Dem Affen in die Seele gepisst - Joerg K. Sommermeyer - E-Book

Dem Affen in die Seele gepisst E-Book

Joerg K. Sommermeyer

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Beschreibung

Sämtliche Texte entstanden in der Zeit von Januar 2006 bis April 2009 in Istanbul und auf den Kanarischen Inseln, wo der Autor während dieser Zeit mehrfach zwischen fünf Wochen und vier Monaten lebte sowie Sprachschulen besuchte, um seine Türkisch- und Spanischkenntnisse zu vertiefen. Gespiegelt werden seine spontanen Eindrücke und Reaktionen auf Landschaft, Kultur und Menschen, denen er begegnete. Dieses bunte Potpourri, einschließlich cineastischer Kritiken, bietet ein weitläufiges und zugleich dichtes Netz seiner vielfältiger Beziehungen.

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Über dieses Buch

Sämtliche Texte entstanden in der Zeit von Januar 2006 bis April 2009 in Istanbul und auf den Kanarischen Inseln, wo der Autor während dieser Zeit mehrfach zwischen fünf Wochen und vier Monaten lebte sowie Sprachschulen besuchte, um seine Türkisch- und Spanischkenntnisse zu vertiefen.

Gespiegelt werden seine spontanen Eindrücke und Reaktionen auf Landschaft, Kultur und Menschen, denen er begegnete.

Dieses bunte Potpourri, einschließlich cineastischer Kritiken, bietet ein weitläufiges und zugleich dichtes Netz seiner vielfältiger Beziehungen.

Der Autor

Joerg K. Sommermeyer (JS), geb. am 14.10.1947 in Brackenheim, Sohn des Physikers Kurt Hans Sommermeyer (1906-1969). Kindheit in Freiburg. Studierte Jura, Philosophie, Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft. Klassische Gitarre bei Viktor v. Hasselmann und Anton Stingl. Unterrichtete in den späten Sechzigern Gitarre am Kindergärtnerinnen- / Jugendleiterinnenseminar und in den Achtzigern Rechtsanwaltsgehilfinnen in spe an der Max-Weber-Schule in Freiburg. 1976 bis 2004 Rechtsanwalt in Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen. JS (Joerg Sommermeyer) lebt in Berlin und Lahnstein.

Orlando Syrg, Berlin, 10. September 2023

Inhalt

Über dieses Buch

Der Autor

Selam Istanbul

Dem Affen in die Seele gepisst – Kanarische Inseln

Die Morena

Küss’ mich, Sisyphus

Für Lili in Liebe

Selam Istanbul

Ein schwerer Abschied von Freiburg. Unmögliche Flugzeiten. Easy-Jet zeigte sich aber großzügig und beanstandet meinen 24,5 kg schweren Koffer nicht. Ich bin jetzt auf dem Weg nach Istanbul. Erst morgen früh, um 02:20 Uhr, werde ich auf dem neuen Flughafen Sabiha Gökçen eintreffen. Der liegt im Südosten der Stadt, 50 km vom Zentrum entfernt. Von dort muss ich zur Side Pansyon in der Utangac Sokak Nr. 20 im Stadtteil Cankuratan. Vor 11:00 Uhr vormittags darf ich jedoch nicht einchecken! Das kann heiter werden. Es macht keinen Sinn nachts ins Zentrum des Molochs zu fahren. Ich werde bis zum Morgengrauen warten, bis ich mich dorthin wage. A la bonne heure!

Bislang habe ich auf diesem Flughafen weder in der Informationsstelle noch im „Skyline Cafe“, welches immerhin während der ganzen Nacht auf ist, einen Menschen getroffen, der etwas anderes als türkisch gesprochen hätte. Ein ordinärer Tee kostet 4 YTL, etwa 2,5 Euro, und das ist das Billigste, das die haben. Etwa 20 Leute hängen hier ab. Manche reden, die Mehrzahl döst, nur ich schreibe. Es wird kalt. Ich muss niesen. „Daha soğuk“, sage ich zu der türkischen Familie gegenüber (ein älterer Herr, eine junge Dame und eine Herbstblume, schwer zu sagen, wie die zusammenpassen). Sie lächeln. Sie kamen mit derselben Maschine wie ich aus Basel, und ich denke mir, dass sie auf ihren Anschlussflug nach Anatolien warten. Sie studieren nämlich unentwegt die in der Nähe hängenden Anzeigetafeln. Mir fallen ganz langsam die Augen zu. Dösen, schreiben, sich langweilen. Es passiert hier nicht viel. Zwei Müllmänner räumen auf, einige Sprachfetzen dringen an mein Ohr, die Herbstblume summt. Sobald es hell wird, werde ich aufbrechen. Noch sieben Stunden bis ich ein Bett sehe.

Die beiden Türkinnen kommen von der Toilette zurück. Herbstblume hatte ihre Handtasche leichtsinnig neben mir liegen lassen. Das sah jetzt die Alte und murrte mit argwöhnischem Seitenblick auf mich. Herbstblume kontrolliert den Inhalt, zählt laut die einzelnen Gegenstände auf. Ein Glück, dass alles da ist. Ich hab’ keine Lust auf derlei Probleme! Duseln ...

„Geh nicht nach Sirkeci!“ Ich war gewarnt worden. Taxifahrer, Kellner, Zufallsbekannte, Murat, Evren, Hatice, Ercan in der Touristeninformation, alle hatten mir gesagt, dass ich beklaut, überfallen, massakriert würde. Aber nicht nur dieses Viertel hat bei den Einheimischen einen schlechten Ruf. Schenkte man allem, was man so hören mag, Glauben, verwandelte sich unversehens die alte Stadt in eine neue teuflische Phantasmagorie. Vor Furcht starr, verließe man kaum sein Hotelzimmer, wo man verbarrikadiert und bewaffnet die drohenden Angriffe erwartete. Aus Nase, Ohren, Maul tröpfelte paranoides Gift, die Haut verdunstete Angstschweiß, Pisse sauste aus dem Schwanz und gelbbraune Brocken schleuderte der krampfende Arsch. Vom anständigen, aber penetrant touristischen Side Hotel in der Utangaç Sokak Nr. 20 in Cankuratan (Sultanahmet), fast zwischen Hagia Sophia und Blauer Moschee, bin ich dennoch schon nach einer Woche in die Yerebatan Caddesi Nr. 47 ins Hotel Pamphylia umgezogen, gefährlich dicht an Sirkeci grenzend. Und mir ist nichts passiert. Bisher!

Nach meiner ersten Nacht in Istanbul auf dem Sabiha Gökçen Flughafen nahm ich im Morgengrauen irgendeinen Bus der Büyükşehir Beledisiye (GroßIstanbuler Stadtverwaltung). Jedes türkische Wort, welches ich kannte, hatte ich bitter notwendig. Mitnichten sprach hier jemand Deutsch oder Englisch oder irgendeine andere Sprache als Türkisch. Ich brabbelte den freundlichen Busfahrer „tarzanisch“ an, so nennen Türken entstelltes Dschungeltürkisch, welches des Türkischen nicht mächtige Yabanci (Fremde) absondern. Ich konnte verstehen, dass er nach Kadiköy fuhr und es von dort aus kein Problem sei, ins Herz der Stadt nach Taksim zu gelangen. Dort wollte ich dann ein Taxi zum Side Hotel in Cankuratan nehmen. Einen Fahrschein konnte ich nicht lösen, weil im Bus kein Ticket zu kaufen war. „Problem yok“ (kein Problem), meinte der Fahrer, „setz Dich“, ich fuhr also schwarz. Zwei Stunden später war ich in Kadiköy an der Iskele, der Schiffsanlegestelle, zugleich Busbahnhof, Dolmuş-Sammelstelle und Taxiplatz. „Price: 3 Lira“, nuschelte mein seine Hand ausstreckender Busfahrer; ein kleiner Nebenverdienst. Ich entschied mich spontan jetzt doch noch nicht in mein Hotel, wo ich erst ab 11:00 Uhr einchecken könnte, sondern zunächst mal nach Suadiye zu Ihsan und Steffi zu fahren. Meine Freunde wohnen dort in einer ruhigen bürgerlichen Umgebung, nahe der teuer-mondänen 5 km langen Bagdat Caddesi. Verschlafen, verwuschelt wurde ich von ihnen empfangen. Dann gab es zwischen allerlei Baumaterial, Holz, Werkzeug, Nägeln, nicht ausgepackten Kisten, Büchern, Malutensilien, Computerteilen, Kabeln, Lautsprechern Tee mit türkischem Frühstück (Tomaten, Oliven, Schafskäse, Weißbrot) am langen, massiven, mir aus Stuttgart vertrauten Holztisch. Während unserer lebhaften Unterhaltung stellte sich heraus, dass die beiden vor einem Jahr heimlich geheiratet hatten. In der Wohnung der „Flitterwöchner“ herrschte das blanke Chaos. Vor drei Wochen waren sie hier aus Ankara kommend eingezogen und schreinerten nun mit Ausnahme des Frühstückstisches ihr gesamtes Mobiliar selbst. Fast 50-jährig hatte sich Ihsan vor neun Monaten zu einem radikalen Bruch und Neuanfang entschlossen und nach 30 Jahren Lehrtätigkeit in Deutschland seine Dozentenstelle für klassische Gitarre an der Musikhochschule gekündigt, um in die Türkei zurückzukehren und in Istanbul als Künstler frei und unabhängig zu leben. Sobald Ihsans und Steffis Nest fertig ist, werden sie sich eine Verdienstmöglichkeit schaffen, die ihr Dasein sichert. Jetzt leben sie von ihren Ersparnissen. Notfalls müsste Ihsans in Ankara lebende Familie die beiden unterstützen.

Sorgenvoll schauen sie drein. Existenzielle Ungewissheit ist schwer zu ertragen. „Das wird schon werden“, sage ich optimistisch, mache ihnen Mut. „Wie kann man im Internet Geld verdienen“, fragt Ihsan. Diesen eiternden Zahn muss ich ihm gleich ziehen. „Mit nackten Frauen, Sex & Crime, Betrug" , antworte ich. Handel, Import, Export Türkei-Deutschland wäre vielleicht ein Weg, z. B. von Gitarren, falls ein Markt vorhanden ist? Oder die Gründung einer Musikschule, unterrichten, malen, Bilder verkaufen, schreiben, verlegen, konzertieren, kleine am Medienmarkt orientierte Feature-Filme produzieren usw.

Au weia, da habe ich was angerichtet. Jetzt schauen mich beide richtig bedeppert an. Si tacuisses, philosophus mansisses. O hätte ich doch nur geschwiegen!

Meinen großen Koffer lasse ich da, auch meinen Laptop. Steffi leiht mir ihren kleinen Koffer, in den ich einige Klamotten für die erste Zeit umräume. Dann breche ich gegen 14:00 Uhr auf, fahre mit einem Dolmuş für 1,30 Lira zur Iskele und nehme die Fähre (wieder für 1,30). Meine erste Fahrt über das Marmara Meer zum Bosporus und Goldenen Horn nach Eminönü berauscht mich. Blaues weites Wasser, hinter uns herjagende Möwen, die sich in die Tiefe stürzen, um Brocken, die ihnen Passagiere zuwerfen zu erhaschen. Ein Gewimmel von Frachtern, Kreuzfahrern, Segelschiffen, Motorbooten. An den Ufern riesige Kräne, Wolkenkratzer, alte ehrwürdige Gemäuer, prachtvolle Moscheen, Minarette, soweit man sehen kann; der kleine gedrungene Galata Turm, eines der Wahrzeichen der Stadt, ein Wald von Anglern, wippende Angelruten. Es ist angenehm warm, 28 Grad Celsius, eine köstlich leichte Brise umweht mich, streichelt meine Haut. Und in einem Coup de Foudre verliebe ich mich in diesen jahrtausendalten, immer jungen Flecken.

In Eminönü will ich in die Tramvay, die Istanbuler Straßenbahn, Richtung Zeytinburnu, kapiere aber weder deren System noch wie ich zum Bahnsteig komme. Kurz entschlossen haste ich mein geborgtes Köfferchen in der Hand schwenkend, hin und her rudernd, wie ein ungelenker Albatros über die verkehrsreiche, tosende Straße. Ein Verrückter, Betrunkener! Gellendes Hupen, wilde Schreie, unflätige, mir nicht verständliche Beschimpfungen umwehen mich. Dann ist es geschafft. Ich bin da. Erst jetzt merke ich, dass ich innerhalb einer Absperrung bin, in die man normalerweise nur gelangt, sobald man sein „Sesam öffne Dich“ mit einem Jeton, den man dort einwerfen muss, erklärt hat. Und dieser Obolus kostet wieder 1,30. Egal, jetzt fahre ich halt schwarz. In der Straßenbahn herrscht drückende Enge. Ich fühle mich wie eine Ölsardine, die ängstlich, sorgenvoll auf ihre Sachen achtet. Der da, die da könnte ein(e) Taschendieb(in) sein? Und ich habe keine Ahnung, wie ich jemals hier wieder herauskommen soll! „Gülhane“, Rosenhain, tönt eine jeglicher Blumenfreundlichkeit bare, giftig-energische Frauenstimme aus dem Lautsprecher; ein „taşak kadm“, ein Dragonerweib! „Sultanahmet“. Japaner müssen sich hier wohlfühlen. Ich dränge, boxe mich hinaus, während andere sich hereindrängen.

Heute ist schulfrei. Morgen gibt es die Prüfungsergebnisse! Ob ich wohl versetzt werde? Ich experimentiere mit dem Drahtlosnetzwerk, welches im Café neben der Dilmer-Schule mit niedriger Signalstärke erreichbar ist. Es funktioniert mit Ach und Krach. Draußen herrscht schönes Wetter. Ich beschließe, spontan mit dem Schiff zur Büyükada1 zu fahren.

Jetzt hab’ ich dich doch erwischt, mein zartgliedriger Minivampir, Stechfliege auf der Jagd, seit einer Stunde summend mich einkreisend. Und jetzt bist du tot! Aber dein Schwesterchen schwirrt noch herum. Warte nur ein Weilchen!

Das Wasser läuft jetzt auch wieder. Zehn Stunden lang floss kein Tropfen aus den Hähnen. Morgen früh werde ich duschen können. Ein erhebender Gedanke, während Peter Maffay vom Verlust seiner Unschuld am Sommerstrand singt, Josie ermahnt, Frau zu werden, ganz tief bei ihr ist. 1

Ihsan und Steffi konnte ich in den letzten Tagen nicht erreichen. Das ist blöde, weil ich ein paar frische Sachen aus meinem Koffer holen wollte.

In der Schule geht es, nachdem ich in die 3. Klasse versetzt worden bin in rasantem Tempo voran. Drei Seiten Hausaufgaben fürs Wochenende.

Und heute Mittag wollen Haluk, Barbara und ich einen Ausflug machen.

Meine Mutter hat Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! 91 Jahre ist sie geworden, falls sie noch lebt? Sie soll meinen Geschwistern verboten haben, mich von ihrem Tode zu verständigen. Gut möglich, dass sie sich daran gehalten haben bzw. ihren Wunsch in der Zukunft befolgen werden. Blutsverwandtschaft? – Wahlverwandtschaft zählt!

Mindestens fünf verschiedene Muezzine melismieren ihren Morgenruf, ineinander verschlungene Girlanden, sich windende Arabesken. Allah ist groß, es gibt keinen anderen Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Fünf Minuten lang. Viel lauter als Kirchenglocken, ein Kammerkonzert, fortissimo. Davon stammt unter anderem der Flamenco ab. Manchmal Katzenjammer, wenn sich die Stimmen zu schräg überlagern, immer wieder aber virtuose, genialische Melodien, faszinierende Musik!

Gemächlich meldet sich mein Appetit. Ich freue mich auf mein gewohntes Frühstück um 7:00 Uhr; Tomaten, Gurken, schwarze und grüne Oliven, Schafskäse und Tee.

Gestern, während unserer Überfahrt nach Heybeli (Prinzeninsel) beschenkte uns der Dichter Enver Canatan mit einem Gedicht:

Midye kabuğundan bir ev Çevremiz deniz

Toprağımız kuru Ve kalbimde tek sen Ne mesut olurum bilsen

Wortgetreue Übersetzung:

In einer Muschelschale ist ein Haus In unseren Meeresweiten Unser Boden ist trocken. Und in meinem Herzen bist nur Du Wie glücklich wäre ich, wenn Du das wüsstest.

Nachdichtung:

Muschelverborgener Raum In unseren Meerestiefen Ein freundliches Heim. In meinem Herzen lebst nur Du Wie glücklich wäre ich, wenn Du das wüsstest!

Meinen letzten Schultag schwänze ich. Ich will die verbleibende Zeit nützen, die Stadt zu erforschen.

Üsküdar habe ich gesehen, mit seinen Moscheen, verwinkelten Gassen und dem riesigen, etwas verwilderten Karaca Ahmet Friedhof; ich war noch einmal im Topkapı Sarayı auf der Landspitze vor dem Goldenen Horn, bewunderte den Mantel des Propheten und die heilige Feldzugsfahne im silbernen Schrein, sein Schwert, Siegel, Barthaar, Zahn und Fußabdruck, den auf Gazellenleder geschriebenen Koran des Kalifen Osman, die Schatzkammer mit den berühmten Preziosen, den Harem, das Quartier der schwarzen Eunuchen; bewegte mich entlang der Teodos II Suru (Theodosianische Landmauer), die sich über eine Länge von fast 6 km vom Marmarameer bis zum Blachemenviertel erstreckt. Mit der Fähre bin ich den Bosporus rauf- und runtergefahren, lernte dabei Hans Werner Freitag vom Statistischen Bundesamt kennen, der im Fotografieren jeden und alles schlägt (in drei Tagen Istanbul, schoss er mehrere tausend Bilder) und zog mit ihm noch ein wenig herum.

September - Oktober 2006

***

Im Berliner Morgenland Café traf ich Barbara wieder. Sie war ein Jahr lang in Istanbul. Sie berichtete mir, dass sie fast jeden Tag auf ihrem Weg zur Sprachschule „Dilmer“ von Männern angegrapscht worden sei. Sie hat das von mir vergeblich gesuchte Künstlerviertel gefunden: Kusguncuk, ein Stadteilsbereich in Üsküdar. Ein Onkel ihrer „Freundin“ Franziska soll dort ein Häuschen haben, das oft leer steht und das vielleicht zu mieten sei!?

15. September 2007

1 Die größte der Prinzeninseln im Marmarameer vor Istanbul.

Dem Affen in die Seele gepisst Kanarische Inseln

Es ist alles ganz anders. Wenn ich zurückdenke an meine abuela in Madrid1. „Que mayor, que grande! Que horror. No me han dicho nada. No es possible”, und dann „Ya veremos. Hay que telefonear“. Unverhüllte Ablehnung. Beleidigend. Ich quittierte dies alles mit einem homerischen Gelächter. Das erschien mir unfassbar. Dafür das Zimmer ziemlich nett, mit Kleiderschrank, Tisch, Bücherregal und Ikea-Bett, etwas zu klein, wohl für Kinder oder Jugendliche gedacht, aber es ging, wenn ich die Füße unten heraushing. Das Bad (im Prinzip, außer wenn der schwer erkrankte Sohn Alejandro da war) bloß für mich. In der Wohnung zunächst nur die abuela, sonst keine Familienangehörigen. Aber dann kamen sie alle, die Töchter, Schwiegersöhne und Enkel zum Mittagessen. Alejandro, 42 Jahre alt, in zweiter Ehe geschieden, kam dauernd. Sympathische Leute, aber ich stand ein wenig unter der Fuchtel der abuela, war auch der Einzige, der ihre Anweisungen befolgte, Die abuela schuftete so im Alter von 82 von morgens bis in der Nacht, passte auf, dass ich mich im morgendlich kalten Madrid warm anzog, was ich so nicht tat und mich prompt massiv erkältete. Sie wusch meine Wäsche, stopfte mein Hemd. Was soll ich sagen, hart aber rührend!

Hier in Santa Cruz waltet das Gegenteil, meine äußerlichen Verhältnisse sind jetzt mehr als primitiv, ich bin in der Steinzeit gelandet. Mein Zimmer ist die Abstellkammer der Familie, ca. sechs Quadratmeter groß: zwei Betten links und rechts – zwischen Fenster und Tür. Unter dem Fenster, zwischen den Betten, eine kleinen Kommode (passt da gerade noch hin), darauf eine Nachttischlampe mit grünem Lampenschirm und eine große grüne Uhr. Vor dem Fenster ein grüner Vorhang, die Betten sind auch grün bezogen. Also ein grünes Zimmer. Und wer mich kennt, weiß, dass ich grün nicht besonders mag. Wahrscheinlich ist die Farbwahl auf den muselmanischen Geschmack der Hausherrin zurückzuführen. Grün ist bekanntlich die Farbe des Propheten. Und so passt das ja wieder, denn auch ich bin ganz sicher ein Prophet. Und grün ist mir lieber als braun, diese Kackfarbe des Führers in dem braunen Höllensumpf. Leider ist der Schrank, der den gesamten Raum unterhalb der Fußenden meiner zwei Betten bis hin zur Zimmertür einnimmt, braun. Es gibt keinen Tisch und keinen Stuhl in meinem Zimmer und selbstverständlich sind Kommode und Schrank vollgestopft mit Klamotten und allem möglichen anderen Kram der Familie. Auf dem Schrank türmen sich bis zur Decke Koffer, Taschen und alte Computerteile. Aber das Zimmer hat auch einen großen Luxus. Es gibt ein richtig großes Fenster mit freiem Ausblick hinein in das Häusermeer von Santa Cruz. Und jetzt habe ich große Lust mit dem Erzählen aufzuhören, aber ich fürchte, dass ich dann nicht mehr nachkomme, so viel passiert ständig. Bin ich doch seit drei Tagen zuckerkrank, laut Blutanalyse, außerdem habe ich bei einem Sturz auf dem Glatteis meinen linken Arm demoliert und weiß auch nach einer Röntgenaufnahme vor drei Tagen, dass im Ellenbogen etwas abgesplittert ist, also doch eine Fraktur, nicht an zentraler Stelle, die Mechanik ist nicht beeinträchtigt, aber immerhin, der Arm tut nach fast drei Wochen noch weh. Meine innerlichen Verhältnisse sind gut. Irgendwie komm’ ich mir selbst komisch vor, aber mir gefällt mein grünes Fensterzimmer mit dem weiten Ausblick und der vielen frischen Luft. Die Nacht war freilich kühl, es gab nur eine dünne Decke. Die Familie versprach mir jetzt eine zweite. Ah, sie naht gerade in diesem Moment; nein, gleich zwei zusätzliche Decken, por fin menos mal. Und, heute ist Sonntag, die gesamte Familie macht einen Ausflug zum Teide. Überhaupt die Familie. Die ist multikulturell. Samira, Ehefrau und Mutter, kommt aus Marokko, José, 44, Ehemann und Vater, stammt aus Mexiko und hat lange in Australien/Melboume gearbeitet und gelebt. Das Paar hat zwei Töchter im Teeniealter. Deren Namen habe ich erst mal vergessen. Ich muss die Namen lauschend wieder aufschnappen oder irgendwie anders geschickt rauskriegen. Wär’ mir peinlich, wenn ich direkt nachfragen müsste. Na ja, eine Tochter holt grad’ noch Sachen für den Teide-Ausflug aus meinem braunen Schrank. Ich muss lachen ...

Alle sehen nett aus, sind fröhlich und unkompliziert. Es wird gesungen und gelacht. Also, die Stimmung in der Familie ist harmonisch, zufrieden und glücklich, jedenfalls in den ersten 20 Stunden, die ich als fünftes willkürlich inkorporiertes Familienmitglied mit Sonderstatus erlebe.

Schon mein Weg zu dieser Familie in mein grünes Prophetenzimmer gestaltete sich schwierig

Gestern Abend als ich gegen 21:00 Uhr endlich in Santa Cruz, Estación de Autobuses, ankam, war ich zunächst happy, dass da auch Taxis waren. Also nichts einfacher als ein Taxi zu nehmen, dem „taxista“ die Adresse zu nennen und bald würde ich da sein. Der coole, lockere Taxifahrer, ein salopper Gigolotyp mit Pferdeschwanz und einer tüchtigen Prise Ganoventum ins Gesicht geschrieben, plauderte mit lauter Stimme, fast ein wenig herablassend mit dem Fremden, fand aber nur die C/ Heliodoro Rodriguez López, was offenbar leicht ist, aber nicht die Recidencia Los Principes, und schon gar nicht Piso 9, Portal 17, 6H. Also wollte er mich loswerden. Damit war ich nicht einverstanden. Also fuhr er in der Straße fünf Minuten lustlos hin und her. Wir fragten dann aus dem Taxi heraus zweimal Passanten nach der Recidencia Los Principes, ohne Erfolg. Dann wollte der kaltschnäuzige Ganoven-Pferdeschwanz-Gigolo mit der lauten Stimme endgültig nicht mehr. Er hielt an, öffnete den Kofferaum und holte meine Sachen heraus: klarer Rausschmiss! Letzteres inbegriffen kostete mich das 4 Euro. Preiswert. In Freiburg wäre das auch schon ohne Rauswurf sehr viel teurer geworden.

Da stand ich also und begann mich durchzufragen. Erst auf der einen, dann auf der andern Seite. Immerhin, da war ein Platz, eine Art Rambla mit Cafés und Restaurants. Vier, fünf, sechs Leute frag ich. „Los Principes“, keine Ahnung. Ein junges Mädchen (freundlich, die befragten Männer waren hingegen kurz angebunden) dann: „Ah ja, ich glaube, das sind „los verdes“ – „die Grünen“ (grün, meine Schicksalsfarbe, ich hätte Christina nie sagen sollen, dass ich grün nicht besonders mag!), dort oben. Und da waren sie: Hochhäuser, 20 Stock hoch, grün verputzt. Und tatsächlich ein engelhaftes Mädchen erklärte mir bei Nr. 26, ich sei nun richtig. Das Gebäude nebenan müsse Nr. 25 sein. Ich ging die paar Schritte und fragte einen alten Mann, der aus dem Hause kam. Der sagte: nein, falsch. Das ist nur das „edificio“ Los Principes, nicht die „Residencia“, die muss woanders sein. Zum Glück kam nochmals der Engel von vorhin und nebenan und meinte erneut, doch das müsse richtig sein. Also hinein in das Gebäude, der ältere Mann begleitete mich zu den Klingeln. Dort waren keine Namen, also „6H“ gesucht und bei „6H“, sonst stand da nichts, geläutet. Bingo! Das war die Familie. Die versuchte offenbar zu öffnen, zweimal, dreimal, aber die Türe ging nicht auf; erneutes Klingeln, oben wird auf den Knopf gedrückt, geht aber nicht, siebenmal, achtmal, neunmal, mein Helfer klingelte nun bei sich selbst, riss und rüttelte an der Gebäudeeingangstür, und beim vierzehnten oder fünfzehnten Mal: Heureka, Sesam öffne Dich, ein Wunder geschah, mit einem kleinen nervösen Schnappen gab die Türe nach, und ich war drin. Und jetzt in den Aufzug? Ehrlich gesagt, war ich inzwischen nervös und hatte schwere Bedenken. Wenn sich jetzt auch noch der Aufzug seltsam gebärden würde? Es half aber nichts, also hinein und hinauf in den neunten Stock. Der Aufzug blieb Gott sei Dank brav. Oben trat ich in den stockdunklen Flur, niemand erwartete mich. Nach einigem Suchen fand ich den Schalter für die Flurbeleuchtung. In dem rechteckigen Flur fanden sich 8 Wohnungstüren. Alle zu! Ohne Namen! Ach ja, winzige Buchstaben und Zahlencodes. Und here it comes: „6H“. Nach zweimaligem Klingeln öffnet ein Mann mittleren Alters, von undefinierbarer Nationalität, mich aber in einer unkomplizierten freundlichen Weise willkommen heißend. Er führte mich direkt vom Flur ins Wohnzimmer zu einem runden Tisch, an dem kein Platz mehr war. Dort saß in einer Samstagsabendrunde vereint „meine“ Familie mit dem jüngeren „primo “ des Hausherrn, den er mir bei der nun folgenden allgemeinen Vorstellung und Bekanntmachung zunächst als seinen „Onkel“ präsentierte; das wurde schnell korrigiert. Da kein Platz war, vielleicht auch wegen der Besorgnis, ich könnte an dem Tisch sitzend zu lange verweilen, wurde ich nicht aufgefordert, mich zu setzen, vielleicht macht man das hier einfach unaufgefordert, jedenfalls ergab sich eine fünf- bis zehnminütige Unterhaltung zwischen dem stehenden Fremden und der Tischrunde. Dann wurde ich mit meinem grünen Paradies vertraut gemacht und meinem eigenen Bad. Ich kann nicht verhehlen, dass ich doch etwas konsterniert war, wie sollte das nur gehen? In diesem Zimmer, dieser nicht sehr großen Wohnung zu fünft auf engem Raum. Ich könnte vielleicht meine Betten zu camas calientes2 umfunktionieren und tagsüber untervermieten, um mehr Intimität zu erzeugen?

Danach bat ich um die Schlüssel, inspizierte spazierend die nähere Umgebung, genehmigte mir ein Bier und versuchte erstmals dies alles zu verdauen. Das klappte nicht so ganz. Ich blieb einfach besorgt, und erst jetzt kamen mir ein gewisser Stoizismus, meine Flexibilität sowie meine Art, alle Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten zugute. Dabei spielte eine große Rolle, dass ich inzwischen die Probleme mit der Elektrizität, dem Anschluss des Rasierapparats und vor allem dem Anschluss des Laptops löste. Denn ich habe zu guter Letzt in meinem Zimmer doch noch eine Steckdose gefunden und inzwischen, am Day After in the Wee Wee hours, besitze ich dafür auch den notwendigen Adapter, damit der Laptop-Stecker, dort reinpasst. Por fin menos mal, wie der Spanier sagt – zu guter Letzt nicht sooooo schlecht!

Erster Rundgang durch die Stadt,. Sehr schön, viele Parks in meiner Nähe: parque de viera y clavijo, parque de la Granja, parque Don Quijote und etwas weiter entfernt, dafür aber in der Nähe der Sprachschule Canarias Cultural der grosse parque municipal Garcia Sanabria. Sehr viele Palmen, wunderbar grün alles. Schöne Plätze.

In etwa zwei Stunden kann man Santa Cruz umrunden, in einem halben Tag gut erforschen. In der Nähe meiner Unterkunft liegt das Fußballstadion. Dorthin strebten heute auch viele ältere Damen mit Fanschals um den Hals. Ich höre gerade, dass die heimische Mannschaft ein Tor erzielt hat, alles schreit „Goool“. Mein Blutzuckermessgerät machte mir heute Morgen Probleme, dabei war der Wert nicht so schlecht, nämlich 275, ich habe dann gefrühstückt und später Paella zu Mittag gegessen und habe jetzt gegen 17:00 Uhr nochmals einen Test probiert. Das hat jetzt technisch prima geklappt, mir aber einen medizinischen Horrorwert von 527 beschert. Da kommt schon Panik auf. Ich habe mich dennoch erst mal beruhigt und warte ab, erhöhe auch die Dosis meines Medikamentes noch nicht. Mal schauen, wie sich das in den kommenden Tagen entwickeln wird?

Das Wetter schwankt heute zwischen 15 und 23 Grad Celsius, und es tröpfelt manchmal ein wenig, dann verzieht sich der Regen aber wieder. Sehr kapriziös.

Ach ja, fast hätte ich vergessen, dass ich probeweise auch meine Schule gesucht und gefunden habe. Sie ist ungefähr fünfundzwanzig Minuten Fußweg von meiner Unterkunft entfernt. Ich habe mir vorgenommen, den Weg zunächst zu Fuß zu gehen.

Es ärgert mich, dass ich kein Locutorio finde und auch nur Telefonzellen für nationale Gespräche. Ich würde so gerne in Deutschland anrufen und ein bisschen plaudern. Vielleicht ist das bei „Correos“, der Post, möglich, die hat hoffentlich morgen wieder auf.

Der Speicheplatz auf der Festplatte, Partition C, wird immer weniger, obwohl ich Platz geschaffen habe. Es liegt offensichtlich ein sich ausweitender Hardwaredefekt vor.

Heute Nacht habe ich gut geschlafen. Die zusätzlichen Decken haben für Wärme gesorgt. Heute Morgen gab es dann den von mir erwarteten Stau im Gang zwischen den zwei Bädern. Diese Leute sind zwar nett, schauen aber, dass ich ihnen so wenig wie möglich in die Quere komme. Bislang esse ich im Wesentlichen allein, vor der Familie. In der engen Wohnung können sich freilich fünf Menschen nicht vollständig aus dem Wege gehn. In meinem Bad war ich wohl zum Leidwesen der Familie endlos mit allen möglichen Verrichtungen im Gange, habe endlos geduscht, Zehennägel geschnitten, Füße gut behandelt, gepisst, geschissen in aller Ruhe, das dauert schon ... an mir einen Runterholen dachte ich nicht, war auch gar nicht zu denken. Aha, 7:10 Uhr, ich werde zum Frühstück gerufen.