Dem Himmel bin ich auserkoren - Thornton Wilder - E-Book

Dem Himmel bin ich auserkoren E-Book

Thornton Wilder

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Beschreibung

Thornton Wilders ›Dem Himmel bin ich auserkoren‹ ist ein Roman über die Tragik und die Komik unseres Lebens, eine satirische Spiegelung der US-amerikanischen Gesellschaft der 1930er-Jahre. Eigentlich ist George Marvin Brush ein ganz gewöhnlicher Handlungsreisender, der Schulbücher verkauft. Doch wichtiger als seine Schulbücher sind ihm die Seelen seiner Mitmenschen. Seine Irrfahrten im Mittelwesten der USA führen zu einer Fülle tragischer und komischer Konflikte und spiegeln mit satirischer Verve die Gesellschaft in den USA der fünfziger Jahre. Wie jeder, der versucht, sein Leben mit äußerster Konsequenz nach höchsten Prinzipien zu leben, wird Brush für verrückt gehalten. »Von Wilders Büchern ist mir dieses am nächsten gekommen.« Reinhold Schneider

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Seitenzahl: 283

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Thornton Wilder

Dem Himmel bin ich auserkoren

Roman

FISCHER E-Books

Aus dem Amerikanischen von Herberth E. Herlitschka

Inhalt

George Brush bin ich [...]Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes Kapitel

George Brush bin ich genannt,

Amerika ist mein Vaterland,

In Ludington bin ich geboren,

Dem Himmel bin ich auserkoren.

 

Reim, den Kinder in ihre Schulbücher zu schreiben pflegten.

Erstes Kapitel

George Marvin Brush versucht in Texas und Oklahoma ein paar Seelen zu retten. Doremus Blodgett und Margie McCoy. Gedanken bei Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahrs. Brush hebt seine Ersparnisse von der Bank ab. Seine kriminelle Vergangenheit. Verhaftung Nummer zwei.

 

Eines Morgens im Spätsommer 1930 entdeckten der Besitzer und mehrere Gäste des Hotels Union in Crestcrego, Texas, zu ihrem Ärger, daß auf der Löschunterlage des Hotelschreibtisches frischgeschriebene Bibelsprüche prangten. Zwei Tage später wurden die Gäste in McCartys Gasthof in Usquepaw, im selben Staat, auf die gleiche Weise gereizt, und der Direktor des nahen Juwel-Theaters machte die unliebsame Entdeckung, daß ein Plakat von seiner Tür herabgerissen und zertrampelt worden war.

Am selben Abend ging ein junger Mann an der Baptistenkirche der Stadt vorbei, und da er sah, daß soeben der alljährliche Bibelfragen-Wettbewerb stattfand, zahlte er seine fünfzehn Cent, suchte sich einen Platz an der Wand und gewann den ersten Preis, wobei er sich besonders durch die Stammtafel König Davids hervortat.

Am nächsten Abend, hinter Fort Worth, bemerkten mehrere Reisende des Nachtschnellzugs in einem der Pullmanwagen mit Erstaunen einen jungen Mann, der im Schlafanzug vor seiner Bettstelle kniete und betete. Seine innere Sammlung blieb ungestört durch die Hefte des ›Western Magazine‹ und der ›Film World‹, die ihm an den Kopf flogen. Als am nächsten Morgen eine junge Dame, die sich nach dem Frühstück auf die Plattform des Wagens zurückgezogen hatte, um eine beschauliche Zigarette zu genießen, zu ihrem Sitz zurückkehrte, entdeckte sie, daß jemand eine Geschäftskarte in den Winkel des Fensterrahmens gesteckt hatte.

GEORGE MARVIN BRUSH

Vertreter von

CAULKIN & COMPANY

Schulbücher • Verlag von Caulkins ›Arithmetik‹ und ›Algebra‹und andern unübertrefflichen Unterrichtswerkenfür höhere und niedere Lehranstalten

An den oberen Rand der Karte waren säuberlich mit Bleistift die Worte geschrieben: ›Frauen, welche rauchen, taugen nicht zu Müttern.‹ Die junge Dame errötete ein wenig, zerriß die Karte zu kleinen Schnitzeln und tat, als schliefe sie ein. Nach ein paar Augenblicken setzte sie sich auf und sah sich mit einem heuchlerischen Ausdruck müder Verachtung im Wagen um. Keinem der Mitreisenden schien sie so etwas zuzutrauen, am allerwenigsten einem hochgewachsenen, kräftig gebauten jungen Mann, dessen Augen mit ernster Beharrlichkeit auf ihr ruhten.

Dieser junge Mann fühlte, daß er seinen Zweck erreicht hatte, ergriff seine Aktentasche und ging in den Raucherwagen vor. Hier war fast jeder Platz besetzt. Es war schon recht heiß, und die Raucher hatten sich ihrer Röcke und Kragen entledigt und rekelten sich in dem blauen Qualm. Mehrere Kartenpartien waren in Gang, und in der einen Ecke sang ein unternehmungslustiger Jüngling einen endlosen Gassenhauer, wobei er abwechselnd mit den Fingern schnalzte und mit den Absätzen stampfte, um den Takt zu markieren. Eine bewundernde Gruppe war um ihn versammelt und unterstützte ihn im Refrain. Gemütliche Geselligkeit herrschte bereits im Wagen, und humorvolle Bemerkungen flogen von einem Ende zum andern. Brush blickte prüfend umher und wählte den Sitz neben einem hageren, ledergesichtigen Mann in Hemdsärmeln.

»Setzen Sie sich, junger Mann«, sagte sein Nachbar, »Sie bringen ja den ganzen Wagen ins Wackeln. Setzen Sie sich und leihen Sie mir 'n Streichholz!«

»Mein Name ist George Marvin Brush«, sagte der junge Mann, ergriff die Hand des andern und sah ihm ein wenig gläsern in die Augen. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich reise in Schulbüchern. Ich bin in Michigan geboren und unterwegs nach Wellington, Oklahoma.«

»Ist ja großartig«, sagte der andre, »großartig! Aber regen Sie sich ab, regen Sie sich ab! Es hat Sie niemand verhaftet.«

Brush errötete ein wenig und sagte mit einem Anflug von Gewichtigkeit: »Bevor ich ein Gespräch beginne, lege ich gern die Karten auf den Tisch.«

»Was hab ich Ihnen gesagt, Jungdien?« entgegnete der andre und warf ihm einen kalten, aber verstohlen neugierigen Blick zu. »Regen Sie sich ab! Zünden Sie sich eine an!«

»Ich rauche nicht«, antwortete Brush.

Das Gespräch durchlief das Wetter, die Ernte, die Politik und die Wirtschaftslage. Zuletzt fragte Brush: »Bruder, darf ich zu Ihnen über das Allerwichtigste im Leben sprechen?«

Der Mann streckte seine langen Beine faul auf den umgedrehten Sitz vor sich und fuhr sich mit der Hand über das schlau lächelnde gelbliche Gesicht. »Wenn's 'ne Versicherung ist – bin schon bedient«, sagte er. »Wenn's Petroleumaktien sind – rühr ich nich an! Und wenn's Religion ist – meine Seele ist schon gerettet.«

Brush wußte sogar darauf eine Antwort. Er hatte im College einen Kursus: ›Wie eröffnet man mit Fremden ein Gespräch über Seelenrettung?‹ besucht, der mit zweieinhalb Punkten angerechnet wurde und dem gewöhnlich im nächsten Semester ›Beweisgründe für heilige Wahrheiten‹ – eineinhalb Punkte – folgten. Dieser Kursus hatte die Eröffnungsmöglichkeiten für ein solches Gespräch und die wahrscheinlichen Erwiderungen behandelt, darunter auch die, daß der Fremde seine Seele für schon gerettet erklärte. Diese Behauptung konnte (a) wahr oder (b) unwahr sein. Auf jeden Fall hatte der Evangelist, wie nun Brush, darauf zu sagen: »Das ist schön. Es gibt kein größeres Vergnügen, als mit einem Gläubigen über diese erhabenen Dinge zu sprechen.«

»Ich bin schon gerettet«, wiederholte der andre, »und zwar davor, öffentlich einen gottverdammten Narren aus mir zu machen. Ich bin davor bewahrt, Sie kleiner Pfauenschnabel, meine Nase in andrer Leute Angelegenheiten zu stecken. Also klappense Ihren verdammten Quasselkasten zu und machense, daß Sie rauskommen, oder ich reiß Ihnen die Zunge aus 'm Hals!«

Auch diese Stellungnahme war von den Bekehrungsstrategen vorausgesehn worden. »Sie sind zornig, Bruder«, sagte Brush, »weil Sie sich eines unerfüllten Lebens bewußt sind.«

»Hören Sie«, sagte der andere feierlich, »jetzt hören Sie mal, was ich Ihnen sage! ich warne Sie! Noch einen Mucks in dieser Tonart, und ich tu, was Sie bedauern werden. – Nee, warten Sie mal! Sagen Sie nich, ich habse nich gewarnt! Noch einen Mucks –«

»Ich werde Sie nicht weiter bemühn, Bruder«, sagte Brush, »aber wenn ich aufhöre, dürfen Sie nicht glauben, daß ich es tue, weil ich mich vor Ihnen fürchte!«

»Was hab ich Ihnen gesagt?« fragte der Mann ruhig, beugte sich seitwärts, ergriff die Aktentasche, die Brush zwischen seine Füße gestellt hatte, und warf sie aus dem offenen Fenster. »Springense hinterdrein und holense sich die, Verehrtester, und denn lernense sich Ihre Leute besser auszusuchen!«

Brush stand auf. Er lächelte steif. »Bruder«, sagte er, »es ist ein Glück für Sie, daß ich Pazifist bin. Ich könnte Sie hier gegen das Wagendach schmettern. Ich könnte Sie an einem Bein hier im Kreis herumschwingen. Bruder, ich bin der stärkste Mann, der je in unserm Turnsaal im College geprüft wurde. Aber ich werde Sie nicht anrühren. Sie sind ausgehöhlt und angefault von Alkohol und Nikotin.«

»Ha, ha, ha!« lachte der Mann als Antwort.

»Ein Glück für Sie, daß ich Pazifist bin«, wiederholte Brush mechanisch, während er dem Mann in die Augen und auf die gelben Stränge seines Halses und den bläulichen Eindruck starrte, den der Kragenknopf hinterlassen hatte.

Nun interessierte sich schon der ganze Wagen für den Vorfall. Der Ledergesichtige warf seinen Arm über die Rückenlehne und schloß den Sitznachbar in seine Erheiterung ein. »Der hat 'nen Fimmel, was?« sagte er.

Die Stimmen im Wagen begannen zu einer drohenden Flut anzuschwellen. ›Raus! – Zum Teufel mit ihm! – Schmeißt ihn raus!‹

Brush schrie dem Mann ins Gesicht: »Sie sind voll von Gift … Das sieht jeder. Sie sind am Absterben. Warum denken Sie nicht daran?«

»Ha, ha, ha!« wieherte der Mann.

Eine Stunde später erreichte der Zug Wellington. Brush ging ins Hotel, mietete ein Auto und fand die Aktentasche wieder. Er verbrachte den Tag damit, die Fachlehrer an der Oberschule aufzusuchen. Als er nach dem Abendessen aus dem Speisesaal kam, trat er an den Schreibtisch, schrieb säuberlich einen Bibelspruch quer über das Löschblatt und ging früh zu Bett.

Der nächste Morgen brachte seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag. Er erhob sich zeitig und wollte das Hotel zu einem Spaziergang vor dem Frühstück verlassen. in der Hand hielt er eine vorläufige Aufstellung seiner guten Vorsätze für das Jahr und eine Liste seiner Tugenden und Fehler. Als er die Halle durchschritt, bemerkte er, daß ein frisches Löschblatt auf den Schreibtisch gelegt worden war. Er trat hinzu, zog seine Füllfeder hervor und stand einen Augenblick unschlüssig. Dann malte er, ohne sich zu setzen, an den oberen Rand die Worte: ›Gott sieht alles!‹

Ein Neger, der auf dem Boden kauerte und Spucknäpfe scheuerte, hob langsam den Blick und sagte mit vorsichtiger Feindseligkeit: »Sie lieba nich auf Löschblatt schreiben. Mistah Gibbs, a schrecklich wild werden. A schon einmal hat müssen neues geben, und a schrecklich wild.«

»Schadet es irgend jemand?« fragte Brush ruhig und steckte die Füllfeder ein.

»Vo'k das nich haben gern. Mistah Blodgett, a hier wohnen, auch ganz wild.«

»Gut. Sagen Sie Mr. Blodgett, er möge mit mir darüber sprechen. Ich möchte ihn gern kennenlernen«, erwiderte Brush, ging zum Eiswasserbehälter und füllte sich ein Glas.

In diesem Augenblick kam der Hoteldirektor die Treppe herunter, und ihm folgten ein Mann und eine Frau. Der Mann war klein und dick; er hatte ein rundes, rotes Gesicht und ein Paar beweglicher buschiger Brauen. Er trat an den Schreibtisch und nahm einen Bogen Briefpapier heraus.

»Sehn Sie sich das an!« rief er plötzlich und wies auf das Löschblatt. »Sehn Sie sich das an! Das is nu schon das zweite Mal. Herrgott, mir wird übel davon!«

»Es läßt sich leider nicht verhindern, Mr. Blodgett«, sagte der Direktor betrübt. »Erst letztes Jahr, da war hier bei uns so ein Kerl –«

»Na, so einen möcht ich gern kennenlernen. Dem würd ich meine Meinung sagen.«

Der Direktor flüsterte Blodgett ein paar Worte zu und wies mit dem Daumen auf Brush.

Blodgett stieß einen leisen Pfiff aus. »Was Sie nicht sagen!«

Die Frau mischte sich mit lauter Stimme ein. »Remus, immer fischst du dir irgend so 'nen Verschrobenen. Du wirst dir eines Tages die Finger damit verbrennen! Komm frühstücken und laß ihn!«

»Aber, Kleinchen, man muß doch auch mal seinen Spaß haben, wenn man auf der Tour ist, nicht?« sagte Blodgett. »Hier ist 'ne Gelegenheit. Paß mal auf!«

Als Brush sich anschickte, auf die Straße hinauszutreten, streckte Blodgett die Hand aus. »Sagen Sie, Freundchen«, fragte er ruhig und die eine Braue ein wenig hochziehend, »wo halten Sie denn Ihre Versammlungen ab?«

»Ich halte gar keine Versammlungen ab«, erwiderte Brush, seine Hand ergreifend und ihm dynamisch in die Augen blickend. »Ich glaube, ihr Name ist Blodgett. Ich heiße George Brush. George Marvin Brush. Ich reise in Schulbüchern. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Blodgett.«

»Jawohl, mein Herr, allemal!« gab Blodgett zurück. »Doremus Blodgett, Nimmerreiß-Strumpfwaren. Also Sie sind auch Reisender?«

»Ja.«

»Na sehn Sie, was hat das dann für 'nen Sinn, alle diese Löschblätter zu bekritzeln? Sie sind jung und gesund – Sie wissen schon, was ich meine, nicht?«

»Ich freue mich, darüber reden zu können«, sagte Brush.

»So ist's recht. Nu sehn Sie mal her, Brush, ich freue mich, daß Sie so 'n vernünftiger junger Mann sind. Wir fürchteten schon, Sie würden sich als einer von diesen Fernarrtikern entpuppen – Sie verstehn, was ich meine? – Brush, ich möchte Sie dem patentesten kleinen Mädel von der Welt vorstellen, meiner Kusine, Mrs. Margie McCoy.«

»Sehr erfreut«, sagte Brush.

Mrs. McCoy hatte ein breites, gedunsenes, dick mit Puder bedecktes Gesicht. Es war von einem prächtigen Aufbau orangeroten, braunen und schwarzen Haars überragt. Mrs. McCoy nahm die Vorstellung nicht zur Kenntnis.

»Als Mann zu Mann«, fuhr Blodgett fort, »was hat das für einen Sinn, Löschblätter so zu bekritzeln, he? ich will ja nicht sagen, daß das für 'nen Prediger nicht ganz in Ordnung ist. Der wird dafür bezahlt.«

»Ich habe etwas Gutes gefunden, Mr. Blodgett, und ich möchte allen Menschen davon erzählen.«

»Laß ihn, Remus, laß ihn laufen!« Mrs. McCoy bedeutete ihrem ›Vetter‹ durch Kopfbewegungen und ein Blinzeln ihrer verdrossenen Äuglein, mit ihr ins Frühstückszimmer zu kommen.

»Das gefällt mir eben nicht«, sagte Blodgett, plötzlich kampflustig.

»Wenn es Ihnen nicht gefällt«, erwiderte Brush, »so kommt das daher, daß Sie sich eines unerfüllten Lebens bewußt sind.«

Blodgett begann zu schreien. »Das ist das Unglück mit euch stinkenden Bekehrungsmeiern, ihr glaubt, jeder Mensch –«

Hier warf sich Margie McCoy zwischen die beiden. »Frühstück doch erst, um Gottes willen! Hör endlich einmal auf, sag ich! Du versuchst immer, Streit anzufangen. Und der Doktor hat dir doch gesagt, du sollst dich nicht aufregen!«

»Ich kämpfe nur mit geistigen Waffen, Mrs. McCoy. Lassen Sie ihn ruhig sagen, was er sagen will.«

Blodgett begann wieder, aber in ruhigerem Ton: »Ich sage nicht, daß das für 'nen Prediger nicht ganz in Ordnung ist, aber was mir Bauchgrimmen macht, ist, wenn so ein … Gott verdamm mich, alles zu seiner Zeit und an seinem Ort –«

»Ach, komm weiter, gehn wir endlich Kaffee trinken!« unterbrach ihn Mrs. McCoy und fügte halblaut hinzu: »Er ist einfach ein Narr. Laß ihn in Ruhe!«

»Sagen Sie, warum sind Sie übrigens nicht Prediger geworden? Warum sind Sie nicht, wo Sie hingehören? An einer Kirche?«

»Das hat seinen Grund«, erwiderte Brush und blickte starr auf die Wand hinter Blodgett.

»Haben Sie nicht genug Geld damit verdient?«

»Nein, das war es nicht … Ich hatte einen sehr persönlichen Grund.«

»Kein Wort weiter!« rief Blodgett. »Ich will nicht hören, was mich nichts angeht. Sieht mir bloß danach aus, als hätten Sie 'nen noch viel persönlicheren Grund gehabt, doch Prediger zu werden.«

Brush starrte ihn düster an. »Ich fürchte mich nicht, es zu sagen«, fuhr er fort. »Ich tat etwas … Ich tat etwas, was ein Geistlicher nicht tun darf.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Blodgett, ohne sich zurechtzufinden. »Tjäh … das ist natürlich was andres.«

»Was hat er gesagt?« erkundigte sich Mrs. McCoy.

»Er hat gesagt … er hat etwas getan, was ein Geistlicher nicht tun darf.« Blodgett wandte sich wieder an Brush und nahm eine Verschwörermiene an. Die Stimme dämpfend, fragte er: »Was war es denn?«

»Ich möchte es nicht in Gegenwart einer Dame erzählen.«

Blodgett zog die Augenbrauen hoch und pfiff teilnahmsvoll durch die Zähne. »Ist das nicht schrecklich! – Da steckt also 'n Frauenzimmer dahinter, was?«

»Ja.«

»Tjäh – tjäh – tjäh! Sie wissen doch, daß Sie das arme Mädel heiraten müssen?«

Brush sah ihn scharf an. »Natürlich will ich sie heiraten. Ich kann sie nur nicht finden.«

»Ich muß raus von hier«, schrie Margie McGoy, »sonst schnappe ich über! Laß ihn, Remus, er ist verrückt! Glatt verrückt!« Und sie eilte in das Frühstückszimmer.

Blodgetts Verhalten nahm etwas so Gedämpftes und Vorsichtiges an, als hätte Brush ihm mitgeteilt, daß er sich mit Napoleon unterhalte, »Schrecklich, schrecklich! Wie ist das nur zugegangen?«

»Ich möchte lieber nicht davon sprechen«, sagte Brush.

Blodgett stellte einige Fragen über die Reiseroute des andern und die Geschäftslage in Texas, Dann meinte er: »Wie wär's, wenn Sie heute abend ins Zimmer raufkämen, he? – Kleines Plauderstündchen!«

»Ich möchte wohl, aber ich fahre heute vormittag nach Oklahoma City.«

»Was? Wir sind morgen dort. Wo steigen Sie ab, Kollege?«

Es stellte sich heraus, daß sie beide vorhatten, im McGray-Hotel zu wohnen, und sie vereinbarten eine Zusammenkunft für den nächsten Abend. »Gut! So um acht, ja? Kommen Sie rauf ins Zimmer und kippen Sie einen mit uns!«

»Ich trinke nicht, aber ich möchte gern ein wenig plaudern.«

»Oh, Sie trinken nicht?«

»Nein.«

»Gewiß, ich begreife – es ist gegen das Gesetz«, sagte Blodgett großmütig.

»Es untergräbt das Nervensystem und beeinträchtigt die Tüchtigkeit«, fügte Brush hinzu.

»Verdammt, Sie haben recht! Sie haben recht! ich werde auch demnächst damit aufhören. Sie haben nie 'n wahreres Wort gesprochen. – Aber Sie haben doch nichts dagegen, daß die kleine Dame und ich 'n wenig was zu uns nehmen in Ihrer Gegenwart?«

»Nein.«

Mrs. McCoy erschien in der Tür. »Remus, du komm her! Komm hierher! Er schießt am Ende, oder sonst was.«

»Was fällt dir ein, Margie? Er und schießen! Er ist schon richtig. Feiner Junge!« Er schlug Brush auf den Rücken und fügte mit vertraulich gesenkter Stimme hinzu: »Sie dürfens nicht übelnehmen. Die Kleine ist immer so, wenn sie jemanden grade erst kennenlernt.«

Blodgett blinzelte verschmitzt und folgte seiner Kusine zum Frühstück.

Brush verließ das Hotel und ging im Schatten der Pappeln die Straße hinunter. Er lauschte neiderfüllt auf die anheimelnden Geräusche, die aus den Häusern zur Rechten und Linken drangen. Hausfrauen schüttelten Teppiche am Fenster aus oder klapperten mit Pfannen auf dem Herd. Kinder riefen mit schrillen Stimmen; jeder Satz begann und endete mit einem quengelnden ›Mama!‹ Ein paar Männer hatten sich die Morgenkühle zunutze gemacht und mähten den Rasen, andre öffneten die Tür ihrer Garage und warfen einen ersten, vergewissernden Blick auf ihr Auto. Am Rande der Stadt verließ Brush die Straße und folgte einem Pfad durch hohes Gras. An einigen Müllhaufen und einer verlassenen Sägemühle vorbei kam er an einen klaren Bach, der schnell dahinschießend eine Fracht verfilzter Wasserpflanzen einem Teich zuzutragen schien. Brush legte sich neben dem Teich ins Gras und blickte auf das Bild vor sich. Zwei Ringelnattern glitten vorbei, eine kreuzte immer den Schatten der andern. in der Mitte des Teichs kletterte eine Schildkröte, zwei junge Schildkröten auf dem Rücken, auf einen faulenden Pfosten. Andre Schildkröten folgten ihnen, setzten sich breit hin, zogen die Köpfe fast ganz unter die Panzer und schlossen die Augen. Sogar die Vogelrufe verkündeten einen heißen Tag.

Brush war hierher herausgekommen, um nachzudenken. Es war sein dreiundzwanzigster Geburtstag, und Geburtstage waren feierliche Anlässe für ihn. Vor zwei Jahren war er aus der Hängematte in der Veranda seines Vaters aufgestanden, hatte das Städtchen Ludington, Michigan, durchschritten und einer um zehn Jahre älteren Witwe einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte einen Korb bekommen, aber das erhebende Gefühl, es getan zu haben, blieb ihm ebenso unvergeßlich wie der Ausdruck ihrer Augen, als sie so dastand und die Hände an der Schürze trocknete, während ihre Kinder auf dem Boden umherkrabbelten und ihm heimlich die Schuhbänder lösten. Vor einem Jahr hatte er den Abend in der Lesehalle von Abilene, Texas, verbracht und das Leben Napoleons im Konversationslexikon gelesen. Als er damit zu Ende war, hatte er einen Bleistift aus der Tasche gezogen und an den Rand geschrieben: ›Auch ich bin ein großer Mann, aber für das Gute‹, und hatte seine Anfangsbuchstaben daruntergesetzt. Der Schweiß hatte ihm auf der Stirn gestanden.

Und nun, an seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag, bereitete er sich am Teich bei Wellington, Oklahoma, auf eine Selbstprüfung vor. Und gewaltig waren seine an diesem Morgen gefaßten guten Vorsätze. Es sollte ein großes Jahr werden. Er vergaß nie die Feierlichkeit dieser Stunde, obwohl er, als sie zu Ende war, mit noch immer nüchternem Magen einschlief.

Gemäß einem der am Teich bei Wellington gefaßten Entschlüsse befand sich Brush gegen Mittag desselben Tags sechzig Kilometer weit entfernt in Armina, wohin er gefahren war, um seine Ersparnisse von einer Bank in dieser Stadt abzuheben. Die Bank war ein einziger großer Raum, hoch und hell, dessen Mitte ein von Marmor und vernickelten Stahlgittern strotzender Käfig einnahm. Neben der Tür saß der Präsident in seinem kleineren Käfig und war verzweifelt. Wenn kein Wunder geschah, hatte seine Bank kaum mehr als eine Woche zu leben. Seit Monaten brachen die Banken in allen Staaten der Union zusammen, und nun würde sogar diese Bank, die ihn etwas Ewiges gedünkt hatte, gezwungen sein, ihre Schalter zu schließen.

Brush warf einen Blick auf den Präsidenten, widerstand aber der Versuchung, mit ihm zu reden, trat an ein Schreibpult, zog sein Bankbuch hervor und schrieb einen Scheck aus. Dann ging er zum Kassenschalter.

»Ich löse mein Konto auf«, sagte er. »Ich möchte alles abheben, ausgenommen die Zinsen.«

»Wie meinen Sie, bitte?«

»Ich will mein Geld herausnehmen«, wiederholte Brush und erhob seine Stimme, als wäre der Kassierer taub. »Aber die Zinsen will ich drinlassen.«

Der Kassierer blinzelte einen Augenblick und begann dann in seinen Geldstücken herumzufingern. Endlich murmelte er: »Ich glaube nicht, daß wir ihr Konto für einen so kleinen Betrag offenhalten können.«

»Sie verstehn mich nicht. Ich lasse die Zinsen nicht als Guthaben hier. Ich will sie nicht. Geben Sie sie einfach der Bank zurück. Ich glaube nicht an Zinsen.«

Der Kassierer begann verzweifelte Blicke nach rechts und links zu werfen. Er zahlte beides, Kapital und Zinsen, durch das Gitter aus und stammelte dabei: »… die Bank … Sie müssen anderswie über die Zinsen verfügen.«

Brush nahm die fünfhundert Dollar und schob den Rest zurück. Er erhob die Stimme zu schneidender Schärfe, und in dem ganzen Raum konnte man hören, wie er sagte: »Ich glaube nicht an Zinsen.«

Der Kassierer eilte zum Präsidenten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der sprang bestürzt auf, als hätte man ihm gesagt, ein Dieb sei in der Stahlkammer. Er lief zur Eingangstür und hielt Brush an, der soeben hinausgehn wollte.

»Mr. Brush?«

»Ja.«

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Mr. Brush? Hier drin.«

»Gewiß«, erwiderte Brush und folgte ihm durch eine niedrige Tür in den Präsidentenkäfig.

Mr. Southwicks großer Kopf ähnelte dem eines betrübten Schafs und wirkte durch beständiges nervöses Herumrichten an verschiedenen Brillen und Kneifern und schwarzen Seidenbändern noch lächerlicher. Seine berufliche Würde ruhte auf einem ungeheuern Bauch, der von blauem Kammgarn zusammengehalten und mit einer Goldkette gebunden war. Er und Brush setzten sich zu beiden Seiten dieses Monuments und sahn einander in beträchtlicher Erregung an.

»Mm … hm … Sie fühlen sich veranlaßt, Ihre Ersparnisse abzuheben, Mr. Brush?« fragte der Präsident leise, als forschte er einer intimen hygienischen Angelegenheit nach.

»Ja, Mr. Southwick«, erwiderte Brush, der den Namen von einer gerahmten Tafel auf dem Schreibtisch ablas.

»… und Sie lassen Ihre Zinsen in der Bank?«

»Ja.«

»Was, wünschen Sie, sollen wir mit ihnen tun?«

»Darüber kann ich nicht verfügen. Die Zinsen gehören nicht mir. Ich habe sie nicht verdient.«

»Aber ihr Geld, Mr. Brush, – wenn Sie mir die Bemerkung gestatten – ihr Geld hat sie verdient.«

»Ich glaube nicht daran, daß Geld das Recht hat, Geld zu verdienen.«

Mr. Southwick schluckte. Und dann sagte er, in dem Ton, in dem er einst seiner Tochter erklärt hatte, daß die Erde rund ist: »Aber das Geld, das Sie hier eingelegt hatten … dieses Geld hat für uns Geld verdient. Die Zinsen stellen den Nutzen dar, den wir mit Ihnen teilen.«

»Ich glaube nicht an solchen Nutzen.«

Mr. Southwick rückte seinen Stuhl vor und stellte noch eine Frage: »Mm … hm … Darf ich wissen, warum Sie es für gut fanden, grade jetzt ihr Geld abzuheben?«

»Warum? Das will ich Ihnen gern sagen, Mr. Southwick. Sehn Sie, ich habe in letzter Zeit sehr viel über Geld und Banken nachgedacht. Ich habe die ganze Sache noch nicht völlig durchgedacht – das werde ich erst können, wenn mein Urlaub kommt, im November, – aber ich habe wenigstens erkannt, daß ich für meine Person an das Geldsparen nicht mehr glaube. Bisher war ich gewohnt, daran zu glauben, daß es einem gestattet ist, ein wenig Geld – wie etwa fünfhundert Dollar – zu sparen, fürs hohe Alter, wissen Sie, oder für den Fall, daß der Blinddarm platzt oder daß man sich plötzlich verheiratet – für die unvorhergesehnen Fälle, wie man sagt. Nun aber sehe ich ein, daß das alles falsch ist. Ich habe ein Gelübde getan, Mr. Southwick. Ich habe das Gelübde freiwilliger Armut getan.«

»Was für ein Gelübde?« fragte Mr. Southwick, während ihm die Augen aus dem Kopf traten.

»Freiwilliger Armut – wie Gandhi. Ich habe immer einigermaßen danach gelebt. Worauf es ankommt, das ist, nie irgendwo Geld aufgespart zu haben. Verstehn Sie?«

Mr. Southwick trocknete sich die Stirn.

»Wenn mein monatlicher Gehaltscheck kommt«, fuhr Brush ernst fort, »schenke ich sogleich alles Geld weg, das vom vorhergehenden Monat übrig ist, aber ich habe immer gewußt, daß das im Grunde nicht ehrlich war. Ehrlich gegen mich selbst, meine ich – denn die ganze Zeit hatte ich fünfhundert Dollar in dieser Bank hier versteckt. Von nun an jedoch, Mr. Southwick, werde ich keine Banken mehr brauchen. Die Tatsache, daß ich dieses Geld hier liegen hatte, war ein Zeichen, daß ich in Furcht lebte.«

»Furcht?« rief Mr. Southwick. Er schlug so heftig auf die Glocke auf seinem Schreibtisch, daß sie mit einem Krach zu Boden fiel.

»Jawohl«, sagte Brush, und seine Stimme schwoll, je klarer ihm die Wahrheit wurde. »Niemand, der Geld in einer Bank aufgespeichert hat, kann wirklich glücklich sein. Das ganze hier eingeschlossene Geld wird gespart, weil die Menschen sich vor unvorhergesehnen Fällen fürchten. Sie fürchten sich, so sagen sie, daß es immer noch schlimmer kommen könnte. – Mr. Southwick, darf ich fragen, ob Sie religiös sind?«

Mr. Southwick war Diakon der Ersten Presbyterianerkirche und hatte zwanzig Jahre lang einen rotsamtenen Klingelbeutel herumgereicht, aber bei dieser Frage sprang er auf, als hätte er einen Rippenstoß erhalten. Ein Beamter der Bank näherte sich. »Gehn Sie an die Ecke und holen Sie Mr. Gogarty rein«, befahl Mr. Southwick heiser. »Aber laufen Sie!«

»Dann wissen Sie, wovon ich spreche«, fuhr Brush fort. Seine Stimme war nun im ganzen Saal zu hören. Beamte und Kunden stutzten und horchten bestürzt. »Es gibt kein Immernochschlimmerkommen für einen guten Menschen. Es gibt nichts zu befürchten. Geld zu sparen, ist ein Zeichen, daß man Furcht hat, und diese Furcht erzeugt eine neue Furcht und diese wieder eine. Niemand, der Geld in der Bank hat, kann wirklich glücklich sein. Es ist ein Wunder, daß Ihre Einleger bei Nacht schlafen können, Mr. Southwick. Da liegen sie und zerbrechen sich den Kopf, was mit ihnen geschehn wird, wenn sie alt oder krank werden oder die Banken in Schwierigkeiten geraten –«

»Hören Sie auf! Hören Sie auf mit Ihrem Gerede!« schrie Mr. Southwick, sehr rot im Gesicht. Ein Polizist betrat die Bank. »Mr. Gogarty, verhaften Sie diesen Mann! Er ist hergekommen, um Unruhe zu stiften. Führen Sie ihn sogleich ab!«

Brush trat auf den Polizisten zu. »Verhaften Sie mich nur!« sagte er. »Hier bin ich. Was habe ich getan? Gar nichts habe ich getan. Ich werde es dem Richter erzählen. Ich werde es aller Welt erzählen, was ich gesagt habe.«

»Gommense mit! Machense geene Fisimatenten und gommense hibsch ruhig mit.«

»Sie brauchen mich nicht zu stoßen«, sagte Brush, »Ich komme mit Freuden.«

Er wurde ins Gefängnis abgeführt.

»Mein Name ist George Marvin Brush«, sagte er und ergriff die Hand des Aufsehers.

»Nehmen Sie Ihre dreckige Tatze weg!« schrie der Beamte. »Jerry soll Fingerabdrücke von dem Mann machen.«

Brush wurde in einen andern Raum geführt, um daktyloskopiert und fotografiert zu werden.

»Mein Name ist George Marvin Brush«, sagte er, die Hand des Fotografen ergreifend.

»Guten Tag«, erwiderte der. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Bohardus mein Name.«

»Verzeihung, ich habe nicht recht verstanden«, sagte Brush höflich.

»Bohardus – Jerry Bohardus.«

Jerry Bohardus war ein pensionierter Polizist von freundlichem Wesen und träumerisch unsicherem Auftreten. Ein Büschel langer grauer Haare hing ihm in die Stirn. »Stellen Sie sich gefälligst vor diesen Glastisch hier!« sagte er. »Schönes Wetter haben wir heute.«

»Ja«, sagte Brush, »draußen ist es sehr schön.«

»So, jetzt legen Sie Ihre Hand leicht auf dieses Farbkissen, Mr. Brown. So ist's recht. Sie haben's heraus. Großartig!« Er senkte die Stimme und fügte vertraulich hinzu: »Nehmen Sie diese kleine Prozedur nicht übel, Mr. Brown. Nur eine Formsache, die wir erledigen müssen, verstehn Sie. Hat nichts zu sagen. Diese Fingerabdrücke werden nach Washington gesandt, wo fünfundachtzigtausend andre liegen – manche von ihnen sogar von Richtern und Bürgermeistern, jawohl, mein Herr. Und es sollte mich nicht wundern, wenn auch ein paar Senatoren darunter wären, – nun die andre Hand, mein Junge! Sie treffen das prächtig. – Haben Sie das wirklich nie zuvor gemacht?«

»Nein«, sagte Brush. »Denen in der andern Stadt, wo ich verhaftet wurde, schien nicht viel daran zu liegen.«

»Die haben wahrscheinlich die Apparatur nicht besessen«, erwiderte Bohardus und klopfte selbstgefällig mit den Knöcheln auf die Glasplatte. »Wir haben zweitausend Dollar für die hier gezahlt. Und sie ist 'ne Zuckerpflaume.«

Brush betrachtete eingehend das Resultat. »Dieser Daumen ist nicht sehr deutlich, Mr. Bohardus«, sagte er. »Ich sollte es eigentlich wiederholen.«

»Nein, er ist deutlich genug. Sehr schöner Daumen. Sehn Sie die Spiralen?«

»Ja.«

»Buchstäblich die schönsten Spiralen, die ich je gesehn hab. Manche Leute behaupten, sie drücken den Charakter aus.«

»Wirklich?«

»Sie behaupten's zumindest. Wir werden jetzt eine Aufnahme von Ihnen machen. Wollen Sie gefälligst Ihren Kopf in diesen Rahmen stecken? So, so ist's recht. – Komische Sache, diese Fingerabdrücke«, fuhr Bohardus fort und lehnte ein Brett mit Ziffern Brush vor die Brust. »Selbst wenn es eine Trillion Trillionen gäbe, wären keine zwei gleich.«

»Das ist ja wunderbar«, erwiderte Brush mit von ehrfürchtigem Staunen gedämpfter Stimme. Bohardus zog sich unter ein schwarzes Tuch zurück.

»Soll ich lächeln?« fragte Brush.

»Nein«, antwortete Bohardus auftauchend und die Linsen einstellend. »Gewöhnlich verlangen wir das nicht.«

»Vermutlich haben Sie in Ihrem Leben schon eine Menge Verbrecher gesehn, Mr. Bohardus?«

»Ich? Natürlich. Habe Leute bertilloniert, die ihre Familie umgebracht oder ihre Frauen vergiftet oder die Flagge bespuckt haben. Sie würden gar nicht glauben, was ich alles gesehn habe. – So, nun brauchen wir noch ihr Profil, Mr. Brown. So ist's recht!« Er kam herbei und drehte Brush den Kopf zur Seite. Er benützte die Gelegenheit, um taktvoll zu fragen: »Darf ich mich erkundigen, was Sie angeblich getan haben sollen, Mr. Brown?«

»Ich habe gar nichts getan, ich habe nur einem Bank-Präsidenten gesagt, daß Banken unmoralische Anstalten sind, und man hat mich verhaftet.«

»Was Sie nicht sagen! – Na, Kopf hoch, Mr. Brown!«

»Ich heiße Brush, George Marvin Brush.«

»Oh, ach so. – Na, was ist schon ein Name? – So, ich glaube, wir haben nun ein paar recht gute Bilder.«

»Verkaufen Sie Abzüge von ihnen, Mr. Bohardus?«

»Das dürfen wir nicht, schätze ich. Jedenfalls war nie große Nachfrage.«

»Ich dachte mir, ich könnte ein paar kaufen. Seit mehr als zwei Jahren habe ich mich nicht mehr aufnehmen lassen. Meine Mutter hätte gern ein Bild.«

Bohardus starrte ihm ganz nahe ins Gesicht. »Ich glaube nicht, daß es guten Charakter beweist, sich darüber lustig zu machen, Mr. Brown, und ich muß Ihnen sagen, es gefällt mir nicht. in fünfzehn Jahren hat sich hier noch niemand darüber lustig gemacht – nicht einmal Mörder.«

»Glauben Sie mir, Mr. Bohardus«, erwiderte Brush und wurde rot, »Ich habe mich über gar nichts lustig machen wollen. Ich sah nur sogleich, daß Sie ein guter Fotograf sind, weiter dachte ich mir nichts dabei.«

Bohardus bewahrte ein zorniges Schweigen, und als Brush weggeführt wurde, ließ er seinen Gruß unerwidert.

Der Polizeikommissär, Mr. Southwick und andere Würdenträger waren in einer ernsten Besprechung, als man Brush in die Kanzlei des Gefängnisdirektors brachte. Er trat sogleich auf Mr. Southwick zu.

»Ich sehe noch immer nicht ein, was an dem, was ich gesagt habe, Unrechtes war, Mr. Southwick. Ich kann mich nicht entschuldigen für ein Mißverständnis, das ich nicht begreife. Ich kann verstehn, daß Sie sich vielleicht gekränkt fühlen, weil ich keine sehr hohe Meinung vom Bankgeschäft habe, aber deswegen kann man mich nicht einsperren. Und ich vermag meine Ansicht davon auch nicht zu ändern. Jedenfalls verlange ich nicht mehr als eine gerechte Untersuchung, und ich glaube, in einer halben Stunde kann ich mich von jedem Verdacht reinigen. Und ich hoffe, es werden so viele Leute als möglich im Gerichtssaal sein. Denn in diesen Krisenzeiten sollte eine Menge Leute wissen, wie Gandhi über Geld denkt.«

Der Polizeikommissär kam drohend auf ihn zu. »Jetzt hören Sie auf mit dieser Narretei! Hören Sie sofort auf! Was ist denn überhaupt los mit Ihnen?« Er wandte sich wieder an seine Leute. »Jerry meint, bei diesem Vogel ist 'ne Schraube locker. Vielleicht sollten wir ihn nach Monktown rauf schicken zur Überprüfung. – Wie wär's damit, junger Mann? Was ist denn nur los mit Ihnen? Haben Sie 'nen Sparren?«

»Nein, durchaus nicht!« schrie Brush heftig. »Und nun kriege ich die Geschichte hier satt. Sie können ganz gut sehn, daß ich nicht verrückt bin. Stellen Sie die vertracktesten Proben mit mir an, die Sie wollen: Gedächtnis, Daten, Geschichte, Bibel! Ich bin amerikanischer Bürger und gesunden Geistes, und der nächste, der mich verrückt nennt, wird dafür einstehn müssen, auch wenn ich Pazifist bin. Ich habe Mr. Southwick gesagt, daß seine Bank und jede andre Bank nichts ist als ein wackeliges Gemäuer aus Furcht und Feigheit …«

»Schon gut, machen Sie 'nen Punkt! Steigen Sie runter!« fuhr ihn der Kommissär an, »Und nun geben Sie gut acht, Brush! Wenn Sie nicht in einer Stunde aus dieser Stadt verschwunden sind, kriegen Sie die Zwangsjacke und sechs Monate Überprüfung des Geisteszustands. Haben Sie gehört?«

»Ich würde mich der sehr gern unterziehen«, sagte Brush, »aber ich habe leider nicht sechs Monate Zeit.«

»Gogarty«, befahl der Kommissär, »führen Sie ihn zum Bahnhof!«

Gogarty war ein großer starker Mann mit derbknochigen Wangen und blaßblauen Augen. »Wollense gutmietig mitgommen?« fragte er.

»Natürlich will ich«, sagte Brush.

Nachdem sie schweigend ein paar Straßen weit gegangen waren, blieb Gogarty stehn, wandte sich, tippte mit dem Zeigefinger auf Brush's Rockaufschlag und fragte in vertraulichem Ton: »Sagense ämol, mein Junge, woher wissense, daß die Mariana-Bang waggelt? Wer hat's Ihnen geschdäggt?«

»Ich habe nicht nur die Mariana-Bank gemeint, sondern alle Banken.«

Diese Antwort befriedigte Gogarty nicht. Gedankenverloren starrte er weiter über seine Brille Brush ins Gesicht. Dann wandte er sich um und blickte die Straße hinauf.

»Is mersch doch, als wären nu 'ne Menge Leite dort vor der Bang«, sagte er. Plötzlich war er wie elektrisiert: »Rührnse sich nich von meiner Seite!« befahl er und eilte in das Haus, vor dem sie standen. Eine Frau wusch Teller. »Mrs. Fowler«, sagte Gogarty streng, »als Bolizist dieser Schtadt seh ich mir gezwungen, ihr Delefon zu benietzen.«

»Aber gewiß, Mr. Gogarty«, erwiderte Mrs. Fowler nervös.

»Und ich muß Sie heflichst bitten, Madam, sich uf die Veranda hinauszubegäben, während ich hier schbreche.«

Mrs. Fowler gehorchte. Sobald Gogarty Verbindung erhalten hatte, sagte er: »Mary, setz deinen Hut auf. Tu, was ich dir sag! Geh runder in die Bang und nimm unser ganzes Geld raus, bis zum letzten Cent. Und lauf! Nur 'ne halbe Schtunde Zeit. Awer sag niemand was!«

Er verließ mit Brush das Haus und gestattete Mrs. Fowler, zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Wieder spähte er die Straße hinauf, entschied, daß seine Pflicht ihn dorthin rief, und vertraute Brush, allein zum Bahnhof zu finden.

Mr. Southwick war nach Hause gegangen und lag um diese Zeit in einem verdunkelten Zimmer auf dem Diwan. Bisweilen stöhnte er, worauf seine Frau, die nur auf den Zehenspitzen zu gehn wagte, sich erhob, den nassen Umschlag auf seiner Stirn wechselte und flüsterte: »Sch, Timothy! Mach dir bloß keine Sorgen. Schlaf jetzt ein bißchen! Sch!«

Zweites Kapitel

Oklahoma City. Hauptsächlich Gespräche. Das Erlebnis in der Scheune. Margie McCoy erteilt Rat.