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Die Polizei im kalifornischen San José sucht nach einem Serienmörder, den die Presse bereits zu einem Ritualmörder hochstilisiert: Nach ihrem Tod hat er seine Opfer nach einem bestimmten Muster verstümmelt. FBI-Profilerin Libby Whitman reist mit ihren Kollegen in ihre alte Heimat, um ein Profil des Täters zu erstellen und dabei erhalten sie Unterstützung von Libbys Mutter, der ehemaligen Profilerin Sadie Whitman.
Auf den ersten Blick scheint es keinen Zusammenhang zwischen den Opfern zu geben, doch die Profiler vermuten hinter all dem Hass einen tragischen Verlust, den der Täter möglicherweise erlitten hat. Während sie noch nach dem auslösenden Ereignis für die Mordserie suchen, verfolgt der Täter jedoch ein ganz spezielles Ziel. Welches das ist, wird den Profilern erst klar, als es bereits zu spät ist …
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Dania Dicken
Dein Schmerz wird meine Rache sein
Libby Whitman 4
Thriller
Das geschah ihm recht. Er hatte genau das verdient und nichts anderes. In stiller Panik blickte er zu Marcus auf, doch das ließ Marcus völlig kalt.
Jetzt war er am Zug. Sollte der Scheißkerl doch sehen, wie es war, wenn man Höllenqualen litt und keinerlei Hilfe bekam. Wenn man nichts mehr wollte, als dass es endlich aufhörte, aber das tat es nicht.
Sein Bauch war voller Blut. Marcus hatte ihm das Hemd ausgezogen und ihm in einer Seelenruhe die beiden nächsten Buchstaben in die Haut geschnitten. Das war ja irgendwie ein widerwärtiges Gefühl, wenn man in Fleisch stach und der Widerstand erst wuchs, bevor er ruckartig nachgab und das dunkle Blut nur so herausquoll.
Erstickte Schreie erfüllten die leere Halle. Marcus beobachtete kurz, wie stark James blutete und war froh, ihn geknebelt zu haben. Allerdings wusste er auch, dass James heftig schreien würde, wenn er ihm den Knebel erst mal abnahm.
Aber so weit war er noch nicht. Jetzt waren erst seine Augen an der Reihe.
James hatte sie weit aufgerissen und starrte Marcus angsterfüllt an, als er sich über sein Gesicht beugte. Mit einer Hand versuchte Marcus, James’ Augenlider offen zu halten, während er mit dem Messer näher kam. Anfangs hatte er mal versucht, die Augen einfach rauszudrücken, aber das war schwierig. Es war leichter, wenn man ein Messer zu Hilfe nahm.
Vorsorglich hatte er auch den Kopf des Mannes fixiert, was sich jetzt bezahlt machte. James stieß heftige, wenn auch gedämpfte Schreie aus, während Marcus sich in aller Ruhe erst an seinem rechten und dann an seinem linken Auge zu schaffen machte.
So war es gut.
„Die wirst du nicht mehr brauchen“, sagte er, während er sich kurz die blutverschmierten Hände abwischte. „Feiger Scheißkerl. Aber ich bin noch nicht fertig mit dir.“
James wimmerte erstickt und stöhnte vor Schmerz. Seine Augenhöhlen waren jetzt eingefallen und leer. Das sah eigenartig aus, gespenstisch. Aber mit unschönen Anblicken kannte Marcus sich aus, schließlich bot er selbst einen. Dessen war er sich nur allzu bewusst, seit mittlerweile sieben Jahren, und er würde sie alle dafür bestrafen, dass sie es so weit hatten kommen lassen. Jeden einzelnen von ihnen.
Er hatte das genau geplant – und sein Plan hatte funktioniert. Er hatte bloß darauf gewartet, dass die Polizei vor Überforderung kalte Füße bekam und das FBI um Hilfe bat.
Er hatte gewollt, dass die Profiler aus Quantico kamen. Er wollte sie unbedingt einbeziehen und ein Spiel daraus machen. Jetzt endlich war er am Zug. Er würde sie rätseln lassen, aber eine Chance würde er ihnen nicht geben. Er würde ihnen zuvorkommen und dann würde er seinen Rachefeldzug beenden, ohne dass sie es würden verhindern können. Er wusste schon ganz genau, wie er das tun wollte.
Aber noch war es nicht so weit. Er hatte erst noch etwas anderes zu tun. Entschlossen fasste eine von James’ Ohrmuscheln mit zwei Fingern und begann dann, sie abzuschneiden. Das war bei dem knorpeligen Gewebe nicht ganz leicht, aber machbar. Und es würde bluten. Stark bluten. So wie die Schnitte auf seinem Bauch und wie das, was folgen würde.
Qualvolle, erstickte Schreie zerrissen die Luft. Das alles prallte an ihm ab, er spürte es nicht. Wollte es nicht. Oder konnte er gar nicht mehr?
Egal. Unbeirrt schnitt er James die Ohren ab und sah zu, wie das Blut floss. Gut so. Aber jetzt kam der schwierige Part – die Zunge. Sie zu fassen zu kriegen, um sie abzuschneiden und gleichzeitig zu verhindern, dass der Mann um sein Leben schrie, würde schwierig werden, das wusste er bereits. Aber es war wichtig, denn das war die ultimative Strafe für seine Feigheit und seinen Egoismus. Er hatte es verdient. Und der folgende Blutverlust würde ihm den Rest geben. Hören würde ihn hier auch niemand, nachts war das halb fertig gebaute Industriegebäude verlassen.
Marcus holte tief Luft, nahm ihm den Knebel ab und rechnete damit, dass James versuchen würde zu schreien. Das machte er sich zunutze, er wartete nur darauf und stach sofort mit dem Messer in seine Zunge. Der folgende gellende Schmerzensschrei war etwas, womit er leben musste, aber so bekam er die Zunge zu fassen und schaffte es mit brutaler Gewalt schließlich, sie ihm abzuschneiden.
Das Blut spritzte ihm entgegen, aber damit hatte er gerechnet. Die Schreie gingen in ein Gurgeln über, alles war voller Blut. Doch Marcus war zufrieden, denn er hatte sein Ziel erreicht.
„Jetzt werde ich dir dabei zusehen, wie du Höllenqualen leidest“, sagte er kalt und beobachtete ungerührt das Zappeln des sterbenden Mannes.
Wie jeden Morgen fiel ihr erster Blick nach dem Aufwachen auf Owen. Er schlief noch und Libby beobachtete ihn glücklich dabei.
Sie kannten sich noch kein ganzes Jahr und doch fühlte es sich so vertraut an, als hätte er sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet. Sie liebte ihn dafür, dass er sie so annahm, wie sie war und auch keinerlei Schwierigkeiten damit hatte, ihr seine Gefühle zu zeigen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie bei jemandem so wohl gefühlt.
Als sie sich an ihn schmiegte, blinzelte er schläfrig und lächelte. „Guten Morgen.“
„Ich wollte dich nicht wecken, aber ich musste mich einfach ankuscheln.“
„Nur zu.“ Gähnend wandte Owen sich ihr zu und legte einen Arm um sie. Libby schloss die Augen und genoss es, einfach nur bei ihm zu liegen und seine Nähe zu spüren.
Irgendwann fassten beide sich ein Herz und standen auf. Owen ließ Libby den Vortritt unter der Dusche und musterte sie ungeniert, als sie nach dem Duschen bloß mit einem Handtuch um den Kopf im Bad stand und sich die Zähne putzte. Anschließend frühstückten sie gemeinsam, auch wenn es schon fast Mittag war. Sie hatten gemütlich ausgeschlafen und widmeten sich nur gezwungenermaßen den lästigen Verpflichtungen im Haushalt, die unter der Woche liegen geblieben waren. Abends wollten sie ins Kino gehen.
Schließlich war die Wäsche aufgehängt, das Bad geputzt und die Küche aufgeräumt. Owen hatte es sich bereits vor seinem Laptop gemütlich gemacht und war im Internet auf der Suche nach neuen Kopfhörern, als Libby sagte: „Ich rufe mal in New York an, vielleicht ist Julie zu Hause.“
„Klar, nur zu“, sagte Owen. Libby nahm sich das Telefon und machte es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich, bevor sie die Nummer ihrer besten Freundin wählte.
„Hey“, begrüßte Julie sie hocherfreut. „Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?“
„Prima, und dir?“
„Total urlaubsreif, dabei hat das Semester doch vor vier Wochen erst begonnen. Wo soll das noch hinführen?“
Libby lachte. „Aber solange es Spaß macht.“
„Ja, das auf jeden Fall. Es ist richtig cool, Professor Davis beim Vorbereiten der Vorlesung zu helfen. Sie hat mir auch schon so viel Material für meine Doktorarbeit gegeben, das ist echt unfassbar. Und letzte Woche ging es los mit unserem Forschungsprojekt.“
„Klingt wirklich nicht langweilig.“
„Nein, gar nicht. Vielleicht werde ich dabei deine Hilfe brauchen.“
„Meine Hilfe?“, fragte Libby überrascht.
„Ja … wenn wir frühkindliche Faktoren zur Entstehung kriminellen Verhaltens erforschen wollen, könnte es helfen, bereits verurteilte Straftäter zu befragen. Und da du immerhin beim FBI bist …“
Libby lachte. „Ja, verstehe schon. Ganz ehrlich, wenn ich da helfen kann, tue ich es.“
„Ähnliches gilt übrigens für meine Doktorarbeit. Meine Mum würde sich im Grabe herumdrehen, aber ich glaube, ich würde tatsächlich gern Interviews mit verurteilten Sexualsadisten führen.“
Libby grinste kopfschüttelnd. Das hatte sie davon, wenn sie mit ihrer besten Freundin sprach, die sich für dieselben Dinge interessierte wie sie. Die Verbrecher verfolgten sie nicht bloß unter der Woche, wenn sie beim FBI Täterprofile erstellte, sondern auch am Wochenende.
„Kann ich verstehen, aber du musst bedenken, dass du für viele wahrscheinlich prima ins Beuteschema passt. Das verzerrt sicherlich ihre Antworten“, gab sie zu bedenken.
„Das ist klar, aber das könnte ich mir ja auch zunutze machen.“
„Sicher … ach, ich mache mir bloß Sorgen. Hör nicht auf mich.“
„Warum denn nicht? Du hast doch Recht. Und ich muss auch einfach zugeben, dass ich nicht wirklich weiß, wovon ich rede. Ich hatte noch nie mit einem zu tun, ich bin ja bloß darauf gekommen, weil ich durch meine Mum so viel darüber weiß und es eben so ein häufiger Tätertyp ist. Aber du, mit deiner Erfahrung … würdest du mir denn davon abraten?“
Libby wusste nicht gleich, was sie darauf erwidern sollte. Im Gegensatz zu Julie war sie in ihrem Leben schon mit sexuellen Sadisten konfrontiert worden und das war definitiv nichts, was zu ihren angenehmeren Erinnerungen zählte.
„Um ehrlich zu sein … einerseits hätte ich gern darauf verzichtet, dass Brian Leigh mich bedroht und mir eine Heidenangst einjagt. Andererseits hat das mein Gespür für solche Täter enorm geschärft. Ich habe einiges von ihm gelernt, was ich jetzt nutzen kann. Aber auch, wenn du davon profitierst, kostet es dich was.“
„Klingt logisch.“
„Die Begegnung mit solchen Tätern hinterlässt immer einen Kratzer auf der Seele. Mindestens. Das ist dieses Gefühl, dass jenseits deiner Wohnungstür eben nicht alles gut ist. Draußen lauern Gewalt, Schmerz, Vergewaltigung und Tod. Es ist hart, sich damit jeden Tag auseinanderzusetzen. Das geht bloß, wenn man gefestigt ist und Rückhalt hat. Ich kann das alles besser, seit ich weiß, dass ich diesen Rückhalt habe.“
„Das hätte meine Mum auch so sagen können, glaube ich. Und ich denke, da musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe meinen Rückhalt.“
„Ehrlich? Das ist toll. Und so wichtig.“
„Ja, es läuft gut mit Kyle. Bei uns läuft das alles etwas schneller, als es vielleicht gewesen wäre, wäre ich auch Amerikanerin. Wir bewerten unsere gemeinsame Zeit ganz anders, ich betrachte es einfach dauernd durch eine bestimmte Brille und frage mich: Ist er der Richtige? Ist das was für die Ewigkeit?“
„Wow, klingt nach einem ganz schönen Druck.“
„Es ist ziemlich intensiv. Heutzutage hat man ja selten Grund, gleich an Heirat zu denken, aber tatsächlich ist er es ja, der da noch mehr drüber nachdenkt. Er will mir einfach helfen, damit ich dauerhaft bleiben und hier arbeiten kann. Er sagt, für ihn ist eigentlich alles klar …“
„Das ist doch großartig. Und bei dir?“
Julie seufzte hörbar. „Es spielt schon auch ein bisschen Heimweh mit rein. Ich liebe meine Eltern und auch, wenn ich wahnsinnig gern hier in den Staaten bin, ist England meine Heimat. Ich bin ja Anfang des Jahres nicht mit dem Hintergedanken gekommen, vielleicht hier zu bleiben und sogar einen Amerikaner zu heiraten. Aber dann hat es mir auf der Academy so wahnsinnig gut gefallen und Kyle … er ist einfach toll. Er ist auch anders als die Männer drüben in England. Das gefällt mir.“
„Aber das klingt doch so, als hättest du dich längst entschieden. Wir sind erwachsen, Julie. Ich lebe auch dreitausend Meilen von meiner Familie entfernt, obwohl ich sie sehr liebe. Wir haben unser eigenes Leben.“
„Ja, du hast Recht. Die Alternative wäre wohl, zurückzugehen und da könnte Kyle nicht mit. Eigentlich ist das keine Alternative.“
Libby lächelte. „Hör auf dein Bauchgefühl. Aber ich glaube, die Sache ist eigentlich klar, oder?“
„Ja, kann sein … und wie läuft es mit Owen und dir?“
Libby spähte zum Arbeitszimmer. „Super. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Richtigen gefunden habe. Es ist einfach toll. Im Moment habe ich eigentlich alles, was ich brauche. Wir haben unsere Jobs, die uns Spaß machen, wir haben eine schöne Wohnung und wir haben uns.“
„Ist doch großartig. Sprecht ihr übers Heiraten? Ihr habt ja nicht denselben Druck wie wir …“
„Ja, deshalb ist das hier eigentlich noch kein Thema. Kommt bestimmt noch.“
„Ach, na klar. Und im Job?“
„Gerade ist es recht ruhig, aber das macht auch nichts.“
„Das glaube ich dir. Bist bestimmt nicht traurig, dass du nie gegen Melville aussagen musst, oder?“
Das war Libby wirklich nicht. Es hatte sie einiges an Arbeit gekostet, sich nicht davon runterreißen zu lassen, dass Frank Melville sie in Richmond fast umgebracht hätte. Das war ihr nachgeschlichen und hatte ihr einige Alpträume beschert. Ohne die kompetente Hilfe ihrer Mum und dem grenzenlosen Verständnis von Owen hätte sie sich nicht so gut gefangen, zumindest glaubte sie das.
„Dadurch, dass er sich umgebracht hat, ist das Thema vom Tisch. Das Wochenende in New York mit euch tat da sein Übriges.“
„Oh, das ist gut zu wissen, dann müssen wir das ja bald mal wiederholen!“
„Unbedingt. Wie wäre es denn mit dem Columbus Day?“
„Wann ist der?“
„12. Oktober. Dann hätten wir ein verlängertes Wochenende.“
„Das ist eine tolle Idee, ich frage Kyle und gebe dir dann Bescheid.“
„Ich würde mich freuen“, sagte Libby.
Julie ging es ähnlich. Libby hatte auch große Lust, noch mal ein verlängertes Wochenende in New York zu verbringen – hoffend, dass Julie nicht nach Washington kommen wollte, aber das würde sich zeigen.
Die beiden plauderten noch ein wenig, was Libby sehr gut tat. Zwar lebte Julie ihr immer noch zu weit entfernt, aber dass sie sich nun zumindest mal in derselben Zeitzone befanden, war ein Fortschritt.
Schließlich beendeten sie das Gespräch und Libby gesellte sich zu Owen, der ein wenig im Internet surfte.
„Und, hast du was gefunden?“, fragte sie.
„Ja, ich habe mir vorhin was bestellt. Wie geht es Julie?“
„Sehr gut. Das mit Kyle und ihr ist wohl definitiv was Ernstes.“
„Gut für sie. Bin trotzdem froh, dass du Amerikanerin bist und wir uns darüber keine Gedanken machen müssen.“
Libby lächelte. „Ja, ich auch. Ist ja wirklich nicht so leicht, die ganze Bürokratie auf die Reihe zu bekommen.“
„Da liegt es auch nahe für die beiden, zu heiraten. Dann hätte sie zumindest eine Green Card und erst mal Ruhe.“
Vielleicht würden sie das auch bald tun, Libby war sehr gespannt.
Owen schaute auf die Uhr. „Was meinst du, wollen wir los?“
„Gern“, sagte Libby und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie wollte bestimmt nicht in ihrer Sweathose in der Sushibar auftauchen, in der sie vor ihrem Kinobesuch zu Abend essen wollten. Beides lag nur eine halbe Meile entfernt, deshalb beschlossen sie, zu Fuß dorthin zu gehen. Es war ein angenehm sonniger Tag und die frische Luft tat gut, wie Libby gleich feststellte. Sie verbrachte ohnehin zu viel Zeit in Gebäuden und Büros.
Es war erst später Nachmittag, aber weil sie nur gefrühstückt hatten und Sushi nichts war, wo man Stress gut gebrauchen konnte, tauchten sie zeitig dort auf und trafen ihre Auswahl. Während sie auf ihre Bestellung warteten, blickten sie aus dem Fenster und Libby spürte plötzlich Owens Hand auf ihrer.
„Ich liebe dich wahnsinnig, weißt du das?“, sagte er unvermittelt.
Sie lächelte gerührt und sagte: „Klar weiß ich das. Daraus hast du nie einen Hehl gemacht. Ich liebe dich auch, Owen.“
„Hast du dir schon mal Gedanken über die Zukunft gemacht?“
Jetzt grinste sie. „Fühlt du dich jetzt von Julie und Kyle inspiriert?“
„Nein, ich … na ja, ein bisschen vielleicht. An Verbindlichkeit ist ja nichts Schlechtes.“
„Nein, das stimmt. Und ja, klar habe ich schon mal darüber nachgedacht … und ich weiß, dass ich glücklich mit dir bin und mir ein Leben mit dir vorstellen kann.“
Owen lächelte sanft. „Ja, das geht mir auch so. Aber wie stehst du zum Heiraten? Ich meine, ich könnte verstehen, wenn das ein rotes Tuch für dich ist.“
„Wegen dem, wo ich herkomme? Nein. Bei normalen Menschen ist Heiraten etwas Tolles. Vorstellen könnte ich mir das.“
„Und eine Familie?“
Nachdenklich lehnte Libby sich zurück und seufzte. „Ich mag Kinder und vorstellen könnte ich mir das schon … Aber wie soll das praktisch funktionieren? Wir sind weit weg von unseren Familien und wir haben beide fordernde Jobs.“
„Ja, ich weiß. Ich wollte nur mal deine grundsätzliche Meinung hören. Eine Lösung dafür weiß ich auch noch nicht.“
„Der Job bei der BAU ist ein wahr gewordener Traum für mich. Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde, wenn ich Mutter wäre …“
„Haben denn deine Kollegen keine Kinder?“
„Die wenigsten. Und wenn du mal überlegst – als Hayley damals geboren wurde, war Sadie gar nicht mehr bei der BAU und trotzdem hatte sie einen fordernden Job. Matt ist für Hayley zu Hause geblieben.“
„Na und? Ist doch toll.“
Libby lächelte erfreut. „Das könntest du dir vorstellen?“
„Na, mein Job ist weniger speziell als deiner. Ich kann immer und überall als Polizist arbeiten. Es ist nur schade, dass wir nicht mehr in Kalifornien sind, da ist die Gesetzeslage viel familienfreundlicher.“
„Ja, das stimmt. Ich weiß nicht … das ist für mich alles noch in so weiter Ferne. Ich bin gerade erst hier und ich bin erst 25. Ich kann mir einfach noch gar nicht vorstellen, jetzt eine Familie zu gründen.“
„Kann ich verstehen. Konnte ich mit 25 auch nicht.“
Die Blicke der beiden trafen sich und Libby verstand auch das, was Owen nicht sagte. Er war inzwischen 32 und hatte eine andere Sicht auf die Dinge.
„Hättest du jetzt gern eine Familie?“, fragte sie deshalb geradeheraus.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Aber ganz so abwegig ist die Vorstellung inzwischen nicht mehr.“
„Das glaube ich dir. Mal sehen, was die Zeit bringt. Im Moment ist das für mich noch weit weg.“
„Das ist auch vollkommen okay so. Machen wir uns nichts vor, die Gründung einer Familie ist für eine Frau mit mehr Einschnitten verbunden als für einen Mann. Schwangerschaft, Geburt, Babyzeit … wir stehen bloß daneben und können helfen, aber wir können weder schwanger sein noch stillen. Die letzte Entscheidung in dieser Sache liegt immer bei dir, du gibst das Tempo vor.“
Es imponierte Libby sehr, dass er das so sah. Ohnehin war er sehr reflektiert und hatte zu vielen Dingen einen klaren Standpunkt, der sich meist mit ihrem traf.
„Danke, Owen. Es ist toll, dass du das so siehst“, sagte sie.
„Es ist ja so und wenn ich ehrlich sein soll: Meine eigene Familie war immer ziemlich vermurkst. Meine Eltern haben sich ja nicht grundlos getrennt. Mein Dad hat meiner Mum immer das Meiste an Erziehungsarbeit überlassen, sie hat sich nicht zu Unrecht allein gelassen gefühlt und war überfordert. Darunter haben Byron und ich gelitten und das will ich für meine eigenen Kinder auf keinen Fall.“
„Das kann ich verstehen. Und in meiner Familie war meine Mum nur eine von mehreren Frauen, die sowieso alle nichts zu sagen hatten. Wie eine richtige Familie funktioniert, weiß ich erst, seit ich bei den Whitmans gelebt habe.“
„Dann bringt wenigstens einer von uns da gute Erfahrungen mit.“
„Solange du deshalb keine Angst hast, deine eigene Familie zu gründen …“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich hätte gern Kinder und ich will es besser machen als mein Dad. Aber ich verstehe, dass du dich hier erst mal auf deinen Beruf konzentrieren willst. Will ich auch.“
Libby lächelte und war mehr als froh, dass sie sich da einig waren. Kurz darauf bekamen sie ihr Essen und widmeten sich anderen Themen. Allerdings freute Libby sich auch darüber, dass er das angesprochen hatte. Es war gut zu wissen, dass sie da auf einer Wellenlänge lagen.
Sie ließen sich Zeit mit dem Essen und begaben sich anschließend ohne Stress ins Kino. Libby freute sich darüber, mit Owen entspannt etwas unternehmen zu können. Kieran damals aus der Wohnung zu bekommen, hatte sich weitaus schwieriger gestaltet. Sie war verdammt glücklich mit Owen, das machte sie sich wieder bewusst, als sie sich im Kino an ihn lehnte und den Film genoss. Das war in diesem Moment alles, was sie brauchte.
Es war schon dunkel, als sie schließlich nach Hause gingen. Sie taten es Hand in Hand und unterhielten sich über den Film. Zu Hause angekommen, hatten sie kaum die Wohnungstür geschlossen, als Libby Owen einen verstohlenen Blick zuwarf und ihre Arme um ihn legte. Er grinste wissend und tat ganz unschuldig, als Libby ihn überraschend leidenschaftlich küsste.
„Ist das ein Angebot?“, fragte er.
Libby nickte heftig. „Ich hoffe, du nimmst es an.“
„Worauf du dich verlassen kannst.“ Owen zog sie fest an sich und ließ eine Hand auf ihren Po wandern, während sie einander heftig küssten. Libby spürte, wie er seine Hand unter ihren Pullover wandern ließ, um sie zärtlich zu streicheln. Schließlich zog er ihr den Pullover aus und gleich darauf die Unterwäsche. Sofort machte Libby sich ebenfalls an seinen Sachen zu schaffen.
„Ich mag es, wenn du so rangehst“, gab er grinsend zu.
„Ich bin völlig verrückt nach dir“, sagte sie und sorgte schließlich dafür, dass er unter ihr auf dem Sofa saß. Sie hockte sich ihm zugewandt auf den Schoß, obwohl sie noch ihre Jeans trug. Owen hatte die Arme um sie gelegt und übersäte ihre Haut mit Küssen. Libby schloss die Augen und genoss es einfach.
„Ich will, dass du immer glücklich bist“, sagte er unverhofft. Sie blinzelte und sagte: „Bin ich doch.“
„Mich machst du jedenfalls glücklich und das zeige ich dir jetzt.“
Er zog ihr die letzten Kleidungsstücke aus, sorgte dafür, dass sie unter ihm auf dem Sofa lag und machte sich daran, sie am ganzen Körper zu liebkosen. Mit geschlossenen Augen ließ Libby ihn machen und verlor sich ganz in dem Gefühl. Owen hatte keinerlei Mühe damit, sie richtig ekstatisch zu machen, so dass sie sich irgendwann wieder aufrichtete, ihn grinsend gegen die Rückenlehne des Sofas drückte und sich ganz langsam auf seinen Schoß sinken ließ. Owen hielt die Luft an und krallte sich in ihre Hüften, doch Libby rührte sich nicht und ließ ihn zappeln.
Nur langsam begann sie wieder, sich zu bewegen und sich einen Rhythmus zu suchen. Er hielt sie die ganze Zeit an sich gedrückt, küsste sie und berührte sie so, wie sie es am liebsten hatte. Libby versuchte, sich nicht gleich völlig mitreißen zu lassen und zögerte es so lange hinaus, wie sie konnte, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ein Schauer überlief sie und sie konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, während sie sich keuchend an Owen festklammerte und spürte, dass auch er sich nicht mehr beherrschen konnte. Sie küsste ihn zärtlich und legte beide Arme um seinen Hals, während sie seine Atemzüge auf ihrer Haut spürte.
„Ich liebe dich, du süßes, tolles Mädchen“, sagte er atemlos. Libbys Antwort bestand aus einem weiteren tiefen Kuss.
„Bin gespannt, was diese Woche auf uns wartet“, sagte Libby, als sie zusammen beim Frühstück saßen.
„Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, kranke Serienmörder“, erwiderte Owen todernst und verzog keine Miene.
Libby lachte belustigt. „Davon ist auszugehen. Und du bist heute im Gericht?“
Owen nickte. „Beim Prozessauftakt wäre ich gern dabei. Wann war deine Aussage noch mal?“
„In drei Wochen. Ich bin wirklich gespannt, wie das weitergeht.“
Aidan Tomlinson stand nun vor Gericht wegen Mordes an Peter Cummings und dem versuchten Amoklauf an seiner Schule. In wenigen Wochen wurde der Junge dreizehn. Der außergewöhnliche Fall hatte ein großes Medienecho gefunden – nicht nur, weil ein Kind ein anderes Kind erschlagen hatte, sondern auch, weil die Ermittler den folgenden Amoklauf in letzter Sekunde verhindert hatten. Es waren schon jetzt zahlreiche Konsequenzen aus der Tat gezogen worden: Der District of Columbia hatte zusätzliche Mittel für Antiaggressionstrainings, Schulpsychologen und Familienhelfer bereitgestellt, um solchen Taten in Zukunft vorzubeugen. Libby, Nick, Owen und Benny würden vor Gericht aussagen und Libby war schon jetzt gespannt darauf, wie das Urteil über Aidan lauten würde.
„Ich wünsche dir einen schönen Tag“, sagte Owen und verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner Freundin, als sie mit dem Frühstück fertig und bereit zur Abfahrt waren. Libby umarmte ihn noch einmal und stieg in ihr Auto, nachdem Owen bereits losgefahren war.
Ihr Weg führte sie in die entgegengesetzte Richtung. Während er nach Washington fuhr, folgte Libby dem Freeway nach Süden in Richtung Quantico. Sie brauchte etwa eine Dreiviertelstunde bis dorthin und erschien um halb neun im Büro. Bis zur Teambesprechung um neun checkte sie ihre Mails und unterhielt sich mit den Kollegen. Inzwischen fühlte sie sich schon richtig im Team angekommen und war froh, dazuzugehören.
Pünktlich um neun begann die Besprechung. Nick Dormer begrüßte seine Kollegen wie immer freundlich und kameradschaftlich zugleich.
„Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes Wochenende und habt das herrliche Wetter genutzt … und ich hoffe, ihr habt eure gepackten Sachen dabei, denn wir fliegen nach Kalifornien.“
„Alle?“, fragte Ian neugierig.
„Nein, Alex, David und Belinda bleiben hier, um im Notfall auf andere Anfragen reagieren zu können. Aber besonders dich sollte unser Einsatzort freuen, Libby, denn es geht in die Bay Area.“
Sie lächelte erfreut. „Das ist klasse.“
„Die Anfrage kam vom San José Police Department. Du solltest also unbedingt mitkommen, denn du kennst die Verantwortlichen.“
„Bin dabei.“
„Worum geht es denn?“, fragte Jesse.
„Um eine Reihe brutaler Morde, die beim SJPD als Ritualmorde kategorisiert wurden. Ob das stimmt, werde wir sehen. In der Bay Area sind innerhalb der letzten sechs Wochen drei Menschen vom gleichen Täter getötet worden. Die Fälle lagen nicht alle ursprünglich beim SJPD, aber als klar wurde, dass man es mit einem Serientäter zu tun hat, haben sie uns angefragt. Sie haben nämlich noch keinen einzigen Ansatzpunkt, aber es ist anzunehmen, dass der Täter sehr bald wieder zuschlägt. Die Zeit drängt also und wir sollten den Täter dringend finden, denn ich würde das, was da passiert, als Foltermorde beschreiben.“
Mit diesen Worten rief Nick ein Foto auf, das auf die gegenüberliegende Leinwand projiziert wurde. Das Bild stammte aus der Gerichtsmedizin und zeigte den Kopf eines Mannes in Nahaufnahme. Libby verzog das Gesicht, als sie sah, dass dem Mann die Augen fehlten. Leere Augenhöhlen starrten sie an, was so gespenstisch auf sie wirkte, dass sie sich unwillkürlich schüttelte.
Doch damit nicht genug – an den Seiten des Kopfes klafften blutige Wunden. Der Täter hatte dem Mann auch die Ohren abgeschnitten. Auch die Kollegen waren sichtlich erschrocken, dann wechselte Nick das Foto. Auf der nächsten Aufnahme hatte der Gerichtsmediziner dem Mann den Mund geöffnet, um zu verdeutlichen, was geschehen war. Libby erkannte es trotzdem nicht gleich.
„Wurde dem Opfer die Zunge entfernt?“, fragte Dennis.
„So ist es“, bestätigte Nick.
„Haben die Opfer da noch gelebt?“, fragte Ian.
„Das wurde bestätigt. Sie sind alle verblutet, der Täter hat dieses Vorgehen also benutzt, um sie zu töten.“
„Barbarisch“, fand Jesse.
„Ich bin ja noch nicht fertig“, sagte Nick und öffnete ein weiteres Foto. Der Täter hatte dem Mann mit einem Messer zwei Buchstaben in die Bauchdecke geritzt. Die tiefroten Schnitte bildeten einen jähen Kontrast zur umgebenden hellen Haut. Der Täter hatte dem Mann RY in den Bauch geschnitten.
„Was zum Teufel ist das?“, fragte Libby, den Kopf in die Hände gestützt. Konzentriert betrachtete sie die Bilder, die Nick im Folgenden zeigte. Bei den Opfern handelte es sich um zwei Männer und eine Frau. Ihnen allen waren Augen, Ohren und Zunge entfernt worden und der Täter hatte ihnen unterschiedliche Buchstaben in den Bauch geritzt: NG und CE war auf den anderen Opfern zu lesen.
Ian stöhnte laut. „Auf so einen kryptischen Unsinn habe ich ja jetzt richtig Lust.“
Nick grinste, wurde aber schnell wieder ernst. „Der zweite und dritte Mord sind in San José passiert und der erste in Fremont. Als dem SJPD nach dem zweiten Mord in der Stadt aufgefallen ist, dass sie da ein Muster haben, haben sie nach weiteren Fällen gesucht und schließlich die Ermittlungen komplett übernommen. Daraufhin haben sie auch uns angefragt, das ist ihnen wohl zu hoch.“
„Ist doch genau unsere Kragenweite“, fand Dennis. Er wirkte ziemlich unerschrocken, was Libby nicht wunderte. Allerdings fand sie es gut.
„Alles Weitere verrate ich euch unterwegs. Ich möchte, dass ihr jetzt eure Sachen holt, wir fliegen um zehn.“
„Also los“, verkündete Ian voller Tatendrang. Während sie alle schon aufbrachen, um zum Parkplatz zu gehen, winkte Nick Libby zu sich und sagte: „Man hat dich in San José jedenfalls nicht vergessen. Bei der Anfrage ist auch explizit nach dir gefragt worden und die Kollegen schienen ganz zufrieden damit zu sein, dass du mit von der Partie bist.“
„Okay“, sagte Libby nur, obwohl sie sich wunderte. Auf einmal hatte sie Fans in San José? Das war ja was ganz Neues.
„Es wäre übrigens völlig okay für mich, wenn du bei deiner Familie in Pleasanton wohnen willst. Die Chance würde ich mir an deiner Stelle jedenfalls nicht entgehen lassen.“
„Meinst du? Ich muss erst mal anrufen und Bescheid geben, dass ich komme.“
„In Ordnung, am besten holst du jetzt deine Sachen und wir treffen uns wieder hier.“
Libby war einverstanden und beeilte sich, zum Parkplatz zu kommen, um ihre für solche Fälle gepackte Tasche aus dem Auto zu holen. Als sie wieder oben im Büro war, suchte sie sich eine stille Ecke und rief Owen an. Hoffentlich erreichte sie ihn noch.
Doch sie hatte Glück. Er war schnell am Apparat und sagte: „Hey, was ist los? Bin gerade bei Gericht rein.“
„Ich fliege gleich nach Kalifornien. Das SJPD ermittelt in einem Serienmordfall.“
Owen lachte kurz. „Ehrlich? Kaum verlässt du San José, haben die dort einen Serienmörder? Ist ja nicht zu fassen.“
„Dachte ich mir vorhin auch. Man hat sogar nach mir gefragt.“
Jetzt prustete er erstickt. „Ach, plötzlich schleimen sie sich bei dir ein.“
„Kann mir ja egal sein. Der Fall scheint auf jeden Fall heftig zu werden.“
„Ich hoffe, ihr findet den Täter schnell. Am liebsten würde ich ja mitkommen, aber leider geht das nicht.“
„Nein, bleib du mal schön hier, auch wenn mir das gefallen würde. Aber ich werde Sadie und Matt fragen, ob ich bei ihnen bleiben kann.“
„Das ist doch toll. Würde ich auch machen.“
„Ja, aber ist noch etwas früh drüben in Kalifornien. Mal sehen, wann ich sie erreiche.“
„Das schaffst du. Alles, meine ich. Ich wünsche dir eine tolle Zeit in der alten Heimat. Jetzt bin ich neidisch!“
„Du wirst mir fehlen. Ich hoffe, ich bin bald zurück.“
„Aber sicher. Ich halte hier die Stellung. Ich liebe dich, Libby.“
„Ich dich auch“, sagte sie und legte wieder auf. Owen würde ihr definitiv fehlen, aber das brachte ihr Job eben mit sich. Das hatte sie vorher gewusst.
Bevor sie ihr Handy wegsteckte, schrieb sie Sadie noch eine Nachricht. Bin gleich mit der BAU unterwegs in die Bay Area. Ist euer Gästezimmer frei?
In der Zwischenzeit waren all ihre Kollegen eingetroffen und sie machten sich mit einem Minibus auf den Weg zum Flugfeld der Marines. Dort stand in einem Hangar der kleine Jet, mit dem sie als Team zu solchen Einsätzen reisen konnten. Davon hatte Sadie ihr schon erzählt und Libby fand es aufregend, nun auch einmal Teil dessen zu sein.
Bevor sie das Flugfeld erreicht hatten, vibrierte ihr Handy und sie stellte fest, dass Sadie geantwortet hatte. Natürlich ist das Gästezimmer frei. Melde dich, wenn du Genaueres weißt. Wir können dich auch irgendwo abholen. Ich freue mich schon auf dich.
Libby lächelte. Danke, wir fliegen gleich los. Ich halte dich auf dem Laufenden. Ich freue mich auch.
Anschließend schaltete sie ihr Handy ab und betrat wenig später mit den anderen den Privatjet. Das war jetzt schon aufregend. Irgendwie fühlte sich die Sache nach etwas Großem an und Libby war gespannt, was sich in San José ergeben würde. Sie hätte ja nie damit gerechnet, als Ermittlerin dorthin zurückzukehren – und dann auch noch so bald. Vor allem aber freute sie sich wahnsinnig auf ihre Familie, was immerhin ein Trostpflaster dafür war, dass sie auf Owen verzichten musste.
Um kurz nach zehn erhielt der Pilot die Starterlaubnis und sie hoben ab. Als sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, kamen Nick und Ian zu den anderen und sie setzten sich alle zusammen.
„Wie ihr wisst, war Libby vor ihrer Zeit bei uns Polizistin in San José, was wir uns jetzt zunutze machen können. Sie kennt die Verantwortlichen und die Gegend, also wendet euch ruhig an sie, wenn ihr dahingehend irgendwelche Belange habt.“
„Ist es seltsam für dich, jetzt zurückzukehren?“, fragte Jesse.
Libby zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es ist mir jedenfalls nicht unangenehm.“
„Immerhin. Bin gespannt, was hinter diesem Fall steckt.“
Nick öffnete seinen Laptop und zeigte ihnen daran nacheinander die verschiedenen Fallakten.
„Das erste Opfer wurde vor knapp sechs Wochen gefunden. Patty Cornell, 42, ist vom Einkaufen nicht nach Hause gekommen. Ihr Mann hat sie als vermisst gemeldet, ihre Leiche wurde am nächsten Tag dort am Straßenrand gefunden, wo die Interstate 680 den Mission Boulevard kreuzt.“
Libby nickte. „Die Gegend kenne ich.“
Nick zeigte Fotos von der Auffindesituation der Leiche. Sie hatte gleich neben einer der Auffahrten zum Freeway in der Böschung gelegen. Sie war noch weitgehend bekleidet, der Täter hatte ihr bloß die Bluse ausgezogen, um die Buchstaben in ihren Oberkörper ritzen zu können. Ihr Bauch war blutverschmiert und Nahaufnahmen zeigten auch bei ihr, dass der Täter ihr die Zunge, die Augen und die Ohren entfernt hatte. Weitere Fotos zeigten Abschürfungen an ihren Handgelenken.
„Sie war gefesselt“, sagte Libby.
„Ja, der Gerichtsmediziner sagte, der Todeszeitpunkt läge gegen etwa zwei Uhr nachts. Entführt wurde sie abends gegen halb sieben. Bis dahin hat der Täter sie also bei sich behalten.“
„Kann man sagen, in welcher Reihenfolge er die Verstümmlungen vorgenommen hat?“, fragte Ian.
„Ja, der Gerichtsmediziner war sich sicher, dass ihr zuerst die Buchstaben in den Bauch geritzt wurden, bevor der Täter sie weiter verstümmelt hat. Die Augen zu entfernen läuft relativ folgenlos ab, den größten Blutverlust hat man wohl beim Entfernen der Zunge. Der Gerichtsmediziner hat die Vermutung geäußert, dass zuerst die Augen entfernt wurden, dann die Ohren und zuguterletzt die Zunge.“
„Mit Sadismus hat der Täter jedenfalls kein Problem“, stellte Libby fest. „Du hast Recht, ich würde das auch als Foltermord betrachten.“
„Die Polizei in Fremont hatte keinerlei brauchbare Anhaltspunkte, denn es gab keine Zeugen für die Entführung. Man hat bloß ihren verlassenen Wagen auf einem Supermarktparkplatz gefunden, das war alles. Der Ehemann konnte uns überhaupt nicht weiterhelfen und die Buchstaben NG auf ihrem Bauch ließen die Ermittler erst in Richtung des chinesischen Namens denken, aber davon sind sie mittlerweile auch abgekommen.“
„Wann kam Opfer Nummer zwei?“, fragte Dennis.
„Das war drei Wochen später in San José – Harry Bergerson ist der Mann, dessen Fotos ich euch vorhin gezeigt habe. Er ist ebenfalls auf seinem Heimweg verschwunden, das hat allerdings niemand gemerkt, weil er vor kurzem geschieden wurde und allein lebt. Er war 48, hat als Finanzberater gearbeitet und war Vater von zwei halbwüchsigen Kindern. Bei ihm hat der Täter RY in den Bauch geritzt. Bei Bergerson hat der Täter, genau wie bei den anderen Opfern, einen Elektroschocker benutzt, um ihn zu überwältigen – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Bei allen Opfern konnten mehrere Brandverletzungen festgestellt werden, die zu den Kontaktpunkten eines Elektroschockers passen würden. Bei Bergerson konnte der Gerichtsmediziner sogar eine metabolische Azidose nachweisen – der Täter muss Bergerson so oft und so intensiv geschockt haben, dass es zu einer Übersäuerung des Blutes geführt hat. Er hat sich also schon vor dem Verbluten in einem kritischen Zustand befunden.“
Libby war überrascht. Das sprach für das Aggressionspotenzial des Täters.
„Die Leiche wurde an der Interstate 880 in Sichtweite des Flughafens von San José gefunden. Auch sie lag im Morgengrauen einfach da. Keiner weiß, wie sie dorthin gekommen ist“, sagte Nick und zeigte noch einige Fotos. Auch Harry Bergerson fehlte bloß das Hemd, ansonsten war er noch bekleidet. Als Libby im Hintergrund den Tower des Flughafens sah, musste sie schlucken.
„Die Leiche lag auch an der Auffahrt zum Freeway?“, fragte sie.
„Ja, unweit von einem kleinen Komplex mit vermieteten Lagerräumen.“
Libby schluckte kurz und nickte langsam. „Da kann man gut ungesehen eine Leiche loswerden.“
„Du kennst die Gegend?“
Sie nickte nur. Gerade hatte sie nicht vor, vor den Kollegen auszubreiten, dass man sie und Owen genau dort fast getötet hatte. Aber sie wunderte sich nicht darüber, dass der Täter dort eine Leiche abgelegt hatte, denn da konnte man das wirklich unbemerkt tun.
„Und das nächste Opfer?“, fragte sie schließlich und räusperte sich.
„Die Leiche wurde am Donnerstag entdeckt. Walter Nelson, 54, wurde an der Route 87 in South San José gefunden. Er trug die Buchstaben CE. In San José hat man dann gemerkt, dass es da ein Problem gibt und so landete der Fall jetzt bei uns.“
„Die Gemeinsamkeiten aller Fälle sind die Verstümmelungen an Augen, Ohren und Zunge, das Einritzen von Buchstaben und die Auffindeorte am Rand stark befahrener Straßen“, zählte Ian auf und Dormer nickte.
„Bis jetzt sind die Opfer alle weiß, sie stammen aus der Mittelschicht, sie hatten alle gute Jobs, zwei von ihnen hatten Familie und einer nicht. In der Viktimologie konnten die Ermittler bislang keine Gemeinsamkeit finden und speziell wegen der Verstümmlungen und der Buchstaben wollten sie unsere Hilfe in Anspruch nehmen.“
„Der Täter muss aber irgendeine Beziehung zu den Opfern haben“, sagte Libby. „Niemand entführt jemanden und foltert ihn über Stunden ohne einen guten Grund. Irgendwie wirkt das hier zu geplant, um zufällig zu sein.“
„Ja, das dachte ich mir auch schon. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Verbindung zwischen den Opfern zu finden und ein Profil des Täters zu erstellen. Was will er mit seinen Taten sagen? Warum diese Opfer, warum die Buchstaben und warum die Verstümmelungen?“
Das fragte Libby sich auch. Sie war nicht überrascht, dass ihre früheren Kollegen in San José damit nichts anzufangen wussten, denn wie hatte Owen einmal so schön gesagt: Mancher Kollege dort war nicht gerade für seine Kreativität bekannt. Allerdings sorgte dieser Fall bei ihr jetzt schon für ein ungutes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Sie schob es darauf, dass es mit San José zu tun hatte. Bestimmt legte es sich bald wieder.
Der kleine Flieger landete um kurz vor zwölf Ortszeit am Reid-Hillview Airport in East San José. Als das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte und sie ausgestiegen waren, entdeckte Libby sofort ihre früheren Kollegen, die vor einem Mannschaftsbus des SJPD auf sie warteten. Sie erkannte ausgerechnet Sergeant Jenkins, aber auch den Chief – und ihren Partner Miguel Alvarez. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie ihn bemerkte. Die beiden anderen Männer daneben hatte sie zwar schon mal gesehen, kannte aber ihre Namen nicht.
Nick steuerte als erster auf die Männer zu, die sich ihm der Reihe nach vorstellten. Libby hielt sich im Hintergrund und ließ den Kollegen den Vortritt, woraufhin Miguel ungeachtet seiner Vorgesetzten zu ihr ging und sie umarmte.
„Ist das schön, dich wiederzusehen“, sagte er und lächelte. „Henry Allen wird vermutlich für den Rest seines Lebens seine vorlaute Klappe halten, wenn er sieht, dass du jetzt wirklich beim FBI bist.“
Libby lachte herzlich. „Ach, wie wenig habe ich Henry vermisst! Dich schon, Miguel. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“
„Whitman“, richtete sich in diesem Moment Jenkins an sie. „Fast hätte ich Sie als Officer angesprochen, aber Sie sind ja jetzt Special Agent. Meinen Glückwunsch.“
Er sagte das in aller Höflichkeit und versuchte, es ehrlich klingen zu lassen, aber Libby merkte, dass es ihn wurmte. Sie hatte nicht vergessen, wie er sie seinerzeit für einen Alleingang zusammengepfiffen hatte. Er vermutlich auch nicht.
„Danke“, sagte Libby trotzdem und rang sich ein Lächeln ab. Schließlich begrüßte sie noch der Chief und verlor ein paar lobende Worte darüber, dass sie als junge ambitionierte Polizistin ihren Weg so zielstrebig gegangen war und ihre Behörde nun mit ihrer besonderen Kompetenz unterstützen konnte. Obwohl es ziemlich aufgeblasen klang, wusste Libby bei ihm, dass er es freundlich und ehrlich meinte und entsprechend bedankte sie sich dafür. Schließlich stellten sich ihr auch die beiden anderen Männer vor.
„Ich bin Detective Victor Martin, das ist mein Partner Carlos Alonso. Wir sind die leitenden Ermittler in dem Fall, für den die Presse sich schon richtig ins Zeug gelegt und den Täter liebevoll den Freeway-Killer genannt hat.“
„Ernsthaft?“, erwiderte Libby schockiert und schüttelte den Kopf. „Special Agent Libby Whitman. Schön, Sie kennenzulernen.“
„Sie haben doch letztes Jahr mit Young zusammen ermittelt, oder?“, fragte Martin.
Sie nickte. „Ja, als sein Partner im Krankenhaus war.“
„Stimmt. Der Ärmste ist immer noch nicht in seinen Beruf zurückgekehrt. Und Young hat es ja nach Washington gezogen. Ganz in Ihre Nähe. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“
Libby schluckte und überlegte, wie sie reagieren sollte, aber dann versuchte sie es mit der Wahrheit.
„Jeden Morgen am Frühstückstisch … unter anderem“, erwiderte sie und es dauerte einen kurzen Augenblick, aber dann grinste Martin und nickte verstehend.
„Und wir haben uns schon alle gefragt, was er plötzlich an der Ostküste will, aber jetzt ergibt das Sinn. Freut mich für Sie. Wie geht es ihm?“
„Sehr gut. Ihm gefällt es beim MPDC.“
„Ja, ist bestimmt ein toller Job. Nun, wir freuen uns, dass Sie mit Ihrem Team jetzt hier sind. Als uns die Tragweite dieses Falles klar wurde, hat der Chief direkt vorgeschlagen, die Profiler des FBI um Hilfe zu bitten. Ich bin gespannt, ob Sie uns da voranbringen können.“
„Wir werden unser Bestes geben“, erwiderte Libby.
Nachdem sie den Smalltalk beendet hatten, gingen sie mit ihrem Gepäck zum Auto und nahmen alle darin Platz. Miguel fuhr und unversehens fand Libby sich zwischen Nick und dem Chief wieder.
„Wie gefällt es Ihnen beim FBI, Whitman?“, erkundigte der Chief sich bei Libby.
„Sehr gut. Sie wissen ja, dass ich ohnehin immer dorthin wollte.“
„Ja, das hat mir immer sehr gefallen, auch wenn Ihr Fortgang natürlich einen Verlust für das SJPD bedeutet. Bei meiner Kontaktaufnahme zu Ihrem Team habe ich betont, dass ich mich sehr darüber freuen würde, Sie bei den Ermittlungen im Boot zu haben.“
„Danke“, erwiderte Libby knapp, weil ihr nichts Besseres einfiel. Das war ihr allmählich richtig unangenehm.
„Wie Sie sich vorstellen können, sitzen uns jetzt auch die Medien im Nacken. Ich bin ja froh, dass sie ihn nur den Freeway-Killer nennen und nicht Ritualmörder.“
„Ich weiß nicht, ob diese Bezeichnung überhaupt korrekt ist“, sagte Nick.
„Nicht? Warum nicht?“
„Weil Ritualmorde häufig von religiösen Motiven gekennzeichnet sind. Denken Sie mal in Richtung Menschenopfer. Das ist etwas anderes als das, was hier vorliegt. Hier hat der Täter die Opfer bei lebendigem Leib verstümmelt. Das ist zwar seine Signatur, aber er hat andere Motive und sein Handeln ist von Sadismus gekennzeichnet.“
Der Chief wirkte anfänglich ein wenig überfahren, nickte dann aber heftig und sagte: „Ich bin sicher, dass Sie die Sache im Griff haben.“
„Wir werden den Täter schon finden“, sagte Nick, um ein wenig Zuversicht zu verbreiten.
Libby war froh, als sie endlich im Department angekommen waren. Es wirkte äußerst vertraut und doch ein wenig fremd. Sie war nicht überrascht, dass man ihnen bereits einen der Meetingräume zur Verfügung gestellt und mit allem bestückt hatte, was für die Ermittlungen wichtig war.
„Hast du auch an dem Fall mitgearbeitet?“, richtete sie sich schließlich an Miguel, der immer noch dabei war.
„Indirekt, ja. Ich war mit meinem neuen Partner der erste am Bergerson-Fundort. Als ich hörte, dass du mit deinen FBI-Kollegen kommst, habe ich die Detectives gebeten, die Sache ein wenig begleiten zu dürfen. Damit hatten die kein Problem. Und was hab ich da eben gehört – du und Young …?“
Libby lachte und senkte verlegen den Blick. „Ja, er ist mir schließlich an die Ostküste gefolgt und hat sich da einen Job bei der Polizei in Washington gesucht. Seit ich mit der Academy fertig bin, wohnen wir zusammen.“
Das entlockte Miguel ein breites Grinsen. „Nicht schlecht. Für einen Romantiker hätte ich ihn gar nicht gehalten.“
„Nein, ich auch nicht, um ehrlich zu sein.“
„Ich weiß noch, dass du dich hier von deinem Freund getrennt hattest, aber dass da zwischen dir und Young was lief, ist mir nicht aufgefallen.“
„Da lief auch nichts, als ich noch hier war. Das kam erst später.“
„Ach so? Wie auch immer, freut mich für dich, er ist ein guter Kerl.“
„Ja, das ist er“, sagte Libby und lächelte. Weil alle anderen gerade anderweitig beschäftigt waren, sagte Miguel plötzlich mit gesenkter Stimme: „Ich bin froh, dass ich dir eine Sache jetzt doch persönlich sagen kann.“
Fragend sah Libby ihn an. „Was kommt denn jetzt?“
„Es tut mir leid, dass ich dich damals wegen Cassidy Maxwell nicht besser unterstützt habe. Hätte ich wirklich tun sollen. Sie könnte vielleicht noch leben, wenn wir da an einem Strang gezogen hätten.“
Libby holte tief Luft. „Das weißt du nicht.“
„Sicher weiß ich das nicht, aber du hast geahnt, dass etwas Schlimmes passiert ist und ich habe dir bloß signalisiert, dass du übertreibst. Dass dem nicht so war, habe ich gesehen, als die Kollegen sie tot aus dem Wasser gefischt hatten. Das verzeihe ich mir ehrlich nicht.“
Für einen kurzen Moment überlegte Libby, was sie erwidern sollte, aber stattdessen umarmte sie ihn einfach und nickte ihm zu. Er nickte ebenfalls.
Das hatte er ihr nie gesagt. Sie hatte zwar gemerkt, dass es ihm nah ging, aber sie merkte, dass ihr Ansehen beim SJPD insgesamt jetzt ein ganz anderes war. Chief und Sergeant waren gerade dabei, sich wieder zu verabschieden und die Detectives übernahmen nun die Leitung. Miguel blieb dabei, während sie den Profilern jeden Fall noch einmal im Detail vorstellten.
Patty Cornell aus Fremont war Mutter einer neunjährigen Tochter und hatte Teilzeit als Sekretärin gearbeitet. Für Libby klang das alles ziemlich unauffällig. Sie hatte keine Feinde gehabt, keinen Liebhaber, keinen Stalker, nichts dergleichen. Sie hatten keine Ahnung, warum der Täter sie ausgewählt hatte. Warum hatte sie so brutal sterben müssen? Warum hatte der Täter ihre Leiche am Straßenrand entsorgt?
Die Detectives aus San José hatten sich in diesen Fall auch erst einarbeiten müssen, aber die Kollegen aus Fremont hatten ihnen sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt. Sie hatten den gesamten Alltag von Patty Cornell abgeklopft, sie hatten ihre Yogagruppe überprüft, ihre Arbeitskollegen, einfach alles. Auch die Durchsuchung ihres Handys und des Familiencomputers war ergebnislos geblieben.
Auch Harry Bergerson und Walter Nelson schienen keine Feinde zu haben. Der eine war ein geschiedener Vater von zwei Kindern, der andere kinderlos. Beide waren vollkommen unauffällig.
„Wir können absolut keine Überschneidungen zwischen den Opfern finden“, sagte Alonso frustriert. „Bergerson war Trainer eines Jugend-Baseballteams, Nelson hat Golf gespielt. Sie haben nicht in denselben Supermärkten eingekauft, gingen nicht zu denselben Ärzten – wir wissen nicht, warum der Täter gerade sie ausgewählt hat. Wir haben in keinem einzigen Fall auch nur eine Idee, wer der Täter sein könnte. Es gibt auch keinerlei forensisch verwertbare Spuren, die uns zu ihm führen würden – keine Fingerabdrücke, keine Haare, nichts dergleichen. Wir wissen nicht, wer den Opfern das angetan haben könnte. Definitiv hat der Täter günstige Momente abgewartet, weshalb es bei der zweiten Entführung nicht einmal Zeugen gab.“
„Bei den anderen schon?“, fragte Nick.
„Ja, aber nichts, was uns helfen würde. Der Zeuge im Fall Walter Nelson beschrieb einen jungen Mann mit Hoodie und im Fall Patty Cornell soll es wohl ein alter Mann mit Glatze gewesen sein.“
Nick zog fragend die Brauen hoch. „Wie hilfreich.“
„Ja, das ist das Problem. Wir sind absolut ratlos, aber wir gehen davon aus, dass er uns etwas sagen will. Warum sonst würde er den Opfern Buchstaben in die Haut ritzen? Und was soll das mit den Verstümmelungen?“ Fragend blickte Detective Martin in die Runde.
„Ich musste schon an die drei Affen denken“, sagte Ian. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“
„Ja, die Idee ist uns auch schon gekommen, aber wir sind da noch überhaupt nicht schlauer.“
„Da kommt es auch darauf an, ob der Täter die ursprüngliche oder die heute gängige Interpretation meint“, sagte Jesse und lachte verlegen, als unverhofft alle Blicke auf ihm ruhten.
„Die ursprüngliche Interpretation?“, fragte Martin.
„Als Student habe ich ein Auslandsjahr in Japan gemacht, in Osaka. Mit den drei Affen habe ich mich tatsächlich auch im Rahmen meines Studiums dort beschäftigt.“
Martin war sichtlich überrascht. „Was haben Sie denn studiert?“
„Japanologie, unter anderem.“
„Ah.“
Jesse grinste. „Exotisch, ich weiß. Hat mich aber immer fasziniert und ist nicht ganz unpraktisch im Alltag mit meiner Freundin.“
Libby lächelte.