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Alfred Wolfsohn (1898-1962) erkannte, dass unsere Stimme viel grösser ist, als wir meinen. Roy Hart (1926-1975) und seine Schüler*innen entwickelten seine Erkenntnisse weiter. Damit Sie das Potenzial Ihrer Stimme ausschöpfen können, brauchen Sie Lust und Mut, Ihre Komfortzone zu verlassen. Das gilt auch für ältere Menschen und ausgebildete Singprofis. Mein Buch vermittelt Ihnen den geschichtlichen Hintergrund und Erfahrungen zu Ihrer persönlichen Entdeckungsreise. Sie lernen, das Potenzial und Blockaden einzuschätzen. Sie finden Ideen zur Gestaltung von Singstunden und Workshops. Therapeut*innen erhalten Einblick in die Bedeutung der Stimme für die Stärkung von Kreativität und Persönlichkeit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 106
Veröffentlichungsjahr: 2020
Vorwort
Warum dieses Buch?
Die Freie Stimme
Ziel und Inhalt
Muss Stimme immer schön sein?
Entwicklung Ihrer Persönlichkeit
Einladung
Pioniere einer Freien Stimme
Alfred Wolfsohn
Der Nachfolger: Roy Hart
Das Vermächtnis
Stimme in Entwicklung
Der Impuls zur Stimme
Kinderstimmen
Jugendliche und ihre Stimmen
Die Stimme der Erwachsenen
Stimme im Alter
Was ist die Stimme?
Was blockiert die Stimme?
Worum geht es?
Charakter- und Körperpanzer
Wo die Panzer sitzen
Schocks, Traumata
Wie lösen sich diese Blockaden?
Akute Blockaden
Stimme und Gender
Neue Bedrohungen
Die Stimme erforschen
Bereitschaft
Hingabe und Stimme zulassen
Extreme Höhen und Tiefen
Stimme der Hölle
Körperstimmen
Klangfarben
Klang- und Stimmlandschaften
Das Tor ist offen
Was die Stimme beflügelt
Das Informationsfeld
Wechselspiel und Dialog
Aus dem Inneren
Impulse von Außen
Aktion und Performance
Singstunden
Es geht um Sie!
Gestaltung und Ablauf
Der Singlehrer Alfred Wolfsohn
Workshops
Gestaltung und Ablauf
Gruppenstunden mit Roy Hart
Erfahrungen
Willkommen im Universum der Stimme
Stille als Ausgangspunkt
Die Einheit der Sinne
Den Augenblick packen
Orpheus in der Unterwelt
Magie
Ja zum Leben
Seelisch wachsen
Zauber der Bühne
Literatur
Manuskripte von Alfred Wolfsohn (AW)
Stimmarbeit am Roy Hart Theatre (RHT)
Weitere Literatur zu Stimme
Zusätzliche Inspiration
Webseiten
Verzeichnisse
Abkürzungen
Abbildungen
Tabellen
© Bildquellen
Anmerkungen
Was treibt einen Naturwissenschaftler dazu, ein Buch über die Stimme zu schreiben? Warum betrete ich Neuland? Wozu?
Es ist meine Begeisterung. Als Jugendlicher sang ich in einem Chor die H-Moll Messe von Johann Sebastian Bach (1685–1750). Viele Jahre in klassischen Chören vermittelten mir eine klare Vorstellung, was die Stimme in mir bewirken kann.
Unerwartet, vor 12 Jahren, öffnete sich mir eine neue Welt. Der Auslöser war ein Workshop des Roy Hart Theatre (RHT). Stimme in Aktion. David Goldworthy, der Leiter, interessierte sich weniger für die schöne als für die ganze Stimme. Das Erleben stimmlicher Möglichkeiten in freier Improvisation bewegte mich zu tiefst.
Seither, und von der Wirkung dieser Stimmarbeit überzeugt, besuche ich regelmässig Workshops am RHT und nahm Einzelstunden. Ich vertiefte mich in die Manuskripte und Schriften der Begründer dieser Stimmarbeit, Alfred Wolfsohn (1898–1962) und Roy Hart (1926–1975). Parallel dazu startete ich mit Matthias Rauh von Music for People in Bern eine Improvisationsgruppe.
In diesem Prozess reifte der Wunsch, meine Position in der Stimmarbeit verbindlicher zu definieren und meine Beobachtungen Interessierten zur Verfügung zu stellen. Was habe ich gelernt? Was ist mir wichtig? Welche Inhalte will ich vermitteln?
Es ist auch die mystische Erfahrung. Für den Physiker David Bohm (1917–1992) leben wir in einer Welt, die sich zur Einheit entfaltet. Wir sind mit unseren Gedanken und Handlungen in diesen Prozess eingebunden. Für mich ist die Befreiung der Stimme ein Weg zur Erfahrung dieser Einheit.
Das Buch richtet sich an Interessierte, Lehrpersonen, Künstler*innen, Menschen in Betreuungsfunktionen oder mit therapeutischen Aufgaben, sowie an angehende Lehrer*innen des RHT oder von Music for People. Ich orientiere mich an selbst Erfahrenem und freue mich, wenn ich Sie damit ermutigen kann, Ihre Freie Stimme zu finden.
Kürzlich konnte ich in einem Projektchor nochmals die H-Moll Messe singen. Das Erlebnis war anders als in meiner Jugend. Meine Stimme und die Einstellung zu diesem grossartigen Werk ist freier geworden. Erfahrungen mit Improvisation haben mir diese Freiheit geschenkt.
Dank
Mein besonderer Dank geht an die Lehrer*innen des RHT, die mir ihr tiefes Wissen über die Stimme jederzeit zur Verfügung stellten. Durch sie erhielt ich Einblick, dass es in der Stimmarbeit um mehr geht als um Technik. Es geht um unsere Existenz als freie Menschen.
Ein grosses Merci an: David Goldworthy und Marianne Le Tron (Thoiras, Südfrankreich), Noah Pikes (Zürich), Walli Höfinger und Christiane Hommelsheim (Berlin), sowie an Kaya Anderson, Carol Mendelsohn, Ivan Midderigh, Ian Magilton und Saul Ryan (Malérargues, Südfrankreich).
Die Zusammenarbeit mit Matthias Rauh (Bern) und Catherine von Graffenried (Bern) geben mir ebenfalls wertvolle Impulse.
Herzlich danke ich allen, die Entwürfe zu diesem Buches während seiner Entstehung lasen und mir Anregungen gaben: An Chen, Seraina Gilly, Clemens Lang und Matthias Rauh.
Catherine von Graffenried danke ich für das umsichtige Lektorat und die Vorschläge für Kürzungen. Christine Vögeli-Pakka gab mir Hinweise zur Rechtschreibung. Ulrike Bremer und die Mitarbeitenden des Verlages unterstützten mich beim Layout.
Vielen Dank!
Unsere Stimmen sind Lebensenergie und Ausdruck unseres natürlichen Wesenskerns. Sie sind individuell, wie der Fingerabdruck. In der Regel bewegen sie sich im Rahmen von zwei Oktaven. In jedem Menschen gibt es aber eine Lust, Grenzen zu sprengen. Plötzlich stehen wir an der Schwelle zu neuen, kreativen Erfahrungen.
Nach den Thesen des deutschen Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Hans-Joachim Maaz lernen wir in unserer Entwicklung vor allem eines: Wie und was wir sein sollen und wie wir uns zu verhalten haben. Das Resultat sei ein »falsches Leben« in einer »normopathischen Gesellschaft«.1
Dieser Druck lastet auch auf der Stimme. Sie wird durch Erwartungen, Normen und Ansprüche in Korsette gezwängt. Schon früh wird unterschieden zwischen Sprech- und Singstimme. Beim Singen haben wir uns an Noten und Stimmlagen zu halten (Sopran, Alt, Tenor, Bass). Die Lautstärke ist zu kontrollieren, um nicht aufzufallen. Alte Menschen sollen sich vom Singen zurückziehen, wenn ihre Stimme brüchig wird.
So viel Normierung provoziert und wirft Fragen auf. Wie steht es um das Wissen um die ganz andere, ursprüngliche Erfahrung der Stimme? Zum Beispiel, wenn wir von Glück, Schmerz oder Panik ergriffen werden? Was passiert mit der Stimme, wenn wir ganz loslassen? Steckt in jedem Engel nicht auch ein Teufel? Erleben wir jenseits der Normen nicht eine neue Erfahrungswelt, die alle Menschen verbindet?
Wir erfahren, dass wir verschiedene Stimmen in uns haben. Jede ist mit einer Facette unserer Persönlichkeit verbunden. Da gibt es die Schreie, die brüchige Stimme, das Gurgeln, das Wimmern, oder den Wutausbruch. Jede Stimme hat ihre Berechtigung und ist Zugang zu Erlebniswelten, die uns als Menschen verbinden.
Abb. 1: Kaya Anderson leitet einen Workshop (ca. 1983)
Sobald wir Grenzen überschreiten und das Normale verlassen, erleben wir Stimme als Urkraft, als Teil unseres authentischen Wesenskerns. Dieser ist in uns angelegt und sucht sich Ausdruck.2 Stimme ist Lebensenergie, ein »Ja« zum Leben.
Stimmkünstler*innen nutzen diese Kraft. Sie sprechen von Extended Voice Techniques3. Dieser Begriff ist in den letzten Jahren zu einem technischen Fachbegriff geworden, der sich mehr auf die erzeugten Stimmeffekte als auf die inneren Prozesse bezieht. Da mir der innere Prozess wichtig ist und ich Anglizismen vermeiden will, habe ich mich entschieden, von »Freier Stimme« zu schreiben.
Dieses Buch zeigt Ihnen, was Ihre Stimme sein könnte, wie Sie sie blockieren und auf welchen Ressourcen Sie aufbauen können, wenn Sie Ihr Potenzial entfalten wollen. Fachleute erhalten zudem praktische Tipps für Ihre pädagogische oder therapeutische Arbeit.
Ich stelle meine eigenen Erfahrungen ins Zentrum. Dabei bin ich mir aber bewusst, dass die Herausforderungen bei jeder Person anders liegen.
Das Buch ist ein Wegweiser für Ihre eigene Forschungsreise. Vielleicht führt sie diese zu einer neuen Kreativität oder in verborgene Bereiche. Ich spreche von Wünschen, Tabus, Träumen, Gefühlen und Emotionen. Vielleicht stossen Sie bis zum Urgrund, von dem David Bohm4 spricht, vor.
Ich reichere meine Überlegungen mit Zitaten aus den Schriften von Alfred Wolfsohn (1898–1962) oder den inspirierenden Büchern und Zeitdokumenten, die Lehrer*innen des Roy Hart Theatre (RHT) verfassten5, an. Die Endnoten verweisen auf diese weiterführende Literatur.
Nein. »Schön-Singen« ist Teil des Universums der Stimme, aber nicht das primäre Ziel. Sie finden deshalb in diesem Buch nur wenige Hinweise auf Gesangstechnik. Viel interessanter ist für mich, was sich hinter dem Schönen verbirgt. Es braucht zuerst die Erfahrung der »Freien Stimme«. Erst dort entsteht die Verbindung zur Persönlichkeit.
Die Fixierung auf das Schöne ist eine der Blockaden, die viele davon abhält, ihre Stimme ganzheitlicher zu erkunden. Im Wettbewerb versuchen sie, ihre Stimme zu optimieren. Das Hässliche wird ausgemustert. Stimme wird zum Objekt von Bewertung. Der damit verbundene Optimierungszwang ist gerade im Zeitalter der Sozialen Medien ein Phänomen. Die Soziologie spricht von der Valorisierungsgesellschaft6.
John Cage (1912–1992) hat diese Frage am Beispiel des Unterschiedes zwischen Ballett und modernem Tanz erörtert.7 Im Ballett werde alles der Darstellung untergeordnet. Das verleite zu Perfektionismus. Der moderne Tanz hingegen brauche den ganzen Körper, suche das Experiment, das Erforschen des Unbekannten, die Entdeckung. Cage sprach von einer affirmativen Haltung gegenüber dem Leben.
Dies gilt auch für die Stimme. Bei der »schönen Stimme« geht es um Darstellung. Der Kern der Freien Stimme ist hingegen die affirmative Haltung gegenüber dem Leben. Sind unsere Vorstellungen von Schönheit unter Umständen zu eng gefasst? Braucht es eine neue Ästhetik?
Eine Stimme zu haben bedeutet, dass es eine Person gibt, Leben, Gefühle, einen Hals, eine Brust, sowie eine Lust, sich auszudrücken. Wie der Körper ist sie Teil unseres natürlichen Wesenskerns. Sie drückt aus, was wir sind und werden wollen.8 Sie ist das Tor zur Welt, die sich entfaltet.
In der Stimmarbeit geht es damit immer auch um Persönlichkeitsentwicklung. Besonders die freie Improvisation ist eine Möglichkeit, Türen zu Kreativität und Imagination zu öffnen.
Alfred Wolfsohn war dies bewusst. Er nutzte Stimme als diagnostisches Instrument für die Erfassung von Personen und die Stärkung ihrer Potenziale. Er glaubte, dass die Möglichkeiten, die in der Stimme liegen, unsere Vorstellungskraft bei weitem übersteigen. Er wollte seine Schüler*innen in diese Freiheit führen.
Persönlichkeit entwickelt sich dabei insbesondere dort, wo wir Grenzen überschreiten.9 Improvisationen mit der Stimme ermutigen Sie dazu. Sie lernen spielerisch, neue Zustände Ihrer Existenz – nicht nur das Schöne, Harmonische – zu umarmen. Zu erleben, dass der Stimmumfang viel grösser ist, als Sie sich das je vorstellen konnten, wird Sie erschüttern.10
Improvisation eröffnet neue therapeutische Zugänge. Diese lassen sich für Menschen in schwierigen Situationen nutzen. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897–1957) war der Meinung, dass die assoziative Gesprächsentwicklung in klassischen Psychotherapien dazu tendiere, Probleme zu umschiffen. Man müsse Patienten bitten, eben gerade nicht zu sprechen. Sprache diene der Verteidigung.11
Stimmarbeit ist eine Alternative. Paolo Knill (1932–2020), der Begründer der Ausdruckstherapie, fasst es wie folgt zusammen: Beratung, Therapie und Coaching kommen nicht ohne Sprache aus. Das berge die Gefahr, dass das Prozesshafte, Sinnlich-Vitale und Komplexe reduziert, verallgemeinert und festgeschrieben werde. Künstlerisches Tun schaffe hier einen Ausweg, auch wenn es mit einfachsten Mitteln ausgeübt werde.12
Die Weltgesuchtheitsorganisation (WHO) hat die Wirkung kreativer Tätigkeiten untersucht. Dazu wurden 900 wissenschaftliche Publikationen ausgewertet. Die positiven Wirkungen wurden klar nachgewiesen. Die WHO empfiehlt, Musik und Kunst auf Rezept zu verschreiben, als Ergänzung zu den oft viel teureren medizinischen Therapien.13
Alfred Wolfsohn widmete sein Leben dieser Arbeit. Nach ihm ist jeder Mensch aufgefordert, die Reise zu seinem natürlichen Wesenskern über die Stimme zu gehen.14 Für diese Reise rät Wolfsohn, die »Kälte der objektiven Betrachtung«15 abzulegen. Erst durch die subjektive Erfahrung sei es möglich, neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Ich lade Sie ein, dieses Buch mit Forschergeist zu lesen. Es geht darum, Nuancen zu spüren und zu ergründen. Stimme ist nicht einfach ein stabiles Merkmal Ihrer Persönlichkeit, sondern sie wird immer wieder neu geschaffen. Sie ist ein Ereignis, das im Moment und im Kontext passiert.16
Reflexion 1
Wann hatten Sie in Ihrem Leben das erste Mal ein emotionales Erlebnis mit Ihrer Stimme?
Um welche Gefühle ging es dabei?
Beobachten Sie Kinderlärm.
Gelingt es Ihnen, das Geschrei als Konzert wahrzunehmen?
Die Biographien und Lebenswerke von Alfred Wolfsohn (1898–1962) und seines Schülers Roy Hart (1926–1975) haben eine besondere Strahlkraft. Sie sind Zeugnis der engen Beziehung zwischen Stimme, Existenz und Lebensenergie. In Extremsituationen wie Schmerz, Todesangst oder überbordender Begeisterung entgleitet die Stimme ihrem Korsett.
Alfred Wolfsohn wuchs in einem behüteten und kultivierten jüdischen Haushalt in Berlin auf. Er interessierte sich für Kunst, Philosophie, Religion und Kultur. Seine Lehrer sprachen ihm eine hohe Sensibilität zu.17
Er war 10 Jahre alt, als sein Vater starb. Dieser hatte 1870 den Krieg mit Frankreich erlebt und seinem Sohn vermittelt, dass gerade die Juden als Minderheit eine besondere Verpflichtung hätten, dem deutschen Vaterland zu dienen. Diese Worte prägten den jungen Alfred. Und so trat er seinen Wehrdienst im ersten Weltkrieg als überzeugter Soldat an, der Sache Deutschlands verpflichtet.
Der junge Wolfsohn verbrachte zwei Jahre an der Front in Belgien und beschrieb diese Zeit als Hölle. Er hatte traumatische Erlebnisse. Diese zeigten ihm aber auch auf, »welch verborgene Kräfte im Menschen leben, die er nur durch die Herausforderung der Todesgefahr, des bittersten Kampfes um jede Sekunde seiner Existenz entdecken kann.«18
Abb. 2: Alfred Wolfsohn in jungen Jahren