Deine Wunden haben eine Geschichte – aber nicht das letzte Wort - Anna Runkle - E-Book

Deine Wunden haben eine Geschichte – aber nicht das letzte Wort E-Book

Anna Runkle

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Beschreibung

Viele Menschen tragen die unsichtbaren Spuren eines Kindheitstraumas in sich – emotionale Dysregulation, unerklärliche Ängste, das Gefühl, festzustecken oder immer wieder in die gleichen Muster zu verfallen. Solche Prägungen beeinflussen das Nervensystem und die emotionale Reaktionsfähigkeit, aber sie müssen nicht das ganze Leben bestimmen. Der Schlüssel liegt nicht darin, die Vergangenheit auszulöschen, sondern, einen neuen Umgang mit ihr zu finden. Anna Runkle, international bekannt als die »Crappy Childhood Fairy«, zeigt, wie es möglich ist, sich von den Folgen von Kindheits-PTBS zu befreien. Mit ihrer Daily-Practice-Methode bietet sie einen alltagstauglichen Ansatz, um alte Muster zu durchbrechen, Selbstsabotage zu überwinden und innere Stabilität aufzubauen. Für alle, die sich aus der Trauma-Spirale lösen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten möchten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anna Runkle

Deine Wunden haben eine Geschichte

aber nicht das letzte Wort

Wie du dich von deinem Kindheitstraumabefreist, Selbstsabotage stoppst unddein Leben neu ausrichtest

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und [email protected]

Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung und Ernährungsberatung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie ­medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und die Autorin haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten ­Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

1. Auflage 2025© 2025 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHTürkenstraße 8980799 MünchenTel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei Hay House LLC unter dem Titel Re-Regulated: Set Your Life Free from Childhood PTSD and the Trauma-Driven Behaviors That Keep You Stuck. © 2024 by Hay House LLC. All rights reserved.

RE-REGULATED Copyright © 2024 by Anna Runkle. Originally published in 2024 by Hay House LLC

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir be­halten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Karin WeingartRedaktion: Silke PantenUmschlaggestaltung: Isabella DorschUmschlagabbildung: Shutterstock/Huza StudioSatz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0743-1  ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-154-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Einführung

Kapitel 1Die Wahrheit über Kindheitstraumata

Kapitel 2Alte Traumatherapien, neue Traumatherapien – und wie sich mein Ansatz von ihnen unterscheidet

Kapitel 3Die tägliche Übung

Kapitel 4Die neurologische Dysregulation – das Kernsymptom kindlicher Traumatisierung

Kapitel 5Trigger für Dysregulation erkennen und heilen

Kapitel 6Die emotionale Dysregulation

Kapitel 7Isolationsgefühle

Kapitel 8»Innere« Traumata und selbstschädigende Verhaltensweisen

Kapitel 9So wirst du ganz und vollkommen authentisch du selbst

Anhang

Häufig gestellte Fragen

Anmerkungen

Weiterführende Informationen

Dank

Über die Autorin

Für alle, die einmal verletzt und nicht gesehen wurden, sowie für all die vielen netten Leute, die uns wahrgenommen und geholfen haben.

Einführung

Mit 30 Jahren nahm ich eines Abends im Spätwinter 1994 eine Frau im Auto mit, die ich kaum kannte. Sie hieß Rachel und hatte sich erst kurz zuvor einer Theatergruppe angeschlossen, der auch ich angehörte. Da sie keinen fahrbaren Untersatz besaß, bot ich ihr an, sie nach Hause zu fahren.

Sie wohnte, wie sich herausstellte, in einer heruntergekommenen Fa­briketage in einem Problembezirk von Oakland. Als wir bei ihr ankamen, blieben wir noch ein paar Minuten im Wagen sitzen. Rachel erzählte mir von ihrer Zeit auf der Straße und was sie alles durchgemacht hatte, als sie versuchte, trocken zu werden. Ihre Arme waren voller Tattoos, und jedes zweite Wort von ihr lautete »Scheiße« oder »Verfi… Scheiße«. So sprach sie über alles, auch über die guten Dinge im Leben – ja, sogar über Gott. An den glaubte ich damals noch nicht so richtig. Aber ganz unabhängig davon war mir Rachel sehr sympathisch.

Ich hatte ein Geheimnis, und als sie gerade aussteigen wollte, sprach ich es aus: Am folgenden Tag wollte ich mir das Leben nehmen.

»Aha«, sagte sie, als wäre es das Normalste der Welt und sie hätte dergleichen schon hundertmal gehört. Schließlich fügte sie hinzu, sie wüsste da etwas Besseres, etwas, das mir guttun könnte, und lud mich ein, mit zu ihr zu kommen und darüber zu sprechen. So ging ich mit.

Gott sei Dank.

Zu der Zeit schlug ich mich mit etwas herum, von dem ich heute weiß, dass es sich um eine auf meine Kindheit zurückgehende posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) handelte. Nur dass das damals noch kein bekanntes Krankheitsbild war. Meinen Hausarzt und eine Therapeutin hatte ich bereits aufgesucht, aber ihr Verständnis davon, was mit mir los war und wie sie mich behandeln sollten, führte bloß dazu, dass es mir statt besser eher noch schlechter ging als vorher. Mein ganzes Leben war dabei, aus dem Ruder zu laufen.

Doch der Abend bei Rachel veränderte alles. Die einfache Schreibtechnik, die sie mir beibrachte, wirkte sofort beruhigend auf mich und leitete bei mir eine umfassende Transformation ein. Dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung, warum die Methode so gut funktionierte.

Die Antwort auf dieses Warum sollte ich erst 20 Jahre später erhalten: Ich war dysreguliert. Obwohl dieses Phänomen noch immer nicht vollständig erforscht ist, weiß man mittlerweile doch zumindest, dass es bei Menschen, die (wie ich) als Kind traumatisiert wurden, weit verbreitet und vollkommen normal ist. Ja, mehr noch: Die Dysregulation ist sogar das Kernsymptom der PTBS, das die meisten anderen Symptome eigentlich erst nach sich zieht.

Wer von diesem Buch profitieren kann

Falls du als Kind misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt wurdest beziehungsweise dauerhaftem Stress ausgesetzt warst, leidest du wahrscheinlich an einigen der Symptome, die ich früher ebenfalls hatte. Vielleicht findest du auch jetzt erst, beim Lesen dieses Buches, heraus, dass viele der Probleme, die du hast, auf eine frühe Traumatisierung zurückgehen.

Wahrscheinlich hast du schon zig Methoden ausprobiert, um zu heilen und besser zu »funktionieren«. Sollte es dir so ergangen sein wie vielen von uns, konnte dir aber bislang keine davon wirklich helfen. Und weil du noch nicht gelernt hast, dich neu zu regulieren, haben all diese Ansätze (Psychotherapie, Psychopharmaka, Gruppenarbeit, Übungen und so weiter) womöglich nur dazu geführt, dass du dich jetzt noch schlechter fühlst.

Das Problem mit der Heilung von Traumata besteht darin, dass man sich aufgrund der Dysregulation so schwer konzentrieren und überhaupt etwas tun kann, damit eine Heilung möglich erscheint. Aber zum Glück gibt es ja auch noch andere, bessere Möglichkeiten.

In diesem Buch bringe ich dir bei, wie du dich wieder neu regulieren kannst. Ich zeige dir, wie sich das anfühlt und wie du es schnell hinbekommst. Außerdem erkläre ich dir, warum reguliert zu bleiben alle Aspekte deines Lebens verbessern kann: deine Gesundheit, deine Beziehungen, deine Emotionen sowie deine mentale Fokussierung. Anschließend begleite ich dich Schritt für Schritt durch meine Methode zur Behebung all jener Probleme, die im Leben von Menschen, die zur Dysregulation neigen, tendenziell gehäuft auftreten.

Vieles von dem, was ich dir beibringen werde, ist zwar zunächst kontraintuitiv, entspricht aber doch dem gesunden Menschenverstand. Und auch das solltest du vorab schon wissen: Auf unserer Reise wirst du zwar durchaus auf Elemente aus anderen Wissensgebieten und therapeutischen Schulen stoßen (Neurobiologie, Psychologie, die 12 Schritte, traditionell religiöse Vorstellungen); meine Methode unterscheidet sich trotzdem von allem, was du bisher ausprobiert hast.

Die Traumaforschung entwickelt sich rasend schnell. Nur halten leider die entsprechenden Therapien nicht mit diesem Tempo Schritt. Alte Annahmen und Modalitäten wie Gesprächstherapie und die Verabreichung von Psychopharmaka – von denen längst bekannt ist, dass sie nur marginal hilfreich sind – gelten nach wie vor als Mittel der Wahl. So müssen Traumata eben behandelt werden, heißt es nicht selten. Ich gehöre zu dem Personenkreis, dem diese Null-acht-fünfzehn-Ansätze nicht geholfen haben. Doch wie die meisten, die unter den klassischen Symptomen einer Traumatisierung leiden, dachte auch ich, das läge an mir.

Als ich dann anfing zu gesunden, waren meine Fortschritte so bombastisch, dass ich alles, was ich gelernt hatte, schnellstens an meine Lei­densgenoss*innen weitergeben wollte. So unterrichtete ich in den folgenden 25 Jahren Hunderte von Freundinnen und Freunden in der Methode, dann die Freundinnen und Freunde von Freundinnen und Freunden und schließlich auch fremde Menschen mithilfe meiner Firma, der Crappy Childhood Fairy, die heute auf den verschiedenen Plattformen insgesamt mehr als eine Million Abonnent*innen hat. Dort biete ich Videos, Kurse, Webinare, Workshops, Coaching und eine zugewandte Online-Community von Menschen an, die meine Methode anwenden.

Zuerst musste das Leben mal so richtig hart werden

In gewisser Weise bin ich froh, dass die Dinge bei mir so schlimm wurden, wie sie es letztlich waren; wäre das nicht der Fall gewesen (und angenommen, ich hätte überlebt), wäre ich jetzt noch genauso dysreguliert, festgefahren, traurig, einsam und verängstigt wie an jenem Spätwinterabend im Jahr 1994, an dem ich Rachel meine Geschichte erzählt habe.

Wochen zuvor waren ein Freund und ich nach einem Cafébesuch zu Fuß auf dem Heimweg, als vier knapp 20-jährige Typen aus einem Auto gesprungen kamen. Einer von ihnen rannte auf meinen Freund zu, rammte ihm den Fuß ins Gesicht und brach ihm die Nase. Mir schlug einer der ­anderen so mit der Faust auf die Schläfe, dass ich das Bewusstsein verlor. Daraufhin malträtierten alle vier meinen Kopf mit Fußtritten, brachen mir dabei den Kiefer und schlugen mir ein paar Zähne aus. Als ich zwischendurch kurz zu mir kam, schrie ich so laut, dass sie wegrannten. Dann kamen Polizeibeamte und brachten meinen Freund und mich ins Krankenhaus. Die folgenden Wochen verbrachte ich wie in einem dichten Nebel.

Zu der Zeit hatte meine Mutter Lungenkrebs im Endstadium. Daher flog ich eine Woche nach dem Angriff nach Tucson, um sie ein letztes Mal zu besuchen. Einige Tage lang saß ich an ihrem Bett. Und als es für mich an der Zeit war, nach Hause zurückzufliegen, druckste ich ein paar Abschiedsworte heraus. Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, rauchte eine Zigarette und schaute mich nur an, wie ich schluchzend neben ihr hockte, ihr versicherte, alles wäre gut, mich bei ihr entschuldigte, weil ich immer so sauer auf sie gewesen war, und ihr sagte, dass ich sie liebhatte. Sie selbst war so daneben, dass sie kein einziges Wort rausbrachte. Vielleicht wollte sie auch nichts sagen. Mein Stiefvater sah sich das alles stumm mit an. Nach einiger Zeit wurde die Stille im Zimmer unerträglich. Also nahm ich meinen Koffer und machte mich auf zum Flughafen.

Wieder zu Hause, wurde ich von meinen Emotionen überwältigt. Ich war zuvor schon monatelang ziemlich niedergeschlagen gewesen, weil sich ein Mensch, den ich von Herzen liebte, von mir getrennt hatte. Nun aber, nach dem Überfall auf der Straße und dem kühlen Abschied meiner Mutter, ging bei mir gar nichts mehr. Ich wurde von einer derart mächtigen Welle aus Trauer, Zorn und Panik ergriffen, dass nicht einmal meine engsten Freund*innen mehr mit mir klarkamen. Bei der Arbeit (ich war zu der Zeit Marketingchefin eines Zusammenschlusses kommunaler Kliniken) fiel ich mit derart unangemessenen und für mich auch völlig uncharakteristisch feindseligen Kommentaren auf, dass ich um ein Haar die Kündigung bekommen hätte.

Vor dem Trauma war es mir schlecht gegangen, ja, sicher; aber ich habe trotzdem immer noch funktioniert. Doch jetzt, zwei Monate später, konnte ich mich nicht einmal mehr genügend konzentrieren, um auch nur einen ganzen Absatz zu lesen oder eine Telefonnummer zu wählen. Meine Emotionen liefen Amok, und ich wusste auch genau, wie »verrückt« ich rüberkommen musste.

Neulich habe ich Rachel – wir sind immer noch befreundet – gefragt, ob sie mich damals für irre gehalten hat.

»Na ja, du warst schon ziemlich durcheinander«, antwortete sie. Wir saßen mit Schüler*innen von mir zusammen, die begeistert waren, die Frau kennenlernen zu dürfen, von der ich die Techniken erlernt hatte, denen ich mein Leben verdankte.

»Du meinst also irgendwie … gestresst?«, hakte ich nach.

»Ich meine: völlig durchgeknallt«, korrigierte sie mich. Alle lachten. Niemand konnte sich mich in einem solchen Zustand vorstellen. Doch damals war ich absolut verzweifelt. Ich brauchte dringend Hilfe, fand aber keine.

Mein damaliger Hausarzt versicherte mir, dass mein Hirnscan keinerlei Auffälligkeiten aufwies, und verschrieb mir Xanax, ein Benzodiazepin. Meine Therapeutin meinte, ich müsse noch mehr über meine Probleme sprechen, und verordnete mir anstelle von einem wöchentlichen Termin bei ihr derer drei.

Beide hatten keine Ahnung (und es wusste damals überhaupt noch niemand), dass Gesprächstherapie und pharmazeutische Angstlöser meine Symptome aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lindern, sondern eher noch verschlimmern würden.

Und sie wurden schlimmer. Sehrviel schlimmer. Meine Traumasymptome wirkten wie aus dem Lehrbuch der Psychologie abgeschrieben – eines legte sich auf das andere: der Überfall, die Trennung … bis zurück zu den Misshandlungen und der Vernachlässigung, die ich als Kind erlitten hatte.

Wie auch viele andere, die eine schwere Kindheit hatten, meinte ich, alles, was mir widerfahren war, »im Griff« zu haben, und hielt mich für abgebrüht und ausgesprochen »tough«. Aber die vielen so rasch aufeinanderfolgenden Traumata führten das wackelige Kartenhaus ad absurdum, in das ich die Wunden meiner Kindheit verbannt hatte. Nun war der Geist aus der Flasche. Und nachdem sich die Symptome meiner kindlichen Traumatisierung erst einmal breitgemacht hatten, konnte ich ihnen keinen Einhalt mehr gebieten.

Was versteht man eigentlich unter einer PTBS in der Kindheit?

Als in der Kindheit erlittene PTBS wird umgangssprachlich eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet (auch K-PTBS genannt). Sie weist eine Reihe von Symptomen auf, die auf heftigen chronischen Stress zurückgehen, dem Betroffene gewöhnlich (aber nicht immer) in der Kindheit ausgesetzt waren. (Das erkläre ich gleich in Kapitel 1 noch etwas näher.)

In der Familie, in der ich aufgewachsen bin, hatten Alkoholismus und andere Abhängigkeiten sowie all die Probleme regiert, die in der Regel damit einhergehen – Gewalt, Chaos, Armut, Scheidung, mangelnde Sicherheit und Betreuung sowie Scham … wahnsinnig viel Scham.

Als ich neun Jahre alt war, ging meine Mutter eine zweite Ehe ein und zog mit meinen Geschwistern und mir nach Arizona. Mein Vater blieb in Kalifornien, wo wir ihn (vorausgesetzt, unser VW-Bus funktionierte) zweimal im Jahr besuchten. Als ich 13 Jahre alt war, wurde bei ihm Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert – eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems –, und zwei Jahre später starb er. In den entscheidenden Jahren, in denen ich dringend eine Vaterfigur gebraucht hätte, war er also nicht mehr da. Und ich hatte auch sonst kaum Unterstützung von Erwachsenen. Also fing ich mit Jungs an und blieb oft die ganze Nacht weg – immer in der Hoffnung, eine dieser »Freundschaften plus« könnte sich vielleicht doch als wahre Liebe erweisen.

Dieses Muster – eine vorschnelle Bindung einzugehen und übers Mindesthaltbarkeitsdatum der Beziehung hinaus an ihr festzuhalten – behielt ich bis Mitte, Ende 20 bei. Begleitet wurde es von einem überreichlichen Zuviel – zu viel Arbeit und (unterstützt von Kaffee und Unmengen Zigaretten) zu viel Stress –, mit dem ich mir den Eindruck vermitteln wollte, genug zu tun und zu sein, um mich gut fühlen zu dürfen.

Als meine Heilung begann, war ich (im Laufe von 17 Jahren) bereits bei elf verschiedenen Therapeut*innen gewesen. Und natürlich wurde bei allen viel über meine entsetzliche Kindheit gesprochen. Sehr selten dagegen war von meinem Verhalten beziehungsweise meinem Zorn und meinen unüberlegten Entscheidungen in Liebesdingen die Rede, die nur dazu führten, dass ich wieder und wieder verlassen wurde.

Dabei gab ich mir alle Mühe und sprach ganz offen über mein Leben – immer in der Hoffnung, dass der Therapeut oder die Therapeutin schon wüsste, was bei mir falschlief, und mir helfen könnte, mein Leben wieder in die Spur zu bringen.

Wenn dich jemand wirklich versteht, spürst du es. Denn die dadurch entstehende Erleichterung setzt auf der Stelle den Heilungsprozess in Gang. Dieses Gefühl hätte ich so dringend gebraucht. Aber in der Therapie bekam ich es nie. Und mir ging es auch nie besser, nicht einmal ein kleines bisschen. Warum das so war, habe ich erst sehr viel später verstanden.

Wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Gesprächstherapien die Symptome zahlreicher in frühen Jahren traumatisierter Menschen neu triggern können. Bei den vielen von uns, die die Erfahrung gemacht haben, dass allein das Gespräch über die frühen Vorkommnisse den bereits anlaufenden Heilungsprozess unterbrach (oder gar rückgängig machte), war das mit Sicherheit der Fall. Dr. Bessel van der Kolk erklärt in seinem bahnbrechenden Werk Das Trauma in dir, dass es in der Psychologie und Psychotherapie seit Langem als selbstverständlich gelte, dass das Sprechen über schmerzhafte Gefühle ausreiche, um diese zu verarbeiten. Er stellt jedoch fest, dass genau das bei traumatischen Erfahrungen oft nicht funktioniere und Traumata diesen Prozess blockieren würden: Das Erlebte sei so tief im emotionalen und körperlichen Gedächtnis verankert, dass reines Verstehen nicht genüge. Selbst wenn man begreife, was passiert sei, und darüber spreche, bleibe das Trauma auf einer tieferen Ebene wirksam.1

Trotzdem akzeptieren Krankenversicherungen in den USA oft gerade einmal zehn Sitzungen Gesprächstherapie; sollte sich der Zustand der Patient*innen in der Zeit nicht verbessern (wie es bei traumatisierten Personen in der Regel der Fall ist), werden sie auf Psychopharmaka gesetzt. In Deutschland sieht es nicht viel besser aus: Abgesehen von den bürokratischen Hürden, die Betroffene bewältigen müssen, um eine Therapie zu beantragen, ist es schwierig, einen Therapieplatz zu bekommen, da viele Therapeutinnen und Therapeuten langfristig ausgebucht sind. Wartezeiten von mehreren Monaten bis Jahren sind keine Seltenheit.

Dabei muss man wissen: Auch Gespräche über das erlittene Trauma können das Nervensystem der Betroffenen in einen dysregulierten Zustand versetzen. Dann geraten ihre Gehirnwellen und Körperfunktionen aus dem Gleichgewicht, sie sind wie benebelt, emotional überfordert und kaum mehr zur Verarbeitung von Informationen fähig, um nur einige mögliche Folgen zu nennen. Deshalb kann ein erheblicher Prozentsatz der Menschen, die als Kind traumatisiert wurden, nicht wirklich von einer Therapie profitieren (wenn sie überhaupt eine bewilligt bekommen) – oder jedenfalls nicht hinreichend.

Und was das Ganze noch schlimmer macht: Die Medikamente, die Traumatisierten verschrieben werden, können die natürliche Fähigkeit zur Neuregulation so hemmen, dass sie in einer nichtfokussierten, hyperemotionalen »Schleife« verharren und immer und immer wieder in schmerzhafte Erinnerungen oder eine düstere (beziehungsweise medikamentös gedämpfte) Stimmung verfallen.

Mir erging es nicht viel anders. Je mehr ich über meine Gefühle sprach, desto elender fühlte ich mich. Und je mehr Pillen ich schluckte, um mich zu beruhigen, desto aufgeregter und nervöser wurde ich.

In den entsetzlichen Monaten nach dem Überfall rief ich oft einen Freund oder eine Freundin an und spulte tranceartig halbstündige Monologe ab, bis mir plötzlich aufging, dass ich nicht einmal mehr wusste, wen ich überhaupt am Telefon hatte. Ich konnte kaum mehr schlafen und hatte Angst, den Verstand zu verlieren, in der Klapse oder auf der Straße zu landen, und dass jede eventuelle Hilfe zu spät käme und mirohnehin nicht helfen konnte. Das war der Moment, in dem mir aufging, dass ich so nicht weitermachen konnte. Dass ich anders war als andere – nämlich unheilbar.

Und da – endlich – bekam ich wirkliche Hilfe.

Die tägliche Übung

Was mir Rachel in den frühen Morgenstunden jenes Spätwinterabends im Jahr 1994 zeigte – eine bestimmte Form des Schreibens (eine Art Gebet)* –, verschaffte mir sofort emotionale Erleichterung. Durch dieses spezielle ­Schreiben werden die angstvollen und missgünstigen Gedanken, die in unseren traumatisierten Köpfen umherrasen wie Hamster in ihren Lauf­rädern, zum Ausdruck gebracht (beziehungsweise produktiv »rausgelassen«), um sie dann freizusetzen oder (je nach Glaubensrichtung) Gott zu überantworten.

Bei meinem allerersten Kontakt mit dem Format hörte es sich dermaßen simpel an, dass ich mir nicht den geringsten Erfolg davon versprach. Dann aber fuhr ich nach Hause und schrieb mehr als eine Stunde lang, bis ich schließlich einschlief. Beim Aufwachen konnte ich es kaum erwarten, endlich weiterschreiben zu dürfen. Es fühlte sich einfach großartig an und zähmte mein chaotisches Denken praktisch auf der Stelle. Auf Rachels Rat hin lernte ich zu meditieren (um meinen Geist zu beruhigen, wie sie sagte). Und so schrieb ich zweimal am Tag – morgens und abends – und meditierte jeweils gleich im Anschluss daran.

Depressiv war ich anfänglich zwar trotzdem noch, doch wann immer ich schrieb und meditierte, trat an die Stelle dieser Niedergeschlagenheit ein angenehm ruhiges Gefühl. Bald legte sich mein Trübsinn so, dass selbst die Menschen in meinem Umfeld die Veränderung bemerkten. Nach zwei Wochen hatten sich Kurzzeitgedächtnis und Konzentrationsfähigkeit, die ich unmittelbar nach dem Überfall verloren hatte, wieder vollständig regeneriert, und ich empfand eine Klarheit, Erdung und einen Optimismus, die ich zuvor noch nie so gekannt hatte. Mein ganzes Leben machte einen Riesensatz vorwärts.

Irgendwann fasste ich die Techniken (das Schreiben und Meditieren) unter der Bezeichnung »tägliche Übung« zusammen; diese bildet inzwischen die Grundlage meiner Heilmethode, die der Neuregulierung des Nervensystems dient und zu jener Klarheit und Einsicht führt, die zur Gesundung erforderlich sind. (Wie es genau geht, erfährst du in Kapitel 3.)

Vielleicht begegnest du meinen Behauptungen mit Skepsis, und das finde ich auch völlig in Ordnung. Als Rachel anbot, mir ihre Methode beizubringen, habe ich auch erst einmal so etwas gedacht wie SchonwiedersoeinSch…-Selbsthilfezinnober.

Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon oft meine ganze Hoffnung auf irgendwelche Bücher, spirituellen Gurus und Selbsthilfeprogramme gesetzt. Doch nach einer Weile hat sich dann immer ein vage peinliches Gefühl eingestellt, das sich nicht ignorieren ließ und dem sich über kurz oder lang eine bittere Enttäuschung anschloss.

Bei der täglichen Übung war das nie der Fall. Und auch jetzt, 30 Jahre später, erweisen sich die Techniken und Grundsätze, die ich mir damals zu eigen gemacht habe, immer wieder als ausgesprochen stabil und absolut verlässlich.

Die Heilung setzt ein

Auf Rachels Rat hin hielt ich an meiner täglichen Übung fest und besuchte zusätzlich 12-Schritte-Programme für Angehörige von Alkoholikern. Schon bald betreute ich Frauen, die die Techniken ebenfalls erlernen wollten. Das förderte sowohl meine Heilung als auch meine rhetorischen und didaktischen Fähigkeiten.

Alles in allem begann ich zwar zu gesunden, doch einige meiner dysfunktionalen Verhaltensweisen ließen sich nicht so schnell abstellen. Ständig fühlte ich mich von anderen Menschen isoliert; ich war meistens Single, hatte aber auch eine Reihe oberflächlicher Beziehungen mit untauglichen, unerreichbaren oder desinteressierten Männern, die zu nichts als Ärger führten. In diese Kategorie fiel auch meine kurze erste Ehe, aus der allerdings – glücklicherweise – meine zwei geliebten Söhne hervorgingen.

Dass ich eine geschiedene Mutter war und als Selbstständige kein nennenswertes finanzielles Polster besaß, verschaffte mir eine klarere Sicht auf mein Problem: Beim besten Willen durfte ich mir mein Leben nicht länger von problematischen Beziehungen diktieren lassen. Ich hatte zwar keine Ahnung, was ich tun sollte, und wusste auch nicht, wie ein gesundes Leben eigentlich genau aussehen konnte, aber es blieb mir keine Wahl: Ich musste einfach einen Weg finden.

In meiner 12-Schritte-Gruppe definierten wir unser Problem als »Alkoholismus bei einem Freund, einer Freundin oder einer verwandten Person«. Zweifellos gab es in meinem Leben eine ganze Reihe solcher Leute, und davon blieb ich auch nicht unberührt, ganz klar. Doch die meisten von ihnen waren schon tot oder wir standen nicht mehr in Kontakt, aber mein Problem war geblieben.

In meinem beruflichen und spirituellen Umfeld traf ich auf Menschen, die mir zur Seite standen. Von ihnen wusste ich, dass sie schon seit Jahren ernsthaft an ihrem moralischen Wandel arbeiteten. Doch weil mich diese Vorstellung einschüchterte, hatte ich die Betreffenden als viel zu streng und kritisch abgetan, als dass ich ihnen dabei vertrauen könnte, mir zu helfen.

Inzwischen war meine Situation allerdings so schwierig geworden, dass ich bereit war, mich leiten zu lassen. Ich las weiterhin viel und stellte mich in den Dienst meiner Mitmenschen, vor allem aber übernahm ich die Verantwortung für meine selbstschädigenden Verhaltensmuster. Mit mir stimmte irgendetwas nicht. Instinktiv wurde mir klar: Sobald ich herausfinden würde, was es war, und mich den Tatsachen stellte, würde ich vollkommen heilen können. So kam es zu einem weiteren Fortschritt in meinem Leben.

Den Terminus komplexe PTBS las ich zum ersten Mal in Pete Walkers Grundlagenwerk Complex PTSD: From Surviving to Thriving, in dem er die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (K-PTBS) praktisch und allgemeinverständlich erklärt. Weitere Informationen über die Rolle der neurologischen Dysregulation als treibende Kraft hinter den Symptomen der PTBS fand ich auch im bereits erwähnten Buch von Dr. Bessel van der Kolk.

In den folgenden Kapiteln gehe ich näher auf die Auswirkungen der K-PTBS ein, hier jedoch schon einmal ein erster Hinweis: Bei Kindern kann eine frühe Traumatisierung Veränderungen im Hirn auslösen, die sich selbst im Erwachsenenalter noch störend auf Hirnwellen, Emotionen, Körpersysteme und Denkprozesse auswirken können. Denn alles, was einen traumatisierten Menschen stresst, kann bei ihm eine Dysregulation triggern. (Mit dem Wort »Trigger« werden in diesem Buch alle Stimuli bezeichnet, die eine Dysregulation aktivieren.) Und diese Dysregulation fördert die soziale Isolation sowie viele andere Symptome und gesundheitliche Probleme, deren möglicher Zusammenhang mit einer Traumatisierung erst seit Kurzem bekannt ist.

IchneigezurDysregulation, wurde mir klar, als ich überlegte, wie ich war, bevor ich die tägliche Übung kennenlernte – oder auch noch in Zeiten, in denen ich sie mal ausgelassen hatte. Schließlich begriff ich, warum ich unter Stress manchmal ausrastete, nicht mehr bei der Sache bleiben oder mich auf meine feinmotorischen Fähigkeiten verlassen konnte, sobald sich ein neues Trauma anbahnte – und sei es auch noch so klein. Dafür hatte ich jetzt eine Bezeichnung und wusste: Das alles hatte nie »nur an mir« gelegen.

Die meisten Menschen mit einer chronisch stressigen Kindheit neigen zur Dysregulation. Bei mir hat das im Nachgang zu einer ganzen Kaskade traumabedingter Symptome geführt, die ich mein halbes Leben lang für persönliches Versagen gehalten habe. Weil ich der Meinung war, ich wäre einfach viel zu erbärmlich, faul, leichtsinnig oder kaputt, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Doch da hatte ich mich (jedenfalls zu einem großen Teil) getäuscht. Denn in Wahrheit litt ich an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.

Ich realisierte, dass mir nichts, was in der Therapie geschehen war – also dass sie die sogenannten Fachleute einzig auf meine Vergangenheit konzentriert hatten –, einen größeren Nutzen gebracht hatte. Denn mein Problem und damit auch meine Heilungschancen lagen in mir selbst, und zwar in derGegenwart.

Endlich hatte ich das richtige Heilmittel entdeckt – die tägliche Übung zur Regulation des Nervensystems als Grundlage meines Genesungsprozesses sowie die Bereitschaft, alle traumabedingten Verhaltensweisen abzulegen, die mich bis dato immer wieder in die Dysregulation zurückgetrieben hatten.

Ich konnte es kaum erwarten, diese Erkenntnis an alle traumatisierten Menschen weiterzugeben, die ich kannte: »Man nennt es Dysregulation. Es ist ein neurologisches Problem. Und ganz und gar nicht unser Fehler!«

Ich erzähle dir das deshalb so detailliert, weil ich mir wünsche, dass dir das genauso klar wird, wie es mir heute ist: Bei vielen unserer Probleme handelt es sich einfach um ganz normale Symptome, die die meisten Leute haben, die mit Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung aufgewachsen sind. Es ist also kein Wunder, wenn es dir schwerfällt, dich zu konzentrieren, dich in Gruppen wohlzufühlen oder pünktlich zu sein. Und es ist auch nicht überraschend, dass du dich mit vielem so schwertust – bei deiner Familiengeschichte und all dem, was dir deine Eltern nicht beigebracht haben.

In dem Moment, in dem ich begriff, dass ich eine K-PTBS habe, stand ich gerade mit Pete Walkers Buch in der Hand in unserem Schlafzimmer. Laut kreischend – halb lachend, halb weinend – verließ ich den Raum und begab mich auf die Suche nach meinem Mann (meinem jetzigen, einfach nur wunderbaren Mann). Die Scham, die ich mein ganzes Leben lang empfunden hatte, begann wie ein schwerer Mantel von mir abzufallen.

Allein mithilfe meiner beiden Techniken – des Schreibens und Meditierens – hatte ich die Neuregulation in den Griff bekommen. Und nachdem mir das Wesen der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung klar geworden war, konnte ich mir auch schnell weitere Grundsätze sowie Handlungsschritte aneignen, die mir die Transformation jener Verhaltensmuster ermöglichten, die mich noch zurückhielten.

Die Geburt der Crappy Childhood Fairy

Meine Methode der Heilung von Traumasymptomen hat sich im Laufe von mehr als 30 Jahren entwickelt (und bis auf den heutigen Tag verfeinere ich sie immer weiter). Mit ihrer Hilfe habe ich erst mich geheilt, dann habe ich begonnen, die Techniken weiterzuvermitteln, unter vier Augen oder in Gruppen bei mir im Wohnzimmer. 2016 hatte ich so viele Anfragen, dass ich der Effektivität wegen mein Blog Crappy Childhood Fairy ins Leben rief, die »gute Fee jeder miesen Kindheit«. An der Stelle konnte ich eine Anleitung schreiben und alle Hilfesuchenden auf die entsprechende Internetseite verweisen. Da ich jedoch immer noch zahllose Fragen und Anfragen erhielt, erstellte ich ein Video für mein Blog, in dem ich die Techniken im Einzelnen erläuterte, und lud es auch auf Youtube hoch. In dem Maße, in dem sich meine Methode weiterentwickelte, kamen immer mehr Posts und Videos hinzu. Zu meiner Überraschung wurden die Abonnentenzahlen des Blogs bald von denen der Videos in den Schatten gestellt. Die Filme zogen Interessenten von überall auf der Welt an. Bald baute ich die tägliche Übung zu einem Onlinekurs aus. Hinzu kamen weitere Kurse und später auch ein Membership-Programm. Irgendwann stellte ich dann ein Team von Mitarbeiter*innen zusammen, die mich bei der Bewältigung der ganzen Arbeit unterstützten.

Bis zur Pandemie 2020 widmete ich der Fairy meine gesamte Freizeit. Doch im Lockdown gab ich meine eigentliche Berufstätigkeit auf (zu der Zeit betrieb ich eine Firma für Videoproduktionen) und engagierte mich Vollzeit für mein Internet-Baby. Das heißt, wir produzierten Youtube-Videos, entwickelten Kurs- sowie Coachingprogramme und Webinare. Später boten wir auch Live-Workshops, Retreats und einen Podcast an.

Heute erreichen meine Botschaften und praxisorientierten, handhabbaren Heilmethoden Millionen von Menschen, wo immer sie auch leben mögen und unabhängig davon, ob sie Zugang zu professioneller Hilfe haben oder nicht.

Meine Mission ist die Veränderung der Traumaheilung, weg von der Vorstellung, Antworten hätten nur sogenannte Expert*innen und wir ­Betroffene wären von ihnen abhängig, hin zu der Erkenntnis, dass wir die Herrscher*innen über unsere Heilung sind. Was ich damit meine, ist: Du bist die Souveränin, der Souverän deines Schicksals und triffst alle damit zusammenhängenden Entscheidungen. Du identifizierst deine Symptome, suchst dir Expertenrat (wenn du magst) und arbeitest 24/7 an der Transformation deines Lebens. Diesen Ansatz halte ich für den deutlich besseren und wirksameren Zugang, wenn es um Heilung geht.

Bisherige Therapien, die du ausprobiert hast, haben nicht funktioniert? Bitte gib dennoch nicht auf, denn ich zeige dir eine neue Methode, die auch dir helfen kann. Wenn es dir gelingt, auch nur ein oder zwei Traumasymptome zu lindern, könnte allein das schon genügen, um die Probleme zu beheben, die dein bisheriges Leben belastet haben, und alles zum Besseren zu wenden.

Meine Aufgabe sehe ich darin, eine größere Vision dessen zu teilen, was für Menschen wie dich und mich möglich ist. Außerdem möchte ich möglichst viele Menschen bei ihrer Heilung unterstützen und ihnen helfen, ein ebenso freud- wie sinnvolles Leben zu führen. Die Heilung von einem Trauma ist das Bedeutendste, was wir nicht nur für uns selbst tun, sondern auch zur Verbesserung der Welt beitragen können.

Ich möchte dich einladen, dir etwas vorzustellen. Nämlich die Möglichkeit, du könntest besser, schneller und umfassender genesen, als du es dir je hättest erhoffen können. Und stell dir bitte weiterhin vor, du wärst nicht nur prinzipiell zu Veränderungen in der Lage, sondern könntest dich sogar selbst heilen. Dass und wie das alles geht, zeige ich dir in diesem Buch.

Die Kapitel sind in der Reihenfolge angeordnet, die notwendig ist, um jeden Schritt meiner Methode zu erlernen und zu verinnerlichen. Da jede Lektion auch eine Vorbereitung auf die nächste ist, empfehle ich dir, dass du dich an die vorgegebene Reihenfolge der Kapitel hältst. Zudem wirst du auf allerlei Checklisten, Fragen, Arbeitsblätter und Aufgaben stoßen, die dir bei der Integration der jeweiligen Lektion helfen können.

Als Erstes erfährst du Grundlegendes über die K-PTBS und lernst zu erkennen, wie sich dein Trauma auf dich ausgewirkt hat und es immer noch tut. Auch erkläre ich dir, warum das Schreiben über negative Gedanken in der täglichen Übung (mit der wir uns in Kapitel 3 befassen) hilfreicher sein kann als jedes Gespräch darüber.

Zudem werde ich dich über einige weit verbreitete Behandlungsmethoden informieren, die du vielleicht schon ausprobiert hast (oder denen du unter Umständen irgendwann später mal eine Chance geben willst), so zum Beispiel die traditionellen kognitiven oder aber auch körperbasierten Methoden. In diesem Zusammenhang werde ich dir erklären, was sie mit meinem Ansatz gemein haben und inwiefern sie sich von ihm unterscheiden.

Ausführlich werden wir auch die neurologische Dysregulation behandeln – wie sie sich anfühlt, wodurch sie getriggert wird und wie du dich schnellstmöglich neu regulieren kannst. Auch gehe ich einige der üblichen Erscheinungsformen von emotionalen Dysregulationen mit dir durch, die Beziehungen ruinieren können, wenn sie nicht behandelt werden; und ich zeige dir, wie du besonders intensive Reaktionen unter Kontrolle bekommst und Konflikte beilegen kannst.

Ich werde dir auch helfen zu erkennen, welche Rolle die Dysregulation dabei gespielt hat, dass du dich einen Großteil deines Lebens von anderen abgeschnitten gefühlt hast. Und auch, wie du wieder lernen kannst, die engen und erfüllenden Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die du dir wünschst und die du zweifellos verdienst. Eine Dysregulation verbirgt sich auch hinter den selbstschädigenden Verhaltensweisen, die so viele traumatisierte Menschen an den Tag legen, und ich helfe dir, auch sie abzulegen.

Zu guter Letzt zeige ich dir, wie du die einzigartigen Gaben erkennst, die es dir ermöglichen, ganz du selbst zu werden. Denn das ist das eigentliche Ziel des gesamten Heilungsprozesses.

Was du für die Arbeit alles brauchst

EIN TAGEBUCH BEZIEHUNGSWEISE JOURNAL, das du immer zur Hand hast, wenn du dich an die Arbeit mit diesem Buch begibst, und in dem du alles festhältst, was du gelernt hast und in deinen Alltag integrieren möchtest. Sieh aber bitte zu, dass niemand außer dir Zugang zu deinen Aufzeichnungen hat! In allen Kapiteln des Buches werde ich dir Fragen stellen oder kleine Aufgaben geben, die dich dazu einladen, über die jeweiligen Inhalte nachzudenken und sie in deinem Alltag praktisch anzuwenden.

EINEN SCHREIBBLOCK für deine beiden täglichen Schreibübungen. Nach jedem Durchgang zerreißt oder schredderst du die beschriebenen Seiten und entsorgst sie. Auf die Qualität des Papiers kommt es also nicht an.

EINEN STIFT

Auf re-regulated.com findest du englischsprachige Zusatzmaterialien, die du bei Bedarf herunterladen und ausdrucken kannst.

Wie alle Menschen hast auch du es verdient, glücklich(er) zu werden und deinen alten Mantel aus Scham und Pessimismus abzulegen. Dafür brauchst du nur den ersten Schritt zu machen und all das zu werden, was deiner Bestimmung entspricht. Denn du hast der Welt so viel zu geben, und dafür braucht sie dich auch dringend.

Wahrscheinlich weißt du noch gar nicht, wie deine Heilung genau ablaufen wird, aber das ist auch gar nicht nötig. Fang einfach nur an. Denn eines kann ich dir versichern: Heilung ist möglich.

Und jetzt lass uns loslegen.

* Die tägliche Übung ist nicht Teil des 12-Punkte-Programms, geht aber darauf zurück. Die Schreibtechnik sowie den Vorschlag, sich im Anschluss daran der Transzendentalen Meditation zuzuwenden, verdankte Rachel einer gewissen Sylvia D., einem langjährigen Mitglied der Anonymen Alkoholiker, die ihr diese Praxis Anfang der 1990er-Jahre unter der Bezeichnung »tägliche Schritte« nahebrachte. Bei den Anonymen Alkoholikern praktizieren nur die wenigsten das Programm auf diese Weise, insgesamt sind es aber doch einige Hundert, vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Über das 12-Punkte-Programm findest du nähere Informationen sowohl im dritten Kapitel dieses Buches als auch im Anhang.

Kapitel 1Die Wahrheit über Kindheitstraumata

Inzwischen dürftest du Hoffnung geschöpft haben und dich freuen, dass du dich endlich auf den Weg machen kannst. Heilung ist tatsächlich möglich, ganz egal, was du schon alles ausprobiert hast oder wie oft du bereits enttäuscht wurdest. Der Fortschritt beginnt in dem Moment, in dem du begreifst, was eine komplexe PTBS eigentlich ist, und die Rolle der Dysregulation verstehst, die hinter so vielen ihrer Symptome steht.

Wahrscheinlich vermutest oder weißt du sogar schon, dass die traumatischen Erfahrungen, die du als Kind gemacht hast, dich auch heute noch negativ beeinflussen. Vielleicht fragst du dich aber, was davon einfach Teil deiner Persönlichkeit und was tatsächlich der K-PTBS zuzurechnen ist.

Dafür, dass eine frühe Traumatisierung, insbesondere durch Misshandlung, Missbrauch und/oder Vernachlässigung, langfristige Schäden anrichtet, gibt es mittlerweile einen ganzen Berg von Beweisen. In der klinischen Literatur aber finden sich weder ein klar umrissenes Set von Symp­tomen noch allseits anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungspläne. Folglich leiden zwar Hunderte von Millionen Menschen weltweit unter einer K-PTBS, die aber bei den allermeisten nie formell diagnostiziert wurde. In diesem Kapitel mache ich dich mit den häufigsten Symptomen der K-PTBS und allem bekannt, was wir über sie wissen. Ganz ohne Theorie geht das leider nicht. Damit du aber wirklich verstehst – und zwar sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen –, dass die Symptome, die du hast, ganz normal sind und keineswegs dein Fehler, muss ich mich schon ein wenig auf das Gebiet der Traumaforschung vorwagen.

Warum werden nicht mehr Menschen mit K-PTBS diagnostiziert?

Im Diagnostic Statistical Manual (DSM) der Vereinigten Staaten taucht die Diagnose K-PTBS noch nicht auf; allerdings wurde sie kürzlich in die Neuauflage der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen – verbunden mit eindringlichen Forderungen, das klinische Studium der Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten zu intensivieren.

Nach Angaben der NationalInstitutesofHealth (NIH) sind zwischen einem und acht Prozent der Weltbevölkerung von K-PTBS betroffen.2In dieser nicht unerheblichen Spanne spiegeln sich Unstimmigkeiten in der Diagnostik und mangelnde Qualität der Patientenbeurteilung wider. Nur wenige Kliniker*innen verfügen über genügend Kenntnis der Symptome einer K-PTBS, von vielversprechenden Behandlungsmöglichkeiten ganz zu schweigen.

Hinzu kommt, dass unter Pflegedienstleister*innen und anderen Expert*innen Uneinigkeit (oder auch Unverständnis) darüber besteht, inwiefern sich die komplexe von der »normalen« PTBS unterscheidet – weshalb es oft zu Fehldiagnosen kommt (wozu auch falsche Einschätzungen der Symptome gehören wie zum Beispiel »alles bloß Stress« oder »spielt sich nur im Kopf ab«).

Und selbst bei Fachkräften, die wissen, was eine K-PTBS ist, besteht oft eine diagnostische Unkenntnis darüber, wie sie sich von Krankheitsbildern wie Borderline-Persönlichkeitsstörung, ADHS, Angststörungen oder Depressionen unterscheidet, deren Symptome zwar an die der K-PTBS erinnern, aber eben doch nicht mit ihr identisch sind.

Aus einer 2019 durchgeführten Studie geht hervor, dass das Verständnis der jeweiligen Diagnosen – nicht zuletzt auch im Hinblick auf mögliche Therapien – in der Ärzt*innenschaft derart auseinandergeht, dass sie praktisch sinnlos sind,3 und dass ferner die meisten Diagnosen die Rolle der Traumatisierung als Ursache der Symptome schmählich verdecken.

Das alles sollte uns aber nicht von unserer Gesundung abhalten. Wir sind nämlich weder zur Benennung unserer Probleme noch für den Einstieg in ein besseres Leben auf die Zustimmung von Expert*innen angewiesen. Denn die Heilmethode, die ich dir in diesem Buch nahebringen möchte, funktioniert nicht nur mit oder ohne Diagnose, sondern auch mit oder ohne professionelle Unterstützung. Statt auf die Ursachen eines Traumas (die Dinge, die dir einst angetan wurden) konzentriert sich mein Ansatz eher auf die Symptome, die dir momentan zu schaffen machen. Sobald du lernst, diese Symptome wahrzunehmen und mit ihnen klarzukommen, werden echte Veränderungen möglich – und damit gerät auch ein glücklicheres, krisenfesteres Leben in größerer Verbundenheit in Sichtweite.

Wodurch unterscheiden sich PTBS, komplexe PTBS (K-PTBS) und kindliche Traumatisierung?

Die klinische Diagnose PTBS beziehungsweise posttraumatische Belastungsstörung findet gewöhnlich auf Patient*innen Anwendung, die als Erwachsene traumatische Erfahrungen machen – zum Beispiel im Krieg oder als Folge eines schweren Verkehrsunfalls. Zu den Symptomen, die sich daraufhin einstellen können, gehören Flashbacks, Angststörungen, Depressionen, Hypervigilanz (erhöhte Wachheit beziehungsweise Wachsamkeit), Schlafstörungen, persönlicher Rückzug oder gelegentliche emotionale Ausbrüche.