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Über 12 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter wiederkehrenden Schmerzen. Schnell können Verletzungen zu Disstress, Angst und Depression führen; der Patient ist gefangen in der Schmerzspirale. Cannabinoide können Ruhe und Entspannung bringen und die leidvolle Spirale stoppen. Dr. Martin Pinsger leitet ein Schmerzzentrum in Wien und konnte bereits zahlreichen Schmerzpatienten durch die Cannabis-Therapie Linderung verschaffen. In diesem Buch erklärt er gemeinsam mit Wissenschaftsjournalist Dr. Thomas Hartl die Wirkungsweise der Heilpflanze, gibt Ratschläge zu deren Anwendung und macht Mut durch zahlreiche Fallgeschichten.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Bis zu 16 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter wiederkehrenden Schmerzen. Schnell können Verletzungen zu Disstress, Angst und Depression führen; der Patient ist gefangen in der Schmerzspirale. Cannabinoide können Ruhe und Entspannung bringen und die leidvolle Spirale stoppen.
Autoren
Dr. Martin Pinsger, geboren 1960, leitet seit 2012 ein Schmerzkompetenzzentrum in Wien. Nach der orthopädischen Facharztausbildung spezialisierte er sich auf die Behandlung von Schmerzpatienten. Seit vielen Jahren therapiert er erfolgreich mit Cannabinoiden. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und sechs Enkelkinder.
Copyright © Nadine Studeny
Dr. Thomas Hartl ist Medizinjournalist, Schriftsteller und Sachbuchautor vieler erfolgreicher Bücher. Zuletzt erschien der Bestseller »Geheilt! Wie Menschen den Krebs besiegten«.
Copyright © privat
Außerdem von Thomas Hartl im Programm:
Geheilt! Wie Menschen den Krebs besiegten
Dr. Martin Pinsger
Dr. Thomas Hartl
Dem
SCHMERZ
entkommen
So hilft Ihnen die Cannabis-Therapie
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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Wir danken dem Brava Verlag und dem Autor Michael Lehofer für die Abdruckgenehmigung von zwei Zitaten aus dem Werk »Was wir der Liebe schuldig sind«.
Originalausgabe Juni 2019
Copyright © Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv:
Hintergrund: FinePic®, München
Hanfblatt: Getty Images / Stuart Dee
Fläschchen: Getty Images / Lew Robertson
Redaktion: Ruth Wiebusch
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
JE ∙ Herstellung: IH
ISBN 978-3-641-23782-0 V002
www.goldmann-verlag.de
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Inhalt
Vorwort
Einleitung
TEIL I
MEIN WEG ZU DEN CANNABINOIDEN, ALS ARZT UND PATIENT
Kapitel 1 – Ein Autounfall und seine Folgen
Kapitel 2 – Cannabinoide als Missing Link in der Schmerztherapie
TEIL II
CANNABINOIDE IN DER SCHMERZTHERAPIE
Kapitel 3 – Die Situation der Schmerzpatienten
Kapitel 4 – Wirkung von Cannabinoiden
Kapitel 5 – THC & Co: Wie Cannabinoide wirken
Kapitel 6 – Nur ganzheitliche Therapien sind erfolgreich
Kapitel 7 – Hilfe und Selbsthilfe
Kapitel 8 – Cannabinoide und spezielle Schmerzerkrankungen
Kapitel 9 – Fragen und Antworten
TEIL III
PATIENTEN ERZÄHLEN
Ein starker Mensch in einem wackeligen Körper – Stefanie Meier
Es lohnt sich zu kämpfen – Birgit Huemer
So dankbar dafür, nicht mehr hilflos zu sein – Erni Wolf
Bandscheibenvorfall als Stopp-Zeichen – Ingrid Hauer
Hanfbauer aus Leidenschaft – Otmar Schranz
Rasch Hilfe suchen statt mit den Schmerzen leben – Sophie Albrecht
Cannabinoide – auch eine Frage des Geldes – Dr. S.
Trotz allem: Leben und in die Zukunft schauen – Dara Linhard
In ein Viertelliterglas passt kein halber Liter – Thomas Karolyi
Bloß nicht zu früh die Flinte ins Korn werfen! – Gabriela Böhm
Aufstehen, Krönchen richten und weiterkämpfen – Angelika Kopfer-Schulz
Schmerzen als Spiegel der Seele – Wolfgang
Zurück ins Leben gekämpft – Martina Feuchtl
Die Wirbelsäule ging auf wie ein Reißverschluss – Claudia Kern
Cannabinoide als Akutbehandlung – Dr. Viktoria Lang
Nachwort
ANHANG
Quellen
Literaturhinweise
Kontakte
Danksagung
Hinweis
Register
Vorwort
KEINER WILL SIE HABEN, keiner kann sie sehen, niemand hat sie bestellt – und doch sind sie allgegenwärtig. Schneidend, bohrend oder dumpf und pochend, ob im Kopf, in der Wirbelsäule, in den Gliedmaßen oder wo auch immer: Schmerzen sind Teil unserer Realität und nicht immer trifft es nur die anderen. Man muss kein ausgesprochener Pechvogel sein, um Teil der riesigen Schmerz-Community zu werden, denn Schmerz trifft Millionen Menschen in jedem Land. Und viele von ihnen haben sie ständig oder immer wiederkehrend. In Österreich sollen es bis zu zwei Millionen sein, in Deutschland bis zu 16 Millionen.
Wie die tatsächlichen Zahlen auch sein mögen, jedenfalls sind es unglaublich viele, die sich mit diesem unsichtbaren Gegner herumschlagen müssen und die nur einen Wunsch haben: Weg mit dem Schmerz! Doch da kaum ein Mensch weiß, wie man Schmerzen loswird, vor allem jene, die einen schon jahrelang peinigen, und da es eine nur beschämend kleine Anzahl an Schmerztherapeuten und öffentlichen Einrichtungen gibt, die sich der Qualen der Heerscharen an Betroffenen annehmen, ist die Situation dieser Patienten oft sehr unbefriedigend. Sie suchen nach Hilfe, warten oft Monate auf einen Termin, lassen sich durchleuchten, spritzen, operieren, geben oft eine Unmenge an Geld aus. Nicht selten für dubiose Mittelchen und Verfahren, immer in der Hoffnung, ihren unliebsamen Begleiter loszuwerden. Anfangs tun sie das umtriebig, »shoppen« von einem Doktor zum nächsten; mit den Jahren erlahmen diese Versuche. Längst ist die Hoffnung ein dünner, brüchiger Strohhalm, längst hört einem keiner mehr zu, niemand mag und kann mehr das ewige Lied und Leid ertragen. Freunde verabschieden sich, Ehepartner kehren den Rücken, der Job ist aufgegeben. Und für manche das Schlimmste: Niemand glaubt einem. Oft genug gibt es keine Diagnose, die die unermesslichen Probleme erklären würden. Schnell wird man in die Psycho-Ecke geschoben, bekommt einen unsichtbaren Stempel auf die Stirn. Simulant oder Psycho? Vorwürfe, die die Schmerzen nicht besser machen, das ist klar. Doch wo ist der Ausweg? Eine weitere OP, noch stärkere Medikamente oder sich seinem Schicksal ergeben? Oder findet man doch noch ein Wundermittel, das Schmerzen einfach auslöschen kann?
Könnten Cannabinoide so ein Wundermittel sein? Neue Hoffnung dämmert am schwarzen Horizont der Schmerzgeplagten – Cannabinoide! Lichter Heilsbringer oder nur eine neue Möglichkeit, sein Geld loszuwerden? Beides könnte zutreffen. Denn so viel sei vorab gesagt: Cannabinoide wirken – aber nicht bei jedem. Cannabinoide sind teuer – wenn die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt. Cannabinoide können ungemein helfen – wenn man mit einem kundigen Arzt zusammenarbeitet und bereit ist, mehr zu tun, als den Mund aufzumachen und die Kapseln zu schlucken. Denn wie das vorliegende Buch anhand vieler Berichte zeigen wird: Cannabinoide haben schon so manchen Schmerzpatienten gerettet und werden noch vielen mehr helfen. Doch sie sind kein Wundermittel. Wundermittel existieren nicht und werden nie existieren. Glaubt man an Wundermittel, wird man sich wundern. Wie schnell das Geld weg ist und wie blauäugig man an manche Versprechen geglaubt hat. Also kein Wundermittel. Aber mit Cannabinoiden kann die Basis zum Erfolg gelegt werden. Cannabinoide können beruhigen, das Drama im Kopf nehmen, einen Abstand zu den eigenen Schmerzen herstellen und selbst schwerst Schmerzgeplagten wieder ermöglichen, in Richtung Heilung zu marschieren.
Wie man wissen kann, ob sie einem tatsächlich helfen? Nur durch Ausprobieren. Aber bitte unter Anleitung eines Arztes, der sein Handwerk versteht und seine Patienten nicht als wandelnde Brieftaschen, sondern als Partner und Menschen betrachtet und ihnen auf ihrem Weg beisteht.
Einleitung
ES IST SCHON über zehn Jahre her, als ich einen Anruf von Dr. Thomas Hartl bekam. Er schrieb damals gerade an einem Buch mit dem Titel »Geheilt vom Schmerz« und war auf der Suche nach Menschen, die ihre Schmerzen überwunden hatten, um sie im Buch vorzustellen. Ich konnte ihm einen meiner Patienten vermitteln, der schwerste Kopfschmerzen mittels Cannabinoiden losgeworden war. Als »Geheilt vom Schmerz« erschienen war, wurde ich wegen meines Beitrages als Mediziner vielfach kontaktiert. Die Heilungsgeschichte des Patienten wurde auch im Fernsehen gesendet, konkret in der ORF-Sendung »Thema«. Die mediale Berichterstattung brachte einen längerfristigen Hype rund um das Thema chronische Schmerzen, und auch Cannabinoide begannen erstmals eine Rolle im öffentlichen Interesse zu spielen.
In der Folge wurde ich zu so manchem Schmerzkongress und zu vielen Tagungen als Referent eingeladen. Ich versuchte bei all diesen Vorträgen, Seminaren und Workshops auf dem Boden der Wissenschaft zu bleiben, sah jedoch sehr bald, dass Patientengeschichten und die vielen ganz individuellen Beobachtungen notwendig waren, um das Thema verständlich zu machen. Diesen Ansatz verfolgen wir auch im vorliegenden Buch. Wir beleuchten das Thema zwar auf wissenschaftlicher Basis, doch das Wissen und die Erkenntnisse lassen sich am besten durch konkrete Patientengeschichten und ihre Heilungsverläufe veranschaulichen.
Wenn man sich mit Cannabinoiden in der Schmerztherapie beschäftigt, geht es nicht um die »Droge« Haschisch und nicht darum, ob diese gut oder schlecht, zu befürworten oder abzulehnen ist. Das ist nicht die Frage. Es geht vielmehr darum, ob, wie und bei wem Cannabinoide als Medizin wirken. Das Wichtigste für Schmerzpatienten ist, dass sie sich wieder wohlfühlen können. Als Arzt muss ich mich daher immer fragen: Wann ist ein Mensch so weit entfernt von jeglichem Wohlbefinden, dass ich Cannabinoide zum Einsatz bringen kann oder vielleicht sogar muss, um eine echte Verbesserung des Gesundheitszustands zu erreichen?
Als ich mich im Jahr 2000 mit Cannabinoiden zu beschäftigen begann, wusste man darüber noch sehr wenig. Viel Arbeit, viele Studien, Daten und Berichte von Betroffenen waren nötig, um die Wirkweise zu verstehen und um sicherzugehen, Glaubwürdiges berichten zu können. Nun, nach 18 Jahren der Forschung, Beobachtung, nach Therapien, Erfolgen und natürlich auch Misserfolgen, ist es so weit. Der Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerztherapie hält Einzug, Schritt für Schritt, gegen viele Widerstände und auch Ablehnung. Cannabinoide können nicht mehr vom Tisch gewischt werden.
Auch in der Öffentlichkeit ist das Thema angekommen. 90 Prozent der Bevölkerung wollen Cannabinoide medizinisch eingesetzt wissen. Für ihre leidenden Angehörigen oder aber auch für sich selbst, weil sie in einer schmerzbedingten Lebenskrise stecken und ihren Leidensdruck ohne Hilfe nicht mehr überwinden können. Leider ist die Berichterstattung in den Medien nach wie vor nicht selten polarisierend und verkürzt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema würde allen guttun, da Cannabinoide so vielen Menschen helfen könnten. Wie wichtig wäre es, den Patienten in kritischen Situationen Wege aus der Schmerzspirale anzubieten, sie nicht weiter in den Schmerz und in ein Burnout laufen zu lassen, sondern den Weg zu Ruhe, Entspannung und Regeneration anzubieten.
Doch Vorsicht! Tabletten einwerfen alleine ist nicht genug und führt niemals zu dauerhafter Heilung. Chronische Schmerzpatienten sind aufgefordert, an ihrem Lebensstil zu arbeiten, mit sich achtsam zu sein, auf ihren Körper und seine Signale zu hören. Bewegung in der Natur, Sport oder Tanzen oder einfach mal nichts tun ist nötig, um auf den richtigen Weg zu kommen. Die Ansage: »Ich bin ja so gestresst, Herr Doktor, für Sport habe ich wirklich keine Zeit!« kann ich als Arzt schlecht hinnehmen. Wer nicht auf sich achtgibt, kann keine Heilung erwarten. Das Zusammenwirken von Impuls und Ruhe, von Aktivität und Regeneration, von Tagesablauf und ausgewogener Nachtruhe, diese schon aus der chinesischen Medizin bekannten Gegensätze von Yin und Yang sind in der westlichen Medizin von einem »diagnoseverliebten« System überlagert. Unser westliches Medizindenken hat es zwar geschafft, viele Details zu entschlüsseln und wunderbare Behandlungstechniken zu entwickeln, doch ist dabei der Blick für das Ganze verlorengegangen. Und das Ganze, das ist nun mal der Mensch – und nicht die Tablette.
Ungemein wichtig sind auch ausführliche Gespräche zwischen Arzt und Patient, aus denen sich mit der Zeit eine therapeutische Beziehung entwickelt, die Heilung anstoßen kann. Die Welt der modernen Medizin ist zwar höchst effizient, doch gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine Zeit für längere Gespräche und empathische Zuwendung. Für die Behandlung mit Cannabinoiden ist jedoch das »Erfassen« des Patienten, körperlich, sozial und psychisch, von größter Bedeutung. Nur dann ist es möglich, diese sehr anspruchsvolle Therapie in allen Dimensionen zu verstehen. Dem Patienten das Gefühl geben zu können: »Ich bin jetzt da für dich und unser Gespräch kann ruhig ein wenig dauern«, ist für mich großer Luxus. Darin steckt viel therapeutische Kraft. Dem Patienten zu vermitteln: »Du bist mir wichtig, du machst vieles richtig, aber da gibt es Potenzial, darüber wollen wir jetzt reden«, gibt ihm viel Kraft.
Diese Erkenntnisse der letzten 18 Jahre haben mir ganz klar aufgezeigt, dass es wichtig ist, dem Verhalten der Patienten große Bedeutung einzuräumen. Schmerzpatienten neigen dazu, sich zurückzuziehen. Doch gerade dieser Rückzug verschlimmert auf Dauer die Schmerzen und das Leid insgesamt. Menschen brauchen Menschen, um gesund zu bleiben. Auch wenn das Leben in Beziehung oft stressig ist und kurzfristig sogar die Schmerzen erhöhen kann, ist Rückzug die falsche Wahl. Man muss »im Leben« und aktiv bleiben, neugierig sein und Neues wagen.
Ich wünsche Ihnen beim Lesen dieses Buches Mitgefühl mit sich selbst, viel Achtsamkeit und nicht zuletzt eine tiefe Versöhnung mit sich und der Welt.
Ihr Dr. Martin Pinsger
TEIL I
Mein Weg zu den Cannabinoiden, als Arzt und Patient
DR. MARTIN PINSGER ist ein Vorreiter im Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerztherapie. Während er sie jahrelang in der Therapie seiner Patienten erfolgreich einsetzte, litt er selbst 15 Jahre lang an Spannungskopfschmerz und Migräne, bis er schließlich an einen Punkt kam, an dem er Cannabinoide auch selbst ausprobierte. Dr. Pinsger kennt also beide Seiten: die des Arztes und die des Patienten. Im folgenden Teil I des Buches schildert er sehr persönlich seine Erfahrungen mit Schmerzen und Therapie, wie er beruflich und privat den Einsatz von Cannabinoiden erlebte und heute noch erlebt.
KAPITEL 1
Ein Autounfall und seine Folgen
ICH WERDE IN DIESEM BUCH über meine eigene Erfahrung als Betroffener und Schmerzpatient berichten. Dieses Outing habe ich bisher vermieden; aber jetzt möchte ich den Mut dazu aufbringen, damit das hier Berichtete authentisch und nachvollziehbar wird. Auch wenn sich viele von uns wünschen, jeden menschlichen Atemzug zu digitalisieren und damit messbar zu machen – als Orthopäde und Schmerztherapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung erlebe und sehe ich den Menschen als durch und durch analoges Wesen. Der Versuch zu quantifizieren scheitert an dieser Stelle erbärmlich und bringt uns von sinnvollen Lösungen weit, weit weg. Natürlich nutze ich die Möglichkeiten der modernen Technik, jedoch nur, wenn sie im Interesse des Menschen und der Menschlichkeit stehen. Ich bin sehr dankbar für dieses Buch, weil es zeigt, worunter wir als Individuen konkret leiden. Erst durch das Schildern von Patientenschicksalen lassen sich Schmerzen wirklich verstehen. Studien dagegen liefern nackte Zahlen und zeigen eine bessere Nutzen-Risiko-Relation. Was aber bedeutet das für den Betroffenen, was kann man als Mensch mit Zahlen anfangen?
Wäre ich nicht selbst Betroffener, würde ich zu manchem Patienten sagen: »Nehmen Sie mehr Medikamente, machen Sie eine intensivere Therapie und Sie werden geheilt.« Heute weiß ich, dass man Schmerz nicht vergessen und dass chronischer Schmerz auch nicht völlig ausgelöscht werden kann. Und trotzdem kann man den Menschen Hoffnung geben. Umstände lassen sich verbessern, langsame Fortschritte erzielen, selbst bei jenen, die bereits verzweifeln und keine Hoffnung mehr haben. Aber die Sache ist alles andere als einfach, denn Medikamente alleine helfen nicht. Es geht auch darum, an sich und seinem Lebensstil zu arbeiten. Als Patient brauche ich Partner, die mich beraten, die mich bereichern mit Information und Motivation. Ich benötige Analyse und Kritik und muss akzeptieren, dass auch Veränderung zum gesunden Leben gehört.
Ein Peitschenschlag änderte mein Leben
Nun kurz zu meiner persönlichen Geschichte. Sie hat zum Glück viele positive Seiten. Ich sage gerne: »Der Großteil meines Lebens ist völlig in Ordnung, aber da bleibt ein Rest, an dem gearbeitet, der verändert werden muss!« Nach einer tollen und glücklichen Kindheit erlitt ich 1978 einen schweren Autounfall. Ich war 18 Jahre jung, unerfahren, ein Führerscheinneuling. Mein kleines Auto prallte frontal gegen einen Mercedes, das hat meiner Halswirbelsäule und auch meiner Psyche ordentlich zugesetzt. Zum Glück gab es keine Schwerverletzten. Zunächst war da die Angst um das Materielle: Das erste Auto war hin. Was würden die Eltern sagen? Aber denen war das Auto völlig egal; wichtig war ihnen, dass ihr Sohnemann überlebt hatte.
Ich hatte beim Unfall einen typischen Peitschenschlag erlitten, aus dem sich ein chronisches Cervicalsyndrom entwickeln sollte, also Beschwerden, die von der Halswirbelsäule ausgehen beziehungsweise den Halswirbelsäulenbereich betreffen. Physiotherapie und vor allem Traumatherapie war damals kein Thema, ich lebte so weiter wie bisher. Bloß: Mein Leben war nun plötzlich ganz anders.
Mein Körper war die nächsten Wochen schwer wie Blei. Schmerzen überall und die angehenden Konflikte mit den Behörden inklusive Gerichtsverhandlung und Lokalaugenschein, also die Beweisaufnahme vor Ort, belasteten mich. Meine Wirbelsäule wurde immer steifer, in der Nacht konnte ich keine entspannte Lage im Bett finden. Dann begann mein Studium; das bedeutete viel lesen und schreiben und damit ein ständiges Verharren in einer sitzenden Zwangshaltung. Lediglich mit Schwimmen und Spazierengehen versuchte ich ein wenig gegenzusteuern. Dann, ich wusste das damals natürlich nicht, begann ein neues Zeitalter in meinem Leben, das Zeitalter der Kopfschmerzen. Es fing mit einem Druck vom Hinterhaupt bis in die Stirn an, Spannungskopfschmerz genannt. Dieser Kopfschmerz hat mich genau 15 Jahre nicht verlassen.
Mein Glück war, dass ich mich sehr bald, wahrscheinlich intuitiv, für die Behandlung von Schmerzen interessierte. Als Assistenzarzt machte ich Kurse in Manueller Medizin und Akupunktur und war auch immer an psychosozialen Zusammenhängen interessiert. Die Jahre der Grundausbildung als Turnusarzt waren schwierig; zum Glück hatte ich einen Vater, der selbst Landarzt war und mich unterstützte. Durch meine Arbeit in einer Anästhesie-Abteilung hatte ich mehrfach erlebt, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann und wie schwierig es ist, Komplikationen vorauszusehen und das kleine Zeitfenster für Korrekturen zu nutzen. So verspürte ich einen immensen Druck, meine Arbeit zu perfektionieren. Ich hatte vielfach erlebt, dass ich mich als Arzt in entscheidenden Situationen auf niemanden verlassen konnte – mein Kontrollbedürfnis stieg ins Unermessliche.
Tag und Nacht war mein Gehirn im Einsatz, um die besten Ergebnisse bei diversen Therapien zu erzielen. Bald konnte ich nicht mehr schlafen; ich musste ja nachdenken und das erschien mir wichtiger als der Schlaf. Mit der Zeit wurden meine Tage finsterer (so habe ich es empfunden) und ich konnte mich nur mit Mühe in die Arbeit schleppen. Trotz oder wegen aller Plagerei hatte ich wenig Freude an meiner Tätigkeit und es machte sich tiefe Erschöpfung breit. Offensichtlich war zum chronischen Cervicalsyndrom mit Spannungskopfschmerz noch eine Depression dazugekommen. Immer dieselben Gedanken, die ich nicht abschließen konnte, kreisten in meinem Kopf, Gefühle der Sinnlosigkeit machten sich breit, ebenso wie das Gefühl, aufgedreht und trotzdem unermesslich müde zu sein.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine Familie mit einer tollen Frau und zwei bezaubernden Töchtern, die ich natürlich nicht vernachlässigen wollte. Nach ausgedehnten Sommerurlauben mit den Kindern am Meer entwickelte ich nachts die Fotos. Dort, im Urlaub am Meer, suchte ich auch nach Lösungen und fand sie für den Augenblick: in der Bewegung, im Laufen, Spazierengehen, Schwimmen, im Lesen, im Spiel mit den Kindern, in der gemeinsamen, unbeschwerten Zeit.
Der lange Weg Richtung Heilung
In der Zeit meiner Orthopädie-Ausbildung, das war so 1990 herum, kam ich zum ersten Mal mit Akupunktur in Kontakt. Man schickte mich zu einem Seminar nach Oberösterreich an den schönen Traunsee und ich verbrachte dort zwei Wochen mit Gleichgesinnten. Dr. Ingrid Wancura war eine erfahrene Akupunkteurin, die Jahre in China verbracht und offensichtlich Ahnung von der Sache hatte.
Damals, als orthopädischer Operateur, stand ich der Akupunktur noch recht distanziert gegenüber, aber als es galt, einen Freiwilligen für ein Experiment zu finden, meldete ich mich sofort. Ich kletterte auf einen Tisch, auf dem ein Sessel stand. Dr. Wancura machte bei mir eine kurze Anamnese. Augenscheinlich war ihr sehr bald klar, was nun zu tun war. Cervicalsyndrom und Peitschenschlag, Anfälligkeit für Wind und Wetter, Kopfschmerz bis hin zur Migräne. Mit höchster Präzision bohrte sie Nadeln in meine Arme und Beine, sodass mir »Hören und Sehen« verging. »Sie sind Sportler, da muss man ein wenig stimulieren«, meinte sie und drehte die Nadeln mehrmals in die Tiefe. Ich konnte plötzlich nichts mehr denken, fühlte nur das Ziehen und Stechen der Nadeln, einen unendlichen Druck in Unterarmen und Waden. Ich musste mich voll darauf konzentrieren, nicht vom Tisch zu fallen oder ohnmächtig zu werden. So ein paar Nadeln – und alles war anders.
Heute würde ich so ein Phänomen, das vieles verändert, Reset nennen. Ein Gefühl, das ich lange schon nicht mehr gehabt hatte, machte sich breit. Dort, wo ich normalerweise Schmerzen hatte, fühlte ich einfach nichts mehr. Nein, noch besser: Ich fühlte Leichtigkeit! Wahnsinn. Das Gefühl ebbte nicht sofort ab, es wurde für einige Tage sogar noch besser. Die Wirkung hielt jedoch leider nur wenige Wochen an. Anstatt die Akupunktur zu wiederholen, tat ich vorerst nichts. Ich war damals einfach zu inkonsequent, um gleich weiterzumachen. Aber ich hatte etwas gelernt: Mithilfe von Nadeln an bestimmten Stellen kann der Therapeut viel erreichen, wenn auch nur kurzfristig.
Heute weiß ich, dass die Nadeln so gesetzt waren, dass der Dickdarm-4-Meridian die Amygdala (Teil des limbischen Systems im Gehirn und reich an Cannabinoid-1-Rezeptoren, zudem mit der endocannabinoiden Überträgersubstanz Anandamid ausgestattet) angesprochen hat und so mein Schmerzverhalten beeinflusst wurde.1
Damals war das noch nicht bekannt, heute sehe ich die Zusammenhänge zwischen Nadel und Schmerz beziehungsweise endocannabinoidem System ganz deutlich. Das endocannabinoide System reagiert auf die körpereigenen Botenstoffe der Endocannabinoide, die vom Körper selbst gebildet werden und sich an die gleichen Rezeptoren im Gehirn binden wie Cannabinoide.2,3 Für mich bedeutete das damalige Erlebnis Hoffnung. Hoffnung, nun eine Methode zu haben, die ich wieder und wieder dazu benutzen konnte, um meinen Schmerz zu lindern. Damals wurde mir auch klar: Ein Arzt kann nur helfen, wenn der Patient zum Therapeuten tiefes Vertrauen hat und von der Wirksamkeit der Behandlung überzeugt ist.
Den Kopfschmerz hatte ich mittlerweile das 15. Jahr. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, damit zu leben, irgendwie geht das. Doch im Alltag war ich sehr eingeschränkt. Beim Laufen etwa gab es immer wieder Stiche im Nacken, dann und wann, besonders beim längeren Radfahren, Stiche und Schmerzen bis in den Rücken und in die Arme. Nachdem ich schon 1985 Kurse in Manueller Medizin absolviert hatte, wusste ich, dass Kopfschmerz und Halswirbelsäule in einem engen Zusammenhang stehen.4,5 Ich wusste auch, dass sich meine Kopfgelenke, also die Gelenke zwischen der Schädelbasis und dem ersten Halswirbel, unökonomisch bewegten und mir die Blockaden große Probleme machten. Aber nach 15 Jahren hatte ich mich mit meiner Steifigkeit und Bewegungseinschränkung abgefunden. Da ich mittlerweile das Manipulieren von Wirbelgelenken erlernt hatte, wusste ich auch, dass diese Region am Kopf besonders sensibel ist, weil hier wichtige Gefäße verlaufen, die durch ruckartige Manöver beschädigt werden können.
Dann passierte etwas völlig Unerwartetes. Es war das Osterwochenende, ich war im schönen Lesachtal und fühlte mich tief entspannt. Ein Gast in unserem Hotel war Yogi, und sie erzählte beiläufig über gute Übungen für die Halswirbelsäule. In dieser tiefen Entspannungssituation inmitten von Berg, Wald und See, freundlichen Menschen und meiner Kleinfamilie gelang es mir, meine Kopfgelenke so zu bewegen, dass sich die Wirbelsegmente langsam zu lockern begannen (durch Dehnung und bestimmte Kopfbewegungen). Ich kann mich heute noch an dieses leicht knirschende Geräusch erinnern – wie unter langsamem, gleichmäßigem Druck erst die Muskeln und dann die Faszien nachgaben und plötzlich, mit einem Ruck, war der ganze Spuk vorbei. Ich hatte die Kopfgelenke aufgedehnt, war sanft in die Faszien hineingeschmolzen und hatte dadurch 15 Jahre Bewegungslosigkeit überwunden. Dieser Ruck, der kein wirklicher Ruck war, sondern das Ende einer Entwicklung, brachte mir augenblickliche Kopfschmerzfreiheit. Das war Ostern 1993.6
Heute würde ich keine 15 Jahre mehr warten, sondern viel früher mit Möglichkeiten experimentieren, die für mich hilfreich sein könnten. Und ich würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei mir Cannabinoide zum Einsatz bringen. Damals habe ich einfach viel zu lange gebraucht, bis ich aktiv wurde – ich hatte mich mit meinen Problemen abgefunden.
Nach dieser Yoga-Aktion waren meine Schmerzen zwar weg, doch 15 Jahre Migräne hinterlassen ihre Spuren.7 Es brauchte viel Zeit, um wieder fit zu werden und um die mobilen Einschränkungen, die sich in Körper und Geist eingenistet hatten, zu überwinden. Heute ist mir klar, dass sich durch Cannabinoide in Kombination mit Akupunktur, Faszientechnik, Heilgymnastik und Manueller Medizin die chronischen Schmerzen mitsamt ihren Begleitproblemen wesentlich schneller und ohne hohes Risiko bessern lassen.8 Aus meiner Erfahrung heraus bin ich ein großer Verfechter der multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie. Denn eine Sache alleine hilft selten oder nur kurz. Zudem benötigt es Strategien und gute therapeutische Begleitung, da man sonst ganz schnell wieder zurück in die alte Misere fällt.
Unser Gehirn vergisst erlittene Pein nur schwer. Das bedeutet für chronische Schmerzpatienten (und auch für die, die ihre Schmerzen überwunden haben) ständiges Weiterarbeiten. Man muss seinen Gesundheitszustand im Auge behalten und achtsam auf sich schauen, was man tut und wie es einem dabei geht. Ich glaube, dass es ganz gut ist, als Therapeut schwierige und chronische Zustände überwunden zu haben. Es hilft einem enorm, den unsichtbaren »Feind« Schmerz zu verstehen. Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass ich trotz meiner Kenntnisse und Möglichkeiten ganze 15 Jahre dafür gebraucht habe. Und dabei hatte ich keine wirklich schwere Erkrankung der Halswirbelsäule mit Bandscheibenvorfällen und Wurzelkompressionen, wie so viele andere. Ich bin sehr glücklich, dass diese Zeit hinter mir liegt und ich viel lernen konnte. Dabei habe ich gesehen, wie schwierig es ist, chronische Schmerzen zu überwinden. Es hat mir auch die nötige Empathie, den so entscheidenden Respekt und die Wertschätzung denen gegenüber geschenkt, die in derselben Situation stecken.
1993 hatte ich also die für mich entscheidende Wendung erlebt. Ich war kopfschmerzfrei. Und ich hatte die Hoffnung, auch anderen Menschen das Glück der Schmerzfreiheit bescheren zu können, so wie es mir gelungen war. Ich war überzeugt, nicht nur bei Kopfschmerz und Cervicalsyndrom, sondern auch bei anderen Schmerzereignissen helfen zu können, da das Prinzip, wie Schmerzen funktionieren, ja für alle Schmerzerkrankungen ähnlich ist, egal ob Nacken, Kreuz oder Knie betroffen sind.
Euphorie und Rückschläge
Meine Euphorie und mein Engagement brachten mir 1994 den Titel eines Oberarztes in einer Klinik ein; hier begann ich, klinisch im Bereich Schmerz zu forschen. 1995 war der Kopfschmerz für die Österreichische Schmerzgesellschaft Themenschwerpunkt und ich konzentrierte mich auf verschiedenste schwer zu behandelnde Kopfschmerzformen.9 Ich sah schon bald, dass man sich diesem Thema sehr breit, multimodal, also auf vielfache Weise nähern musste und dass Behandlungen, die zwar akut halfen, langfristig oft große Probleme brachten (zum Beispiel Medikamentenmissbrauch). Zudem erkannte ich, dass sanfte Behandlungen für sich alleine keine Veränderung brachten. Es kam also auf die richtige Mischung und Intensität der Behandlungen an.
Da ich aus eigener Erfahrung wusste, wie mühsam eine Behandlung sein konnte, arbeitete ich sehr strategisch und ließ mich von den »Scheingefechten« der Patienten wenig beeindrucken. Damit meine ich Folgendes: Um bei Schmerzpatienten therapeutisch Fortschritte zu erzielen, benötigt man klare Linien. Viele Patienten sind im Rahmen ihrer Therapie nicht ausreichend konsequent, beispielsweise bei der Gymnastik oder der Medikamenteneinnahme. Ohne Konsequenz stellen sich aber keine dauerhaften Erfolge ein! Man darf sich nicht ablenken lassen und muss am Ball bleiben. Manche Patienten sind echte Meister der Ablenkung. Als Arzt muss man in solchen Fällen beharrlich auf das Wesentliche hinweisen und hinwirken.10, 11
Meine Arbeit als Therapeut gestaltete sich sehr erfolgreich. Ich nahm damals noch recht naiv an, dass diese Erfolgswelle nun so weiterrollen würde. Meist kommt es jedoch anders, als man denkt, und durch eine Umbesetzung der Stationsführung in der Klinik kam ich zunehmend in eine Mobbing-Situation.12 War es mir anfangs möglich gewesen, meine Patienten so zu behandeln, wie ich das für richtig hielt, wurde das immer schwieriger. Engagiert zu arbeiten und dabei von Kollegen ausgebremst zu werden, ist eine zutiefst beunruhigende Erfahrung. Zu Beginn versuchte ich dieser Situation durch mehr Aufwand entgegenzuwirken – aber die Willkür wuchs und damit auch meine Ohnmacht.13
Nun merkte ich auch bei mir persönlich mehr Stress und Verspannung und auch mehr Schmerzen. Ich hatte meinen Kopfschmerz zwar überwunden, doch ich war weiterhin auf Schmerzen sensibilisiert. Menschen tun sich mit akutem, kurzfristigem Stress meist recht leicht. Diesen zu bewältigen schaffen Körper und Psyche oft ganz ausgezeichnet. Anders sieht es mit chronischem Stress aus, das bekam ich nun deutlich zu spüren.14
Ich hatte nie wirklich Zeit gehabt, mich voll zu regenerieren. Am besten lässt sich das vielleicht mit einem Bild verdeutlichen: Eine mittelalterliche Festung ist mit sieben Festungswällen umgeben. Kommt ein Feind, braucht er schon viel Aufwand und Zeit, um diese Wälle zu durchdringen und zu zerstören. Kommt der Angriff jedoch ständig und in Wellen, so sind die Ritter der Burg nicht mehr in der Lage, ihre Außenringe neu zu befestigen, die Burg verliert an Schutz. So ist es offensichtlich auch mit Schmerzpatienten. Ein bis zwei Mauern werden repariert, und schon kommt der nächste Angriff. Die Zeit und die Ressourcen reichen nicht aus, um einen gesundheitlich stabilen Zustand zu erarbeiten. Chronische Schmerzpatienten haben meist keine ständigen Schmerzen, aber sie sind dünnhäutig, haben wenig Widerstand, ihre »Burg« ist leicht einzunehmen.
Und so erging es mir 1997. Meine Widerstandskraft war am Ende, meine Resilienz am Boden. Bei einem Spaziergang hat mir damals mein Vater wie beiläufig gesagt: »Du hast alles gelernt, geh jetzt weiter!« Er meinte damit meinen Arbeitsplatz.
Mit einem Freund war ich kurz darauf auf einer Kanutour in Schweden unterwegs. Wundersame Seen, lange Dämmerungen im Mai, schillernde Farben und Tönungen von Himmel und Wasser. Frieden und Ruhe. Wenn die Dämmerung einen gewissen Grad erreicht hatte, war es plötzlich ganz still, wie mit einem Schlag. Nachtaktive Tiere verursachten gelegentlich mystische Laute. Im glatten Wasser spiegelten sich die Sterne. In dieser so friedvollen Stimmung konnten meine gereizten Nerven, meine Gedanken die Kontrolle nicht länger aufrechterhalten. Tränen traten mir spontan in die Augen und es gab kein Halten mehr. Gedanken sind die Sprache unseres Bewusstseins, Gefühle sind die Sprache unseres Körpers. Ich hatte nun wieder klare Gefühle und die sagten mir: »Lass los!« Lass los von all diesen beruflichen und existenziellen Ängsten und Nöten.15 Wenn eine Tür zugehen sollte, wird sich eine andere Tür öffnen! Mit einem Schlag kamen Freude und Vitalität in mein Leben zurück – und Gelassenheit.16
Meine Gefühle und mein Körper hatten den ersten Schritt gemacht, das Außen sollte dem folgen. Zurück im Spital wurde mir mitgeteilt, dass ich auf meinen so sehr ersehnten Sommerurlaub mit der Familie in Griechenland verzichten sollte. Meine Antwort: »Das glaube ich nicht!«
Ich ging in die Verwaltung und kündigte. Ich war nun überzeugt, den Rest meiner Tage in meiner Praxis verbringen zu müssen. Fünf Jahre zuvor hatte ich eine Wahlarztpraxis in Bad Vöslau gegründet. Es verging jedoch nur ein einziger Tag und ich wurde von einer Privatklinik kontaktiert, die mich als Konsiliarorthopäden (als solcher wird man von anderen Kollegen zur fachlichen Expertise und Behandlung beigezogen) engagierte. Doch zuerst genoss ich einen langen Sommerurlaub, mit dem Wissen, wie es nun weitergehen sollte. Ich wollte im neuen Schaffensbereich gut erholt und regeneriert durchstarten.17 Und so kam es auch. Ich war im Jahr 1997 der erfolgreichste Neuzugang dieser Privatklinik und verbrachte dort 17 recht lehrreiche Jahre.
Heute bin ich mit all diesen Situationen zutiefst versöhnt, weil sie offensichtlich notwendig waren, um meine persönliche und berufliche Entwicklung zu ermöglichen.
Verlust und Spiritualität
Es war an meinem 40. Geburtstag, als meine Mutter zu mir sagte, dass sie schon seit einigen Monaten husten müsse und gerade in Abklärung sei. Wenig später kam die Diagnose: Lungenkrebs, durchmetastasiert, inoperabel. Mein Vater beschloss daraufhin, nicht alleine zu bleiben. Er war selbst sehr krank, hatte Krebs und es war für ihn klar, sich nun fallen zu lassen, nicht mehr zu kämpfen – dann würde es schnell zu Ende gehen. Und so kam es auch. Ende des Jahres 2000 war ich bei zwei Begräbnissen, innerhalb von fünf Wochen hatte ich beide Eltern verloren.
So wichtige Partner und Berater mit einem Schlag zu verlieren, war für mein »körpereigenes Wohlfühl-System«18 zu viel. Es dauerte fast zwei Jahre, bis ich meinen Rhythmus wiedergefunden hatte. Das größte Problem dabei waren die Unruhe und Unsicherheit, ja die Panik, die sich von Mal zu Mal aufbaute, wenn es galt, wichtige Entscheidungen zu treffen oder schwierige Situationen zu meistern.
Jahre später konnte Jaak Panksepp,19 Professor der Psychologie an der Bowling Green State University in Ohio, mittels Tierstudien zeigen, wie sehr Trennung, Zurückweisung und Isolation unsere Endorphin- und Endocannabinoid-Spiegel beeinflussen. In dieser Zeit wurde mir zunehmend klar, dass zum Wohlbefinden auch eine gewisse Spiritualität gehört.20, 21 Wenn die bedingungslose Zuwendung und Liebe der Eltern endet und sich auch bei einem selbst bereits körperlicher Abbau einstellt, ist es wohl sinnvoll, dieses nun eintretende Defizit durch eine anders geartete Hinwendung zu kompensieren. Dazu brauchen die meisten von uns eine konkrete Vorstellung, ein Modell. Und dieses Modell ist die Familie, in der wir so vieles gelernt haben und durch die wir geprägt wurden. Für mich stellt dabei das mütterliche Prinzip in gewisser Weise die Wirkung der Endorphine dar (kein Schmerz, keine Angst und Tatendrang), das väterliche Prinzip hingegen die Wirkung der Endocannabinoide (Ruhe, Gelassenheit, Ausdauer). Diese Prinzipien finden wir auch in den meisten Religionen wieder: ein väterliches und ein mütterliches Prinzip, die Erlösung von Leid und Schmerz und zuletzt ein Raum, eine Dimension, in der einem nichts mehr passieren kann – Geborgenheit sozusagen.
Mein Vater, der einmal reanimiert worden ist, hat mich danach zu sich gezogen und gesagt: »Weißt du, ich war auf einer grünen Wiese, ganz warm und angenehm war es da und alles hat so geduftet, die Farben waren so intensiv – und dann haben sie mich zurückgeholt in die Atemnot und den Schmerz.« Der Tod, das wurde mir klar, scheint in den meisten Fällen einer wirklichen Erlösung gleichzukommen, einem vollkommenen Abschluss. Als junger Arzt ist es recht schwierig, in solchen Situationen die richtigen Worte zu finden oder empathisch zuzuhören. Wenn die Spiritualität fehlt, macht der Tod oft Angst. Als Arzt kann man dann schwer gelassen bleiben und gibt dem Gegenüber das Gefühl der Irritation, der Aufgeregtheit. So ist ein wenig Vorbereitung auf unser Ende nicht nur für die letzten Tage unseres eigenen Lebens von besonderem Wert, es hilft auch im Hier und Jetzt, besonders in kritischen Situationen: das Wissen, dass es nichts Endgültiges, nichts Stabiles auf Erden gibt. Cicely Saunders, die erste professionelle Palliativmedizinerin, hat dieses Problem schon in den 1970er-Jahren angesprochen.22 Sie sieht das Lebensende nicht so sehr in Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, sondern in Zusammenhang mit persönlicher, familiärer Nähe und Spiritualität. Sie konnte vielfach beobachten, dass der Schmerz von Krebspatienten durch die Angst vor Isolation und Tod übermächtig geworden war. Allein der Umstand, Zeit mit den Schwerkranken zu verbringen, gemeinsam zu malen, zu reden oder einfach still zu werden, brachte eine signifikante Schmerzreduktion. Würden Menschen mit ihren Ängsten besser umgehen lernen, wir könnten uns viel persönliches und soziales Leid ersparen.
Nach dem Tod meiner Eltern war meine Trauer noch lange spürbar, doch das Leben ging weiter. Als Arzt und Therapeut dagegen war ich beruflich nun in einer äußerst erfreulichen Position. Durch die Möglichkeiten einer Klinik mit sofortiger Diagnose, gleichzeitiger therapeutischer Intervention plus multimodaler Therapie war ich nun scheinbar am Zenit angekommen. Die Zufriedenheit der Patienten war enorm, weil sie einerseits langjährige Schmerzen in wenigen Tagen abbauen, andererseits vorbeugende Maßnahmen erlernen konnten. Diese Verbindung war für mich äußerst lehrreich. Ich versuchte nun, die Effektivität unserer therapeutischen Maßnahmen zu erhöhen. Immer wieder gab es nämlich Patienten, bei denen die bewährten Methoden nicht anschlugen. Hier gelang es durch ein Mehr an Interventionen, Infusionen, Medikamenten und anderen Therapien nicht, die Situation zu befrieden.
Die Angst, als Therapeut zu scheitern, nicht helfen zu können, war und ist eine wichtige Triebfeder. Angst ist in diesem Fall jedoch nicht Panik, sondern eher Respekt vor der Medizin oder dem Patienten. Nach dem Motto »Nil nocere! – Niemals Schaden zufügen!« war es mir wichtig, Techniken zu finden, die aus einer therapeutischen Eskalation herausführen. Wo war nur das Missing Link, wo steckte der Fehler im System? Mir wurde klar: Es benötigte nicht ein Mehr vom Selben, sondern einen anderen Zugang. Der Standpunkt musste offensichtlich gewechselt werden.
KAPITEL 2
Cannabinoide als Missing Link in der Schmerztherapie
VON MEINEN ERSTEN ERFAHRUNGEN im Einsatz von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzpatienten bis heute sind nun 18 Jahre vergangen. In meinen frühen wissenschaftlichen Arbeiten 2003/200423 konnte ich eine große Überlegenheit der Cannabinoide bei stark chronifizierten Schmerzen gegenüber herkömmlichen Schmerzmitteln zeigen. Die Ergebnisse der randomisierten, doppelblind kontrollierten und arzneimittelgesetzkonformen Studie wurden 2006 veröffentlicht, blieben jedoch ohne Auswirkung auf die damalige Schmerztherapie.
Auch wenn es für die Öffentlichkeit schwer zu verstehen ist, dass sich bessere Methoden nur schwer durchsetzen lassen, war für mich schon damals klar und einleuchtend, dass neue Methoden ungefähr eine Medizinergeneration benötigen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Sieht man sich die Geschichte der Schmerztherapie an, so gab es immer wieder Quantensprünge, die aber stets einige Zeit brauchten, um allgemeine Akzeptanz zu finden. So wurde das serotoninerge System (zum Beispiel Antidepressiva) in den 1930er Jahren entdeckt – die Einführung in die Medizin gelang erst in den 1960ern. Opiate als stärkste bekannte Schmerzhemmer wurden in den 1960er und 1970er Jahren entdeckt – die Freigabe durch die Weltgesundheitsorganisation erfolgte erst 1998 (für den benignen Schmerz, das heißt für gutartigen, durch keinen Tumor verursachten Schmerz). Ich kann mich noch gut erinnern, als ich 1994 die ersten Opiate auf Rezept verschrieben habe. Damals wurden die Patienten in der Apotheke schroff abgewiesen. Man sagte ihnen, dass ich sie süchtig machen wolle, und forderte sie auf, sofort den Arzt zu wechseln. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, muss ich innerlich schmunzeln, aber damals war das natürlich für manchen Patienten eine schwierige Situation; einigen entging dadurch eine angemessene Therapie.