Dem Irrtum sei Dank - Udo Müller-Christian - E-Book

Dem Irrtum sei Dank E-Book

Udo Müller-Christian

4,9

Beschreibung

Fenda Loras verschwindet 1987 über Nacht aus Polizeigewahrsam, nachdem er auf einer Demonstration gegen Atomkraft mit der Staatsgewalt aneinander geriet. Dem Irrtum sei Dank wird er genau in dieser Nacht, die er ansonsten nicht überlebt hätte, aufgrund einer Verwechslung, in die ferne Zukunft geholt. Doch die Tücken des 23. Jahrtausends lassen ihn schon bald, ohne dass er es ändern kann, in die Zeit Abrahams geraten, genau zu dem Zeitpunkt, als die "Götter" beschlossen Sodom und Gomorrha mittels einer Atombombe zu vernichten. Kann er entkommen? Und findet er sie wieder, die Frau aus dem 23. Jahrtausend, an die er immer denken muss?

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Die Zeit

Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt

Der wird niemals alt...

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Der Bulle mit dem Knüppel!

Der blaue Punkt

IS' JA IRRE

Hopp und weg

DER ZEITFALL

IM WESTEN NICHTS NEUES

AWRAM, INTERSTELLARER KUHHÄNDLER

INTERSPACE

HASTE TÖNE?

UNTER KANNIBALEN

DIE INTERSTELLARE SEGELYACHT

Das Ende der Kreuzfahrt

DER PREIS DES HADERLUMPEN!

Der Pakt mit dem Teufel

Unser Besuch bei Abraham

Die Suche

Gefilterte Luft

Die letzte Nacht...

Am Ende

Der Grüne

Epilog

Und noch zum Schluss

PROLOG

Vai Tegu entstieg dem Becken der Freuden, trat auf die nahe Lichtung und ließ sich vom Licht ihrer Lieblingssonne trocknen.

Sie sah den Sensor an, der in der Form eines Pilzes mit roter Kappe und weißen Punkten unter einer Birke stand.

Vai Tegus Blick, er hatte einem bestimmten Punkt gegolten, aktivierte Musik, deren Klänge die Zeiten der vergangenen Jahrhunderte zwar nicht überdauert hatten, die man aber wieder zum Klingen brachte, seitdem man dem Teufel das Geheimnis der Zeit entrissen zu haben glaubte.

Vai Tegu schnippte, mit den Fingern und begann schwere los über der Lichtung zu schweben.

Es bedurfte keines weiteren Blickes mehr, um der Sylvana des Kastells, deren Sensor der Pilz war, zu verdeutlichen, dass der Text beginnen konnte.

Vai Tegu war nicht die einzige, die der Magie der Sprache verfallen war, doch glaubte sie, einen der alten Meister für sich allein zu hören.

Selbstverständlich wusste sie, dass sie nicht seine Originalstimme vernahm, sondern die der Sylvana des Kastells, allerdings war der Klang seiner Stimme aus allen bekannten Werken des Autors rekonstruiert worden, das heißt, man hatte alle Erkenntnisse der Anthropologie zu dieser Rekonstruktion heran gezogen.

Die Musik wurde leiser.

„Reise durch Cissylvanien.

Es war nicht nur die bodenlose Ignoranz der Leute, die mich zutiefst beunruhigte, nein!

Vor allem war es der unverkennbare Rückschritt, den ich in der Jugend zu erkennen glaubte.

Wir, ja wir, waren damals anders gewesen, waren gegen alles gewesen, was temporal vor uns gewesen war, waren gegen unsere Eltern, das Establishment, Machtstrukturen und Regierungen...“

Vai Tegu hatte mit den Fingern geschnippt.

Die Sylvana des Kastells war verwirrt, ja geradezu beunruhigt, denn noch nie hatte Vai Tegu die Worte ihres Lieblingsklassikers unterbrochen, wenn nicht ein Kapitel zu Ende gewesen war.

Die Sylvana des Kastells unterbrach den Vortrag, stellte Vai Tegu wieder auf die Füße und begann mit einem absolut unauffälligen Untersuchungsprogramm, das auch die Psyche mit einschloss.

Außer einer unerklärlichen Erregung war nichts zu entdecken.

Vai Tegu machte einen entschlossenen Eindruck.

„Ich werde ihn befreien!“

Da Vai Tegu gesprochen hatte, hielt es die Sylvana des Kastells für angebracht, auch zu sprechen.

Sie machte allerdings nicht den Fehler, sich der imaginären Stimme des klassischen Autors zu bedienen, denn diese war einzig und allein seinen Worten vorbehalten.

„Du darfst keinen Fehler machen den du hinterher bereuen könntest!“

„Quatsch, du weißt genau, dass ich die Regeln der Zeit nicht verletzen will, da ich aber erst in dreiundzwanzig Scheiben wieder einen Noteinsatz haben werde, kann ich ihn herholen - vielleicht sehe ich ja richtig aus...

Stell fest, wann wir am Besten eingreifen können, es muss eine Zeit sein, in der er absolut unbehelligt ist!“

Die Sylvana des Kastells begann zu recherchieren, während Vai Tegu herum hüpfte und ihren spontanen Entschluss für gut befand.

Die Sylvana des Kastells hatte noch eine Menge Schaltkreise frei und fühlte sich zu einer dämpfenden Bemerkung verpflichtet.

„Du weißt genau, Vai Tegu, dass wir absolut keinen Anhaltspunkt haben, um eine Aussage über den von ihm bevorzugten Archetypen, was Frauen oder Männer angeht, oder genauer gesagt, Primäre Interhumane Relationen, machen zu können; du sollst nicht enttäuscht werden!“

„Doch, er ist eindeutig ausschließlich heterosexuell veranlagt!“

„Gut, Vai Tegu, aber das ist in seinem Zeitalter keine ausgesprochene Seltenheit!“

„Wir werden ihn vorher testen! Meine liebe Sylvana!“

Vai Tegu drehte sich um und ließ sich in den Sessel der Wonnen gleiten.

*

... noch am 28.08.87 hat Fenda Loras Altpapier an dieFirma Feldmühle Aktiengesellschaft Werk Arnsberg geliefert,wie beiliegende Kopie beweist.

Nach diesem Datum fehlt von ihm jede Spur, wenn maneinmal von den Ereignissen am Tage seines Verschwindensabsieht.

Auch die Mitglieder seiner Rockgruppe 'Loud SoundDynamics' scheinen nichts mit seinen Machenschaften zutun zu haben. Leider blieb es den Behörden nicht gegönnt,die dreihundertdreißig Kilogramm Altpapier zubeschlagnahmen, die sicherlich konspiratives Materialenthielten.

Bundesamt für den Verfassungsschutz[Hoffentlich befindet sich dieses Land noch in der Verfassung...]

Der Bulle mit dem Knüppel!

Ich muss zugeben, dass ich diese bodenlose Hilflosigkeit hasse, dass ich es nicht ertragen kann, völlig machtlos einer solchen Gewalt gegenüber zu stehen, obwohl doch die Machtlosigkeit meine Devise ist, allerdings die Machtlosigkeit für alle.

Na ja, da saß ich nun, meiner Devise treu doch trotzdem unfrei aber machtlos und der Gewalt anderer ausgeliefert – Scheiße!

Warum konnte ich mich auch nicht beherrschen?

Gut, diese Anti Atom Kraft Werk Demo war notwendig gewesen.

Richtig, wir hatten uns von den Steinewerfern ferngehalten, wie wir es immer gemacht hatten.

Wir waren friedlich geblieben, auch wenn es uns schwer gefallen war.

Jedenfalls hatte ich schon sehr früh gespürt, dass Pia Angst hatte, was meinen Beschützerinstinkt auf den Plan rief.

Als dann dieser vermummte Uniformierte, Knüppel schwingend, hinter dem unvermummten Steinewerfer her rannte und der Steinewerfer das Rennen gewann, hätte ich da noch etwas tun können, das, was kommen musste, zu verhindern?

Als der Knüppelschwinger, der ja staatlich legitimiert war, bemerkte, dass er das Rennen verloren hatte, sah er sich gehetzten Blickes um, den gehetzten Blick konnte ich allerdings wegen seiner Vermummung nur erahnen.

Er sah sich also gehetzten Blickes um, sah uns, Pia und mich und erkannte, dass Pia kein Rennen gegen ihn gewinnen würde, denn dass sie schwanger war, war selbst für einen Bullen nicht zu übersehen.

Reaktionsschnell, wie er war, hob er den Knüppel und rannte auf Pia los, die vor Schreck kreidebleich wurde und ihrerseits die Flucht ergriff, was später zu ihren Ungunsten ausgelegt werden sollte.

Bisher hatte ich den Geschehnissen gebannt aber versteinert zugesehen, was sollte ich tun?

Was konnte ich tun?

Ich konnte es nicht schaffen, mich dem Mann in den Weg zu stellen, denn er würde Pia erreichen, bevor ich ihr auch nur nahe kommen konnte.

Ich löste mich aus meiner Verharrung!

Pia stolperte und fiel auf den Bauch, ich konnte ihren Aufschrei deutlich hören.

Bevor ich zu ihr eilen konnte, um sie wieder aufzurichten und mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, war der Knüppelschwinger heran und ließ sein Instrument staatlicher Gewalt auf Pias Rücken niedersausen.

Sie konnte nicht mehr schreien, denn schon der erste Schlag raubte ihr den Atem.

Während ich zu ihr rannte, brüllte ich schon los, leider konnte ich mich nicht emotionslos ausdrücken, sonst hätte ich geschrien:

(„Disziplinierter und pflichtbewusster Beamter des Staates!

Würde es ihnen vielleicht etwas ausmachen, diese schwangere Frau kurzfristig zu Atem kommen zu lassen? Ich könnte ihnen in der Zwischenzeit möglicherweise erklären, dass es nicht sinnvoll ist, seine Wut an Hilflosen...“)

Alles Gewäsch!

Ich brüllte was das Zeug hielt!

„Hör auf! Du Schwein! Willst du sie umbringen!?“

Als ich nah genug war, warf ich ihn dann einfach um, denn er hatte auf meine beruhigenden Worte nicht reagiert.

Sein Helm war verrutscht und er konnte nicht sofort sehen wer es gewagt hatte, aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten, ja sogar einen pflichtbewussten Staatsdiener angreifen.

Ich kümmerte mich um Pia, die eine eindrucksvolle Kopfplatzwunde davongetragen hatte, die so stark blutete, dass sie über und über mit der roten Flüssigkeit beschmiert war. Es hatte einige Zeit gedauert, fest zu stellen, woher das ganze Blut kam.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie geringe Mengen Blut, optisch, eine so verheerende Wirkung haben können.

Hätte der Beauftragte Staatlicher Gewalt nicht aufhören können, als Pia zu bluten begann?

Ich richtete sie auf und sorgte dafür, dass sie wieder zu Atem kam.

Unter psychischer Schockeinwirkung schnappte sie nach Luft und piepste, als hätte die Hypoxi schon Auswirkungen auf ihr Atemzentrum gehabt.

Während sie mich ansah, weiteten sich ihre Augen vor Schreck und ein erstickter Schrei blieb in ihrer Kehle stecken.

Ich ließ sie los, wirbelte herum und schlug zu.

Der Bulle, er hatte versucht mir seinen Knüppel hinterrücks über den Schädel zu ziehen, klappte zusammen, wie ein Taschenmesser, ja genau wie jenes das man mir zwei Stunden zuvor und einhundertfünfzig Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, abgenommen hatte, weil ich unbewaffnet zur Demonstration erscheinen sollte.

Ich trat gegen seine Hand, dass es knackte und der Knüppel davon flog - ich konnte noch erkennen, dass er von einem friedliebenden Demonstranten aufgehoben, ja förmlich beschlagnahmt wurde, um als Andenken mit nach Hause genommen zu werden.

Wieder wollte ich mich um Pia kümmern, als auch schon Verstärkung für die Gegenseite eintraf.

Ich knüllte Pias Halstuch zusammen, um es auf ihre Kopfplatzwunde zu drücken, aus der es immer noch munter blutete.

Es gelang mir gerade noch, Pias Hand zum Kopf zu führen, denn sie sollte dass Tuch selber an drücken, bis die Verletzung genäht werden konnte, als ich mit roher Gewalt zurück gerissen wurde.

Zwei Hüter des Staates warfen mich zu Boden und traten mit diesen bekannten schwarzen Stiefeln, wie man sie auch von Nazis her kannte, nach mir, wobei sie immer wieder von Anarchistenschweinen redeten.

Ich maß dem keine besondere Bedeutung zu, da ich nur Wildschweine, Hausschweine, Stachelschweine und Mehr- oder Wenigerschweine kannte.

Ich griff nach einem der tretenden Füße, der ansonsten meinen Kopf getroffen hätte und drehte ihn um, wie ich es mal in der Catchbude auf der Kirmes gesehen hatte, nur dass ich nicht aufhörte, als der Träger des Fußes am Boden lag und lauthals schrie.

Der andere versetzte mir einen Tritt in den Magen, der mich diese berühmten imaginären Sterne sehen ließ. Gut dass ich mich sofort zusammen krümmte, sonst hätte der nächste Tritt tatsächlich meine Eier getroffen.

Langsam aber sicher wurde ich wütend.

Mit anderen Worten, ich war in der Situation, die aus friedlichen Demonstranten Gewalttäter machte, die bei der nächsten Demo entweder gar nicht mehr erschienen, oder sofort, wenn sich die Gelegenheit ergab, nach Steinen griffen.

Ich trat relativ ungezielt nach seinem Knie, stand auf, obwohl einige Knüppel auf mich nieder prasselten und nahm mir den nächsten Bullen, um mich zu bewaffnen.

An den Beinen wirbelte ich ihn herum und versuchte so viele seiner Kollegen wie möglich zu treffen.

Eine Maschinenpistole donnerte los - klick machte es in meinem Bewusstsein, ich weiß, wann ich aufhören muss.

Ich ließ den Bullen los, er segelte durch die Gegend und riss drei seiner Kollegen zu Boden.

Ich rührte mich nicht mehr und wurde von mehreren Bullen auf das nieder getrampelte Gras geworfen.

Wo kamen nur die vielen Knüppel her, die in ungeahnter Frequenz auf mich nieder donnerten...

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer grünen Minna und andere Gewalttäter kümmerten sich um mich.

Eines meiner Augen konnte ich noch so weit öffnen, dass ich die Situation erfasste.

Pia lag in den Armen zweier Frauen, die sehr besorgte Gesichter hatten.

Ein Bärtiger, den ich von irgendwo her zu kennen glaubte, schüttelte mich.

„Mann, wir dachten schon, du würdest draufgehen, so haben die dich zugerichtet!“

Ich versuchte zu sprechen, aber sie winkten ab.

„Lass gut sein, wenn wir das Maul aufmachen, glaubt uns sowieso keine Sau!“

Da war es wieder, die Sache mit dem Schwein!

Es kam mir so vor, als hätte man mir jeden Muskel und Knochen bewusst machen wollen, denn ich spürte sie alle einzeln.

Unter den Gewalttätern entstand eine Unruhe, außerdem war es deutlich heller geworden.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass wir das Ziel unserer Fahrt erreicht hatten - ich hatte eigentlich gar nicht bemerkt, dass wir gefahren worden waren.

Irgendwie realisierte ich, wie ein Gewalttäter nach dem anderen gewaltsam aus dem Wagen gezerrt wurde.

Ich wartete bis die Reihe an mir war und bekam noch mit, dass die beiden Frauen, die sich um Pia kümmerten, darauf bestanden, dass sie sofort ins Krankenhaus gebracht wurde.

Die Bullen rissen mich hoch und ich hatte das Gefühl, sie wollten mir die Arme ausreißen.

Sie zerrten mich über einen Hof in ein Gebäude, durch Flure in denen auf Bänken gewalttätige Demonstranten wie ich saßen, wie Vieh, das auf den Abdecker wartet und warfen mich schließlich in einen Raum, in dem schon mehrere uniformierte Beamte auf mich warteten.

Die Tür hatte sich wieder hinter mir geschlossen, als zwei ausgesprochen kräftige Kerle nach mir griffen, um mich auf einen Stuhl zu setzen. Ich fragte mich, wo sie diese Catchertypen her hatten und ob die Uniformen wohl Sonderanfertigungen waren.

Links und rechts flankiert von den wahren Bullen unter den Bullen hing ich mehr als ich saß und versuchte mit dem einen Auge, dass ich noch öffnen konnte mein Gegenüber zu erkennen.

„Name!“

Mit den Ohren hatte ich es eigentlich nicht, warum brüllte er dann so?

Ein Kloß blockierte meinen Hals und ich bekam nur ein Krächzen hinaus.

„Bond!“

Sie hatten schlechte Ohren.

Mein Gegenüber begann zu brüllen. Wenigstens wusste ich jetzt genau, dass ich nicht taub geworden war.

„NAME!“

„Mein Name ist Bond, James Bond!“

Ich sah das Nicken und konnte gerade noch früh genug die Zähne aufeinander beißen, sonst hätte ich sicher einige verloren.

Obwohl ich auf den Schlag gefasst gewesen war, warf er mich vom Hocker.

Ich blieb liegen und wartete, bis man mich wieder hingesetzt hatte.

„Herr Wachtmeister! Sie können wohl nicht singen!?“

„Was? Warum?“

Er konnte wirklich bellen, wie ein Hund.

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder - schlagen, deutsche Sänger dulden keine Zwischenfragen!“

Ich rollte mich ab, bevor der Schlag mich treffen konnte, sprang auf die Füße und trat dem bulligen Bullen, der mich geschlagen hatte in den Bauch, verpasste ihm einen Bihänder zum Kinn und wandte mich seinem Kollegen zu.

Ich hielt inne und versuchte ein Grinsen zustande zubringen, als ich in die Mündung seiner Pistole blickte.

Gelassenheit vortäuschend setzte ich mich wieder hin.

„Dich bringen wir nach Stammheim! Wir werden dafür sorgen, dass du nie mehr rauskommst! So was wie euch Chaoten sollte man sofort an die Wand stellen!“

„Einmal Deutscher immer Deutscher!“

„SCHAFFT MIR DEN KERL HIER RAUS!“

Er hatte ein Organ, mit dem man Tote aufwecken konnte. Sie warfen mich in einen dunklen Raum, schlossen die Tür hinter mir und überließen mich meinen Verletzungen. Was war wohl aus Pia geworden?

Hatte sie eine Fehlgeburt?

Eigentlich brauchte, man allen Frauen, die abtreiben wollen nur zu empfehlen, auf Demos zu gehen, die Bullen erledigen das auf Staatskosten und dabei noch auf völlig legale Weise.

Wer also keine Knete hat, nach Holland zu kommen, der hat sicherlich die Möglichkeit zu einer Demo nach Brockdorf, Wackersdorf oder Uentrop bei Hamm zu fahren.

Was würde morgen in der Zeitung stehen?

Wahrscheinlich die üblich Lalle, oder vielleicht doch nicht.

Vielleicht stand ja auch in der Zeitung, dass der bedauerliche Demonstrant, Fenda Loras, obwohl er ja zu den Gewalttätern zu rechnen war und immer wieder bei Demonstrationen aufgefallen war, seinen Verletzungen erlag, die ihm andere gewalttätige Demonstranten beigebracht hatten.

Ich ahnte ja nicht, wie nah ich der Wahrheit kam.

*

Es war wohl ein Hauch von Verkommenheit,

mit flottem Leben und Saufen;

so stand er denn immer zum Sprung bereit,

um dann ohne jede Bedenklichkeit

vor sich selber davon zu laufen.

Da war wohl das Meer der Vergessenheit,

das mächtig ihn angezogen;

so wie er in seiner Besessenheit,

entsprechend jener Vermessenheit,

die Welt und sich selbst hat betrogen;

dass nun im Hinblick auf seine Vergangenheit

sich lautlos über ihm schlossen die Wogen.

P. G. Zimmermann

Die Aggression ist von einer Virulenz, die sie epidemisch macht!

Aggression von Friedrich Hacker

Der blaue Punkt

Es war finster, dunkel usw...

Die Erde wurde öd und leer.

Und der Geist schwebte über den Wassern!

Mir kam es auch so vor, als würde ich schweben, vielleicht ein Ergebnis der vielen Hämatome, die ja auf das Blut des Körperkreislaufes zurückgreifen mussten.

Also eine schleichende Schocksymptomatik.

Vielleicht hatte ich ja auch innere Blutungen nach der letzten Behandlung erlitten und würde sowieso einem Volumenmangelschock erliegen.

Mein einziger Zellengenosse war ein kleines Glühwürmchen, das nun auf einem Fleck verharrte und immer größer zu werden schien. Waren das die ersten Halluzinationen vor dem Ende?

Der blaue Punkt wurde immer größer, bis ich glaubte eine Kugel erkennen zu können.

Ein überdimensionaler Kegel rollte auf mich zu, es war so ein Kegel, wie man ihn in jedem Mathematikbuch finden konnte.

Ich erinnerte mich an Berichte von Leuten, die erfolgreich reanimiert worden waren und wartete darauf, dass sich mein Leben noch einmal vor mir abspulen würde, Szene für Szene rückwärts ich würde mir immer viele Pluspunkte geben.

Der Kegel war rotmetallic lackiert und an seiner Spitze wuchs nun eine gelbe Kugel hervor.

Doch das sollten nicht die einzigen Veränderungen bleiben, die ich an dem Kegel wahrnahm.

Aus seinen Seiten wuchsen schlangenartige Gebilde, die sich mir näherten und mich berührten. Die Berührungen waren angenehm und meine Schmerzen ließen nach.

Wenn mir jemand erzählt hätte, dass das der Tod wäre, hätte ich ihn sicherlich ausgelacht.

Ich fühlte mich schwerelos und die gelbe Kugel an der Spitze des Kegels flog auf mich zu, oder...

Nein, ich flog auf den Kegel zu, ich wurde von den schlangenartigen Auswüchsen zu dem Kegel getragen, ich flog in die Kugel, es gab kein Zurück mehr.

Eine Stimme redete auf mich ein.

„Fürchte dich nicht!“

Oh Mann, doch der Himmel!

Hatten nicht die Engel immer schon so was gesagt, wenn sie irgend einem armen Schwein erschienen waren?

„Wovor soll ich denn Angst haben! Hast du vielleicht 'mal 'nen Joint für mich?“

Diese Dreistigkeit konnte ich mir nun erlauben, denn ich war ja nicht mehr in der Bunten Republik Deutschland, konnte gar nicht mehr in diesem Land sein, vielleicht in Frankreich?

Lebte Gott nicht auch angeblich in Frankreich?

„Ja, aber du musst erst warten, bis die Regeneration abgeschlossen ist!“

„Gut, gut, aber ich wäre dir dankbar, wenn du dich beeilen würdest, man weiß ja nie, wann man 'mal wieder eine Gelegenheit hat, sich einen Joint zu genehmigen.“

Ich hätte dem Kegel ein Auge gekniffen, hätte ich nicht ohnehin nur ein Auge zum Sehen zur Verfügung gehabt.

Unter mir lag etwas oder ich lag auf etwas, während sich eine Platte, die mich lebhaft an ein Metallsuchgerät erinnerte, meinem Gesicht näherte.

Ich spürte ein leicht unangenehmes Kribbeln und konnte dann mein lädiertes Auge wieder öffnen.

„Is' ja irre!“

Entfuhr es mir, woraufhin die Scheibe über meinem Mund verharrte.

„Erst muss die Regeneration abgeschlossen sein, dann sehen wir weiter!“ Ich stimmte zu.

„Klar, wenn die Regeneration abgeschlossen ist und ich meinen Joint habe, sehen wir weiter!“

Es mussten eine Menge Endorphine freigesetzt worden sein, die meine Schmerzen betäubten und meine Stimmung euphorisierten.

Was hatte ich da gerade für einen Unsinn gedacht?

Wie konnten Endorphine freigesetzt werden, wenn ich tot war und sich nun ein Kegel um meine Regeneration kümmerte?

Um meine Regeneration kümmerte?

Das konnte nur eines bedeuten!

Tote wurden nicht regeneriert!

Ich war gar nicht tot!

Ich lebte noch!

Wie hätte ich auch sonst einen Joint rauchen können?

In mir keimte der Verdacht, dass die Hüter der öffentlichen Ordnung mir einen Trip LSD-25 in die Cola gemischt hatten.

Das war allerdings völlig absurd, denn sie hatten mir nichts zu trinken angeboten.

Konnte ich also das was ich nun erlebte als Realität betrachten?

„Regeneration abgeschlossen!“

Gut, dann würde ja nun der Joint kommen.

Ich richtete mich auf und saß auf einer Liege.

Ein Tentakel des Kegels erschien vor meinem Gesicht und steckte mir einen glimmenden Joint in den Mund.

Thomas Lieven hätte jetzt sicherlich gesagt, wenn ich das in meinem Club erzähle...

Da ich aber keines Clubs Mitglied war und auch sonst kaum jemanden kannte, der sich bei dieser Geschichte aus meinem Munde gewundert hätte, nahm ich einen kräftigen Zug.

„Wir haben das Tetrahydrocannabinol synthetisiert, du wirst uns sagen müssen, ob es gut ist, sei bitte vorsichtig, wir wissen nicht, wieviel THC pro kg Körpergewicht du brauchst!“

„Rein subjektiv kann ich nur sagen, es ist eine ausgezeichnete Qualität, mein Kompliment.“

Also, der Joint hatte es in sich. Was allerdings immer noch nicht erklärte, wo ich mich befand und was geschehen war.

Das Einzige, was sicher zu sein schien, war, dass ich auf irgendeine merkwürdige Art und Weise den Bullen entwischt war.

„Also eines ist mir völlig klar, euer Merkwürden, ich bin im Himmel, mir geht es gut, ich bin gesund...“

„Die Regeneration ist abgeschlossen, wenn man von den Fehlern deiner Zeit absieht!“

Eine andere Stimme mischte sich in unsere Unterhaltung ein.

Diese Stimme klang ebenfalls weiblich, was mir erst so spät auffiel, weil ich davon überzeugt war, dass Engel geschlechtslos zu sein hätten.

Die erste Stimme kam aus dem Kegel.

Woher die zweite kam, konnte ich nicht lokalisieren.

„Ich fürchte, du kannst auch seine Zähne und den Rest regenerieren, Sylvana des Kastells, wir haben einen Fehler gemacht. Wir können ihn nicht wieder zurück schicken, denn wie sollte er seine Wunderheilung erklären?“

Nun sprach der Kegel, oder die Kegelin?

„Wir mussten ihn aber holen, sonst hätte er nicht mehr weiter gelebt!“

„Du hast recht Sylvana des Kastells, aber ich kenne seinen ganzen Lebenslauf und daher weiß ich genau, wann er offiziell gestorben ist. Diese ganzen Fakten lassen nur eine einzige schlüssige Erklärung zu, er ist der Falsche!“

„Was, der Falsche? Soll das heißen, ihr schickt mich wieder zurück zu diesen Irren!?“

„Nein, das können wir nicht, denn wie sollte man deine unglaubliche Genesung erklären? Du musst bei uns bleiben!“

„Oh, warum nicht, wenn es bei euch Mädels schön ist, warum soll ich dann nicht hier bleiben?“

„Du willst also nicht zurück, in dein stinkendes Jahrhundert?“

„Wenn du damit das meinst, wo ich herkomme, dann will ich da nie wieder hin!“

„Gut! Sylvana des Kastells, du kannst ihn vollständig regenerieren, lass dir aber Zeit, zumindest bei den Zähnen, denn ich will mit ihm reden können!“

Wieder erschien dieser komische Minensucher über meinem Kopf.

Ich maß ihm aber keine Bedeutung zu, sondern suchte nach meiner zweiten Gesprächspartnerin, deren Stimme mich in einen Zustand freudiger Erwartung versetzt hatte.

„Wie heißt du?“

„Ich, äh meinst du mich? Ja, ich heiße Fenda Loras!“

„Fenda Loras? Das kann doch nicht sein!“

„Doch, wirklich, ich bin Fenda Loras!“

„Ich muss zugeben, dass du mich ganz schön überrascht hast!“

Ein komisches Gefühl machte sich in meinem Mund breit, es war wie ein gleichmäßiger Druck in allen Zähnen.

„Normalerweise stelle ich mich anders vor! Mein Name ist Loras, Fenda Loras!“

„Ach, wie James Bond?“

„Genau, wie James Bond!“

„Du bist also wirklich Fenda Loras! Ich glaube ich begreife, wo wir unseren Fehler gemacht haben, der dir das Leben gerettet hat.“

Was für ein Fehler sollte das sein, dem ich nun offensichtlich mein Leben zu verdanken hatte? War ich nun doch im falschen Film gelandet?

„Och, das mit dem Fehler macht doch nichts! Jeder macht 'mal einen Fehler!“

Sie lachte! Ich hatte es tatsächlich geschafft die Besitzerin dieser imaginären Stimme zum Lachen zu bringen. Gut!

„Wir haben auch nicht die Absicht, unseren Fehler wieder gut zu machen!“

„Danke, das ist aber nett von euch!“

„Aber ich glaube, ich kann dir nun erklären, wo der Fehler zu finden ist!“

„Nur zu, du hast mich richtig neugierig gemacht!“

Ich spürte komische Steine in meinem Mund.

„Du brauchst kein solches Gesicht zu machen, Fenda Loras, spuck sie einfach aus, die Steine!“

Das war die erste Stimme und ein Tentakel erschien vor meinem Mund, an dessen Ende eine Schüssel steckte.

Was ich ausspuckte, machte mich allerdings sehr nachdenklich.

Es waren Brücken, Kronen und Zahnfüllungen im Wert von mindestens zwanzigtausend Mark.

Die Schüssel verschwand.

Ich maß diesem Ereignis keine Bedeutung zu, denn immerhin konnte es ja tatsächlich so sein, dass sie sich so ihre Heilkosten bezahlen lassen wollten.

„Also, du heißt und bist Fenda Loras!“ Das war wieder die zweite Stimme, gut das sie nicht sangen.

„Kennst du zufällig einige Bücher deiner Zeit?“

„Klar, ich kenne so einige Bücher!“

Irgendwie überschlugen sich meine Gedanken. Einerseits ging es gerade darum zu klären, warum ich einem Fehler, den irgendwer gemacht hatte, mein Leben zu verdanken hatte, andererseits fragte man mich nun nach solchen Banalitäten, wie den Büchern meiner Zeit.

Was sollte das überhaupt, mit den Büchern meiner Zeit? Die Bücher meiner Zeit waren die Bücher aller Zeiten zuvor, soweit sie nicht in der Bibliothek von Alexandria verbrannt waren.

„Gut, kennst du auch DER SOHN DES MONDPRIESTERS, REISE DURCH CISSYLVANIEN, INTERSTELLARE SCHARADE, BABYPORT, JOY STICK, SUCHET SO WER...“

„Halt, halt! Kenne ich alle, aber DER SOHN DES MONDPRIESTERS muss wohl nach meiner Zeit geschrieben worden sein! Das ist ja gerade der Gag, der Typ in REISE DURCH CISSYLVANIEN heißt auch Fenda Loras, natürlich nicht richtig, weil er nur eine imaginäre Gestalt ist, nichts anderes als eine Romanfigur, aber immerhin war dieser Autor der Einzige, der sich meines Namens bediente!“

„Genau das war 's, das war der Fehler! Wir wollten den Autor her holen, du musst wissen, das er mein Lieblingsautor ist! Er muss sich im selben Gebäude wie du aufgehalten haben!“

„Kann sein, dass der auch demonstriert hat, bei den Büchern! Jetzt weiß ich auch, warum mir der Typ mit dem Bart in der grünen Minna so bekannt vor kam, das war er!“

Ich fuhr mir mit der Zunge kontrollierend über die Zähne, oder zumindest über das, was ich nun anstelle der Zähne erwartete.

Was war das?

Meine Zunge fiel nicht in die üblichen Zahnlücken! Noch nicht einmal an den Orten, die zuvor von diversen Brücken überbrückt worden waren.

Wo waren sie geblieben?

Die Lücken meinte ich, nicht die Brücken, denn die hatte ich ja ausgespuckt.

Ach so!

Ja, das war die Lösung!

Sie hatten meine Zähne regeneriert und wollten den alten Plunder vom Zahnarzt nur haben, um Platz für neue, geeignetere Zähne zu machen, nicht weil sie an irgendeine Art von Bezahlung gedacht hatten!

Hervorragende Arbeit, das musste man schon denken.

„Was ist demonstrieren?“

„Was demonstrieren ist? Na ja, wie soll man das erklären? Demonstrieren ist einfach, wenn Leute auf die Straße oder sonst wo hingehen, um den Machthabern zu zeigen, dass sie eine Meinung haben, die Demonstranten meine ich! Also die Demonstranten sind Leute, die auf die Straße gehen - in größeren Mengen - um denjenigen, die die Macht im Staate haben zu zeigen, dass sie eine andere Meinung haben, als die Machthaber.“

Über meinen Augen, dass heißt in meinem Gesichtsfeld, erschien ein abenteuerlicher Gegenstand und noch bevor ich ihn richtig wahrnehmen konnte, wurde es stockdunkel im Raum.

„Ach! Wissen denn diese Machthaber nicht, dass die Leute eine Meinung, oder eine andere Meinung haben?“

„Doch, das wissen sie, allerdings wollen sie nicht, dass die Leute diese Meinung öffentlich vertreten, weil sonst zu viele andere Leute auch auf die Idee kommen könnten auch eine Meinung haben, zum Beispiel eine eigene Meinung und dann sind die Machthaber sauer, weil sie es nicht vertragen können, dass andere Leute sich eine eigene Meinung leisten wollen und sie sogar noch öffentlich verkünden! Klar?“

„Klar, sonnenklar! Warum schickt man diese Machthaber nicht in die Wüste und sagt allen Leuten, das keiner mehr Macht hat?“

„Gute Idee! Aber jetzt würde mich ja doch mal langsam interessieren, woher ihr kommt und wer ihr seit!“

„Du hast recht, wir werden es dir sagen. Wir sind die Sylvana des Kastells und ich!“

„Aha, ich verstehe! Der Kegel hinter mir ist also die Sylvana des Kastells! Vielen Dank übrigens für die Heilung, die neuen Zähne und die Lebensrettung!“

„Bitte!“

Die erste Stimme war also die Stimme des Kegels, die Stimme der Sylvana des Kastells! Das war also ganz einfach! Und die zweite Stimme war ihre Stimme, doch wer war sie?

„Alles in Dortmund - äh, in Ordnung, ich habe begriffen! Sie ist die Sylvana des Kastells und du bist du!“ „Ja, ich bin ich!“

Sie klang etwas nachdenklich.

„Ach so, ich bin Vai Tegu! Das Zeug, was du da rauchst, scheint eine komische Wirkung auf mein zentrales Nervensystem zu haben!“

„Ist ja spitze, du hast ein Zentralnervensystem! Und wer ein ZNS hat, ist auch eine biologische Verbindung!“

Ich dachte nach.

„Und die Sylvana des Kastells hat kein ZNS?“

„Natürlich nicht, so etwas habe ich nicht nötig!“

So, so etwas hatte sie nicht nötig, die Sylvana des Kastells!

„Na, ja wozu auch?“

Die zweite Stimme klang wieder auf.

„Ja, Fenda Loras, ich bin eine Biomasse!“

„Und warum kann ich dich nicht sehen, Vai Tegu? Eigentlich kann ich zur Zeit gar nichts sehen!“

„Weil, weil ich eigentlich einen anderen erwartet hatte, nämlich den Autor...“

„Ich weiß, ich weiß, du brauchst seinen Namen nicht zu erwähnen, wer kennt ihn nicht?“

„Ich kenne ihn, du kennst ihn und die Sylvana des Kastells kennt ihn, wer kennt ihn nicht?“

„Immerhin hat er meinen Namen in seinem Roman missbraucht. Ich hatte mich immerhin für den einzigen Fenda Loras gehalten und dann kam er und hat meinen Namen missbraucht. Alle Idioten haben mich gefragt, wie es denn in Cissylvanien war!“

„Immerhin hat dir diese Tatsache das Leben gerettet, denn wenn du nicht Fenda Loras wärest und wenn Vai Tegu nicht so verrückt auf diese Bücher wäre - am liebsten hört sie REISE DURCH CISSYLVANIEN, und wenn der Autor sich nicht deines Namens bedient hätte, dann wärst du jetzt nicht mehr ein Lebewesen, sondern bestenfalls ein Ersatzteillager! In deiner Zeit gab es doch wohl noch so was wie Organtransplantationen, oder?“

„Die SYLVANA DES KASTELLS hat recht, du solltest ihm danken, denn ohne ihn gäbe es dich nicht mehr!“

„Ja, ja, ohne ihn gäbe es mich nicht mehr! Aber trotzdem würde es mich brennend interessieren, wo ich hier bin!“

„Klar, ich werde es dir erklären! Wenn du seine Bücher kennst, weißt du auch sicher, dass er immer auf eine bessere Zeit gewartet hat, dass er immer zum Ausdruck brachte, dass es irgendwann in der Zukunft eine Zeit geben müsse, in der alle Individuen frei sein würden, in der einfach alles möglich wäre und dass er darauf warte, abgeholt zu werden, von Leuten aus der Zukunft, die seine Bücher gelesen hätten!“

„Du hast recht und warum darf ich dich nicht sehen?“

„Weil ich ihn erwartet hatte und weil ich sicher sein wollte, dass ich ihm gefalle! Ich wollte...“

„Aber hast du denn die Stelle in REISE DURCH CISSYLVANIEN übersehen, in der er erwartet, dass die beiden wichtigsten Frauen seines Lebens mit ihm in die Zukunft reisen sollen?“

„Nein, ich habe die Angelegenheit nur anders ausgelegt, ich dachte mir, solange er mich nicht kennt, kann er gar nicht wissen, wer die wichtigsten Frauen seines Lebens sind!“

„Oh doch, er kann zumindest wissen, dass er diese Frauen mitnehmen will und hat es ihnen sicher auch versprochen! Man würde ihm keinen Gefallen tun, ihn alleine in die Zukunft zu holen!“

In die Zukunft zu holen?

IN DIE ZUKUNFT ZU HOLEN?

„Soll das heißen...“

Ich war aufgesprungen.

„Soll das heißen, dass ich in der Zukunft bin?“

„Ja, aber du musst dich beruhigen!“

„HURRA! Ich bin in der Zukunft! Ich will mich gar nicht beruhigen! Warum sollte ich mich beruhigen, wenn du mir sagst, ich wäre in der Zukunft? Ich habe es geschafft! Erst hat er meinen Namen missbraucht und dann habe ich seinen Platz in der Zukunft eingenommen?

Kann einer noch mehr bekommen?“

*

Wie die Polizei meldet, ist einer der Demonstranten, die für die gestrigen Ausschreitungen verantwortlich zeichnen, in der Nacht verschwunden, nachdem er mehrere Beamte bei Ausübung ihrer Pflicht ernsthaft verletzt hatte. Wie aus unterrichteten Kreisen zu erfahren war, wird angenommen, dass er Helfer hatte, die in der Terroristenszene zu suchen sind. Unklar blieb bisher nur, wie es den Terroristen gelang, unbemerkt in das Polizeigebäude einzudringen, um ihren Komplizen zu befreien.

Wie von einem Polizeisprecher zu erfahren war, sind die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden.

IS' JA IRRE

„Weil Vai Tegu sich sehr für die Kultur oder Subkultur deiner ehemaligen Zeit interessiert, haben wir Aufzeichnungen von allen Musikstücken gemacht, die du jemals gehört hast!“

„Was? Ihr habt einfach Aufzeichnungen von allen Musikstücken gemacht, die ich je gehört habe? Wie geht denn das?“

„Ganz einfach, alles was du jemals gehört, gesehen und gedacht hast, ist irgendwo in deinem armseligen Gehirn vorhanden, man muss es nur nutzen können!“

„Habt ihr denn keine Probleme mit der Gema?“

„Gema, was soll denn das sein?“

„Du sagst also, dass ihr euch aller Musikstücke bedient habt, die ich jemals gehört habe?!“

„Na, ja, wenn man es genau nimmt, haben wir sie natürlich erheblich verbessert, wenn man sich vorstellt, was für ein Gequäke du über dich ergehen lassen musstest, kann einem ja richtig übel werden, auch wenn man nicht über ein ZNS verfügt. Wir haben also deine Erinnerungen genommen, aus dem Scheppern digitalisierbare Informationen gemacht und in deinem Gedächtnis gekramt, um festzustellen, wie das ganze eigentlich klingen sollte. Hast du gewusst, dass dein Gehirn so eine Art Filterfunktion ausgeübt hat, um dir alle Sinneseindrücke so angenehm wie möglich zu machen?“

„Was sagst du da?“

„Wir haben deinem Gedächtnis entnommen, dass du 'mal etwas über einen musikalischen Südgehirnreiniger gelesen hast...“

„In Rotwang von Tim Hildebrand...“

„Stimmt, das was du dir unter einem musikalischen Südgehirnreiniger vorstellst, hat jeder Mensch deiner Zeit automatisch in seinem Gehirn, indem er nämlich alle möglichen Sinneseindrücke mental verbessert, weil er aufgrund seiner Erfahrungen weiß, wie klar so etwas sein kann. Natürlich hat dieser Prozess der Restauration seine Grenzen!“

„Und in dieser Zeit ist das nicht mehr nötig? Ist ein musikalischer Südgehirnreiniger überflüssig geworden? - Außerdem, was wollt ihr eigentlich noch alles meinem Gehirn entnehmen?“

„Och, nichts besonderes, nur alles, was wir in diesem Zeitalter...“

„Das geht zu weit!“

„Gut, wenn du es sagst, geht es zu weit!“

„Dann hör auch endlich auf!“

„Gut, ich höre auf.“

„Außerdem wird es langsam Zeit, dass Vai Tegu zurückkehrt und sich mir endlich zeigt!“

„Woher kennst du ihre exhibitionistische Veranlagung?“

„Was? Ihre was, ich kenne überhaupt nichts! Ich streike!“

Ich verschränkte nun die Arme vor der Brust und fragte mich, ob sie immer noch Zugang zu meinem Gehirn hatte, die Sylvana des Kastells.

Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich ganz gut gefühlt, in der Zukunft, allerdings ging das doch alles etwas zu weit, kannten die denn überhaupt keine Intimsphären?

Jedenfalls hatte Vai Tegu gesagt, sie müsse sich erst darauf vorbereiten, von mir betrachtet zu werden.

Also Vai Tegu schien hier die treibende Kraft zu sein, wogegen die Sylvana des Kastells ihr ausführendes Organ zu sein schien.

Ihr ausführendes Organ!

Die Sylvana des Kastells!

Des Kastells?

Des Hauses?

Sollte es sich wirklich um Vai Tegus Hauscomputer handeln?

Warum nicht?

Trotzdem, ich steikte, ich würde sie nicht danach fragen.

„Vai Tegu ist bereit, von dir betrachtet zu werden!“

Ich kam mir bei diesen Worten wie ein Voyeur vor, der eine professionelle Exhibitionistin sehen wollte. Konnte es sein, dass dieses Jahrhundert oder Jahrtausend ein Tabu in der Betrachtung von Individuen gefunden hatte?

Die Sylvana des Kastells und die Liege, auf der ich saß, lösten sich einfach auf, als hätten sie nie existiert.

Ich stand auf einer Waldlichtung und sah mich um. Ein einziger Fliegenpilz fiel mir auf, den ich mir näher ansehen wollte.

Ein schöner Fliegenpilz!

Musik klang auf und jemand begann zu singen.

Trotz der musikalischen Südgehirnreinigung erkannte ich sofort, wer da sang, erkannte den ganzen Song, der von seinem Songwriter persönlich dargeboten wurde.

„Der Fliegenpilz ist weiß und rot, wenn man ihn beißt dann geht man tot, oh Fliegenpilz, oh Fliegenpilz.“

„Fenda Loras!“

Das war die angenehme Stimme von Vai Tegu, sie musste, von mir unbemerkt, hinter mich getreten sein.

Normalerweise hätte ich mich schnell wie ein Wirbelwind umgedreht, nicht aber in dieser Situation.

„Weißt du, Vai Tegu, vielleicht will ich dich ja gar nicht betrachten, ich weiß ja nicht, vielleicht gibt es ja in deiner Zeit ein Betrachtungstabu!“

Sie lachte.

In meiner Zeit, gibt es überhaupt nichts, was man als Tabu bezeichnen könnte. Außerdem habe ich schon meine Erfahrungen in anderen Zeiten gemacht, mich kann also nichts mehr überraschen. Warum drehst du dich nicht um, warum siehst du mich nicht an?“

„Also gut, aber auf deine Verantwortung!“

„Verantwortung, was ist das?“

Langsam, als würde ich mich auf eine unangenehme Begegnung gefasst machen müssen, drehte ich mich um, jederzeit bereit, gegebenenfalls die Augen zu schließen. Schließlich hatte ich ja auch den Anblick der Sylvana des Kastells ertragen, ohne Schock und andere Nebenwirkungen, aber nun - Vai Tegu war ein Mensch, oder hielt sich zumindest für einen Menschen, so hoffte ich zumindest.

Wie sahen Menschen dieser Zeit aus?

Gut!

Ganz hervorragend!

Sie sahen aus, wie Menschen zu meiner Zeit.

Zumindest traf das auf Vai Tegu zu.

Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Vorsicht, der Pilz!“

„Ja, es ist ein schöner Pilz, fast hätte ich auf ihn getreten!“

Vai Tegu trug Jeans, T-Shirt und Sandalen. Sie sah so aus, dass sie in der Zeit von achtundsechzig bis sechsundneunzig niemandem aufgefallen wäre, zu meiner Zeit, das heißt klar wäre sie aufgefallen, aber nicht als Person aus einer anderen Zeit oder einem anderen Zeitalter!

„Du siehst so aus, als wenn du aus meiner Zeit kommen würdest! Ich meine von der Kleidung her, könntest du ganz gut aus meiner Zeit stammen, du weißt ja, Kleider machen Leute!“

„Ich habe diese Sachen extra anfertigen lassen, weil ich eine unverbesserliche Nostalgikerin mit einem gewissen Hang zur Klassik bin.“

„Zur Klassik!“

„Ja, ich bin Expertin für dein Jahrtausend!“

„Du meinst, dass du Expertin für die Zeit von tausend bis zweitausend bist?“

„Genau, eine äußerst unangenehme Zeit, kann ich dir sagen! Fast alle anderen Jahrtausende waren besser, aber was soll 's, ich bin eben die Expertin für diese Zeit, von der du nach alter Zeitrechnung sagtest, es handele sich um die Zeit von eintausend bis zweitausend, nach der Geburt des Mannes, der von den Sanitätern erschossen wurde!“

Sie lehnte sich zurück und - oh Wunder - schwebte in der Luft, als wenn sie auf einer unsichtbaren Liege liegen würde.

„Setzt ihr euch in eurem Jahrtausend nicht?“

Das war die Stimme der Sylvana des Kastells, die diesmal aus dem Nichts zu kommen schien.

„Doch, doch! Kann ich mich einfach so nach hinten fallen lassen, wie Vai Tegu es gerade gemacht hat?“

„Ja!“

„Gut!“

Oh, was heißt hier gut? Es ist gar nicht 'mal so einfach, sich einfach in eine gähnende Leere hinter sich fallen zu lassen, auch wenn man der Sylvana des Kastells vertraute.

Nach dem dritten Versuch gelang es mir, ich ließ mich etwas nach hinten kippen, bereit mich ab zu rollen, wenn es sich als erforderlich erweisen sollte.

Der Sessel war ausgesprochen bequem und man konnte sitzen und liegen, wie man wollte, brauchte sich nur entsprechend zu bewegen. Es dauerte eine Weile, bis ich die Funktionen dieses Sessels unter Kontrolle hatte.

„Habt ihr hier eigentlich was zu trinken, oder könnt ihr mittlerweile auf solche Dinge verzichten?“

„Grundsätzlich könnten wir auf alle früheren körperlichen Bedürfnisse verzichten, aber dann wäre ja unsere menschliche Existenz fragwürdig! Was willst du trinken?“

„Ich weiß ja nicht, was ihr so alles zu bieten habt!“

„Du könntest der Sylvana gestatten sich deines Gedächtnisses zu bedienen!“

Vai Tegu sagte es mit einer Beiläufigkeit, die mir entweder verdächtig vorkommen musste, oder mir den Eindruck aufzwang, dass sie tatsächlich meinte, was sie sagte.

Ich beschloss, ihr entgegen zu kommen und zu glauben, dass sie immer meinte, was sie sagte und umgekehrt.

„In Ordnung, ich nehme Cola!“

Nach wenigen Sekunden erschien ein Glas Cola in der Nähe meiner Hand. Es entstand einfach da, wo vorher nichts anderes als Luft gewesen war. Mit Freude stellte ich fest, dass die Cola kein Eis enthielt und auch nicht zu kalt war.

Wenn ich jemals in eine andere Zeit zurückkehren oder reisen würde, hätte ich es sicher schwer, mich an die Abwesenheit der Sylvana des Kastells zu gewöhnen, denn ihr Service war einfach perfekt.

Doch da fiel mir ein, dass ich es ja eigentlich ihrer Fehlleistung zu verdanken hatte, dass ich überhaupt noch lebte.

Also keine Perfektion, auch nicht in dieser Zeit, gut!

„Weißt du, Fenda Loras, ich frage mich, ob du eine gewisse Schonzeit brauchst, bis du auf unsere Welt losgelassen werden kannst. Ich werde dich die nächste Zeit sowieso nicht aus den Augen lassen können, sobald du meine Wohnung verlässt. Ich habe noch 22 Scheiben Zeit für dich, dann werde ich zu einem Notfall gerufen werden, um zwei Zeittouristen zu retten. Aber dann kannst du ja hier bei der Svlvana des Kastells bleiben, bei ihr bist du in Sicherheit!“

„Soll das heißen, dass es in dieser Zeit noch Gefahren gibt, außerhalb des Waldes?“

„Des Waldes?“

Ich blickte mich um.

„Ach so, des Waldes! Nein es gibt keine Gefahren wie in deiner Zeit, du kannst unbesorgt sein, es könnte nur sein, dass du von einigen Dingen, die du siehst beunruhigt werden könntest. Hast du dich an meinen Anblick gewöhnt, hast du ihn verkraftet?“

„Was gibt es da zu verkraften, du bist schön, gut gebaut...“

„Wirklich?“

„Ja, sogar außergewöhnlich schön! Warum sollte ich die Unwahrheit sagen?“

„Ja warum solltest du? Hier in unserer Zeit, sagen alle immer genau das, was sie denken! Weil es keine Unterschiede zwischen den Individuen mehr gibt, ist es auch nicht mehr nötig, die Unwahrheit zu sagen!

Keiner hat mehr einen Grund zum Lügen, weil es keinen anderen gibt, der Macht über ihn hat, ist es auch nicht mehr nötig, die Unwahrheit zu sagen. Praktisch was?“

„Ja, tatsächlich!“

„Weißt du, dadurch gibt es keine Machtstrukturen, ohne Machtstrukturen gibt es keine Angst, ohne Angst gibt es keine Aggressionen, ohne Aggression gibt es keine Gewalt, ohne Gewalt gibt es keine Machtstrukturen!“

„Machtstrukturen, Angst, Aggressionen, Gewalt, Machtstrukturen?“

„Genau, dass ist der Circulus vitiosus deiner Zeit!“

„Meiner Zeit?“

„Ja, natürlich, in dieser meiner Zeit ist das nicht mehr so, wo es keine Macht gibt, gibt es auch keine Angst, wo niemand etwas nötig hat, gibt es auch keinen Neid!“

„Keine Angst und keinen Neid?“

„Na ja, vielleicht gibt es einige Leute, die doch einen gewissen Neid entwickeln können, aber die brauchen ja nur einen anderen Menschen aus deiner Zeit zu holen, wenn sie unbedingt einen haben wollen!“

„Ach!“

„Ja, ach! Ich hatte Gedacht, dass ich dir nun die zu meiner Zeit übliche Kleidung vorführe und dann mit dir zu einem Gemeinschaftsessen move. Ach Quatsch, du bist ja kein Pithekantropus! In dieser Zeit ist völlig gleichgültig, was für eine Kleidung man trägt, wenn überhaupt, du wirst sehen!“

Vai Tegu warf einen kurzen Blick auf den Fliegenpilz und stand auf. Sie ging einige Schritte auf die nahen Bäume zu, während sich ihre Kleidung einfach auflöste.

„Komm Fenda Loras, wir steigen in das Becken der Freuden!“

Ach so, sie wollte in das Becken der Freuden steigen, und ich sollte sie begleiten.

Es gelang mir, aufzustehen, ohne dass ich zu Fall kam.

Ich folgte Vai Tegu und wunderte mich nicht, als sich meine Kleidung aufzulösen schien. Irgendwie war ich mir sicher, dass meine Sachen nicht verloren gehen würden. Nackt folgte ich ihr und stieg in einen Swimmingpool, für den diese Bezeichnung eine Beleidigung war.

Irgendwie kam ich mir vor, wie in einem römischen Bad, wie ich es aus Filmen wie MESSALINA UND CALIGULA kannte. Das Wasser wurde von einem Material begrenzt, das mir vorkam, als wäre es Marmor. Es handelte sich allerdings sicherlich nicht um Marmor, denn es fühlte sich samtartig an und verbreitete eine angenehme Wärme.

Als ich im Wasser war, sah ich außerhalb des Beckens nur noch Säulen, wie sie im alten Griechenland gestanden haben mussten, wo ich vorher nur Bäume gesehen hatte.

Das Wasser, wenn es Wasser war, verbreitete ein prickelndes Gefühl auf der Haut. Vai Tegu sah mich an.

„Was meinst du, Fenda Loras, willst du lieber Entspannung vor oder nach dem Essen?“

Ich bildete mir ein, zu wissen, was sie meinte.

„Ist mir egal!“

„Gut, dann komm!“

Sie entstieg dem Becken und ich musste feststellen, dass es sich bei ihr um eine ausgesprochene Schönheit handelte - dieser Hintern!

Als ich dicht hinter ihr stehen blieb, deutete sie auf ein sichtbares Sitzmöbel.

„Bittesehr, der Sessel der Wonnen, nimm Platz!“

Ich setzte mich zögernd und sah, dass sie sich in ein ähnliches Sitzmöbel mir gegenüber setzte.

Das durfte doch nicht wahr sein!

Vai Tegu schloss die Augen.

Ich konnte es nicht lassen, sie dabei anzuschauen.

*

Wie der Drogenbeauftragte der Regierung mitteilte, wuchs in den letzten Jahren der Konsum heimischer Rauschmittel um so hohe Prozentsätze, dass man ernsthaften Anlass zur Sorge hat.

Der Konsum von Pattex, Uhu, Fliegenpilz, Bilsenkraut, Niswurz, Belladonna, Muskat, Stechapfel und Tollkirsche ist ab sofort strafbar.

Die Benutzung jeglicher Aphrodisiaca ist verboten.

Ora et labora

Hopp und weg

Vai Tegu trug eine Jacke, die ich in meinem jugendlichen Leichtsinn, unter anderen Umständen in einer anderen Zeit als Lederjacke bezeichnet hätte, dazu Stiefel, die ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel reichten.

Wenn das die allgemeine Mode war, konnte ich mich wirklich nicht beklagen.

Mir hatte die Sylvana des Kastells eine Art Mönchskutte mit Kapuze trans... na irgendwie steckte ich plötzlich drin, wie Vai Tegu plötzlich in ihrer Kleidung gesteckt hatte.

„Gefällt es dir, oder willst du was anderes haben?“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung, ich werde ja gleich sehen, was die anderen Menschen hier so tragen und kann mir dann meine Gedanken dazu machen!“

„Oh, eigene Gedanken sind etwas sehr wertvolles, wer verfügt schon über eigene Gedanken, wenn er aus deiner Zeit kommt?“

Ich war nicht beleidigt, wenn ich solche Kommentare hörte, denn ich konnte Vai Tegu nicht widersprechen. „Komm!“

Sie trat auf den schwarzen Flecken auf der Lichtung, den ich bislang für eine antiquierte Feuerstelle gehalten hatte.

Ich trat zu ihr.

„Wir moven nach Lunapark, die Gravitation wird sich ändern, du brauchst keine Angst zu haben!“

„Du kommst mir wieder vor, wie ein Engel aus der Zeit vor meiner Zeit!“

Das konnte ich gerade noch sagen, als unvermittelt der Übergang stattfand - wir waren gemoved.

Unwillkürlich hielt ich die Luft an aber als Vai Tegu zu sprechen begann, entschloss ich mich dann doch zu Atmen.

„Irre Gegend, was!?“

„Ja, irre Gegend!“

Wir standen inmitten eines Kraters, ja es musste auf dem irdischen Mond sein, auf einem schwarzen Flecken, der genau so aussah, wie der schwarze Flecken auf Vai Tegus Lichtung.

Sie ergriff meine Hand und zog mich fort.

„Wir müssen die Moveplatte freimachen, um keine anderen Movewilligen zu behindern! Wir befinden uns, wie du sicher bemerkt hast auf dem Mond des Planeten Erde, hier kann man sehr gut essen, besonders wenn die Erde am Himmel steht, es ist ein reizvoller Anblick. Um die Sauerstoffversorgung brauchst du dir keine Gedanken zu machen, in deiner Kleidung ist der Fortschritt der Wissenschaften integriert, es wird immer ein kugelförmiges Feld mit atembarer Luft um dich sein. Du wirst keinen nackten Menschen im Vakuum oder einer Giftgasatmosphäre antreffen, man wird immer irgendein Kleidungsstück tragen und wenn es ein Gürtel ist!“

Irgendein Kleidungsstück und wenn es ein Gürtel ist!

Ich konnte mich nur über diese Zeit wundern, aber es stand zu befürchten, dass es noch viel schlimmer kommen würde.

„Sag 'mal, Vai Tegu, gibt es da, wo wir essen werden auch Sessel der Wonne? Ich habe nämlich keine Lust, dass mir während des Essens mechanisch einer runtergeholt wird.“

„Nein? Wie du willst! Ein Sessel der Wonne tritt nur dann in Aktion, wenn du es willst!“

„Aber glücklicherweise auch nur dann, wenn man auf einem sitzt!“

„Ja, dass ist die Voraussetzung!“

„Und wie kann ich sicher sein, nicht auf einem zu sitzen?“

Vai Tegu sah mich mit einem merkwürdigen Blick an.

„Wir sind hier übrigens auf Luna eins, das heißt auf dem Mond von Erde eins, mit anderen Worten auf dem Originalmond der Originalerde.“

„Wieso?“

Wir gingen zwischenzeitlich auf den Kraterrand zu, wobei ich einige Hüpfversuche machte, denn immerhin war es das erste Mal, dass ich nicht von einem g auf einem Himmelskörper festgehalten wurde.

„Pass 'mal gut auf! Die Sonne befindet sich in der Mitte des Sonnensystems. Die bekannten elf Planeten umkreisen sie auf ihren Umlaufbahnen, also in verschiedenen Abständen von der Sonne selbst.“

„Das ist klar, Merkur, Venus, Erde, Mars, Asteroidengürtel, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto und der hinter Pluto, über dessen Existenz man in meiner Zeit noch keine endgültige Klarheit hatte; hat der bei euch einen Namen?“

„Klar, Fido!“

„Fido?“

„Ja, warum nicht Fido?“

„Stimmt, warum nicht Fido?“

Vai Tegu machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Eigentlich heißen unsere Planeten Hermes, Aphrodite, Gäa, Ares, ehemaliger Asteroidengürtel, Zeus, Kronos, Uranos, Poseidon, Einstein und Fido!“

Ich war sprachlos.

Klar, es war naheliegend, Pluto, bei seiner Entdeckung 1930 nach Albert Einstein zu benennen, aber alle Planeten bei ihren griechischen Namen zu lassen...

„Warum griechische Namen für die Planeten?“

Vai Tegu dachte immer noch nach, während wir unter dem schwarzen Himmel des Mondes entlang gingen.

„Das frage ich mich gerade auch. Und ich frage mich, warum man unseren Pluto nicht Hades genannt hat, sondern Einstein. Ich muss da noch was klären, bevor wir weiter über die Planetennamen reden können. Zunächst einmal wollte ich dir das Erdsystem erklären.“

Vai Tegu wirkte auf mich zu tiefst verunsichert. Musste mich das beunruhigen?