Der achte Schöpfungstag - Thornton Wilder - E-Book

Der achte Schöpfungstag E-Book

Thornton Wilder

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Beschreibung

National Book Award für den besten amerikanischen Roman des Jahres 1967 Vordergründig ist diese amerikanische Saga eine Kriminalgeschichte: Ein unschuldig wegen Mordes zum Tode Verurteilter wird auf der Fahrt zur Hinrichtung von Maskierten befreit. Er beginnt seine Flucht, seine Familie sieht ihn nie wieder. In Rückblenden und Perspektiven des Zukünftigen wird Stück um Stück, durch mehrere Generationen, die Geschichte zweier amerikanischer Familien aufgerollt, die des Ermordeten und die des angeblichen Mörders. Dahinter steht in diesem großen Roman die Frage nach dem Sinn von Leben und Tod.

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Seitenzahl: 728

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Thornton Wilder

Der achte Schöpfungstag

Roman

Aus dem Amerikanischen von Herbert E. und Marlys Herlitschka

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologI ›The Elms‹II Von Illinois nach ChileIII ChikagoIV Hoboken, New JerseyV ›St. Kitts‹VI Coaltown, Illinois

Für Isabel Wilder

Prolog

Im Frühsommer 1902 stand John Barrington Ashley aus Coaltown, einem Bergwerksstädtchen im südlichen Illinois, wegen Mordes an Breckenridge Lansing, auch aus Coaltown, vor Gericht. Er wurde für schuldig befunden und zum Tod verurteilt. Fünf Tage später, um ein Uhr morgens am 22. Juli, einem Dienstag, entkam er seinen Wächtern aus dem Eisenbahnzug, der ihn an den Ort der Hinrichtung bringen sollte.

Das war der ›Fall Ashley‹, der im ganzen Mittelwesten beträchtlich viel Interesse, Entrüstung und Spott erregte. Niemand bezweifelte, daß Ashley absichtlich oder zufällig Lansing erschossen hatte, aber es herrschte allgemein das Gefühl, der Prozeß sei von einem senilen Richter, einer unfähigen Verteidigung und einer voreingenommenen Geschworenenbank verpfuscht worden – der ›Kohlenpott-Prozeß‹, der ›Kohlenloch-Prozeß‹. Als obendrein der verurteilte Mörder einer Eskorte von fünf Mann entkam – in Handschellen, Sträflingskleidung und mit kahlrasiertem Kopf – und in die leere Luft verschwand, war sogar der Staat Illinois selbst lächerlich gemacht. Ungefähr fünf Jahre später verlautbarte die Justizbehörde in Springfield, bisher unbekanntes Beweismaterial habe die völlige Unschuld Ashleys erwiesen.

Es war also in einer Kleinstadt des Mittelwestens in einem an sich unbedeutenden Fall zu einem Fehlurteil gekommen.

Ashley schoß Lansing in den Hinterkopf, während die beiden Männer auf dem Rasen hinter Lansings Haus bei ihrer gewohnten Sonntagnachmittagsschießübung waren. Nicht einmal die Verteidigung behauptete, die Tragödie sei bloß ein Unfall infolge technischer Mängel gewesen. Das Gewehr wurde im Beisein der Geschworenen mehrmals abgefeuert und erwies sich als in tadellosem Zustand. Ahsley war als hervorragend guter Schütze bekannt. Der Getroffene stand etwas vor und fünf Schritte links von Ashley. Es war ein wenig erstaunlich, daß das Geschoß oberhalb des linken Ohrs in Lansings Schädel eingedrungen war, aber es wurde angenommen, daß er soeben den Kopf gewendet hatte, um auf Geräusche zu horchen, die von einem Jugendfest im Gedächtnispark jenseits der Hecke herkamen. Ashley wich nie von seiner Behauptung ab, weder der Absicht noch der Tat nach schuldig zu sein, so lächerlich diese Behauptung auch war. Die einzigen Augenzeugen waren die Ehefrauen des Angeklagten und seines Opfers. Sie saßen nahebei unter den Graunußbäumen und bereiteten Limonade. Beide sagten aus, daß nur ein einziger Schuß abgefeuert worden war. Der Prozeß zog sich übermäßig in die Länge, weil einige Mitglieder des Gerichtshofs erkrankten und sich unter den Geschworenen und ihren Ersatzmännern sogar Todesfälle ereigneten. Zeitungsberichterstatter hoben die durch Ausbrüche von Gelächter verursachten Verzögerungen hervor, denn ein Unfugsteufel schien im Gerichtssaal sein Wesen zu treiben. Sprachliche Entgleisungen waren häufig. Beim Aufrufen der Zeugen kam es zu Namensverwechslungen. Richter Crittendens Hämmerchen zerbrach. Ein Reporter aus St. Louis nannte das Ganze einen »Hyänenschmaus«.

Daß kein Motiv für das Verbrechen festgestellt werden konnte, das war es, was eine so weitverbreitete Entrüstung hervorrief. Die Staatsanwaltschaft brachte zu viele Beweggründe vor, und kein einziger von ihnen war überzeugend. Coaltown jedoch war überzeugt, es wisse, warum Ashley Lansing getötet hatte, und die meisten Mitglieder des Gerichtshofs waren aus Coaltown. Jedermann wußte es und niemand erwähnte es. In Coaltown lassen sich bessere Leute nicht in Gespräche mit Fremden ein. Ashley tötete Lansing, weil Ahsley in Lansings Frau verliebt war, und die Geschworenen sandten ihn ohne Bedenken und einstimmig in den Tod, und dies, wie eine Chikagoer Zeitung schrieb, »mit schamloser Gemütsruhe«. Die Ermahnung, die der alte Richter Crittenden den Geschworenen in dieser Hinsicht zuteil werden ließ, hatte besonderes Gewicht; er trug ihnen – fast mit einem Blinzeln des Einverständnisses – auf, ihrer ernsten Pflicht zu genügen, und das taten sie. Für die Reporter von auswärts war der Prozeß eine Posse, und er wurde bald zu einem Skandal im ganzen obern Mississippital. Die Verteidigung tobte, die Zeitungen höhnten, Telegramme regneten auf den Gouverneurspalast in Springfield herab, aber Coaltown wußte, was es wußte. Dieses Stillschweigen über die sündigen Beziehungen zwischen John Ashley und Eustacia Lansing entsprang nicht etwa einem ritterlichen Wunsch, den guten Ruf einer Dame zu wahren; es gab einen stärkern Grund dafür. Kein Zeuge wagte diese Anschuldigung auszusprechen, weil kein Zeuge auch nur den geringsten Beweis besaß. Klatsch hatte sich zu Überzeugung verfestigt, wie Vorurteil sich zu selbstverständlicher Wahrheit verfestigt.

Eben in dem Augenblick, in dem die Entrüstung der Öffentlichkeit aufs höchste gestiegen war, entkam John Ashley seinen Wächtern. Flucht wird fast immer als ein Eingeständnis von Schuld ausgelegt, und Fragen nach dem Motiv der Tat wurden belanglos.

Es ist möglich, daß das Urteil weniger hart ausgefallen wäre, wenn Ashley sich im Gerichtssaal anders benommen hätte. Er zeigte keine Spur von Furcht. Er bot nicht das faszinierende Schauspiel zunehmender Angst und beginnender Reue. Er saß während der langen Verhandlungen gelassen zuhörend da, als erwartete er, das Verfahren werde seine mäßige Neugier, wer Breckenridge Lansing getötet habe, befriedigen. Aber freilich war er für die Einwohner von Coaltown schon immer ein absonderlicher Mensch gewesen. Er war gradezu ein Ausländer – das heißt, er kam aus dem Staat New York und sprach so, wie die Leute dort reden. Seine Frau, eine Deutsche, sprach auch so, aber mit ihrem eignen leichten Akzent. Ashley schien keinen Ehrgeiz zu besitzen. Er hatte fast zwanzig Jahre lang in der Bergwerkskanzlei für ein sehr kleines Gehalt gearbeitet – ein so kleines wie das des zweitbestbezahlten Geistlichen der Stadt – und war offenbar damit zufrieden gewesen. Er fiel sozusagen durch einen Mangel an auffälligen Eigenschaften auf. Er war weder dunkelhaarig noch blond, weder hochgewachsen noch klein, weder dick noch dünn, weder rege noch träge. Er besaß ein recht angenehmes Äußeres, das aber selten einen zweiten Blick auf sich zog. Ein Reporter aus Chikago bezeichnete ihn am Beginn des Prozesses wiederholt als »unsre uninteressante Hauptfigur«. (Später besann er sich anders – ein Mann, der in einem Prozeß, bei dem es um sein Leben geht, keine Ängstlichkeit zeigt, erweckt Interesse.) Frauen hatten Ashley gern, weil er sie gern hatte und weil er ein aufmerksamer Zuhörer war; Männer – ausgenommen die Obersteiger im Bergwerk – schenkten ihm wenig Beachtung, obgleich etwas in seiner schweigsamen Zurückhaltung bewirkte, daß sie sich beständig bemühten, Eindruck auf ihn zu machen.

Breckenridge Lansing war groß und breitschultrig und blond. Mit jovialer Freundschaftlichkeit zerbrach sein Händedruck jedermann fast die Finger. Sein Lachen war hemmungslos laut, und wenn er in Zorn geriet, hielt er sich nicht zurück. Er war gesellig; er gehörte jeder Loge, jedem Brüderorden und jedem Verein an, die es in dem Städtchen gab. Er liebte Rituale: Tränen kamen ihm leicht in die Augen – männliche Tränen; er schämte sich ihrer nicht, wenn er zum hundertstenmal gelobte, »den Brüdern Freundschaft bis in den Tod zu halten« und »tugendhaft in Gott zu wandeln und bereit zu sein, sein Leben für sein Land hinzugeben«. Es sind wahrhaftig solche Gelübde, die dem Leben eines Mannes Sinn verleihen! Er hatte seine kleinen Schwächen. Er verbrachte so manchen Abend in jenen Lokalen draußen an der River Road und kam erst im Morgengrauen heim. Das war nicht das Benehmen eines exemplarischen Familienvaters, und Mrs. Lansing mochte vielleicht einigen Grund haben, es übelzunehmen. Aber bei öffentlichen Anlässen – beim Fest der Freiwilligen Feuerwehr, bei der Schulschlußfeier – überhäufte er sie mit Aufmerksamkeiten und ließ alle sehen, wie stolz er auf sie war. Es war allgemein bekannt, daß er als Betriebsleiter der Gruben nichts taugte und sich selten vor elf Uhr in der Kanzlei blicken ließ. Als Vater hatte er sicherlich bei der Erziehung zweier seiner drei Kinder versagt. George galt als ein Wildling und ein ›Schrecken‹. Anne war ein gewinnendes Kind, das meistens durch Wutanfälle und Ungezogenheit gewann. Aber diese kleinen Unzulänglichkeiten Lansings waren verständlich. Mehrere von ihnen hatte er mit den angesehensten Bürgern der Stadt gemein. Er war wohlgelitten und ein munterer Gesellschafter. Was für einen prächtigen Prozeß hätte es gegeben, wenn es Lansing gewesen wäre, der Ashley erschoß! Wie er sich da in Szene gesetzt hätte! Die Stadt hätte dafür gesorgt, daß er zuerst tüchtig eingeschüchtert und geduckt worden wäre, und hätte ihn dann freigesprochen.

Dieser unbedeutende Fall in einer Kleinstadt des südlichen Illinois wäre vielleicht sogar noch früher in Vergessenheit geraten, wenn die Flucht des Verurteilten nicht von so geheimnisvollen Umständen begleitet gewesen wäre. Er selbst rührte keinen Finger. Er wurde befreit. Sechs Männer – als Eisenbahner gekleidet, die Gesichter mit angekohltem Kork geschwärzt – drangen in den verschlossenen Waggon ein. Sie zerschmetterten die Hängelampen, und ohne einen Schuß abzufeuern oder ein Wort zu äußern, überwältigten sie die Wächter und trugen den Häftling aus dem Zug. Zwei der Wächter gaben je einen Schuß ab, wagten dann aber keinen mehr aus Furcht, im Dunkeln einen der ihren zu treffen. Wer waren diese Männer, die ihr eignes Leben aufs Spiel setzten, um John Ashleys Leben zu retten? Gedungene Helfershelfer? Mrs. Ashley erklärte vor den Abgesandten der Justiz – der erbosten, gedemütigten Polizei – wiederholt, sie habe keine Ahnung, wer die Männer gewesen seien. Alles, was mit der Entführung zusammenhing, hatte etwas fast Furchteinflößendes – diese Energie, Geschicklichkeit und Genauigkeit, vor allem aber das völlige Schweigen und die Tatsache, daß die Retter unbewaffnet waren. Es war unheimlich; es war beinahe übernatürlich.

John Ashleys Prozeß und sein Entkommen gaben den Staat Illinois der Lächerlichkeit preis. Bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs – der bewirkte, daß die Amerikaner im ganzen Land umherreisten und ihren Wohnsitz je nach Laune wechselten – glaubten alle, Mann, Weib und Kind, in der besten Stadt im besten Staat des besten Lands der Welt zu leben. Diese Überzeugung erfüllte sie mit einer gewissen Kraft, und die wurde noch verstärkt durch eine unablässige Geringschätzung aller benachbarten Städte, Staaten und Länder. Solcher Lokalstolz wurde schon den Kindern eingepflanzt, und kindliche Gefühle des Stolzes oder der Demütigung sind zählebig. Die Kinder wandten jenen Grundsatz sogar auf die Straße an, in der sie wohnten. Man konnte sie auf dem Rückweg von der Schule sagen hören: »Wenn ich in der Eichenstraße leben müßte, ich würde sterben!« »Na, jeder Mensch weiß, wer in der Ulmenstraße wohnt, ist verblö-ö-det. Ätsch!«

Oberst Stotz, der Oberstaatsanwalt von Illinois, gehörte zu den führenden Bürgern des größten Staats im größten Lande der Welt. Die Kuppel des Staatshauses (ehemals Abraham Lincolns Staatshaus), in welchem er seines Amtes waltete, war das sichtbare Symbol der Gerechtigkeit, Würde und Ordnung. Die Verachtung, die sich als Folge des ›Falls Ashley‹ während seiner vierten und letzten Amtsperiode über Illinois ergoß, verdüsterte ihm den hellsten Mittag und ließ einen Abgrund vor seinen Füßen klaffen. Er haßte schon den bloßen Namen Ashley und war entschlossen, den Verurteilten bis in die fernsten Winkel der Erde zu verfolgen.

An dem Montagvormittag nach Lansings Tod wurden die Ashleykinder aus der Schule genommen – zur großen Enttäuschung ihrer Mitschüler. Nur noch Sophia wurde in der Stadt gesehen, wenn sie an Stelle ihrer Mutter die Einkäufe für den Haushalt besorgte. Ella Gates spuckte ihr auf den Stufen vor dem Postamt ins Gesicht. Ashley verbot seinen Töchtern, in den Gerichtssaal zu kommen. Tag für Tag saß Roger, siebzehneinhalb Jahre alt, neben seiner Mutter im Zuhörerraum, und auch er brachte seine Mitbürger um jedes Schauspiel von Furcht. Wie Roger später sagte: »Mama zeigt erst, wenn alles schiefzugehn droht, was in ihr steckt.« Sie saß ein paar Schritte von der Anklagebank entfernt. Es betrübte sie, zu erkennen, daß Schlaflosigkeit ihre Wangen der Farbe beraubte. Jeden Morgen um acht Uhr dreißig rieb sie sie lange und heftig, um einen Anschein von Wohlbefinden und unerschütterlicher Zuversicht hervorzurufen.

Eine zusätzliche, die Ashleys betreffende wunderliche Tatsache kam während des Prozesses ans Licht: Niemand von den Verwandten Johns und Beatas erschien in der Stadt, um ihnen beizustehn oder sie zu trösten.

Mit der Zeit wurde die Geschichte zur Legende und wurde immer unrichtiger wiedererzählt. Es hieß, daß einige Verbrecher aus New York den Zug angehalten hätten; jedem seien von Ashleys Herzliebster, der Witwe des von ihm Ermordeten, tausend Dollar gezahlt worden. Oder daß Ashley, von seinem Sohn Roger unterstützt, sich mit Revolverschüssen durch einen Trupp von elf Wächtern den Weg in die Freiheit gebahnt habe. Sogar nachdem die Justizbehörde John Ashley von jeder Schuld freigesprochen hatte, gab es noch viele Leute, die blinzelnd in wissendem Ton sagten: »Hinter der Sache steckte so manches, was nie ans Licht kam.« Die Ashleykinder und die Lansingkinder verließen Coaltown eins nach dem andern. Dann zogen zuerst Mrs. Ashley und später Mrs. Lansing an die Küste des Pazifiks. Es schien, daß die Zeit allmählich die ganze unselige Geschichte tilgte, wie sie so viele andre getilgt hat. Aber nein!

Ungefähr neun Jahre später begannen die Leute wieder von dem ›Fall Ashley‹ zu reden. Journalisten und gewöhnliche Bürger, sogar Wissenschaftler suchten den Zeitschriftensaal öffentlicher Bibliotheken auf, um in Bänden vergilbender Zeitungen nachzulesen. Die Leute interessierten sich immer mehr für die ›Ashleykinder‹, deren jedes sich durch ein andres Lebenswerk sosehr auszeichnete. Jedermann interessierte sich für die ›Ashleykinder‹, ausgenommen die Ashleykinder selbst. Sie wurden Gegenstand dieser besonders lärmigen Art von Berühmtheit, die Menschen umgibt, welche sowohl bespöttelt als auch bewundert, angebetet und gehaßt werden. Sie erregten immer mehr Aufsehen, weil sie schon in so frühem Alter die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten und gewissermaßen vor einem Hintergrund von Tragik und Schmach gesehen wurden. Es wurde allgemein erkannt, daß sie eine Anzahl von Charakterzügen gemein hatten; allerdings wußten nur Leute, die sie in ihren frühen Jahren in Coaltown gekannt hatten – Dr. Gillies, Eustacia Lansing, Olga Doubkov – in welchem Ausmaß diese von den Eltern, besonders vom Vater, ererbt waren. Es fehlte ihnen jegliche Spur von Wetteifer und von dessen Begleiterscheinungen: Neid und Rachsucht, obzwar Lily und Roger in Berufen tätig waren, wo oft genug eine Krähe der andern ein Auge aushackt. Sie waren völlig unbefangen, beugten sich nie der Meinung andrer Leute und kannten keine Furcht, obzwar Constance mehr als zwei Jahre in Gefängnissen verbrachte – die Folge von sechs Verhaftungen in vier Ländern – und Roger daheim und im Ausland in effigie verbrannt wurde. Lily und Constance besaßen keine Eitelkeit, wenngleich sie zu den schönsten Frauen ihrer Zeit gehörten. Allen fehlte ein Sinn für Humor, aber mit den Jahren erwarben sie sich eine Schärfe der Ausdrucksweise, die Witzigkeit ähnelte, und ihre Aussprüche wurden vielfach zitiert. Sie hatten gar kein Selbstgefühl. Einige Leute, die sie am besten kannten, bezeichneten sie als »abstrakt«. Kein Wunder, daß sie ihren Zeitgenossen rätselhaft waren und diese ihnen verschiedentlich vorwarfen, rücksichtslos, selbstsüchtig, hartherzig, heuchlerisch und darauf aus zu sein, von sich reden zu machen. Sie hätten vielleicht noch stärkere Feindseligkeit erregt, wenn sie nicht auch etwas Absurdes gehabt hätten – etwas Naives, Lehrhaftes, Kleinstädtisches. Alle hatten sie große, abstehende Ohren (»Scheunentorflügel«) und große Füße – Himmelsgaben für Karikaturisten. Wenn Constance auf ihren endlosen Werbefeldzügen – Frauenstimmrecht, Heime für verwahrloste Kinder, Rechtsgleichheit der Ehefrau – die Stufen eines Podiums hinaufstieg (sie war besonders in Indien und Japan beliebt), erregte sie Lachstürme in der Menge; warum, das begriff sie nie.

So kam es, daß man schon 1910 und 1911 die Umstände des Falls Ashley zu studieren und Fragen aufzuwerfen begann – müßige oder wohlbedachte – über John und Beata Ashley und ihre Kinder, über Coaltown, über diese alten Preisrätsel Vererbung und Umwelt, Begabung und Talent, Schicksal und Zufall.

Dieser John Ashley – was war es denn in ihm, das (wie bei einem Helden der alten griechischen Tragödien) ein so seltsam gemischtes Schicksal über ihn brachte: unverdiente Bestrafung, eine ›wunderbare‹ Rettung, Verbannung und eine berühmte Nachkommenschaft?

Was war es in den Vorfahren und später im Familienleben der Ashleys, das diese geistige und seelische Energie nährte?

Was steckte in diesem Kangaheelatal als geographischem Mutterboden, als seelischem Klima, das solche außergewöhnliche Menschen formte?

Bestand ein Zusammenhang zwischen der Katastrophe, die beide Familien befiel, und diesen spätem Entwicklungen? Sind erlittenes Unrecht, Demütigung, Ächtung, Leid und bittere Not – sind sie ein Segen?

Es gibt nichts Interessanteres, als nachzuforschen, wie das Schöpferische sich in einem Menschen, in jedem Menschen auswirkt; wie der Geist, von Leidenschaft getrieben, sich geltend macht, wie er aufbaut und niederreißt; wie der Geist – diese späteste Manifestation des Lebens – Ausdruck findet im Staatsmann und Verbrecher, im Dichter und Bankier, im Straßenkehrer und in der Hausfrau, in Vater und Mutter; wie er Ordnung schafft oder Unheil wirkt; wie er seine Energien in Gruppen und Nationen konzentriert, sich zu Weißglut steigert und dann erschöpft in sich zusammensinkt; der Geist – der versklavt und mordet oder Gerechtigkeit und Schönheit verbreitet:

Pallas Athenes Athen, das gleich einem Leuchtturm auf einem Felsen Strahlen aussendet, die noch immer Rat haltende Männer erleuchten; Palästina, das tausend Jahre lang, gleich einem Geyser im Sand, ein Genie nach dem andern hervorbringt, so daß es bald niemand mehr auf Erden geben wird, der nicht von ihnen beeinflußt worden ist.

Gibt es immer mehr davon oder immer weniger?

Verhält sich das Gehirn neutral zwischen den zerstörerischen und den wohltätigen Kräften?

Wird es eines Tags zu einer ›Vergeistigung‹ der tierischen Natur des Menschen kommen?

Es wäre unsinnig, unsre Kinder aus dem Kangaheelatal mit den oben angeführten erhabenen Beispielen guten oder bösen Handelns zu vergleichen (schon jetzt, um die Mitte dieses unsres Jahrhunderts, sind sie fast ganz vergessen), aber:

Sie sind uns noch nahe.

Sie sind unsrer indiskreten Wißbegier erreichbar.

 

Der mittlere Teil von Coaltown ist lang und schmal und liegt zwischen zwei steilen Abbrüchen des Geländes. Da die Hauptstraße von Norden nach Südosten verläuft, empfängt sie wenig Sonnenschein. Viele der Einwohner sehen nur selten einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang oder mehr als ein Stückchen eines Sternbilds. Am Nordende stehn der Bahnhof, das Rathaus, das Gerichtsgebäude, The Illinois Tavern, das einzige Hotel der Stadt, und das Haus der Ashleys, vor langer Zeit von Airlee MacGregor erbaut und ›The Elms‹ genannt; am Südende liegen der Gedächtnispark mit seiner Statue eines Soldaten der Union, der Friedhof und das Haus Breckenridge Lansings, ›St. Kitts‹ – nach der Insel im Karibischen Meer benannt, auf der Eustacia Lansing geboren war. Diese beiden Häuser sind die einzigen in Coaltown, die von genug ebenem Grund umgeben sind, daß sich von ihnen sagen läßt, sie besitzen Gartenanlagen.

Ein träges Flüßchen, der Kangaheela, durchströmt das Tal auf der Ostseite der Hauptstraße; es erweitert sich hinter ›The Elms‹ und auch hinter ›St. Kitts‹ zu einem Teich. Die Stadt ist größer, als es den Anschein hat. Da ihr Mittelteil in ein schmales Tal gezwängt ist, thronen die Häuser vieler ihrer Bürger auf den umgebenden Anhöhen oder besäumen die nach Norden und Süden führenden Landstraßen. Die Bergleute wohnen in eignen Siedlungen auf Bluebell Ridge und Grimble Mountain. Sie haben ihre Kaufhäuser, die der Bergwerksgesellschaft gehören, ihre Schulen und ihre Kirchen. Sie kommen selten in die Stadt herunter. Coaltown hatte sich während des neunzehnten Jahrhunderts mehrmals vergrößert und wieder verkleinert. Die Gruben hatten einst mehr als dreitausend Männern und mehreren hundert Kindern Arbeit gegeben. Wellen von Einwanderern hatten sich für kurze Zeit in der Gegend niedergelassen und waren weitergezogen – Jäger und Fallensteller, religiöse Sekten, Bergleute aus Schlesien und ganze bäuerliche Gemeinschaften auf der Suche nach gutem Ackerland. Es gab nicht wenige verlassene Kirchen und Schulhäuser und Friedhöfe in dem nahen Hügelland und längs der River Road. Dr. Gillies schätzte, daß im Lauf der Zeiten rund hunderttausend Menschen in den zwei Landkreisen gelebt hatten; als er von den ausgedehnten Begräbnisstätten der Indianer in der Nähe von Goshen und Penniwick erfuhr, erhöhte er seine Schätzung.

Es mußte hier einmal ein großer seichter See gewesen sein, dem all der Sandstein seine Entstehung verdankte, aber das Land hob sich, und das meiste Wasser floß in den Ohio und den Mississippi ab. Es mußten riesige Wälder dagewesen sein, um all die viele Kohle zu erzeugen, und Jahrhunderte von Erdbeben mußten die Gesteinsschichten hochgeschoben und sie über die Wälder gefaltet haben wie Pfannkuchen über Konfitüre. Die großen, plumpen Reptile waren nicht imstande gewesen, beizeiten davonzuwatscheln, und hinterließen ihre Abdrücke in Stein – man kann sie heute im Museum in Fort Barry sehen. Welche riesigen Zeiträume erforderlich sind, damit aus Marschland ein Wald werde! Die Professoren haben sie errechnet: soundso lange, bis die Gräser den Humus für die Sträucher liefern; soundso lange, bis die Sträucher den Bäumen eine Lebensmöglichkeit geben; soundso lange, bis die Sämlinge der Eichenfamilie unter dem schützenden Schatten der wilden Kirsche und des Ahorns Wurzel fassen und sie dann verdrängen; soundso lange, bis die weiße Eiche die rote ersetzt; und soundso lange bis zum majestätischen Auftreten der Buchenfamilie, die auf ihre günstige Stunde gewartet hat – gleichsam ein ewiger Krieg der Schößlinge. Zu dem mörderischen Lebenskampf der Pflanzen kam der der Tiere. Der Todesschrei des Rotwilds schrillte Schrecken durch den Wald, wenn die großen Katzen ihre Zähne in die Halsader schlugen; der Habicht trug in seinen Fängen die Schlange in die Lüfte, die in ihrem Gebiß eine Feldmaus hielt.

Dann kam der Mensch.

Einer der besterhaltenen ›Schildkrötenhügel‹ im ganzen Gebiet der Algonkins findet sich in der Nähe von Coaltown, in Goshen, und weiter nördlich sind drei prächtige ›Schlangenhügel‹ zu sehen. Zu unsrer Zeit hatte jeder aufgeweckte Junge seine Sammlung von indianischen Pfeilspitzen, Keulen und Äxten. Die Professoren streiten sich über den Grund der wiederholten Massenschlächtereien, denn es waren bemerkenswert friedliebende Stämme. Einer dieser Gelehrten schreibt sie der Gewohnheit der Exogamie zu – Angriffen auf Stämme mit andern Totems, um Bräute für ihre jungen Krieger zu rauben. Ein andrer ist jedoch der Meinung, diese Angriffe seien durch wirtschaftliche Nöte verursacht worden: Die Bleu Barrés hatten den Wildbestand ihres Gebiets erschöpft und waren gezwungen, in das Land der Kangaheelas einzufallen. Was immer der Grund, eine Untersuchung der Skelette in den verschiedenen Nekropolen enthüllt eine erschreckliche Zahl von Verstümmelungen.

Im Jahre 1907, lange nachdem diese Stämme bereits für ausgestorben galten, stieß ein Ethnologe bei seinen Streifzügen auf eine kleine Gemeinschaft von Kangaheelas, die in elenden Hütten bei Gilchrist’s Ferry am Mississippi hausten und husteten, hundert Kilometer westlich von Coaltown. Es war schwer zu verstehn, wie sie sich am Leben erhielten; einige verkauften schlecht gemachte Mokassins, Pfeifen, Pfeile und Perlarbeiten in Ständen am Straßenrand. Mit Whisky traktiert, erzählte eines Abends ein alter Mann die Geschichte seines Stamms. Der wurde von den andern Stämmen um die Eleganz seiner Kleidung beneidet, um die Pracht seiner Tänze (Kangaheela bedeutet ›geheiligter Tanzboden‹), um seine Weisheit und seine Tüchtigkeit im Weissagen. Jeder Mann konnte, von seinem achtzehnten Jahr an, fehlerlos das ›Buch der Anfänge und Enden‹ hersagen, eine Deklamation, die, von Tänzen unterbrochen, zwei Nächte und zwei Tage dauerte. Die Kangaheelas waren berühmt für ihre Gastfreundschaft; stets wurden Plätze für Gäste aus andern Stämmen freigehalten, die vielleicht einen Teil des Textes verstanden. Das Ratsfeuer beleuchtete die Gesichter Tausender, die rings um den geheiligten Tanzboden saßen. Großartig war die erste Nacht – die Geschichte der Schöpfung mit ihrem ausführlichen Bericht über den Kampf der Sonne mit der Finsternis. Darauf folgte ein Bericht über die Geburt des ersten Menschen aus der Nase des Allvaters – die Geburt des ersten Kangaheelas. Ein Vormittag war einer Aufzählung der Gesetze und Tabus gewidmet, die der Allvater verordnet hatte – eine so alte Überlieferung, daß stellenweise der Wortlaut unverständlich und die Absicht nicht mehr deutbar war. Um Mittag begann der Rezitierende mit der Chronik und Genealogie der Helden und der Verräter – sie dauerte acht Stunden. Kurz vor der zweiten Mitternacht kam dann die Wiedergabe des ›Buchs der harten Prophezeiungen‹, die der Allvater über sie verhängt hatte, – drei Stunden der Demütigung und Bitternis. Die Sünden der Menschen hatten die Schönheit der Erde in einen Dunghaufen verwandelt. Bruder hatte Bruder erschlagen. Die geheiligte Pflicht der Fortpflanzung war von den Gedankenlosen zu einem Zeitvertreib gemacht worden. Der Allvater trägt in seinem Herzen alle Völker des Waldes, aber sie werden kriechen wie die Schlange; ihre Zahl wird verringert werden; der Jubel bei der Geburt eines Kindes wird geheuchelt sein.

Dann folgte ein langes Schweigen, endlich von Trommelschlägen und lauten Rufen unterbrochen, und es begann der Tanz der Kangaheelas, der Funke aus dem Flint, dem Allvater teuer wie sein eigenes Auge. Dies war der Tanz, der so vielfach nachgeahmt wurde. Sogar die Saysays in Michigan wurden aufgefordert, diesen Tanz in ihrer entarteten und kitschigen Version auf Weltausstellungen vorzuführen – Eintritt – fünfzig Cent, Kinder die Hälfte. Am Schluß des Tanzes folgte wieder eine Stille, die Stille der Erwartung, des angehaltenen Atems. Der Sachem, der Häuptling, schien in die äußersten Bereiche seines Körpers hinabzutauchen; er sammelte sich; er erhob sich. Dies war das ›Buch der Verheißungen‹. Wer vermöchte das Tröstliche dieses großen Gesangs zu beschreiben? Die Betagten vergaßen ihre Gebrechen; den Knaben und Mädchen wurde erklärt, warum sie geboren worden und warum das Weltall in Bewegung gesetzt worden war. Es gab viele Völker auf der Erde – mehr Menschen, als es Blätter im Wald gab – aber aus allen hatte Er sich die Kangaheelas erwählt. Einst wird Er wiederkehren. Zu jenem Tag hin gilt es, den Pfad zu bahnen. Das Menschengeschlecht wird von einigen wenigen gerettet werden.

Soviel über die Indianer. Die Professoren schätzen, daß zu keiner Zeit mehr als dreitausend Kangaheelas am Leben waren.

Die Bleichgesichter kamen. Sie brachten ihren eignen Bericht über die Schöpfung mit, ihren Namen für den Allvater, ihre Gesetze und Tabus, ihre Liste der Helden und Verräter, ihre Last von Selbstvorwürfen, ihre Hoffnungen auf ein goldenes Zeitalter. Es gab bei ihnen sehr wenig Tanz, aber hübsch viel Musik, geistliche und weltliche. Sie brachten auch einen den Rothäuten unbekannten Hang zum Grübeln mit, dessen Ergebnisse nicht sehr exakt als Philosophie bezeichnet wurden. Alle Bürger, junge und alte, zerbrachen sich bisweilen den Kopf über Fragen nach dem Warum und Wozu und dem Sinn des Lebens und Sterbens – was Dr. Gillies die ›Vier-Uhr-morgens-Fragen‹ nannte. Dr. Gillies war der ausdrucksfähigste und aufreizendste Philosoph von Coaltown. In glattem Widerspruch zur Bibel glaubte er, daß die Erde in Millionen von Jahren entstanden sei und der Mensch von Du-weißt-schon-wem abstamme. Überdies sprach er von ernsten Dingen auf eine Weise, daß seine Zuhörer sich verdutzt fragten, ob er spaße oder nicht. Eine erlesene Gruppe von Mitbürgern erinnerte sich noch lange einer Gelegenheit, bei der Dr. Gillies seiner spekulativen Denkweise die Zügel schießen ließ.

Das geschah an einem Neujahrsabend, aber nicht einfach an einem gewöhnlichen Neujahrsabend: Es war der 31. Dezember 1899 – der Vorabend eines neuen Jahrhunderts. Eine große Menschenmenge war vor dem Rathaus versammelt und wartete darauf, die Turmuhr schlagen zu hören. Die Stimmung war sehr gehoben, als erwarteten sie alle, daß der Himmel sich öffnen werde. Das 20. Jahrhundert würde das großartigste sein, das die Welt je gekannt hatte. Der Mensch würde fliegen; Tuberkulose, Diphtherie und Krebs würden ausgemerzt werden; es gäbe keine Kriege mehr. Das Land, der Staat, ja die Stadt, wo sie lebten, würden in dieser neuen Ära eine große und bedeutende Rolle spielen. Als die Uhr zu schlagen begann, weinten alle Frauen und sogar einige Männer. Plötzlich brachen alle in Gesang aus, aber was sie sangen, war nicht ›Auld Lang Syne‹, sondern ›O God, our help in ages past‹. Alsbald umarmten sie alle einander, sie küßten einander – etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes. Breckenridge Lansing und Olga Sergeievna Doubkov – die einander haßten – küßten einander; John Ashley und Eustacia Lansing – die einander liebten – küßten einander das einzige Mal in ihrem Leben, und nur andeutungsweise. (Beata Ashley mied Zusammenkünfte; sie saß neben der hohen Standuhr daheim in ›The Elms‹, umgeben von ihren drei Töchtern: Lily, Sophia und Constance.) Roger Ashley (vierzehn Jahre und einundfünfzig Wochen alt) küßte Félicité Lansing, mit der er neun Jahre später verheiratet sein würde. George Lansing, fünfzehn, der Schrecken der Stadt, den die Bedeutsamkeit der Stunde mit Stummheit geschlagen und das Benehmen der Erwachsenen mit ehrfürchtiger Scheu erfüllt hatte, verbarg sich hinter seiner Mutter. (Große Künstler neigen dazu, in trübsinniger Gesellschaft überzusprudeln und sich inmitten allgemeiner Hochstimmung bedrückt zu fühlen.) Endlich zerstreute sich die Menge; etwa zwanzig Personen verweilten noch unterhalb der großen Uhr und trachteten weiterhin einer Gemütsbewegung Ausdruck zu geben, die allmählich einer nachdenklichen und zweiflerischen Stimmung wich. Sie begaben sich in die Illinois Tavern, um – so sagten sie – etwas Heißes zu trinken. Die jungen Mädchen wurden nach Hause geschickt. Die Gruppe betrat den Schankraum, in den nie ein weibliches Wesen eingelassen worden war und voraussichtlich während der nächsten hundert Jahre nie wieder eingelassen würde. Sie gingen alle in das den Honoratioren vorbehaltene Extrazimmer. Becher heißer Milch, heißen Grogs und ›Sally Crokers‹ (heißer Apfelwein, darin gewürzte Holzäpfel schwammen) wurden von Mr. Sorbey höchstpersönlich umhergereicht.

Breckenridge Lansing – wie stets in Gesellschaft in bester Form, der vollendete Gastgeber und als leitender Direktor des Bergwerks der erste Bürger der Stadt – ergriff im Namen aller Anwesenden das Wort.

Dr. Gillies, sagen Sie uns doch, wie das neue Jahrhundert sein wird!«

Die Damen murmelten: »Ja! … Ja! … Sagen Sie uns Ihre Meinung!« Die Männer räusperten sich.

Dr. Gillies verzichtete auf bescheiden ablehnende Redensarten und begann:

»Die Natur schläft nie. Die Entwicklung des Lebens steht nie still. Die Schöpfung ist noch nicht zu Ende. Die Bibel sagt, Gott schuf den Menschen am sechsten Tag und ruhte dann, aber jeder dieser sechs Tage dauerte viele Millionen Jahre. Jener Ruhetag muß recht kurz gewesen sein. Der Mensch ist nicht ein Ende; er ist ein Anfang. Wir stehn am Beginn der zweiten Woche. Wir sind Kinder des achten Tags.«

Er beschrieb die Erde, bevor das Leben auf ihr erschien – die Millionen Jahre, während welcher Dampf aus brodelnden Gewässern aufstieg … das Getöse, die schrecklichen Stürme, die riesigen Wogen … das Getöse. Dann winzige, im Wasser schwebende Lebewesen, die die Meere füllten. Alle ohne Eigenbewegung … dann erwarb hier und da das eine und das andre die Fähigkeit, sich zum Licht hin, zur Nahrung hin zu bewegen. Im Präkambrium begann sich ein Nervensystem zu entwickeln; Flossen und Füße begannen im obern Devon genug Kraft zu erwerben, um auf trockenem Land zu schreiten; im Mesozoikum wurde das Blut wärmer.

Mitten im Mesozoikum wechselte Mr. Goodhue, der Leiter der Bankfiliale in Coaltown, einen empörten Blick mit seiner Frau. Sie standen auf und verließen den Raum hocherhobenen Haupts, den Blick geradeaus gerichtet. Evolution! Gottlose Evolution!

Dr. Gillies sprach weiter. Nachdem er die Pflanzen von den Tieren geschieden hatte, sandte er beide auf ihren langen Weg. Nach einigem Zögern trennten sich die Vögel von den Fischen. Die Insekten vervielfältigten sich. Dann kamen die Säugetiere und jener atemraubende Augenblick, als sie sich auf die Hinterbeine erhoben und ihre Vorderfüße für die verschiedenartigsten Betätigungen frei wurden.

Das Leben! Warum Leben? Wozu? Zu welchem Ende? Etwas kam aus dem Urschlamm hervor. Wohin ging das?«

Er machte eine Pause. Sein Blick ruhte so eindringlich auf den beiden Knaben, daß sie sich zu einer Antwort gezwungen fühlten. »Zum Menschen«, murmelten sie.

»Ja«, sagte Dr. Gillies, »zu allerlei Arten von Menschen.«

Ein peinliches Unbehagen hatte sich der Anwesenden bemächtigt. Breckenridge Lansing, ein geübter Versammlungsleiter, ließ sich abermals im Namen aller vernehmen. »Sie haben unsre Frage nicht beantwortet, Dr. Gillies.«

»Ich habe den Grundriß für meine Antwort auf Ihre Frage gezeichnet. In diesem neuen Jahrhundert werden wir alle sehen können, daß der Mensch in ein neues Stadium seiner Entwicklung eintritt – der Mensch des achten Tags.«

Dr. Gillies log nach besten Kräften drauflos. Er hegte keinen Zweifel, daß das kommende Jahrhundert zu gräßlich sein werde, um auch nur dran zu denken – nämlich so wie alle frühern.

Dr. Gillies war der einzige in der ganzen Gesellschaft, der sich nicht in gehobener Stimmung fühlte. Er hatte an der Glückwünscherei und Umarmerei nicht teilgenommen. Um ein Viertel vor zwölf hatte er sich in das Hotel davongemacht und der alten Mrs. Billings, seiner langjährigen Patientin, einen Besuch abgestattet. Seine Seele (ein Wort, das er nur im Scherz gebrauchte) war voller Bitterkeit. Vor dreiundzwanzig Monaten hatte sein Sohn im Williams-College in Massachusetts bei einem Rodelunfall den Tod gefunden – Hector Gillies, der heute ins zwanzigste Jahrhundert hätte eintreten sollen, – sein andres Ich, sein erweitertes Ich, sein verlängerter Schatten. Dr. Gillies glaubte nicht an den Fortschritt, an eine bessere Zukunft der Menschheit. Er wußte mehr über Coaltown als irgendeiner der Einheimischen. (Wie er auch während der ersten dort verbrachten zehn Jahre seiner ärztlichen Praxis eine Menge über Terre Haute im Staat Indiana gewußt hatte.) Coaltown war nicht schlechter und nicht besser als jede andre Stadt. Jede Gemeinschaft ist ein Teil der riesigen Gesamtheit der Menschheit. Schneide diesem Breckenridge Lansing oder dem Kaiser von China den Bauch auf: du wirst die gleichen Eingeweide vorfinden. Wie der Teufel in der alten Erzählung magst du die Dächer von Coaltown oder Wladiwostok abheben, und du wirst dieselben Phrasen hören. Dr. Gillies’ mitternächtliches Lesen der großen Geschichtsschreiber bestätigte ihm sein Gefühl, daß überall Coaltown ist – wenngleich sogar die größten Geschichtsschreiber ein Opfer der Verzerrung durch die abgelaufene Zeit werden; sie erhöhen oder erniedrigen nach ihrem Belieben. Es gibt keine goldenen Zeitalter, und es gibt keine finsteren. Es gibt nur die ozeanartige Eintönigkeit der Generationen von Menschen im abwechselnd schönen und schlechten Wetter.

Wie sähen das zwanzigste und die darauf folgenden Jahrhunderte aus?

Er log rundheraus, weil seine Augen auf Roger Ashley und George Lansing ruhten. Er sprach, wie er gesprochen hätte, wenn Hector dagewesen wäre. Es ist die Pflicht alter Männer, den jungen etwas vorzulügen. Die sollen nur schön ihre Enttäuschungen erleben, ihre Illusionen verlieren. Wir stärken, solange wir jung sind, unsre Seelen mit Hoffnung; die Stärke, die wir so erwerben, befähigt uns später, Verzweiflung zu ertragen, wie’s einem Römer geziemt.

»Der neue Mensch ist im Entstehn. Die Natur schläft nie. Bisher hat der gelegentlich auftretende große Mann, das einsame Genie, die an seine Rockschöße sich klammernden Kinder der Furcht und Trägheit vorwärtsgezogen. Von nun an wird die ganze große Menge aus dem Höhlenbewohnerzustand herausgelangen …«

Oh, wie herrlich!

»… aus dem Höhlenbewohnerzustand, in dem die meisten Menschen noch immer kauern, voller Furcht vor Eindringlingen, ihre Besitztümer umklammernd, Sklaven ihrer Angst vor dem Donnergott, ihrer Angst vor den rachsüchtigen Toten, ihrer Angst vor der unbezähmbaren Bestie in ihnen selbst.«

Wie herrlich!

»Geist und Seele werden die nächste Sphäre des Menschentums sein. Die Menschheit macht ihre Erziehung durch. Was ist Erziehung, Roger? Was ist Erziehung, George? Sie ist die Brücke, auf der der Mensch aus seinem in sein Ich eingeschlossenen, nur auf sein Selbst bedachten Leben hinüberschreitet in ein Bewußtsein von der Gemeinschaft der ganzen Menschheit.«

Eine Anzahl seiner Zuhörer war schon bald in der beseligenden Luft des zwanzigsten Jahrhunderts eingeschlafen – aber nicht John Ashley und sein Sohn, nicht Eustacia Lansing und ihr Sohn.

Olga Doubkov ging zusammen mit Wilhelmina Thoms, Lansings Sekretärin in der Bergwerkskanzlei, nach Hause.

»Dr. Gillies glaubte selber nicht ein Wort davon«, sagte sie. »Ich schon … Ich glaubte jedes Wort. Und mein Vater auch. Ich könnte mich nicht aufrecht halten, wenn ich’s nicht glauben würde.«

 

Es ist nie befriedigend erklärt worden, warum die frühen Besiedler von Coaltown (oder Maple Bluffs, wie es zuerst hieß) sich zum Mittelpunkt und Kern ihres Wohngebiets eine sonnenlose Talenge wählten, wenn sie doch ihre Häuser, ihre erste Kirche und ihre erste Schule auf den offenen Wiesen nördlich oder südlich davon hätten bauen können. Das Städtchen lag an einem mäßig wichtigen Handelsweg. Den Wanderverkäufer gibt es noch immer. Coaltown war stets bei den Handlungsreisenden beliebt – zum Glück für Beata Ashley und ihre Kinder, als die Zeit dafür kam, – obwohl Fort Barry, fünfundvierzig Kilometer nördlich davon, und Summerville, sechzig Kilometer weiter südlich, größeren Verdienst boten. Die Illinois Tavern der Sorbeys, des Erbauers, des Sohns und des Enkels, behagte ihnen. Sie merkten in ihren Reiseplänen dort zwei Übernachtungen vor. Die Zimmer waren geräumig, die Mahlzeiten, zu fünfunddreißig Cent, reichlich. Die Holztäfelung und die Messingbeschläge in der Salonbar waren in Erwartung eines immer bessern Geschäftsgangs angebracht worden. Der anheimelnde Geruch von Sägespänen, verschüttetem Bier und Maiswhisky hieß den müden Wanderer willkommen. Allabendlich waren im Extrazimmer Kartenpartien in Gang. Es gab unentgeltliche Fahrgelegenheit zu einigen Etablissements ein paar Kilometer weiter südlich an der River Road – ›Hattie’s Hitching Post‹ und ›Nicky’s We Have It‹. Vertreter größerer Firmen (landwirtschaftliche Geräte und pharmazeutische Präparate en gros) kamen mit der Bahn; Handlungsreisende (Nähmaschinen, billiger Schmuck, Patentmedizinen und Küchenbedarf) im Kutschierwägelchen; die fliegenden Händler hielten am Straßenrand und schliefen unter ihrem Karren.

Mit der Entdeckung von Kohle kam schwarzer, grauer, gelber und weißer Staub; kam trübes Wasser in den Kangaheela; kam der erste und letzte reiche Mann der Stadt: Airlee MacGregor; kamen mehr Fremde – die Schlesier und Westvirginier, Miss Doubkovs Vater (ein exilierter russischer Fürst, sagten manche), John und Beata Ashley aus New York, die den ›New Yorker Dialekt‹ sprachen. Viele Vögel, Vierfüßler, Fische und Pflanzen zogen sich aus der Gegend zurück. Es wurde üblich, zu sagen, der Boden sei ›sauer‹. Es kamen auch Armut und Unruhe und drohende Gewalttätigkeit. Viele der Männer, die täglich zehn Stunden unter der Erde arbeiteten, schienen nicht imstande zu sein, eine zwölf- oder vierzehnköpfige Familie zu ernähren und zu kleiden, auch wenn jeden Samstagnachmittag ihre lieben Sprößlinge den eignen Wochenlohn in die Hand des Vaters legten. Schuhe spielten eine wichtige Rolle. Sie verfolgten einen solchen Mann bis in seine Träume. Sogar Pferde gingen beschuht. Ein Vater konnte seine Familie mit Bohnen, Kleie, Gemüsen, Äpfeln und dann und wann ein paar Stücken Speck ernähren. Aber es galt allgemein für ausgemacht, daß man nicht unbeschuht in die Kirche gehn könne. Darum mußten die Kinder turnusweise hingehn.

Einige Male in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte ein Aufstand in der Luft gelegen. Es gibt wenig so Entmutigendes wie einen unentschlossenen Streik. Die Streikenden waren schlecht geführt und schlecht organisiert. Die Fensterscheiben des Bergarbeiter-Kaufhauses wurden eingeschlagen, in der Werkskanzlei wurde alles zertrümmert. Eine Rotte Umherstreifender wurde auseinandergetrieben, nachdem sie den Lattenzaun um Airlee MacGregors Haus ausgerissen und die Krocketkugeln gegen die Haustür geschleudert hatte. (Während all des Lärms und des Splitterns von Holz saß der alte MacGregor im Vorderzimmer, sein Gewehr schußbereit, ein zürnender Moses.) Feiertagen wurde mit Befürchtungen entgegengesehen. Im Jahre 1897 untersagte der Bürgermeister wohlweislich den Aufmarsch am 4. Juli und die Festrede im Gedächtnispark. Die vierjährlichen Wahltage waren besonders gefürchtet. Die Bergleute kamen von den Anhöhen heruntergeschwärmt und machten ihrer lange gestauten Ohnmacht und Wut Luft. Wer am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, dem zog die Betriebsverwaltung strikt eine Buße vom Lohn ab. Die Männer tranken und grölten die Nacht hindurch und begannen beim Morgengrauen die Hänge hinaufzustolpern; ihre Frauen lasen sie aus den Straßengräben auf. Im folgenden August wurden dann stets viele resigniert begrüßte Kinder geboren. Die Leute in Coaltown hatten seit Menschengedenken des Nachts ihre Türen verschlossen, und die Wohlhabenderen hatten mancherlei Verstärkungen und Barrikaden angebracht. Breckenridge Lansing war nicht der erste, der seine Familie dazu anhielt, sich im Gebrauch von Schußwaffen zu üben, wenngleich das von ihm als dem leitenden Direktor des Bergwerks zu erwarten gewesen wäre. Bei dem Mordprozeß rief es das Erstaunen der auswärtigen Reporter, aber nicht der Bürger von Coaltown hervor, daß er während seiner gewohnten Sonntagnachmittagsschießübung ermordet worden war.

Fünf Jahre nach dem notorischen Prozeß wurden die Gruben bei Coaltown stillgelegt – die ›Bluebell‹ und die ›Henrietta B. MacGregor‹. Die Qualität der Kohle war seit langem immer schlechter geworden, und nun verringerte sich auch die Quantität. Die Stadt schrumpfte. Die Familien des Verurteilten und des Ermordeten zogen weg. Ihre Häuser wechselten mehrmals die Besitzer. Sie trugen Tafeln, auf denen ›ZIMMER ZU VERMIETEN‹ und ›ZU VERKAUFEN‹ stand. Mit der Zeit aber wurden diese Tafeln unleserlich und fielen von den Mauern. Die zerbrochenen Fenster ließen Regen und Schnee ein. Vögel bauten ihre Nester im Oberstock und Erdgeschoß; die Lattenzäune lehnten über den Gehsteig wie sich überstürzende Wellen. Das Gartenhäuschen hinter ›The Elms‹ rutschte in den Teich. Im Herbst wurden Kinder von ihren Müttern ausgeschickt, die Nüsse von ›St. Kitts‹, die Kastanien von ›The Elms‹ einzusammeln.

Mit dem Aufhören jeder Tätigkeit im Bergwerk verbesserte sich die Luft. Zwar wagte es keine Hausfrau, weiße Gardinen an die Fenster zu hängen, aber 1910, bei der Schlußfeier der Mädchenmittelschule, trugen die Absolventinnen zum erstenmal weiße Kleider. Es gab weniger Jäger; Rehe, Füchse und Wachteln vermehrten sich beträchtlich. Streifenbarsche, Schwarzbäuche und Mulliganforellen stiegen in großer Zahl den Kangaheela aufwärts. Squawstrauch und Goldrute und Rotschlinge, die lange dieser Gegend ausgewichen waren, begannen nun von allen Seiten in sie vorzurücken.

Im Frühling füllte nach schweren Regengüssen oft ein seltsames Brausen die Luft. Die Hügel glichen Bienenwaben, so sehr waren sie von Stollen durchlöchert; die Erde über diesen stürzte mit einem Geräusch ein, das mehr wie ein Erdbeben als ein Erdrutsch klang. Die Stadtbewohner fuhren hinaus, um in diese unterirdischen Gewölbe hinunterzuspähen. Sie schienen eher Ruinen einer dahingeschwundenen Großartigkeit zu ähneln als Gefängnissen, wo so viele Menschen sich zwölf – später zehn – Stunden täglich abgeplagt hatten, so viele ihre Lungen herausgehustet und herausgespuckt hatten. Sogar kleine Jungen verstummten eingeschüchtert beim Anblick dieser langen Galerien und Arkaden, Rotunden und Thronsäle. Schon im folgenden Jahr verdeckten Geißblatt und wilder Wein die Eingänge zur Unterwelt. Die Fledermausbevölkerung nahm zu und kam, sobald der Abend dämmerte, in wirbelnden Wolken über dem Tal hervor.

Wie Dr. Gillies so gern sagte: »Die Natur schläft nie.«

Coaltown hat kein Postamt mehr. Die Post wird in einem Winkel von Mr. Bostwicks Krämerladen ausgeteilt. Der Sitz der Kreisbehörde ist nach Fort Barry verlegt worden.

I›The Elms‹

1885–1905

›The Elms‹ waren, bis auf eines, das stattlichste Haus in Coaltown. Es war von Airlee MacGregor erbaut worden, als das Bergwerk von der Generaldirektion in Pittsburgh noch nicht so abhängig war und der ortsansässige Betriebsleiter auch für sich selbst Geld verdienen konnte. Er hatte die Schächte in den Gruben ›Bluebell‹ und ›Henrietta B. MacGregor‹ niedergebracht und war sehr reich geworden. John Ashley hätte es sich nie leisten können, das Haus glattweg zu kaufen. Er war bloß als Instandhaltungsingenieur nach Coaltown berufen worden, und der Ertrag der Gruben hatte damals schon nachgelassen. Es war seine Aufgabe, mit einem verknappten Etat einen in Verfall geratenen Bau auszubessern und zu stützen. Die Eigentümer hatten nicht vorhersehen können, daß seine Begabung grade im Erfinderischsein und im Improvisieren lag. Die Arbeit machte ihm viel Freude, obzwar sein Gehalt nur wenig mehr als ein Drittel des Gehalts Breckenridge Lansings, des Betriebsleiters, betrug. Ashley war arm und hätte das lächelnd zugegeben. Er hatte alles, was er brauchte, und mehr als das. Beata, seine Gattin, war eine äußerst tüchtige Hausfrau, und beide waren sie außerordentlich findig darin, alles Nötige anzuschaffen und Annehmlichkeiten zu ersinnen, die nur geringe oder gar keine Ausgaben erforderten. Er kam allmählich, durch halbjährliche Zahlungen, in den Besitz des Hauses. Es hatte lange leergestanden. Die Menschen im südlichen Illinois neigen nicht zum Aberglauben; sie sagten nicht, in dem Haus geistere es, aber es war bekannt, daß ›The Elms‹ dem Schicksal zum Trotz gebaut, haßerfüllt bewohnt und unter tragischen Umständen verlassen worden waren. In jedem größern Städtchen finden sich ein oder zwei solcher Häuser. John Ashley war abergläubischer als seine Nachbarn; er glaubte, ihn könne kein Unglück befallen. Er und Beata wohnten hier glücklich fast siebzehn Jahre lang.

Als Ashley 1885 das Haus zum erstenmal sah, weiteten sich seine Augen. Während er die Türstufen hinaufstieg und die Halle betrat, öffneten sich seine Lippen, sein Atem stockte, wie wenn wir versuchen, eine ferne Musik zu hören. Er schien das Haus schon einmal gesehen oder es geträumt zu haben. Eine breite Veranda umgab das Erdgeschoß auf drei Seiten; eine zweite Veranda ragte oberhalb der Eingangstür vor; ganz oben erhob sich eine Kuppel, in der ein Fernrohr aufgestellt gewesen war. Im Innern führte eine breite Treppe in die Eingangshalle herab; der Endpfosten des Geländers trug eine irisierende Glaskugel. Zur Rechten erstreckte sich ein großes Wohnzimmer durch die ganze Tiefe des Hauses. Zeitungen, schon zehn Jahre alt, waren über die Tische und Stühle gebreitet, über die abgenützten Sofas, über das alte Klavier. Hinter dem Haus lag eine ungepflegte Rasenfläche; Regen- und Schneefälle hatten die im Unkraut halb verborgenen Krocketkugeln entfärbt. Jenseits der Rasenfläche stand am Ufer eines Teichs ein Gartenhäuschen. In dem Ulmenhain zur Rechten zeigte sich ein großer Schuppen, den die Kinder dann das ›Regentagehaus‹ nannten; der diente später auch als Werkstatt für ihres Vaters ›Erfindungen‹ und ›Experimente‹. Ashley wußte, noch bevor er es alles erblickte, daß auch ein Hühnerstall, nun auf der einen Seite eingebrochen und dem Regen ausgesetzt, und ein kleiner Obstgarten vorhanden waren, Brombeersträucher und einige Kastanienbäume. Etwas wie ehrfürchtige Scheu ergriff ihn. Wer könnte reicher sein?

Aber es war Airlee MacGregors Traum, in den er eingetreten war. MacGregor hatte ihn in Erwartung einer großen Kinderschar gebaut. Es hätte Krocketpartien auf dem Rasen geben sollen, bis das schwindende Licht das junge Volk in das Gartenhäuschen triebe, wo dann zur Begleitung eines Banjo gesungen würde. Glühwürmchen würden umherschweben. Bei schlechtem Wetter gäbe es Karamellenziehen in der Küche und lärmende Spiele wie ›Schwarzer Peter‹ und ›Fingerhuterraten‹ im Wohnzimmer. Die Teppiche würden an die Wand gerollt und es würde getanzt werden – ›Virginia Reels‹ und ›Melissa, mache deinen Knicks‹. In klaren Nächten würden die Kinder in die Kuppel hinaufgeführt und eins nach dem andern hochgehoben werden, damit sie durch das Fernrohr gucken könnten. Nichts Langweiliges würde sich je auf dessen Linse zeigen, sondern der rötliche Mars und die Ringe des Saturns und die feierlich stimmenden Mondkrater.

Alles ging in Erfüllung, aber nicht für Airlee MacGregor. An Sonntagabenden, wenn die häusliche Hilfe ihre Schwester besuchen gegangen war, bereiteten Beata Ashley und Eustacia Lansing das Abendessen. »Kommt herein, Kinder, kommt zum Nachtmahl!« Hector Gillies, der Sohn des Arztes, lehrte Roger Ashley das Banjo spielen. Alle konnten sie singen, aber keins so wie Lily Ashley. Sie sang so schön, daß sie mit fünfzehn Jahren aufgefordert wurde, in der Kirche vor allen Leuten zu singen. Mit sechzehn sang sie ›Home, Sweet Home‹ beim Fest der Freiwilligen Feuerwehr; starke Männer schluchzten. Mrs. Lansing verbot den Kindern, ›Schwarzer Peter‹ und ›Domino‹ zu spielen, weil ihre beiden jüngsten, George und Anne, sich dabei (ihr kreolisches Blut war schuld) zu sehr aufregten und ungebärdig wurden. Nach dem Abendessen gingen Ashley und Lansing in das Regentagehaus, um an ihren Erfindungen von Schlössern und Schußwaffen zu arbeiten. Im Wohnzimmer wurde indessen vorgelesen – Odysseus und die Zyklopen, Robinson Crusoe und sein Diener Freitag, Gullivers Schiffbrüche und aus Tausendundeine Nacht. An andern Sonntagnachmittagen versammelten sich dieselben Kinder und dieselben Erwachsenen in ›St. Kitts‹. Zielscheiben für Schießübungen wurden aufgestellt – Breckenridge war ein großer Jäger vor dem Herrn – und die Männer und Knaben knallten drauf los und brachten die Hunde der Stadt zum Bellen. Nach dem Abendessen erzählte Eustacia Lansing gewöhnlich einige ihrer karibischen Eingeborenengeschichten. Ihre und die Ashleykinder konnten zwar Französisch, aber für andere schaltete sie geschickt eine Übersetzung ein. Sie wußte lebhaft zu erzählen, und die ganze Gesellschaft lauschte gespannt den Abenteuern von Père-Père Tortue und Dédenni Iguanou.

In ›The Elms‹ ging es alles in Erfüllung, aber nicht für Airlee MacGregor. Wenn er die Treppe entworfen hatte, damit sie die anmutige und vornehme Haltung seiner Frau zur Geltung bringe, so hatte sie ihren Zweck nicht erfüllt. Die unglückselige Mrs. MacGregor entwickelte bald eine Beleibtheit, wie ein Leben erzwungener Muße und unablässiger Beängstigung sie so oft mit sich bringt. Sie war nicht imstande, eine Treppe hinabzugehn, ohne das Geländer zu umklammern. Keine Bräute warfen ihre Buketts den unten sich hochstreckenden Händen zu. Bewundernswert war nur, wie die Treppe das Hinabtragen einer Folge von Särgen erleichterte. Beata Ashley aber schritt diese Treppe herab wie die Königin von Preußen, die der Gegenstand lebenslanger Bewunderung ihrer Mutter gewesen war, der geborenen Clotilde von Diehlen aus Hamburg und Hoboken, New Jersey. Es kam zwar zu keinen Ashley-Hochzeiten in ›The Elms‹, aber Lily, Sophia und Constance wurde beigebracht, die Treppe mit einem auf dem Kopf balancierten Atlas hinauf- und hinunterzugehn. Die irisierende Glaskugel spiegelte die Erfüllung des Traums, den ein andrer geträumt hatte.

Beide, Breckenridge Lansing und John Ashley, gerieten nach Coaltown, weil sie auf ihren frühern Posten versagt hatten. Sie wußten das nicht, ihre Frauen jedoch ahnten es. Lansing glaubte, er sei in eine bessere Stellung befördert worden; Ashley wußte, daß er in eine beglückendere versetzt worden war. John Ashley war in der Konstruktionsabteilung einer Firma in Toledo, Ohio, wo er neun Stunden täglich Werkzeugmaschinen hatte zeichnen müssen, immer unzufriedener geworden und empfand das Angebot, nach Coaltown zu gehn, als einen Glücksfall – so kärglich das Gehalt auch war. Als dem glänzendsten Absolventen seines Jahrgangs auf der Maschinenbauschule hatte es ihm freigestanden, unter den sich bietenden Gelegenheiten zu wählen. Er wählte den Posten in Toledo, weil er und seine Braut darauf aus waren, den Osten der Vereinigten Staaten hinter sich zu lassen, und weil der Posten ihm ein Betätigungsfeld für seine Erfindungsgabe zu bieten schien. Groß war seine Enttäuschung, als er entdeckte, man erwarte von ihm, den ganzen Tag lang auf ein und demselben Hocker vor ein und demselben Zeichenbrett zu sitzen und Maschinenteile zu zeichnen, die er spöttisch ›Backwerkformen‹ nannte. Wir werden später sehen, wie 1880 der vermeintlich dynamische junge Lansing im Alter von sechsundzwanzig Jahren aus den wichtigen Bureaus in Pittsburgh sanft auf das tote Geleise im Kangaheelatal abgeschoben wurde. Er war kein Bergingenieur; seine Arbeit sollte rein administrativ sein. Er war der ortsansässige Betriebsleiter.

In den Räumen der Generaldirektion in Pittsburgh sprach man von den Gruben bei Coaltown als dem ›Invalidenhaus‹. Der Ausdruck bezeichnete im Mittelwesten einen Auffangeimer für die Überalterten und die Untüchtigen. Ein erfolgreicher Landwirt, der mehrere Farmen besaß, sonderte eine von ihnen aus, auf die er alternde Arbeiter, alternde Pferde und alternde Maschinen sandte. Alle vier oder fünf Jahre griff der Verwaltungsrat von neuem die Frage auf, ob die Gruben nicht aufzulassen seien. Sie wiesen jedoch noch immer einen kleinen Nutzen aus; sie trugen berühmte Namen, und sie waren immerhin als ›Invalidenhaus‹ verwendbar. Sie wurden unter der Bedingung in Betrieb gehalten, daß keine Verbesserungen gemacht, keine Löhne erhöht und nur wenige dort Beschäftigte ersetzt würden. Auch Lansings Vorgänger, Cayley Debevoise, der Schwager eines Verwaltungsrats, war solch ein Ausschußstück gewesen. Ebenso wie Lansing war er mit Begeisterung für das Grubenfeld von Pittsburgh angestellt worden – »seit langem der beste junge Mann unter den Bewerbern«, »ein heller Kopf«, »voller Ideen«, »hat eine bezaubernde Frau«. Die Generaldirektion hätte die Anstellungsverträge jeden Augenblick kündigen können; statt dessen – vielleicht weil sie ihr schlechtes Urteilsvermögen nicht zugeben wollte – sandte sie die nicht mehr vielversprechenden jungen Männer nach Coaltown.

Wer also hielt das Bergwerk in Gang? Die Kanzlei auf der Anhöhe verfügte über vermutlich tüchtige Bergingenieure, aber auch diese waren ›Invalidenhäusler‹, bejahrt und der solchen Institutionen innewohnenden Trägheit unterworfen. Der Betrieb lief wie eine müde gewordene Uhr immer langsamer. Aber irgendwie brachte er es doch fertig, aus eigner Kraft ruckweise weiterzuholpern. Miss Thoms, die Gehilfin der einander folgenden Betriebsleiter, besprach sich mit den Obersteigern der verschiedenen Arbeitsstellen jeden Morgen um sieben Uhr, bevor diese einfuhren. Gemeinsam gelangten sie auf eine improvisatorische Weise zu den nötigen Entscheidungen. Die Maßnahmen, die sie trafen, wurden dann – um neun Uhr oder zehn Uhr – dem Betriebsleiter auf eine solche Art vorgetragen, daß sie ihm als seine eignen, soeben gehabten Einfalle erschienen. Jahrelang erhielt Miss Thoms sechzehn Dollar in der Woche. Wäre sie erkrankt, hätte es in dem Bergwerk ein Chaos gegeben, und sie wäre früher oder später im Armenhaus in Goshen gelandet.

Als Breckenridge Lansing die Nachfolge Cayley Debevoises antrat, schöpfte Miss Thoms Hoffnung; es hatte den Anschein, daß die Last von ihren Schultern genommen werden würde. Wenn Breckenridge Lansing etwas Neues begann, verfehlte er nie, am Anfang einen guten Eindruck zu machen. Dynamisch prüfte er die Bücher; dynamisch stieg er, ein einziges Mal, in die Eingeweide der Erde hinab. Er sprudelte förmlich über von guten Ideen. Er brachte es fertig, von allem, was er sah, entsetzt zu sein und gleichzeitig jedermann für die prächtige Arbeit, die geleistet wurde, zu loben. Bald aber kam die Wahrheit ans Licht: Lansing war nicht imstande, sich etwas von einem Tag auf den andern zu merken. Das Gedächtnis ist der Diener unsrer Interessen, und Lansings vornehmlichstes Interesse galt dem Eindruck, den er auf andre machte. Zahlen, Tabellen, Waggonladungen spenden keinen Beifall. Miss Thoms war bald wieder im Geschirr.

»Mr. Lansing, im Forbush-Stollen sind wir in Klutte geraten.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Sie erinnern sich doch, daß Sie Sieben-B für recht aussichtsreich hielten? Glauben Sie nicht, es wäre eine gute Idee, Jeremiah anzuweisen, alle seine Leute dort einzusetzen?«

»Sehr gute Idee, Wilhelmina. Das wollen wir tun!«

»Mr. Lansing, Conrad hat wieder das Taumeln gehabt.« Männer, die seit Jahren täglich zehn Stunden auf den tiefern Sohlen gearbeitet haben, neigen dazu, plötzlich einzuschlafen; sie sinken wie betäubt zu Boden. Sie fürchten sich mehr vor diesen Erscheinungen als vor Unglücksfällen oder sogar der Schwindsucht. Wenn ein Bergmann anfängt, viermal im Tag das Taumeln zu haben, ist er schon auf dem Weg nach Goshen.

»Hm«, machte Lansing und kniff dabei abwägend die Augen zusammen.

»Also ich erinnere mich, Mr. Lansing, Sie sagten, der zweite Bragg-Junge sieht nach einem guten Arbeiter aus. Wir werden einen neuen Wagenstößer in der ›Bluebell‹ brauchen.«

»Genau der Richtige, Wilhelmina! Wir wollen’s am schwarzen Brett anschlagen. Setzen Sie’s auf, und ich werd’s unterschreiben.«

Die schwarzen Bretter waren Lansings beachtlichster Beitrag zum Bergwerksbetrieb. Bald unterschrieb er fünfzehn Anschläge im Tag. Wenn es keine mehr zu unterschreiben gab, machte er ein Schläfchen auf dem Roßhaarsofa oder ging auf die Jagd.

Ashley war nur für kurze Zeit in das Bergwerk berufen worden, um dieses riesige, dem Zusammenbruch nahe Skelett zu flicken und abzustützen. Zwei Monate lang hielt er den Mund; er beobachtete bloß und horchte herum. Er verbrachte seine halbe Zeit, eine Grubenblende an der Stirn, unter der Erde. Die Förderkörbe wurden mittels altmodischer Winden und Flaschenzüge gehoben und gesenkt. Die Obersteiger waren nicht unintelligent, aber da sie so lange wie Maulwürfe gelebt hatten, war ihnen die Fähigkeit verlorengegangen, von zwei Übeln das kleinere zu wählen. Sobald sie ihre Schwierigkeiten Ashley vortrugen, lebte diese Fähigkeit wieder auf; sie sahen, welche Flöze in Klutte oder Letten ausgingen; sie waren bereit, neue Probebohrungen zu machen. Ashley sah überall Gefahren. Abgestumpft durch die Verhältnisse, unter denen sie lebten, waren die Grubenarbeiter zu der Annahme gelangt, daß die Fährlichkeiten des Bergbaus ein Ausdruck von Gottes Willen seien. Als Ashley endlich zu sprechen begann – mit einem »östlichen« Akzent, der ihnen fast unverständlich war, – galten seine ersten Vorschläge der Wetterführung. Er »verschwendete« Arbeitskräfte und Zeit darauf, Entlüftungsstollen anzulegen; er entwarf ein rohes System klappernder Ventilatoren, und die Betäubungsanfälle verringerten sich. Es folgte einiges Umgruppieren der Arbeiter, obgleich das nicht zu seinen Befugnissen gehörte; die fast Erblindeten, die Schwindsüchtigen, die rettungslosen ›Taumler‹ wurden in einen ›Invalidenschacht‹ geschickt. Er ließ die Schmiede wieder instand setzen; Hunte, Förderkörbe, Rahmen, Rätschen, Stößel, Gleise wurden brauchbarer gemacht. Das Skelett begann zu zucken und sich aufzurichten. Es war ein kränkelndes Bergwerk, doch es war nicht mehr sterbenskrank. Ashleys Gehalt wurde nie erhöht, aber er sorgte dafür, daß Miss Thoms als Entgelt für ihre Ratschläge eine Zulage von fünf Dollar wöchentlich erhielt. Lansing war entzückt über alle die brillanten Ideen, die täglich in seinem Geist aufblitzten; sie wurden am schwarzen Brett angeschlagen. Er fühlte, er könne es sich erlauben, nun öfter jagen zu gehn. Da er sich häufig noch spät nachts in den Lokalen an der River Road aufhielt, kam es zu vielen Nickerchen auf dem Roßhaarsofa. Ashley hatte keine Ahnung gehabt, daß Arbeit so abwechslungsreich sein und so unaufhörlich Improvisieren und Erfinden erfordern könne. Er stand jeden Morgen mit frischem Eifer auf. Bis an ihr Lebensende konnten sich seine Kinder erinnern, wie er vor dem Rasierspiegel gesungen hatte: »Nita, Juanita« und »Mo gottee tickee, No gettee shirtee, At the Chinee laundryman’s.«

So kam es, daß John Ashley, ohne den Titel zu führen, der eigentliche Betriebsleiter war. Er lernte die Verfahren des Kohlenbergbaus von trefflichen Lehrmeistern – den Obersteigern in den Stollen und den emeritierten ›Invalidenhäusler‹-Ingenieuren, die ebenso eifrig andre an ihren Kenntnissen und Erfahrungen teilhaben ließen, wie sie sich von Verantwortung und Arbeit drückten. Diese Lage der Dinge dauerte fast siebzehn Jahre, während welcher die Jahresberichte vom fünften Jahr an einen kleinen, aber zunehmenden Reingewinn auszuweisen begannen. Und sie dauerte dank einer Art von Verschwörung, ursprünglich zwischen John Ashley und Miss Thoms, in die dann auch die Frauen der Arbeiter verwickelt waren. Nur ein John Ashley hätte sich so lange zu einer so schwierigen und sogar demütigenden Rolle hergeben können. Unangekränkelt von Ehrgeiz oder Neid, gleichgültig gegen Bewunderung oder Geringschätzung, völlig glücklich in seinem Familienleben in ›The Elms‹, war er der ›gute Geist‹ Breckenridge Lansings. Er tat nicht nur alles, was er vermochte, um die Untüchtigkeit seines Vorgesetzten vor der Bergwerksgesellschaft und der Öffentlichkeit zu bemänteln, er spielte auch den ältern Bruder dieses ältern Mannes. Er versuchte, Lansings Schroffheit gegenüber seiner Familie in ›St. Kitts‹ zu mildern und ihn von seinen Vergnügungen in den anrüchigen Lokalen an der River Road und am Old Quarry Pond abzulenken. Er zog Lansing zu seinen ›Experimenten‹ heran und lobte dessen imaginäre Beiträge zu ihnen. Die prächtigen technischen Zeichnungen wurden mit ihrer beider vereinten Namen benannt: das »Lansing-Ashley Spiralschubschloß«, der »Ashley-Lansing St.-Kitts-Schlagbolzen«. Es war eine ausgeklügelte und großmütige Fiktion; früher oder später werden solche Fiktionen aufgedeckt.

Breckenridge Lansing wurde am Spätnachmittag des 4. Mai 1902 ermordet, und John Ashley wurde dafür, daß er ihn erschossen hatte, zum Tod verurteilt. Morde sind nichts Ungewöhnliches, aber manche erwecken mehr Interesse als andre. Daß jedoch ein zum Tod Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung entkommt, ist etwas fast Unerhörtes. Eine gründliche Suche nach dem Entsprungenen wurde eingeleitet. Zunächst wurde eine Beschreibung, dann auch eine Abbildung einer verblaßten Photographie Ashleys in den Postämtern des ganzen Landes angeschlagen und eine große Geldsumme für Angaben ausgesetzt, die zu seiner neuerlichen Festnahme und zur Verhaftung seiner sechs geheimnisvollen Befreier führen würden. In der ganzen Gegend überstieg das Interesse für diese Befreier sogar das für Ashley. Jemand, der einem verurteilten Mörder zur Flucht verhilft, zieht sich selbst die Todesstrafe zu. Die sechs Männer mußten gut bezahlt worden sein, aber wo hätte Ashley das Geld hernehmen können? Doch die Umstände waren auch in andrer Hinsicht erstaunlich. Es wäre begreiflich gewesen, daß sechs gut bezahlte Banditen mit Revolverschüssen in einen verschlossenen Eisenbahnwaggon eindrangen – aber diese sechs Männer, als bei der Bahn bedienstete Neger maskiert, hatten die Befreiung lautlos und ohne Waffen vollbracht! Der Überfall hatte sich um ein Uhr morgens ein paar hundert Meter südlich des Bahnhofs von Fort Barry ereignet, an einer Stelle, wo alle Züge zehn Minuten lang neben dem Wasserbehälter hielten. Ashleys Bewachung bestand aus fünf Mann: drei vom Gefängnis in Joliet hergesandten und zwei – einer von diesen, Hauptmann Mayhew, als Kommandant – von der Justizbehörde in Springfield dazu bestimmten. Nach der amtlichen Untersuchung wurden sie alle mit Schimpf und Schande aus der Polizeitruppe entlassen. Vier von ihnen erwähnten den beschämenden Vorfall nie. Aber einen von ihnen konnte man die Geschichte weit und breit erzählen hören. Mit ›Blinzer‹ Hughes war es bergabgegangen, und zuletzt verkaufte er Hühnerfutter in den nordwestlichen Landkreisen. Er erwarb sich eine gewisse Berühmtheit und steigerte seine Verkäufe dadurch, daß er in Schankstuben immer wieder die Ereignisse jener historisch gewordenen Nacht erzählte.

»Dieser Eisenbahner kommt zur Tür und sagt, der Stationsvorsteher hat ein Telegramm für Hauptmann Mayhew erhalten, und Hauptmann Mayhew sagt: ›Bring’s her!‹ Aber der Mann sagt, es ist streng vertraulich, und es ist aus Springfield, und Hauptmann Mayhew müßt’ selber gehn und es persönlich in Empfang nehmen. Na, wir glaubten, es ist eine Begnadigung vom Gouverneur – versteht ihr, was ich meine? Hauptmann Mayhew hat Befehl gehabt, den Waggon nicht zu verlassen, und er wußte nicht, was tun. Wir alle versuchten, uns auszudenken, was er tun sollte, und grade dieses bißchen Nachdenken war’s, was uns dumm gemacht hat. Bevor wir’s uns versehn, ist der Waggon voller Eisenbahner. Sie zerschmeißen die Lampen, und von da an kriechen wir in Glasscherben herum. Einer erwischt mich bei den Füßen und bindet sie mir zusammen. Ich beug’ mich vor, um ihm eins zu versetzen, aber er war so kräftig, daß er mir die Füße hochreißt und sie gleichzeitig zusammenbindet. Die Beine in der Luft, lieg’ ich rücklings da und ruder’ umher wie ein Krebs. Nachdem er mir die Füße zusammengebunden hat, schwuppt er mich auf den Bauch und fesselt mir die Hände auf dem Rücken. Wir schreien alle durcheinander, und am lautesten schreit Hauptmann Mayhew. ›Schießt auf Ashley! Schießt auf Ashley!‹ schreit er. Aber wie hätten wir wissen sollen, welcher von uns Ashley war, das sag’ mir einer! Und dann steckten sie uns Knebel in den Mund und schleiften uns durch den Gang und legten uns nebeneinander hin wie Kartoffelsäcke. Glaubt mir, sie waren nicht aus der Umgebung von Coaltown. Sie waren aus Chikago oder New York. Sie hatten so was schon früher gemacht. Sie hatten Übung darin. Das konnt’ man erkennen. Ich werd’s nie vergessen. Die Rollvorhänge waren runtergezogen, aber von irgendwo kam ein schwacher Lichtschein, und ich konnt’ sie wie Affen über die Sitzlehnen hopsen sehn.«

Das Geheimnisvolle des ›Handstreichs‹ verblüffte die klügsten Köpfe – angefangen von Oberst Stotz in Springfield, den Zeitungsleuten aus den Großstädten, dem Sheriff beim Kartenspielen mit seinen Stellvertretern, den Damen, wenn sie Kleider für die Heiden in Afrika nähten, dem allabendlichen Stammtisch großer Denker im Extrazimmer der Illinois Tavern bis zu den Lungerern, die in Mr. Kinch’ Mietstallung und Hufschmiede ihren Tabakspriem kauten. Kaum weniger verblüfft als alle diese war Beata Ashley.