Gegend noch gab. Ihr blasses Gesicht mit dem rötlichbraunen Haar erschien an die Scheiben gedrückt, und sie machte mit dem Finger ein Zeichen, daß sie eingelassen werden wollte.

Das ist allerhand, sagte Amaryllis Sternwieser, wie diese Person sich aufdrängt. Alpinox beschwichtigte sie.

Sie hatten immer schon ein Faible für Wildfrauen, geben Sie es zu, schmollte sie. Sie dichten mir Sachen an, Verehrteste, meinte Alpinox. Vergessen Sie nicht, sie gehören zu uns. Auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit mit einem Enterischen einlassen. Das passiert doch auch Ihresgleichen, holde Amaryllis, und er warf einen Seitenblick auf Pari Banu, die sich gerade von von Wasserthal küssen ließ.

Jetzt gehen Sie aber, Sie sind ein richtiges Ekel … und Amaryllis Sternwieser puffte den Alpenkönig in die Seite, was dieser zum Anlaß nahm, sich zu erheben. Er bedeutete Rosalia, der Saligen, daß die Tür offenstünde. Und bald darauf betrat jene in ihrem weißen, durchscheinenden Gewand den Raum. Von ihrer ganzen Erscheinung ging etwas wie Nachtwind aus, was die Tänzer als angenehmen Lufthauch verspürten. Anscheinend waren aber durch die offene Tür eine Reihe anderer, noch unsichtbarer Wesen hereingewischt, denn mit einemmal war der Raum mit Wispern und Kichern erfüllt, und man war vor keinem Schabernack sicher. Amaryllis Sternwieser fühlte plötzlich, wie ihr ganzes Gesicht von kleinen feuchten Küssen bedeckt wurde, und erst als sie das betreffende Wesen mit dem dafür bestimmten Spruch gezwungen hatte, sich sichtbar zu machen, erkannte sie eine der kleinen Nixen aus dem Haushalt von Wasserthals, die ihr auch schon bei anderer Gelegenheit begegnet war.

Und mit einemmal entschwebte Eusebius’ Zither an die Decke des Raumes, und eine herrliche Musik erklang.

Bei allen Dingen und Gestalten, flüsterte Amaryllis Sternwieser Alpinox zu, auch das Stille Volk ist angekommen.

Sie meinen den seinerzeit aus Albion verbannten Elfenstamm? Die kleinen Leute sind gestraft genug, sie tun keinem mehr was.

Da waren sie auch schon sichtbar geworden mit ihren Fiedeln und Flöten, und schon drehten sich eine Reihe von Paaren zu der neuen Musik.

Aber boshaft sind sie allemal, das werden Sie mir nicht abstreiten, fügte Amaryllis Sternwieser hinzu, die die böse Nachred nicht lassen konnte, sintemal sie eine schlechte Erfahrung gemacht hatte, aber das ist eine andere Geschichte.

Wir müssen besser zusammenarbeiten, Verehrteste, wir alle, dazu gehört auch das Stille Volk und was weiß ich, wer nicht noch aller.

Sie nehmen mich beim Wort, gut. Aber wie, wie sollen wir das zuwege bringen? Wir sollten alle zusammenkommen und darüber reden, was uns überhaupt noch zu tun bleibt.

Ach, seufzte Amaryllis Sternwieser, wenn ich mir die endlosen Streitereien vorstelle. Herauskommen wird dabei gar nichts.

Vielleicht sehen wir dann klarer.

Rosalia, die Salige, war unterdessen an den Tisch gekommen und stellte sich so unmißverständlich vor Alpinox hin, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sie zum Tanzen aufzufordern.

Während Alpinox mit der Wildfrau entschwand, kamen von Wasserthal und Pari Banu an den Tisch zurück.

Geliebte Amaryllis, dieses Fest ist zauberhaft, so urtümlich und so erfrischend. Dabei fiel sie Amaryllis Sternwieser um den Hals, ohne von Wasserthals Hand loszulassen. Dann setzten sich die beiden dicht nebeneinander, und Amaryllis hatte den Verdacht, daß sie sich mit den Beinen liebkosten.

Ihr habt doch irgend etwas ausgebraten, meinte Pari Banu zu Amaryllis Sternwieser, während wir alle getanzt haben. Ihr seid die ganze Zeit in diesem Winkel gesessen und habt geredet.

Amaryllis Sternwieser seufzte, nicht gerade sehr bekümmert, aber sie seufzte, und dann erzählte sie von Alpinox’ Idee, daß sie sich alle treffen sollten, und sie erweiterte das Ganze durch eine gewichtige Formulierung, indem sie das Treffen Kongreß nannte, um damit anzudeuten, daß es mit einem kurzen Treffen nicht getan wäre, daß man Tage, vielleicht sogar Wochen brauchen würde, um sich, wie sie es nannte, zusammenzuraufen.

Wenn der Alpenkönig einen solchen Vorschlag macht, wird schon was dran sein, meinte der melancholisch dreinblickende von Wasserthal, ohne sich sonderlich interessiert zu zeigen.

Eine herrliche Idee, rief Pari Banu. Wir kommen im nächsten Sommer alle hierher, mieten uns in einem großen Haus ein und unterhalten uns. Und Feste werden wir feiern … wirklich, eine herrliche Idee. Und schon verbreitete sich das Wort Idee unter allen Anwesenden. Es flatterte von sichtbarem zu unsichtbarem Mund und faszinierte alle.

Eine glänzende Idee, meinte Rosalia, die Salige, als Alpinox sie an den Tisch brachte. Finden Sie nicht, geschätzte Amaryllis?

Amaryllis Sternwieser wiegte gemessen den Kopf in den Schultern. Einstweilen ist alles noch vage, sagte sie. So etwas muß selbst unter unseresgleichen organisiert werden.

Wissen Sie, fuhr Rosalia, die Salige, fort, manchmal bin ich bereits so niedergeschlagen, wenn ich mein Schicksal bedenke, daß ich mich am liebsten in einen x-beliebigen Nebelstreif auflösen möchte. Es gibt nichts mehr, woran man sich halten kann. Ein Großteil der Wildfrauen ist verzogen, die anderen sind bereits zum äußersten entschlossen. Es ist alles so traurig, finden Sie nicht auch? Die Enterischen werden einem immer enterischer, und die Orte, an denen man sich ungeniert bewegen kann, gibt es schon kaum mehr.

Ein jeder von uns hat seine eigenen Depressionen, erwiderte Amaryllis Sternwieser abweisend. Sie konnte nun einmal die Salige nicht leiden, schon seit jenem ersten Mal nicht, als sie sie besucht und ihr von ihren Amouren erzählt hatte, aber das ist eine andere Geschichte.

Mittlerweile waren auch Drachenstein und die Fee der beginnenden Kühle des Tanzens müde geworden und an den Tisch zurückgekommen.

Wie ich höre, werden wichtige Dinge beschlossen, wandte sich Drachenstein an Amaryllis Sternwieser. Vor allem muß eine Resolution gefaßt werden, die dem Raubbau von Schmucksteinen Einhalt gebietet. Ich kann wohl bei meinem Antrag mit Ihrer Unterstützung rechnen, werter Alpinox? Die Fee der beginnenden Kühle, die, je mehr es dem Morgen zuging, immer lebhafter wurde, machte ein interessiertes Gesicht und nickte eifrig mit dem Kopf.

Ja, ja, mein Bester, rief Alpinox, auf den nun von überallher Vorschläge und Richtlinien einstürmten. Wir werden alles besprechen. Alles zu seiner Zeit.

So ein Kongreß – sie betonte das Wort genüßlich, schließlich war es ihre Erfindung – muß gründlich vorbereitet werden, schaltete sich Amaryllis Sternwieser ein. Sie sehen ja, kaum wird eine Idee geboren, und schon geht alles drunter und drüber.

Eusebius, der das Amt eines alpenköniglichen Mundschenks sehr ernst nahm, hatte, während die Berg- und Wassergeister noch immer tanzten, einen Kessel mit Gulaschsuppe über den Herd gehängt, und ihr Duft stieg der mittlerweile wieder hungrig gewordenen Gesellschaft aufs angenehmste in die Nase. Und als es soweit war, daß die Suppe ausgeschenkt werden konnte, unterbrachen auch die Elfen für eine kurze Ruhepause ihre Musik. Nicht daß sie davon essen wollten, sie nährten sich ausschließlich von Tau, aber auch sie hatten etwas von der Idee gewittert, und neugierig, wie sie waren, kamen sie ebenfalls an den Tisch. Nachdem sie eine Weile zugehört hatten, fragte der ranghöchste der anwesenden Elfen, wer denn überhaupt aller zu dem Kongreß geladen werden sollte.

Natürlich alle, rief Alpinox, die wir es in der Hand haben, Gestalt anzunehmen oder in die Dinge zurückzukehren, ohne daß wir dabei wie die Enterischen das Bewußtsein verlieren, ob Fee, ob Zwerg, ob Berggeist, ob Elf …

Lieber Alpinox, fiel Amaryllis Sternwieser ihm ins Wort, das wäre doch sinnlos und würde dem ganzen Unternehmen bloß schaden. Wenn ich dazu etwas bemerken darf …

Aber gewiß, Verehrteste, bemerken Sie nur …

Wenn ich also dazu etwas bemerken darf, so finde ich es sinnvoller, wenn alle straffer organisierten Wesen wie Elfen, Zwerge, Berg- und Wassergeister, die ihren Königen zu absolutem Gehorsam verpflichtet sind, nur jeweils einen Vertreter entsenden, während Sie, lieber Alpinox, und die anwesenden Feen – Rosalia räusperte sich – sowie die Wildfrauen nach Möglichkeit alle erscheinen sollten.

Angenommen, riefen die Genannten, während unter den straffer organisierten Wesen ein leises Murren anhob, dem aber niemand zum Durchbruch verhelfen wollte.

Da wir aber bis dahin noch eine Menge Zeit haben, meinte Alpinox, es wird mindestens ein Jahr dauern, bis wir den Kongreß abhalten können, möchte ich die verehrten Anwesenden bitten, sich nun weniger der Diskussion als dem Genuß der Gulaschsuppe hinzugeben. Dieser Aufforderung wurde allgemein nachgekommen, und die vielen Ah’s und Oh’s bewiesen Eusebius, daß seine Kunst sich schmecken lassen konnte. Und als man gegessen hatte und Eusebius noch einmal allen nachgeschenkt hatte und die Elfen gerade wieder zu ihren Instrumenten greifen wollten, fielen die ersten Strahlen der Morgensonne durchs Fenster, was die ganze Gesellschaft, vor allem die tagscheuen Wesen, zum Aufbruch mahnte. Als erste verschwanden die Elfen, so schnell, daß sie sich nicht einmal verabschiedeten, aber auch die Berg- und Wassergeister hatten es eilig. Die ursprüngliche Gesellschaft, Alpinox, die drei Feen, Drachenstein und von Wasserthal, trank noch in Ruhe ihre Gläser leer, erhob sich aber dann ebenfalls und verabschiedete sich voneinander, bei den Klängen eines lustigen Kehraus, den Eusebius auf seiner wiedererhaltenen Zither aufspielte.

Die drei Feen beschlossen, auf jede Art von zauberischem Fortbewegungsmittel zu verzichten und ihren begonnenen Spaziergang um den See herum fortzusetzen, von dort aus dann den Tressenweg zu benutzen, der geradewegs zum Sternwieser-Haus führte.

Max Ferdinand, der die Nacht in einem ruhigen Winkel des alten Jagdhauses friedlich verschlafen hatte, hüpfte frisch und munter vor den drei Feen her, roch an jedem Baum und an jedem Strauch und tat auch an allen Ecken seine Schuldigkeit.

Die drei Feen schritten, erfrischt von der klaren Morgenluft, ebenfalls flott dahin und redeten lange Zeit gar nichts, bis Pari Banu das Schweigen brach. Wenn ich mir vorstelle, daß wir alle Feen zu diesem Kongreß einladen wollen, brauchen wir eine ganze Hotelkette, um sie unterzubringen.

So viele werden schon nicht kommen, meinte Amaryllis Sternwieser. Vergessen Sie nicht, meine Liebe, wir haben da noch das Problem der Zeit. Wie Sie wissen, verfahren wir oft recht beliebig damit. Denken Sie an Prinz Ahmed, dem viele Ihrer Feenjahre wie ein Tag vorgekommen sein mögen. Viele von uns werden innerhalb eines Jahres gar nicht erreichbar sein, weil sie ihren Zeitablauf anders eingestellt haben.

Vor allem die chinesischen Feen, sagte die Fee der beginnenden Kühle. Die meisten haben sich zur Zeit des Boxeraufstands zu einem hundertjährigen Schlaf entschlossen. Sie waren so neugierig, was daraus werden würde, daß sie es nicht mehr aushielten, und so legten sie sich schlafen, um beim Erwachen gleich zu erfahren, was wirklich daraus geworden ist. Zum Glück habe ich mich nicht dazu entschließen können, darum hat mich Ihre reizende Einladung auch erreicht, liebe Amaryllis.

Sehen Sie, meine Liebe, fuhr Amaryllis Sternwieser, an Pari Banu gewendet, fort, unsere Zahl wird sich in erträglichen Ausmaßen halten.

Sie waren trotz der herrlichen Morgenluft alle ein wenig müde, und so ließen sie es auch sein, weiter über die große Idee zu sprechen. Sie freuten sich auf einen ordentlichen Frühstückskaffee und auf ein bequemes Ruhebett, auf dem sie den Vormittag würden verdösen können.

*

… von Weitersleben! Sie zog ihren Personalausweis aus der schon geöffneten Tasche und schob dann mit dem Daumen derselben Hand die Haut am Ringfingernagel zurück.

Zimmer acht … und der Portier nahm einen Schlüssel vom Brett.

Mit oder ohne Bad?

Mit, sagte der Portier, wünsche einen angenehmen Aufenthalt.

Ein Hausdiener mit grüner Schürze und Schirmmütze hatte ihre Koffer genommen, und sie folgte ihm über die einfach geknickte Treppe in den ersten Stock. Daß Kinder schon schreien können, bevor sie das Lächeln erlernen. Der Hausdiener plagte sich, verstand es auf eine Weise, nicht zu seufzen, als er sich des Gepäcks entledigte, die einen glauben machte, ein Seufzer wäre am Platz gewesen.

Sie suchte nach Geld, einer Münze, die was gleichsah, sich wie eine Entschädigung anfühlte, die sie aber auch auswies als einen besonderen Gast, der nichts wie beiläufig tat. Ein Fünfmarkstück, eher Souvenir, weil nicht die Währung des Landes, geriet ihr zwischen die Finger, und sie steckte es dem Hausdiener in die Westentasche, die unter dem Schurz hervorschaute. Eine fast intime Berührung. Sei’s drum, dachte sie, ich weiß, was ich meiner Erscheinung schuldig bin. Sie hatte immer schon geahnt, daß mehr in ihr steckte, als bisher zum Vorschein gekommen war.

Den Ort kannte sie. Sie hatte als Kind hier gelebt, zusammen mit ihrer Mutter, der geborenen von Weitersleben. Ihr Vater, der Name tat nie etwas zur Sache, war bereits damals eine legendäre Gestalt mit vielen Gesichtern gewesen, deren keines sie wirklich gesehen hatte. Aber auch jene Männer, die die Mutter ihr in aller Form vorzustellen pflegte, hatten liebenswerte Seiten gehabt.

Silber, sagte sie, wenn sie gezwungen war, sich irgendwo selbst bekannt zu machen, Sophie Silber, und auf ihrer Visitenkarte, die sie nur in besonderen Fällen aus der Hand gab, war das von vor Weitersleben durchgestrichen. Nur in besseren Hotels führte sie sich mit ihrem eigentlichen und vollständigen Namen ein.

Im Nachtkästchen fand sie ein porzellanenes Nachtgeschirr, mit einer gelben und einer violetten Chrysantheme bemalt, die Stengel über Kreuz. Versunken in den Anblick, spielte sie mit dem Gedanken, es bei der Abreise mitzunehmen, um es als Übertopf für eine ihrer Pflanzen zu verwenden.

Sophie Silber als Lacrimosa. Sie stellte sich im schlichten Lederrahmen auf den Kirschholzsekretär. So fühlte sie sich heimischer. Eine gekonnte Aufnahme, wenn auch schon länger her. Damals war sie sich zu jung vorgekommen für die achtzehnjährige Tochter, trotz der Feengestalt. Doch der Erfolg hatte es sie vergessen lassen.

Am liebsten wäre sie eine große Magierin geworden, das Wort Hexe lag ihr nicht. Es hatte Brandgeruch an sich und Häßlichkeit. Früher einmal war die Cheristane ihre Lieblingsrolle gewesen, aber sie wußte, was ihr noch anstand und was nicht.

Sie reinigte sich das Gesicht mit einem getränkten Wattebausch. Das Auspacken ging schnell, nach den vielen Tourneen war es ihr zur Gewohnheit geworden, Koffer mit wenigen Griffen aus- oder einzupacken.

Ihr halkyonischen Bergspitzen! Sie war mit leicht gebreiteten Armen ans Fenster getreten, konnte aber nichts als Ausschnitte unterhalb der Baumgrenze erspähen und eine kleine Fläche See. Dafür lag der Gastgarten unter ihr, mit dem als Felsengrotte getarnten Brunnen. Der Rest der Aussicht verfing sich in den Kronen zweier behäbiger Linden.

Etwas dunkel das Zimmer, nordseitig. Sie hatte sich zu spät entschieden, oder war Absicht dahinter? Was will man während der Saison. Sie prüfte Hähne und Abflüsse des Badezimmers, warf einen Blick durch das nur halb so große Fenster, das im rechten Winkel zum gegenüberliegenden Gangfenster stand, beide beinah zugewachsen von kopfgroßen herzförmigen Blättern, an deren Achsen bräunliche Blüten in der Form von kleinen Pfeifen hingen.

Es war vier Uhr, regnerisch trüb, und sie hatte keine Lust auf eine Jause. Zeitweise liebte sie dieses Wetter, das voller Erwartung war, als könne der Hauch von Schwüle sich an der Glut einer Zigarette entzünden. Während sie sich zum Ausgehen fertigmachte, fiel ihr auf, wie niedrig die Schwalben flogen, wie sie im Gastgarten unten die Mücken über die Löcher der Salzstreuer hinweg aufpickten.

Erst als sie die messingene Klinke schon in der Hand hielt, bemerkte sie die drei Feuerlilien, die aus einer schlanken handförmigen Vase ragten und auf einem Beistelltischchen in der dem Bett gegenüberliegenden Ecke standen. Etwas in ihrer Erinnerung gab Alarm. Sie trat näher, vielleicht war eine Karte dabei, aber nichts. Eine Gefälligkeit des Hauses? Und sie überdachte ihr Bankkonto, falls sie die Einladung denn doch mißverstanden hatte. Feuerlilien, Feuerlilien … wieso ausgerechnet Feuerlilien? Die Bartnelken, die sie bei der Ankunft in großen Gartenbeeten hatte wachsen sehen, hätten es doch auch getan. Ihr war, als hätte sie schon einmal eine Begegnung mit Feuerlilien gehabt. In ihrem Kopf summte es, sie kam und kam nicht dahinter. Der Schirm war so zusammengefaltet, daß er gerade in ihrer Handtasche Platz hatte. Sie kannte den Weg, konnte ihn unmöglich vergessen haben. Wo Du seinerzeit um die Milch gegangen bist. Und von dort die Leite hinauf, am Bartlhof vorbei an den Rand der großen Wiese oder, wenn Du vom See her kommst, an der Tischlerei vorbei, zur Sandgrube hinauf und von dort aus die große Wiese entlang bis an deren Rand. So hatte ihr Amaryllis Sternwieser geschrieben. Sie konnte sich an die Wiese erinnern und beinahe auch an das Haus, sie würde wissen, wo es zu suchen war. Und beinahe auch an Amaryllis Sternwieser. Wenn sie an sie dachte, sah sie eine Dame undefinierbaren Alters, mit einem bebänderten Strohhut und in einem Steirergewand, das heißt, ihr war dann, als ginge sie hinter ihr her, könne aber ihr Gesicht nicht erkennen.

Also der Brief: Liebe Sophie, Sie werden sich nicht mehr so deutlich an mich erinnern, das heißt Du, liebe Sophie, als die ich Dich vor vielen Jahren kennengelernt und gekannt habe, wirst Dich in Deinem Herzen gewiß an mich erinnern und an Max Ferdinand, meinen Hund. Ihr dämmerte etwas von einem rothaarigen Dackel, der eine Zeitung trug und damit die Straße kehrte, aber der konnte auch jemand anderem gehört haben.

Sie trug noch ihr Reisekostüm, ebenfalls eine Angewohnheit aus der Tourneezeit, sich nur dann umzuziehen, wenn es wirklich nötig war. Sie betrachtete sich einen Augenblick lang in dem großen Spiegel neben der Portiersloge, stellte mit Befriedigung fest, daß ihre Figur recht passabel war, und da weder der Portier noch sonst jemand in der Nähe war, trat sie näher und fuhr sich mit den beiden kleinen Fingern mehrmals und in leicht massierender Bewegung über die Jochbeine, rollte auch mit beiden Augäpfeln und strich mit den Mittelfingern gegen die natürliche Richtung der Augenbrauen, was diesen eine zarte Buschigkeit verlieh, die die Ausdruckskraft ihres Blickes erhöhte.

Liebe Sophie, hauchte ihr Mund sich entgegen, daß das Glas sich beschlug, ich erwarte Dich am Tag Deiner Ankunft gegen fünf Uhr zum Tee. Alles Weitere mündlich.

Dann hatte sie Nachricht vom Hotel bekommen, daß das Zimmer für sie bereitstünde. Seltsamerweise war ihr der Brief von Amaryllis Sternwieser abhanden gekommen. Zum Teil wußte sie ihn auswendig, doch konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, wie die Einladung gelautet hatte. Es war aber doch eine Einladung gewesen. Spätestens bei der ersten Wochenrechnung würde sie Gewißheit haben. Sie war schon unter wesentlich ungewisseren Voraussetzungen in gute Hotels gezogen. Ein dahingehendes Mißverständnis würde sie kaum aus der Fassung bringen.

Es herrschte absolute Windstille, was ihr sogleich auffiel, kam sie doch aus einer Stadt, die voll war von Wind, so daß Fremde Kopfschmerzen darin bekamen.

Es wird sich viel verändert haben, seit damals. Sie schlug einen raschen Spazierschritt an. Noch fiel ihr nichts auf, zumindest hier am See nicht. Die alten Häuser schienen unverändert, was ihre Bauweise betraf, nur neuer, besser instand gehalten als zu ihrer Zeit. Sie sträubte sich gegen diese Formulierung in Gedanken. Meine Zeit ist jetzt, sagte sie sich, ich habe mich noch nie so sehr als ich selbst gefühlt. Die Besitzer der Villen waren wahrscheinlich andere als damals, nur in der Tischlerei würden noch dieselben Leute, zumindest dieselbe Familie wohnen.

Bei der Klause entdeckte sie plötzlich ein langentbehrtes, ehemals vertrautes Geräusch wieder, das Tosen der beiden Flüsse, der eine Abfluß des Sees, der andere durch den Ort herkommend. Am Ende einer kleinen Halbinsel vereinigten sie sich, rauschend und gurgelnd, es hallte lang in ihren Ohren nach.

Der Weg war schlechter, als sie ihn in Erinnerung hatte, von kleinen Rinnsalen durchzogen und von armstarken Wurzeln überwachsen. Weiter oben hingen manchmal geknickte Bäume über den Weg, daß sie sich bücken mußte, um passieren zu können. Auf dem Hang des Kogels, der steil abfiel, wuchsen Ziegenbart, Storchenschnabel und geflecktes Knabenkraut. Als der Wald sich lichtete und sie bereits am Rande der Wiese entlangging, bückte sie sich nach zarten kleinen Glockenblumen, ohne sie zu pflücken, aber auch hier roch es noch nach morschem Holz und nach Pilzen. Von einer jungen Tanne riß sie ein Wipfelchen ab und kaute es, wie sie es als Kind oft getan hatte, manchmal aus wirklichem Hunger, wenn sie auf ihren langen Spaziergängen die Essenszeit übersehen hatte.

Plötzlich stand sie vor dem Haus, an einer Stelle, an der sie nur Stadeln in Erinnerung hatte. Es sah aus, als stünde es schon ewig. Die Oberschicht des unbehandelten Holzes war grau und verwittert, wie bei den meisten alten Häusern der Einheimischen. Es war nicht sehr groß, aber umgeben von den leuchtenden Farben der Blumen eines Bauerngartens.

Die Tür zum Vordach stand offen. Auf der Steinstufe lag ein Paar Knoschpen, Holzpantoffel, die vorne spitz ausliefen und ein ledernes Oberteil hatten. Sie sah sich dabei zu, wie sie aus dem Schuh schlüpfte und in einen der Knoschpen fuhr. Gerade daß sie sich noch an den Namen erinnerte, so lange war es her, daß sie das letztemal so etwas angehabt hatte. Vom vielen Tragen war das Holz glatt geworden und fühlte sich kühl an durch ihren dünnen Strumpf.

Das Vordach diente gleichzeitig als Veranda, Stühle, ein hölzerner Tisch. Vertrocknete Palmkätzchen hingen, zu einer Rute gebunden, im Winkel über der Eckbank. In den Holzleisten steckten Ansichtskarten, darunter die Fotografie von einer Gemse, die aus dem Ei schlüpft. Der dünne Vorhang über dem kleinen Fenster hob sich, wie von einem Atemhauch bewegt.

Amaryllis Sternwieser mußte sie schon eine Zeitlang beobachtet haben. Sie stand regungslos in der Tür, die ins Haus führte, mit angehobenen Armen, als warte sie nur darauf, sie in dieselben zu schließen. Ein Lächeln sprang aus ihren tiefliegenden Augen, und sie sagte: beinahe unverändert, liebe Sophie, beinahe unverändert.

Sophie war erschrocken und verlegen zugleich. Grüß Gott, sagte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren, und ihr fiel ein, daß ihr Fuß noch immer in dem Knoschpen steckte. Da, sagte sie und fing zu lachen an. So lange ist es her, und da soll ich mich beinahe nicht verändert haben.

Als sie ihren eigenen Schuh wieder anhatte, stand Amaryllis Sternwieser neben ihr, nahm sie am Arm und führte sie ins Haus. Von draußen kommend, schien ihr der Vorraum besonders kühl und dunkel, und ein Duft, den sie nicht sofort mit der Blume, von der er stammen mußte, in Verbindung bringen konnte, schlug ihr mit solcher Macht entgegen, daß sie wie betäubt war.

Komm, sagte Amaryllis Sternwieser, du erlaubst, daß ich dich duze, so wie früher, und sie führte sie in einen hellen, unerwartet hohen Raum. Es gibt auch noch eine Küche, sie deutete auf eine angelehnte Tür, aber du weißt, wie Küchen aussehen.

Sophie hatte die üblichen Bauernmöbel erwartet, wurde aber bis auf einen massiven Schrank aus dunklem Holz mit großem Eisenschlüssel und eisernen Scharnieren und einer ebensolchen Truhe enttäuscht. Beide Stücke waren unbemalt. Sie spürte, wie sie in einen lederbezogenen Lehnstuhl sank und ihre Hände auf dem dunkel gebeizten Naturholz eines länglichen Tisches niedergingen. Langsam gewöhnte sie sich an den Duft, und ihre Sinne erwachten wieder. Über einem schmalen Sofa an der gegenüberliegenden Wand lag eine Kaschmirdecke mit orientalischem Muster, aber in gedämpften Farben. Sehr schlicht kam ihr die Einrichtung vor, und doch war ihr, als läge eine Üppigkeit in dem Raum, die sie sich nicht zu erklären wußte.

Aus einem Wandschränkchen, das Sophie erst jetzt bemerkte, holte Amaryllis Sternwieser eine einfache Glaskaraffe mit zwei ebenso einfachen, sechseckig geschliffenen Gläsern und stellte sie auf den Tisch.

Also doch der Strohhut mit den Borten. Amaryllis Sternwieser trug ihn wie etwas, das so sehr zu ihr gehörte, daß sich die Vorstellung aufdrängte, sie würde ihn auch nachts nicht abnehmen. Auch trug sie ein Steirergewand, wenn auch in unüblichen Farben. Einen etwas verwaschen wirkenden gelben Miederleib über der weißen Bluse und eine grüngemusterte Schürze über dem erdfarbenen Kittel. Nur das Seidentuch mit den Fransen, das über den Schultern lag und vorne an der Brust mit einer silbernen Brosche zusammengesteckt war, enthielt auch Rot- und Orangetöne.

Liebe Sophie, ich freue mich, daß du da bist. Amaryllis Sternwieser goß eine roséfarbene Flüssigkeit in das Glas, das sie ihr dann reichte, und plötzlich fiel ihr ein, daß dies nur Ribiselwein sein konnte.

Auf deine Rückkehr, sagte Amaryllis Sternwieser, als sie ihr ebenfalls gefülltes Glas hob. Beim ersten Schluck mußte Sophie lächeln, er entsprach genau ihren Erwartungen. Selbst angesetzt? fragte sie, und Amaryllis Sternwieser nickte mit leuchtenden Augen. Ach, was gäbe es alles zu erzählen, fuhr sie fort, griff nach einer Awafi-Schachtel und stopfte sich mit zierlichem Griff eine Zigarette. Rauchst du? fragte sie. Sophie nahm die Gestopfte in Empfang und bot Amaryllis Sternwieser eine von ihren Ägyptischen an. Nein danke, meinte diese, ich bin meine Mischung so gewöhnt, ich würde husten müssen. Und wieder holte sie eine Hülse aus der Schachtel, verteilte den Tabak gleichmäßig und roch genießerisch daran.

Wie lange ist es nun eigentlich her? Sophie versuchte in Gedanken, die Jahre zu ordnen, sie in annähernd richtige Zahlenwerte zu bringen. Als Schauspielerin hatte sie es sich abgewöhnt, die Jahre in ihrem tatsächlichen Vergehen ernst zu nehmen. Und nun, wo sie zu Beginn der Herbstsaison endlich ein festes Engagement für Jahre an einen Ort binden würde, wollte sie sich erst recht keine Gedanken machen. Sie würde eben immer mehr ins Charakterfach hinüberwechseln, je öfter die Herbste sich jährten.

Deine Mutter ist in meinen Armen gestorben. Sophie fuhr aus ihren Gedanken. In deinen Armen? Sie war überrascht, wie leicht ihr das Du von den Lippen kam. O Gott, wie lange ihre Mutter nun schon tot war, und wie lange sie schon nicht mehr an den Tod ihrer Mutter gedacht hatte. Es war hier geschehen, an diesem Ort. Und Silber war da gewesen. Auch er war tot, Silber, nach dem sie sich nannte, sein Tod war viele Jahre her. Sie mußte einen langen Schluck aus ihrem Glas nehmen.

Liebe Sophie, sagte Amaryllis Sternwieser, es war ein schöner Tod, du kannst mir glauben.

Unglaublich, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es fing an, sie zu beunruhigen. Sich an den Tod der eigenen Mutter nicht erinnern zu können. Die Gänsehaut stieg ihr auf. Wenn sie noch mehr solche Lücken hatte?

Einen solchen Tod kann man sich nur wünschen. Amaryllis Sternwieser verschwand beinahe hinter dem Rauch ihrer Zigarette. Also dann auf dich, sagte sie und hob ihr Glas.

Es kratzte an der Tür, die sich auch sogleich öffnete, als wäre sie nur angelehnt gewesen. Sophie fuhr herum, verlor dabei ihre Zigarette, bückte sich, damit sie kein Loch in den Teppich brannte, und als ihr Blick den Boden entlangglitt, bemerkte sie einen Dackel, der mit kurzen, aber gravitätischen Schritten auf sie zukam.

Max Ferdinand, sagte Amaryllis Sternwieser, du kommst schon wieder zu spät. Max Ferdinand klopfte dreimal mit dem Schwanz gegen Sophies Bein, dann sprang er auf den Stuhl, der zwischen Amaryllis Sternwieser und Sophie am schmalen Ende des Tisches stand, und sah die beiden freundlich und ein wenig devot an.

Sie sind alle gleich, sagte Amaryllis Sternwieser. Schon sein Urgroßvater hatte keinen Begriff von der Zeit. Max Ferdinand gähnte, als wäre er es überdrüssig, seine Eigenschaften besprochen zu hören. Er strich mit der Zunge ein paar seiner Brusthaare glatt und sah gelangweilt zum Fenster hinaus. Nun, liebe Sophie, wir haben dich also eingeladen, fuhr Amaryllis Sternwieser fort, aber du wirst schon alles rechtzeitig erfahren. Max Ferdinand blickte sie freundlich an und hob seine Hängeohren, so weit es ging. Wir? fragte Sophie.

Sehr nette Leute, sagte Amaryllis Sternwieser. Vielleicht ein wenig eigen, aber im allgemeinen sehr nett und wohlwollend. Du wirst sie alle noch kennenlernen. Zeit spielt für dich doch keine Rolle. Ich nehme an, du willst dich erst einmal von deinen Wanderschaften erholen.

Mit einemmal stand ein Teller voll mit Hundekuchen auf dem Tisch. Verzeih, sagte Amaryllis Sternwieser, aber er wird unausstehlich, wenn er um diese Zeit nichts zu fressen bekommt. Die Uhr in seinem Magen geht richtig. Und sie schob den Teller an Max Ferdinands Platz, der die Vorderpfoten auf den Tisch legte und sich darüber hermachte.

Sophie erhob sich. Ich bin lange im Zug gesessen … sagte sie etwas hilflos. Du mußt dich ausruhen, erwiderte Amaryllis Sternwieser, wir werden uns noch oft genug sehen. Ich habe mich sehr über dein Kommen gefreut. Sie begleitete Sophie bis zur Tür des Vordachs. Geh früh zu Bett, und versuch lange zu schlafen. Draußen sah es aus, als sei mittlerweile ein Gewitter niedergegangen. Die Blumen waren zum Teil geknickt, und das Gras lag stellenweise flach am Boden. Daß sie nichts davon bemerkt hatte. Es regnete noch immer, wenn auch nur leise. Sophie versuchte, ihren Knirps aufzuspannen.

Mit so einem winzigen Ding wirst du im Wald auf jeden Fall naß, nimm lieber den da … und Amaryllis Sternwieser reichte Sophie einen großen bunten Bauernschirm, unter dem drei Leute Platz gefunden hätten. Also dann bis bald, sagte Sophie, und die ozonreiche Luft stieg ihr angenehm in die Nase. Als sie dann wieder am Rande der großen Wiese entlangging, fiel ihr ein, daß sie diese Wiese immer die Narzissenwiese genannt hatten.

*

Diese Feuerlilien … sagte sie zu sich selbst. Sie hätte Amaryllis Sternwieser danach fragen können. Ob sie es wohl veranlaßt hatte, daß man sie ihr aufs Zimmer stellte. Wenn ja, worauf sollten sie hinweisen, wofür waren sie ein Zeichen?

Sie hatte ein erfrischendes Bad mit einem Kräuterzusatz genommen und ihr Make-up erneuert, sich überhaupt wie für einen Auftritt zurechtgemacht, wenn auch für keine bestimmte Rolle. Ein elegantes, weniger von den Farben als vom Schnitt her auffallendes Seidenkleid, dazu Perlen und nur einen Ring. Sie konnte es sich erlauben, schöne Schuhe zu tragen, ihre Beine waren weder geschwollen, noch hatte sie Krampfadern. Sie nahm Taschentuch, Lippenstift und Puderdose aus ihrer Handtasche und steckte sie in ein Jugendstilabendtäschchen, in dessen Messingbügel Blumenornamente gepreßt waren. Der erste Eindruck ist meist entscheidend. Sie prüfte, ob ihre Wimpern fest genug saßen, und begutachtete bei voller Beleuchtung ihre Puderauflage. Man kann nie wissen, das Schicksal entscheidet sich in den seltsamsten Momenten. Schon hatte sie jene lustvolle prickelnde Erregung erfaßt, die sie sonst nur von Premieren an einem neuen Ort her kannte. Als sie die Treppen hinunterstieg, kam dazu auch noch eine große Beschwingtheit, die sie kaum hörbar die Melodie eines Couplets vor sich hinsummen ließ. Sie hörte das Klirren von Besteck und leises Murmeln aus der einen, das laute Bestellen der Speisen aus der anderen Richtung, in der die Küche liegen mußte.

Frau von Weitersleben … sagte der Kellner und führte sie durch die geöffneten Flügeltüren des Speisesaals, in dem der Witterung wegen bereits Licht brannte, an einen kleinen Tisch, an dem für eine Person gedeckt war. Da stieg ihr die Röte auf, bevor sie noch genau wußte, weshalb, und sie mußte an den alten Bühnenwitz vom Schauspieler im falschen Stück denken. So muß einem zumute sein. Und sie hatte es nur ihrer Geistesgegenwärtigkeit, die ihr auch auf der Bühne schon oft zu Hilfe gekommen war, zu verdanken, daß sie weder stolperte noch das Tischtuch vom Tisch riß oder ein Glas umstieß. Sie hatte Haltung bewahrt, setzte sich und nahm mit kaum zitternden Händen das Menu-Kärtchen an sich und begann die Speisenfolge zu studieren.

Das verstärkte Bemühen, sich zu fassen, machte sie für alle weiteren Wahrnehmungen unempfindlich, so daß der Kellner sie mehrmals fragen mußte, was sie denn zu trinken wünsche. Auch dann brachte sie es nur dazu, einfach Rotwein zu sagen, worauf der Kellner sich lächelnd verbeugte, als brächte er für ihren Zustand Verständnis auf.

Sophie Silber, geborene von Weitersleben, hatte mit einem ersten und einzigen Blick erfaßt, daß ihr Instinkt sie diesmal verlassen hatte. Sie war völlig falsch angezogen, was heißt falsch angezogen, einfach overdressed. Nichts hätte ihr peinlicher sein können. Und sie verwünschte den Augenblick, in dem sie vor ihrem Kleiderschrank gestanden war und sich für diese, wie ihr schien, einnehmende kleine Abendtoilette entschieden hatte.

Es waren wesentlich mehr Damen anwesend als Herren, und obwohl sie ihrem ersten Blick durchaus trauen konnte, begann sie sich neuerdings, wenngleich verstohlen, umzusehen. Man saß zu dritt oder zu viert an den Tischen, und es schien, als würde man sich allgemein kennen, ohne daß diesem eher nur spürbaren Eindruck auf besondere Weise Rechnung getragen wurde.

Und all diese Damen, sie brauchte sich im einzelnen gar nicht mehr davon zu überzeugen, trugen Steirergewänder. Dirndlkleider in den seltsamsten Farbzusammenstellungen, doch waren keine lauten Farben darunter. Auch waren keine modischen Einflüsse feststellbar, eher eine gewisse Patina, die an die verschlissene Eleganz erinnerte, auf die früher die Adeligen bei ihren Landaufenthalten so großen Wert gelegt hatten. Und all das wirkte so entspannt, gepflegt und nachlässig zugleich, als hätten diejenigen, die diese Gewänder trugen, keine Kleidersorgen, als wären sie das Selbstverständlichste für hier, heute und überhaupt. Und trotz der altmeisterlichen Abgenütztheit sahen sie nicht danach aus, als seien sie bei einer bestimmten Art von Arbeit getragen worden, einfach deshalb, weil die Leute, die sie trugen, nicht danach aussahen, als würden sie einer bestimmten Arbeit nachgehen, obwohl dies durchaus der Fall sein konnte.

Sie bemühte sich, ihren Gleichmut zu wahren und ihren Blick nicht allzu deutlich umherwandern zu lassen. Der Kellner brachte ihr die Vorspeise, und sie war froh, etwas zu tun zu haben. Ich sehe aus wie jemand, der sich hierher verflogen hat, aber was hilft es … Sie mußte ihren Auftritt durchstehen, diesen einen Abend lang, morgen würde sie sich schon zu helfen wissen.

Sie hatte gerade den Löffel, mit dem sie die Vorspeise gegessen hatte, beiseite gelegt, als vom anderen Ende des Speisesaals her ein Geräusch, eher nur die Andeutung eines Geräuschs, sie aufblicken ließ. Ein hochgewachsener Mann von stattlicher Figur war eingetreten, und aller Augen richteten sich auf ihn. Er hatte schlohweißes Haar, ein sonnengebräuntes Gesicht mit einer kräftigen Nase und buschigen Brauen. Er trug einen ausgenähten Trachtenspenzer aus grünem Tuch, lange graue Flanellhosen und um den weißen Hemdkragen eine aus einem altrosa Seidentuch gebundene Krawatte mit einer Silberschließe. Als er so allseits händeschüttelnd, grüßend und lächelnd die Tische entlangging, erweckte er beinah den Eindruck eines Gastgebers. Einigen der Damen wurde er von anderen, die ihn sichtlich kannten, vorgestellt. Sophie fiel auf, daß der Gesichtsschnitt so mancher der Damen in einem eher aparten Gegensatz zu der Tracht stand. Sie glaubte sogar eine Chinesin zu bemerken, mit einem besonders zarten Halsansatz, und diese war es auch, von der sie den Namen Alpinox zu hören glaubte. Es gab aber auch dunkle, großäugige Gesichter, die auf indische, persische oder arabische Herkunft schließen ließen. Herr Alpinox, oder wie immer er heißen mochte, erinnerte sie hingegen stark an einen bekannten und volkstümlichen Schauspieler, dessen Name ihr auf der Zunge lag. Und wie sie so unter dem Schutz ihrer langen Wimpern die Begrüßungsszenen beobachtete, traf auch sie ein Blick dieses Mannes, der eine Art Erkennen anzeigte, so als wüßte er, wer sie sei, ohne sie je gesehen zu haben. Verwundert senkte sie den Blick. Sie erwog, ob er der Besitzer dieses Hotels sein konnte, aber irgendwie kam ihr diese Vermutung unpassend vor. Als habe das eine nichts mit dem anderen zu tun. Zum Glück brachte ihr der Kellner die Hauptspeise, die sie für die nächste Viertelstunde so in Anspruch nahm, daß sie sich nur auf das vor ihr Liegende konzentrierte.

Zu viele Gesprächsbrocken drangen bis an ihr Ohr, als daß sie sich einen Reim darauf hätte machen können, zudem sie kaum je ein Wort wirklich verstand. Manchmal war es sogar, als sprächen sie alle eine ihr fremde Sprache, die sie aber als keine bestimmte identifizieren konnte. Erst so nach und nach beruhigte sich Sophie so weit, daß sie nun auch den Speisesaal als solchen wahrnahm. Er war auf Biedermeierart eingerichtet, mit einer gold-weiß gestreiften Tapete, an der in schmucklosen Goldrähmchen die Bilder von Schauspielerinnen und Schauspielern hingen, die offenbar hier gewohnt hatten. Vielleicht würde auch ihr Bild einmal hier hängen. Zwei von schweren Samtvorhängen halb verdeckte Flügeltüren führten in den Park hinaus, der im Dunkeln lag und nur vom Licht einer fernen Straßenlaterne sowie von den rechteckigen Lichtflächen der Fenster und Türen des Hotels erleuchtet war. Sie glaubte mehrere Gestalten zu sehen, die an den Türen vorbeihuschten, ohne daß sie wirklich etwas hätte ausnehmen können. So als wären es eher Schatten oder Schemen gewesen, wer sollte auch hier draußen herumschleichen? Aber während sie gerade dabei war, ihre Beobachtungen als Sinnestäuschungen abzutun, bemerkte sie, wie auch dieser Herr Alpinox seinen Blick nach draußen richtete und dann mit der Hand eine Bewegung machte, als wolle er etwas verscheuchen. Seltsam dies alles, die ganze Gesellschaft … in was sie da wohl geraten war … was konnte das alles nur mit ihr zu tun haben …

Man war nun allgemein mit dem Essen fertig geworden. Einige der Damen erhoben sich bereits, gingen an andere Tische, redeten mit den dort Sitzenden. Ausdrücke wie Canasta, Bridge, Tarock … fielen. Erst jetzt konnte sie auch die beiden anderen anwesenden Herren besser sehen, die, jeweils von einer Anzahl von Damen umgeben, an den Gesprächen teilhatten. Der eine von ihnen war von eher jugendlicher Erscheinung. Sein dunkles Haar reichte bis zur Schulter und glänzte, wie es schien, vor Nässe. Sophie traute ihren Augen kaum, als sie ein paar glitzernde Tropfen auf den Schultern seines Trachtenspenzers aus schwarzem Tuch bemerkte. Seine Haut wirkte glatt, von mattem Glanz, und seine großen dunklen Augen waren von dichten Wimpern umgeben.

Der letzte der drei anwesenden Herren sah eher klein aus, beinah verwachsen, und trug einen schwarzen Anzug, der an eine Art Bergmannstracht erinnerte. Sein Gesicht war scharf geschnitten, und das schüttere Haar, das unter seinem schwarzen, silberbestickten Käppi hervorschaute, schien grau und spröde wie Eisendraht. Er unterhielt sich mit der Dame, die wie eine Chinesin aussah, und beide machten im Gegensatz zu den meisten anderen ziemlich ernsthafte Gesichter.

Auch Sophie war nun mit dem Essen fertig, und da sie keinen Anlaß hatte, länger zu bleiben, faltete sie ihre Damastserviette und legte sie in die noch unbeschriftete Serviettentasche. Während sie sich erhob, ließ sie ihren Blick noch einmal kurz über die Anwesenden hinweggehen, und als er bei dem stattlichen Herrn mit dem schlohweißen Haar ankam, vergaß sie, ihn rechtzeitig niederzuschlagen, und so kam es, daß auch er sie ansah und sich grüßend vor ihr verneigte.

Eine einnehmende Erscheinung … eine ausgesprochen einnehmende Erscheinung, dieser Herr im grünen Spenzer, sagte sie sich, als sie, bereits im Nachtgewand, noch einmal ans Fenster trat, um nach dem Wetter zu sehen. Es hatte zu regnen aufgehört, und der Himmel war sternklar. Bevor sie zu Bett ging, roch sie noch einmal an den Feuerlilien, und noch einmal begann sie die seltsamsten Vermutungen anzustellen, die aber zu nichts führten, was nach einem konkreten Ergebnis aussah.

Es war eine sonderbare Nacht gewesen, in der sie immer wieder für wenige Augenblicke erwacht war, ohne je wirklich zu sich zu kommen. Sie hatte von ihrer Mutter geträumt, ohne sich an den Verlauf des Traumes erinnern zu können, aber auch von den Leuten, die sie gestern beim Abendessen gesehen hatte. Es war eine Nacht gewesen, erfüllt von sanftem Rauschen und Gurren, von leisem Lachen und wispernden Stimmen, als huschten immer wieder Wesen, die beim Gehen den Boden kaum berührten, durch die Gänge. Doch wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich an nichts Bestimmtes erinnern. Als wüßte sie nicht zu unterscheiden zwischen ihren Träumen und dem dazwischenliegenden Erwachen. Auch hatte sie dieses nächtliche Treiben, das sie nur vage umschreiben konnte, nicht als Störung empfunden. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht, als sie gegen sieben Uhr morgens erwachte. Aus Gewohnheit versuchte sie, nochmals einzuschlafen, was nicht gelang, es litt sie nicht mehr im Bett.

Sie begann bei weit geöffnetem Fenster mit einer ausführlichen Morgentoilette, streckte und reckte sich nach jedem Handgriff und sog die Morgenluft in vollen Zügen ein. Sie stand lange vor ihrem Kleiderschrank, unschlüssig, ob sie dieses oder jenes Kleid anziehen solle, und nachdem sie dazwischen einige Male ins Bad gelaufen war, entschied sie sich für ein einfaches sommerliches Leinenkleid. Vom Fenster aus konnte sie sehen, daß nicht im Speisesaal, sondern im Gastgarten gedeckt war, und als sie dann endlich gegen acht Uhr unten erschien, war sie der erste und einzige Gast einer freundlichen jungen Serviererin, die zu erschrecken schien über die frühe Kundschaft, obwohl alles bereitstand.

Das Wetter schien aushalten zu wollen und versprach einen herrlichen Sommertag. Und während sie so alleine dasaß bei Kaffee und frischem Gebäck, hatte sie Muße, ihre Erinnerungen an diesen Ort zu überprüfen. Sie ließ ihren Blick die Wälder empor über die Baumgrenzen bis zu den besonders markanten Gipfeln der beiden Hauptberge gleiten und die bizarren Felsformen wieder herabstürzen, ließ ihn auf der blauen und glatten Fläche des Sees ausruhen, um ihn dann über Wiesen und Felder wandern zu lassen. Sie hatte nicht mehr gewußt, wie schön es hier war, und eine Freude des Wiedersehens, mit der sie gar nicht gerechnet hatte, erfüllte sie mit solcher Heftigkeit, daß ihr fast die Tränen aufstiegen.

Der stark duftende Kaffee half ihr bald über die aufgekommene Rührung hinweg. Aus den Butterkringeln spritzten Wassertropfen, während sie sie auf eine resche Kaisersemmel strich, und in dem Glasschüsselchen mit der Marmelade fingen sich die Sonnenstrahlen, daß es nur so gleißte und glitzerte. Bis auf die Küche lag das Haus in tiefer Ruhe da, und aus keinem der halb offenen Fenster war auch nur ein Laut zu hören. Das Schild auf ihrer Serviettentasche war nun bereits mit ihrem Namen beschriftet oder zumindest mit einem Teil davon: Fr. v. Weitersl., weiter hatte das Papier nicht gereicht. Auf der Lehne des Stuhls, der ihr gegenüberstand, saßen zwei Spatzen und warteten auf die Brösel, die von ihrem Frühstück übrigbleiben würden.