Dem Sinn des Lebens ist es egal, wo er dich findet - Tenzin Priyadarshi - E-Book
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Dem Sinn des Lebens ist es egal, wo er dich findet E-Book

Tenzin Priyadarshi

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Beschreibung

Faszinierend erzählte Lebensgeschichte und Buddhismus-Einführung in einem: Der Weg vom Hindu-Jungen zu einem international anerkannten buddhistischen Lehrer ist am Anfang voller Hindernisse. Dennoch wird Tenzin Priyadarshi buddhistischer Mönch und ist heute Leiter des vom Dalai Lama gegründeten Instituts für Ethik am MIT in den USA. Mit 10 Jahren reißt Tenzin Priyadarshi aus dem Internat aus und findet auf mysteriöse Weise ein buddhistisches Kloster. Es war zuvor immer wieder in seinen Träumen und Visionen aufgetaucht. Obwohl die Familie seine Entscheidung zu verhindern versucht, tritt er einige Jahre später in dieses Kloster ein und findet seine Bestimmung. Priyadarshis Lebensgeschichte ist eine spannende Reise voller spiritueller Erfahrungen und entscheidender Begegnungen wie etwa mit dem Dalai Lama oder mit Bischof Desmond Tutu. Tenzin Priyadarshis schenkt durch seine ungewöhnliche Biografie authentische Orientierung auch für die Ausrichtung eigener innerer Werte und deren Umsetzung im Handeln. Und es ist eine wundervolle Mutmach-Geschichte, die uns lehrt, dass wir alles erreichen können, wenn wir nur unserer Intuition folgen. "Eine wichtige und fesselnde Geschichte von spirituellem Mut und echter Wahrheitssuche – weit jenseits unserer modernen Illusionen." STING

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Tenzin Priyadarshi

Zara Houshmand

Dem Sinn des Lebens ist es egal, wo er dich findet

Die unglaubliche Lebensgeschichte eines buddhistischen Mönchs

Aus dem Englischen von Horst Kappen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mit 10 Jahren reißt Tenzin Priyadarshi aus dem Internat aus und findet auf mysteriöse Weise ein buddhistisches Kloster, das zuvor immer wieder in seinen Träumen und Visionen aufgetaucht ist. Obwohl die Familie seine Entscheidung zu verhindern versucht, tritt er einige Jahre später in dieses Kloster ein und durchläuft eine atemberaubende Karriere.

Priyadarshis Lebensgeschichte ist eine spannende Reise voller spiritueller Erfahrungen und entscheidender Begegnungen wie etwa mit dem Dalai Lama oder Bischof Desmond Tutu.

Tenzin Priyadarshi wurde in Indien als Sohn einer prominenten hinduistischen Brahmanen-Familie geboren. Im Alter von sechs Jahren begann er, sich eine schneebedeckte Bergregion vorzustellen, in der Männer mit rasierten Köpfen in Roben in der Farbe eines Sonnenuntergangs umherirrten. "Es war so lebendig, als würde ich eine Szene aus dem Leben beobachten", schreibt er. Im Alter von zehn Jahren riss er aus dem Internat aus, um diesen Ort zu finden. Er folgte einem „inneren Kompass“, nahm einen Zug bis zum Ende der Linie und stieg dann in einen Bus zu einem unbekannten Ziel. Seltsamerweise landete er im Himalaya-Gebirge in einem buddhistischen Kloster, das genau der Ort seiner Träume war…

Der Weg vom Hindu-Jungen zu einem international anerkannten buddhistischen Lehrer ist am Anfang voller Hindernisse. Dennoch wird Tenzin Priyadarshi buddhistischer Mönch und ist heute Leiter des vom Dalai Lama gegründeten Instituts für Ethik am MIT in den USA.

Eine Mutmach-Geschichte, die uns lehrt, dass wir alles erreichen können, wenn wir nur unserer Intuition folgen.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKarteDer Ruf des Mysteriums1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelEpilogDankGlossar
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Allen fühlenden Wesen, die Anlass des tiefsten Bodhichitta sind;

den Lehrern, die den Weg erhellt haben;

meinen Eltern, die erfahren haben, was Verzicht heißt

dem Großen Vierzehnten, der unser Leitstern ist.

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Prolog

Indien war seit drei Jahrzehnten unabhängig, als ich geboren wurde, und ein Land, das sich schwer damit tat, seinen Weg in die moderne Welt zu finden. In der indischen Gesellschaft spielte die Religion weiterhin eine maßgebliche Rolle und bestimmte das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre. In meiner eigenen Familie gab es sowohl Gläubige als auch Ungläubige, aber sie alle waren über meine Entscheidung bestürzt, ein bequemes und privilegiertes Dasein, das der Kontemplation geweiht war, aufzugeben. Was ihnen aber als Flucht vor den Erwartungen erschien, die die Gesellschaft an mich stellte, erlebte ich als einen Lockruf, der mich auf ebenso geheimnisvolle wie unwiderstehliche Weise in seinen Bann zog.

Mein Entschluss, meiner Heimat zugunsten einer gänzlich unbekannten Welt den Rücken zu kehren, führte zu einem dauerhaften und quälenden Zerwürfnis mit meiner Familie, aber ebenso zu glücklichen und bedeutsamen Begegnungen mit Menschen, die mir dabei halfen, mein Weltbild zu formen. Schon als Kind genoss ich den Zuspruch fremder Menschen, da ich offenen Herzens und Geistes auf sie zuging, und sie wurden mir zu Leitsternen auf meinem Weg. Dieser Lebensgang, der damit begann, dass ich mich den Erwartungen meiner Familie widersetzte, brachte es mit sich, dass ich mich auch anderen vorgezeichneten Wegen verweigerte und stattdessen die Grenzen zu anderen Traditionen überschritt. Die Abtei, in der ich jetzt lebe und Momente der Einkehr finde, liegt in meinem Herzen und meinem Geist; die ganze Welt ist mein Kloster.

Ein großer Teil der Ereignisse und Begegnungen auf meinem Lebensweg kam auf höchst geheimnisvolle und unerklärliche Weise zustande. Der moderne Verstand tut sich schwer mit mysteriösen Begebenheiten, die sich jeder rationalen Erklärung entziehen. Wir suchen erst einmal nach logischen oder psychologischen Erklärungen und lassen nur das als geheimnisvoll gelten, was durch dieses Raster fällt. Aber nicht alle Erfahrungen, die wir machen, passen in dieses duale Schema von rational und irrational, und das Mysterium ist nicht bloß das, was den Vernunfttest nicht besteht. Es gibt eine Dimension des Geistes, in der die Erfahrung des Mysteriums eine Gültigkeit besitzt, die auf sich selbst beruht. Wenn das Verständnis des Mysteriums auch außerhalb der Möglichkeiten sprachlicher Mitteilung liegen mag, so liegt es doch nicht außerhalb der Möglichkeiten menschlicher Erfahrung. Und so wie ein Prisma die Farben offenbart, die in einem weißen Lichtstrahl verborgen liegen, dient uns das Mysterium als Medium, das uns Zutritt zu tieferen Fragen und Antworten gewährt, als unser rationaler Verstand zu erfassen vermag.

Ich glaube, dass alle Menschen von Natur aus einen kontemplativen Geist besitzen; wir alle teilen die Gabe der kontemplativen Sinnsuche, zu der es mich hinzog. Welche Einstellung zur Religion und welchen kulturellen Hintergrund wir auch haben mögen – uns alle bewegen die Fragen nach dem tieferen Sinn unseres Lebens. Diese Fähigkeit, uns dem Mysterium zu überlassen, der Frage, was es bedeutet, am Leben zu sein, ist in uns allen angelegt, sie ist unser Geburtsrecht als Mensch. Wir können uns dafür entscheiden, sie zu ignorieren, aber ich möchte Sie dazu einladen, sie stattdessen in sich zu ergründen.

Wohl jeder Widerstand, den wir an der Schwelle zum Mysterium verspüren, wurzelt in der Furcht, auch wenn unser Kleinmut eigentlich nicht aus der Angst vor dem Unbekannten stammt. Vielmehr fürchten wir uns davor, das Bekannte zu verlassen, die Komfortzone des Vertrauten, mit ihrem trügerischen Gefühl der Gewissheit und ihren falschen Versprechungen von Bequemlichkeit. Es ist dieses selbsterrichtete Gefängnis, das unser inneres Wachstum behindert und das unbekannte Terrain unseres tieferen Potenzials als etwas Fremdartiges erscheinen lässt, das in weiter Ferne liegt. Der erste Schritt zu einer Reise über diese selbstgesetzten Grenzen hinaus besteht darin, den Lockruf zu vernehmen, der uns von einem Ort des Mysteriums aus erreicht.

Meine eigene Geschichte nahm ihren Anfang, als ich zehn Jahre alt war.

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Der Ruf des Mysteriums

1

Aufbruch: Westbengalen 1989

ES IST KEIN ZEICHEN VON GESUNDHEIT, GUT ANGEPASST

an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein.

J. Krishnamurti

Die Uhr zeigte halb drei, als ich im Halbdunkel des Schlafsaals erwachte, noch ganz unter dem lebhaften Eindruck meines Traumes. Da war wieder dieser Mann gewesen, der mir so vertraut war wie ein alter Freund. Er besuchte mich nun seit vier Jahren in meinen Träumen, und noch immer hatte ich keine Ahnung, wer er war, woher er kam und was er von mir wollte. Seine Augen ruhten mit einem klaren und festen Blick auf mir, und der Linie seines Mundes war nicht zu entnehmen, ob sie ein Lächeln beschrieb. Sein Ausdruck war neutral – ich konnte nicht sagen, ob er froh oder traurig war, ob freundlich oder nicht. Aber er hatte eine starke Ausstrahlung, und eine ganz besondere Energie ging von ihm aus. Diesmal sagte er nichts, und auch zuvor hatte er nur einmal zu mir gesprochen, in einer Sprache, die ich nicht verstand.

Das letzte Mal, als er mir erschienen war, hatte ich nicht einmal geschlafen. Es war während einer Zugfahrt einige Monate zuvor gewesen, als meine Familie wieder einmal umzog, diesmal von Ahmedabad nach Kalkutta. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie lang diese Zugreise ist, muss man sich eine Linie denken, die quer über den indischen Subkontinent an seiner breitesten Stelle verläuft. Kein Kind verschläft den ganzen Tag, und schon gar nicht eines mit meiner Energie. Ich lag in der obersten Schlafkoje, starrte an die schmutzige Waggondecke und war trotz des einschläfernden metallenen Rhythmus der Räder noch hellwach. Dann erschien er plötzlich wie aus dem Nichts. Ich sah die Rundung seines rasierten Schädels so plastisch vor mir, dass ich danach hätte greifen können, um die Haarstoppel zu berühren. Seine Augen leuchteten unter struppigen Brauen hervor, die ebenso weiß waren wie sein frisches Hemd. Darüber trug er ein gelbes Tuch, das auf einer seiner Schultern verknotet war. All das hatte ich so klar und deutlich vor Augen, dass von Schläfrigkeit keine Rede sein konnte.

Im Jahre 1985, als die Träume und Visionen anfingen, war ich sechs Jahre alt. Auch bei meiner ersten Vision gab es keinen Zweifel daran, dass ich hellwach war. Ich war mit einem Freund unterwegs, der in derselben Gegend wohnte wie ich, bei Evelyn Lodge, wo unser Bungalow stand. Ich hatte ihn bei sich zu Hause zum Kricketspielen abgeholt, und als wir auf das Spielfeld zugingen, sah ich etwas, das ich zunächst für orangefarbene Streifen und Flecken am Himmel hielt. War das bereits die Abenddämmerung? Das hätte bedeutet, dass es schon Zeit war, den Heimweg anzutreten, aber das konnte nicht sein. Wir hatten ja noch nicht einmal mit dem Spiel begonnen. Dann gewannen die farbigen Flächen an Kontur und nahmen vor mir Gestalt an – Männer mit rasiertem Schädel, die hin und her gingen, in safrangelben Gewändern, in den Farbtönen des Sonnenuntergangs. Auch ein Reh und eine kleine Hütte erschienen vor mir. Manche der Männer betraten die Hütte und kamen wieder heraus. All das spielte sich so lebendig vor mir ab, als würde ich einer Szene aus dem realen Leben beiwohnen.

»Siehst du das auch?«

Mein Freund folgte meinem Blick zum Himmel und kniff die Augen zusammen. »Ob ich was sehe?«, fragte er und schlug mit seinem Kricketschläger in die Luft.

Ich kniff mich selbst, wie man es tut, wenn man zu träumen glaubt. Das änderte aber nichts an dem, was ich sah. Während wir weitergingen, verblasste die Szene am Himmel, bis sie schließlich verschwand. Als ich später nach Hause kam, erzählte ich meinen Eltern davon, aber sie sagten nur, ich müsse mir das eingebildet haben.

Ich machte mir Sorgen, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmte. Aber ich konnte ohne Probleme die Tafel im Klassenraum erkennen oder den Ball, wenn ich an der Reihe war, ihn zu schlagen, oder die Früchte, die im Garten an den Mangobäumen hingen und auf meine Pfeile warteten. Und wenn es mein Verstand war, mit dem etwas nicht stimmte? Nun, in anderen Belangen war mit ihm alles in bester Ordnung, und meine Noten waren ausgezeichnet.

So geriet die Sache in Vergessenheit, Schwamm drüber, und die Erinnerung daran wäre in den kunterbunten Kammern meines kindlichen Geistes untergegangen, hätte ich nicht später noch andere Dinge gesehen. Es gab einen Ort, von dem ich immer wieder träumte; aber auch wenn ich wach war, stand er mit großer Klarheit vor meinem geistigen Auge: ein hoher Berg, der eine weite Ebene überragt, teils von Wald und Buschwerk bedeckt, teils mit Abhängen aus Geröll und nackter Felswand. Ich sah die Szene aus der Vogelperspektive, konnte aber nirgends Gebäude erkennen, keine Zeichen menschlicher Eingriffe in die Landschaft, nichts, was einen Hinweis darauf geben könnte, wo sich dieser Ort befand oder warum er in mir eine solche Wehmut und Sehnsucht auslöste. Diese Vision war ebenso verwirrend wie die Besuche, die mir der Fremde in meinen Träumen abstattete, und stellte sich ebenso beharrlich wieder ein. Es gab noch andere Menschen, die mir gelegentlich erschienen, einige mit rasiertem Kopf, andere mit Rastalocken, gekleidet in verschiedenen Tönen von Gelb, Orange und Rot. Aber er war derjenige, den ich am deutlichsten von allen sah.

Ich war alt genug, um zu wissen, dass Träume, so fremdartig sie uns auch erscheinen mögen, normalerweise unserem eigenen Geist entspringen und dass Halluzinationen, wie ich sie am helllichten Tage hatte, nicht normal sind. Ich hatte keine Theorie und nicht einmal den Ansatz einer Erklärung dafür, was diese Bilder, die meinen Geist bedrängten, zu bedeuten hatten. Sie schienen von außen zu kommen, aus einer Welt, die jenseits des logischen Verstandes lag, ein echtes Mysterium, das danach verlangte, ergründet zu werden.

• • •

Nun lag ich also da in dem abgedunkelten Saal und lauschte auf das gelegentliche Schnaufen und Schnarchen von einhundert schlafenden Jungen, während in mir ein Gefühl aufstieg, dass Eile geboten sei. Ich würde der Lösung des Rätsels nicht näher kommen, wenn ich bis zum Ertönen der Weckglocke hier wachlag. Um eine Antwort zu finden, musste ich mich auf den Weg machen und nach ihr suchen. Schließlich steht am Beginn eines jeden Abenteuers ein Geheimnis.

Es war höchste Zeit. Langsam kroch ich aus dem Bett. Aus der Vorhalle drang gerade genug fahles Licht herein, dass ich einigermaßen sehen konnte. Ich bewegte mich so lautlos wie möglich, während ich ein paar Kleidungsstücke in einen kleinen Rucksack packte. Dann hockte ich mich auf die Bettkante, um das Geräusch beim Hervorziehen des Stuhls unter dem Pult zu vermeiden, und schrieb eine Notiz an meine Eltern. Nur ein paar Worte, in denen wohl vor allem die Anmaßung eines Zehnjährigen zum Ausdruck kam: dass ich mich auf eine spirituelle Suche begeben wolle, von der ich nicht wisse, wohin sie mich führe, dass sie sich aber keine Sorgen machen sollten. Dann schob ich den Zettel unter die hölzerne Klappe des Pults.

Ich überlegte, ob ich etwas unter meine Bettdecke stopfen sollte, aber das hatte wohl keinen Sinn. Schließlich war das hier kein Streich. Die Aufseher würden früh genug merken, dass ich ausgerissen war, und mir schien, dass eine spirituelle Suche mit einer gewissen Würde beginnen sollte. Ich tastete mich durch den Schlafsaal, vorbei an den Betten, auf denen meine Kameraden in alle Richtungen ausgestreckt lagen, und durchquerte dann die Vorhalle. Ich zog meine Sandalen an und trat hinaus in die Nacht.

• • •

Die St. Vincent’s High and Technical School in Asansol war eine der ältesten unter den vielen Internaten, welche die irischen Christian Brothers[1] in Indien erbaut hatten, und der Campus ist riesig. Ich hielt mich im Schatten der Baumreihen, die die Wege säumten, und mied die wenigen Laternen. Als ich die Strecke vom Dormitorium bis zum Tor zurückgelegt hatte, stieg ein leichter Morgennebel auf, und am Himmel zeigte sich eine erste Andeutung von Tageslicht. Bis zur Dämmerung war es jedoch noch eine Stunde hin. Ich war überrascht, das Tor angelehnt zu finden. Vom Wachmann, der hier sonst stets anzutreffen war, gab es weit und breit keine Spur. Mir war es recht. Eine Fahrradrikscha stand vor dem Tor, als hätte sie auf mich gewartet. Ich stieg ein und sagte nur »zum Bahnhof«, als wäre ich ein Fahrgast, vor dem ein langer Arbeitstag liegt und dem nicht danach ist, Fragen zu beantworten oder zu plaudern. Der Fahrer trat in die Pedale, und wir fuhren durch die nächtliche Stille der menschenleeren Straßen.

Diese Straßenzüge kannte ich besser als die meisten Jungen im Internat, da meine Familie in Asansol gelebt hatte, bevor uns der neue Arbeitsplatz meines Vaters nach Ahmedabad führte. Obwohl Asansol ein riesiges Industriezentrum in Westbengalen ist, wo die Briten erstmals indische Kohle förderten, um damit die Stahlwerke und Bahnlinien der Region zu betreiben, fühlte man sich in seinem Zentrum doch wie in einer kleinen verschlafenen Kolonialstadt. Es ging dort tatsächlich so provinziell zu, dass meine Mutter die erste Frau war, die hier Autofahren lernte. Ich war ihr Passagier, als sie sich darin übte, den zu großen Ambassador[2] durch das Gewimmel der Fahrräder, Rikschas und freilaufenden Kühe zu manövrieren, ganz zu schweigen von den Fußgängern, die mitten auf der Straße stehen blieben, gebannt vom Anblick einer Frau am Steuer.

Wir hatten die Hälfte des Weges zum Bahnhof zurückgelegt, als mir einfiel, dass ich ja gar kein Geld hatte, um den Rikschafahrer zu bezahlen oder mir eine Fahrkarte für den Zug zu kaufen. Da kam mir die Idee, beim Haus eines Freundes der Familie haltzumachen, der in der Goray Road wohnte, die auf dem Weg zum Bahnhof lag. Der Mann, den ich Onkel Bhola nannte, entstammte wie ich selbst einer Zamindar-Familie wohlhabender Landbesitzer und war einer der ganz wenigen Geschäftsfreunde, denen mein Vater vertraute. Als hochrangiger Beamter bei der indischen Steuerbehörde musste mein Vater stets mit Bestechungsversuchen rechnen, und das schränkte sein gesellschaftliches Leben sehr ein. Die Gefahr zweifelhafter Verbindungen war auch der Grund für die ständigen Versetzungen, welche die Position meines Vaters mit sich brachte und die dazu führten, dass wir so häufig von einer Stadt in die andere zogen.

Aber Onkel Bhola versuchte niemals, aus dieser Verbindung Vorteile zu ziehen. Zwar hatte sein Domizil palastartige Ausmaße, und seine Verwandten, die es mit ihm bewohnten, stellten ihren Reichtum gern zur Schau; aber es war die Art, wie er selbst seinen Wohlstand nutzte, die mich als Kind beeindruckte. Einmal in der Woche standen die Armen von Asansol vor dem Eingang zu seinem Familienanwesen Schlange. Onkel Bhola saß am Tor mit seiner riesigen Brille, die ihn wie eine Eule aussehen ließ, und schöpfte mit einem metallenen Gefäß aus Säcken voller Reis oder Weizen, den er an jeden ausgab, der seiner bedurfte. Jede Getreidegabe war dabei von ein paar sehr sanften Worten und einem Lächeln begleitet.

• • •

Ich bat den Rikschafahrer zu warten. Dann ging ich über die Rasenflächen und durch die Gärten, vorbei an verschiedenen Unterkünften, Gästehäusern und den Residenzen der anderen Mitglieder der Familie, bis ich zum Großen Tempel kam. Ich wusste, dass ich Onkel Bhola hier zu so früher Stunde beim Morgengebet antreffen würde. Er war erstaunt, mich zu sehen.

»Ich brauche hundert Rupien.« Das war sehr direkt, aber ich wollte mich nicht erklären und hoffte darauf, dass er keine Fragen stellen und mir einfach vertrauen würde.

»Du hast also Ausgaben?«, fragte er, und ich bejahte. Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er in die Tasche seiner Kurta und reichte mir einen Geldschein.

Jahre später hatte ich Gelegenheit, ihn zu fragen, was er sich an jenem Morgen gedacht hatte – so wie auch meine Eltern ihn bald darauf fragten, als sie verzweifelt nach mir suchten. Er sagte zu mir dasselbe, was er auch ihnen geantwortet hatte: »Nach all diesen Jahren des Gebets, nach all meinen guten Taten, die in gutem Glauben geschahen, wird mein Geld dem Jungen nicht zum Schaden gereichen, wenn er sich zuerst an mich wendet, was immer er auch im Sinn hat.«

Ich bin mir sicher, dass diese Auskunft für meine Eltern damals nicht viel Tröstliches hatte, aber für mich war seine schlichte Reaktion, mir ohne weitere Fragen einen Hundert-Rupien-Schein zuzustecken, ein wortloser Segen auf meiner Reise.

• • •

Der Bahnhof von Asansol ist ein großer Verkehrsknotenpunkt, an dem mehrere Bahnlinien zusammentreffen und jeden Tag viele Tonnen Frachtgut umgesetzt werden. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde herrschte dort schon ein reges Treiben. Menschen, die auf Bergen von Gepäck lagerten, schreckten aus dem Schlaf hoch. Ein rauchiger Nebel hing über den Bahnsteigen mit dem Geruch von Diesel, feuchter Kohle und offenen Feuerstellen. Am Schalter gab es keine Schlange.

»Wohin?«

Ich konnte keine Stadt oder Bahnstation nennen und wusste nicht, ob ich mich nach Norden, Süden, Osten oder Westen wenden sollte. Aber auf einem der nächstgelegenen Gleise stand ein Zug zur Abfahrt bereit, und da ich irgendwie ein gutes Gefühl dabei hatte, deutete ich auf ihn und sagte: »Wo der da hinfährt.«

»Und wohin nun genau?«, beharrte der Mann am Schalter.

»Endstation. Dritter Klasse.«

Obwohl er erst in einer Stunde abfahren sollte, war der Zug schon überfüllt. Ein älterer Herr auf einem Fensterplatz suchte Blickkontakt zu mir und deutete auf die freie Sitzfläche neben sich. Ich zwängte mich in die Lücke. Ich wollte mich auf kein Gespräch einlassen, aber auch nicht unhöflich sein. Sag so wenig wie möglich, lass sie denken, du seist schüchtern …

Noch immer fanden Menschen und Gepäck Platz, wo es keinen mehr gab, bis er sich dennoch fand, und schließlich setzte sich der Zug in Bewegung. Die Fenster hatten Gitter, aber keine Scheiben – damit gab es hier, wie ich zu meiner Freude feststellte, einen sehr viel freieren Ausblick als in den klimatisierten Abteilen, in denen meine Familie normalerweise reiste. Die Gleislandschaft wich Fabriken und Rodungsflächen, gefolgt von Reis- und Jutefeldern, Heuhaufen und Mieten, die für einen Moment hinter den Baumreihen entlang der Gleise auftauchten, Obstgärten mit Mango- und Litschibäumen, und Dorf auf Dorf auf Dorf. Es kam zu langen Aufenthalten in kleinen Bahnstationen, die Stunden zu dauern schienen, und zu nicht minder langen, unerklärlichen Fahrtunterbrechungen auf freier Strecke. Familien holten ihre Tiffin-Lunchpakete hervor und gaben mir eine Portion ab, als wäre ich eines der eigenen Kinder. Wenn sie dann an ihrer Station ausstiegen und eine andere Familie ihren Platz einnahm, wurden weitere Pakete geöffnet und weitere Bissen gereicht. Ich würde hier also gewiss nicht verhungern.

Langsam ging der Tag seinem Ende entgegen, und der beständige Luftzug kühlte merklich ab. Ich wusste, dass es in einem anderen Abschnitt des Zuges Schlafwagen mit Kojen und Bettzeug gab, hier aber sackten die Menschen einfach in sich zusammen oder kauerten sich in ihre Sitze. Köpfe ruhten auf den Schultern fremder Menschen. Ich muss wohl ein Dutzend Mal eingenickt sein, schien aber einen großen Teil der Nacht wach auf meinem Platz verbracht zu haben, versunken in den Anblick der bunten Lichter an den Signalmasten, die wir passierten, nackter Glühbirnen, die in dörflichen Wohnzimmern aufleuchteten, und der langen Abschnitte von Finsternis dazwischen.

Was hatte ich mir bloß unter einer spirituellen Suche vorgestellt? Woher stammte nur diese Idee?

Die Mitglieder meiner Familie waren Hindus aus einer Brahmanenlinie, die als Bauern ihr eigenes Land bestellten und keine Hindupriester waren, wie man hätte erwarten können. Je nach persönlicher Neigung deckten sie das ganze Spektrum von tiefster Religiosität bis zu einem radikal rationalen Atheismus marxistischen Gepräges ab. Dennoch bewahrten sie sich einen festen Rhythmus von Gebräuchen, seien es die stillen täglichen Rituale der alten Frauen oder die ein- bis zweitägigen Zeremonien, die ein paarmal im Jahr stattfanden und die uns alle im Summen der Mantras und beim hellen, raschen Klang der Glocke einten. Blumen und Früchte und Flammenschein, rotes Kumkum und gelbes Kurkuma. Manchmal gab es für das ganze Dorf ein Festmahl, wozu die Küche im industriellen Maßstab aufgerüstet wurde. Ein Jahr zuvor hatte ich die Schnurzeremonie vollzogen, die den Übertritt eines jungen Brahmanen ins Mannesalter markiert, und noch einige Jahre zuvor hatte ich anstandslos das Mundana-Ritual über mich ergehen lassen, bei dem zum ersten Mal der Kopf auf zeremonielle Weise geschoren wird. In der Welt dieser Rituale fühlte ich mich zu Hause wie nur wenige andere Kinder. Ich war ergriffen von der feierlichen Stimmung, und wenn ich auch meistens ziemlich wild war, blieb ich in diesen Situationen doch geduldig und verharrte so still wie an den Gestaden einer anderen Welt.

Die spirituelle Bedeutung dieser Rituale erschien zweitrangig, sie waren einfach das, was wir taten. Ich hatte muslimische Freunde, deren Familien andere Bräuche pflegten und andere Feiertage begingen. Auch die irischen Christian Brothers, die sich unserer Ausbildung annahmen, hatten natürlich ihren eigenen Glauben, den sie wohldosiert im Sinne der Traditionspflege und Charakterbildung an uns weitergaben, ohne uns zu ihm bekehren zu wollen.

Aber nichts von alledem hatte, soweit ich es damals verstand, maßgeblichen Anteil daran, dass ich nun in einem Zug mit mir unbekanntem Ziel saß.

Als ich noch kleiner war, faszinierten mich die Sadhus, die manchmal während religiöser Feste im Dorf erschienen. Ich konnte mich nicht sattsehen an den Strängen verfilzten Haares, die sie um ihr Haupt gewunden hatten wie Turbane aus Schlangen. Einer von ihnen hockte neben einem kleinen Feuer, von Asche und Staub bedeckt, als wäre er ein Wesen, das aus der verdorrten Erde erschaffen war, auf der er saß, und auf eine Weise geerdet, die wir, die wir Schuhe und Kleider tragen, nur erahnen können. Die fahle Asche, mit der sein Gesicht bestrichen war, ließ seine Augen im Kontrast dazu nur umso durchdringender erscheinen – Augen, die meinem Blick standhielten und die so nackt waren wie er selbst, mit einer Verletzlichkeit, die in eine Selbstgewissheit verwandelt war, die keine Scham kannte. Nichts mehr zu verlieren. Manchmal sah ich Sadhus im Zug, wie sie die Gänge entlangschritten. Sie durften umsonst fahren und brauchten keine Fahrkarte, Wanderer in unserer Welt, ohne ihr anzugehören.

Ich erinnere mich noch, wie ich nachts mit zugekniffenen Augen aufrecht im Bett saß, entschlossen, mein Haar durch die Kraft meines Geistes zu Schlangen wachsen zu lassen. Erfolglos. Von diesem törichten Unterfangen ließ ich bald ab, auch wenn ich deshalb meine Angst vor echten Schlangen nicht überwunden hatte. Und es machte mich nur umso geneigter, auf einen der Sadhus zuzugehen und ein Gespräch mit ihm zu beginnen, anstatt mich in sicherer Entfernung zu halten und jeden Augenkontakt zu vermeiden, wie die meisten meiner Klassenkameraden es getan hätten. Mit meinem nächtlichen Aufbruch von St. Vincent aber folgte ich nicht der Vision, ein Sadhu zu werden.

• • •

Die Morgendämmerung tauchte Felder und Obstgärten und schließlich auch den Waggon in glutvolles Licht. Von der feuchten Erde stieg Dunst auf, und hier und da waren Menschen zu sehen, die bereits ihre Arbeit auf den Feldern verrichteten. Bald nach Sonnenaufgang zogen sich die Ortschaften, an denen wir vorbeikamen, mit jedem Mal ein bisschen länger hin, bis sie allmählich ineinander übergingen und wir fast nur noch durch bebautes Gelände fuhren. Als der Rhythmus der Räder erlahmte und schließlich zum Stillstand kam, befanden wir uns inmitten einer betriebsamen Stadt. Der letzte Trupp Passagiere raffte sich auf, suchte die Taschen zusammen und weckte die noch schlafenden Kinder. Wir hatten die Endstation erreicht.

Ich war überrascht, den Bahnhof wiederzuerkennen. Patna war der Treffpunkt, an dem wir mit dem Auto abgeholt wurden und von wo aus wir mehrere Stunden bis nach Vishnupur Titirah weiterfuhren, das Dorf, in dem ich geboren worden war und in dem wir jeden Sommer verbrachten. Auch hier in Patna hatte ich Familie. Ich hätte nur zum Münztelefon gehen müssen: Innerhalb einer halben Stunde hätte man mich abgeholt und damit dem ganzen Abenteuer ein Ende bereitet, so als hätte ich mich im Kreis bewegt und wäre wieder am Ausgangspunkt angekommen. Tatsächlich kam mir dieser Anruf nicht einmal in den Sinn. Von dem Augenblick an, als ich vor die Tür des Dormitoriums getreten war, hatte ich nicht ein einziges Mal an Umkehr gedacht.

Es lag jedoch auf der Hand, dass ich meine Reise würde fortsetzen müssen. Mit seinem Lärm und Menschengewühl zur Stoßzeit empfahl Patna sich nicht gerade als geeigneter Ort für eine spirituelle Suche. Ich bahnte mir meinen Weg durch das Getöse des Straßenverkehrs, der vor dem Bahnhof zirkulierte, und ließ den Hanuman-Tempel links liegen, vor dem ich früher gequengelt hätte, um ein Laddu zu bekommen. Süßigkeiten waren jetzt ohne Bedeutung. Ich fand zum Busbahnhof; wieder sollte ich einen Zielort nennen, um ein Ticket erwerben zu können, und wieder deutete ich auf einen bereitstehenden Bus und verlangte eine Fahrkarte für die Endhaltestelle.

Dort kam der Bus jedoch niemals an. Nachdem der Motor längst begonnen hatte, ein gequältes Geräusch von sich zu geben, setzte der Fahrer die Reise beherzt bis zur nächsten Station und darüber hinaus fort. Er drosselte das Tempo, wobei er auf den letzten Meilen abwechselnd fluchte und dem Bus gut zuredete, bis er heldenmütig das verendende Getriebe langsam, aber sicher in den Untergang chauffierte. Mit jäh einsetzender Stille gab der Bus seinen Geist auf. Die Landstraße führte auf diesem Streckenabschnitt mitten durch ein Reisfeld, das erst kürzlich angelegt worden war, und die grünen Setzlinge ragten aus einer spiegelglatten Wasserfläche empor, die den spätnachmittäglichen Himmel mit seinen sich hoch auftürmenden Wolken reflektierte.

Die Fahrgäste beschwerten sich, und der Fahrer beteuerte, dass der nächste Bus uns mitnehmen würde; wir sollten einfach warten. Die Sonne begann jedoch schon zu sinken, und wir befanden uns hier nicht auf einer Landstraße, die nachts sicher war, da es in der Gegend Dacoits – Banditen – gab. Die Passagiere schulterten ihre Taschen oder balancierten ihr Gepäck auf dem Kopf. Viele von ihnen hatten es nicht mehr weit bis nach Hause und konnten die letzte Strecke zu Fuß zurücklegen. Ein vorbeikommender Tempo[3] hielt an und nahm ein paar weitere Fahrgäste mit, die sich hinten an die Ladefläche klammerten. Der Busfahrer rauchte seine letzte Beedi, streckte sich dann auf der hintersten Sitzreihe aus und schlummerte ein. Ich stieg die Leiter zur Gepäckablage auf dem Dach des Busses hinauf und fand einen bequemen Platz, um von dort aus dem Sonnenuntergang zuzusehen. Das Tageslicht schwand, und als Schutz gegen den Wind legte ich ein loses Ende der Abdeckplane um mich. Der volle Mond ging auf und spiegelte sich in den Reisfeldern. Die ganze Nacht hindurch kam und ging er, zeigte sich einmal strahlend hell, war dann wieder von Wolken verhüllt, und im Wind kauernd fiel ich immer wieder in kurzen Schlaf.

Es war noch dunkel und im Osten zeigte sich am Horizont gerade erst ein Band tiefen Saphirblaus, als ich vom Geräusch vorbeifahrender Autos geweckt wurde. Ich griff nach meinem Bündel, stieg eilig die Leiter hinab und trat ins auf und ab tanzende Scheinwerferlicht. Ein Jeep bremste ab, und ich konnte erkennen, dass an die zwanzig Menschen in ihm gedrängt saßen oder sich an seinem Heck festhielten. Eine Hand wurde ausgestreckt, ich ergriff sie und zwängte mich zwischen die anderen Mitfahrer.

Der Jeep lud uns alle an einer Bushaltestelle in einem sehr kleinen Ort ab, der so früh noch nicht zum Leben erwacht war. Dies also war die Endstation. Ich ging die Hauptstraße entlang, in der die Läden noch verschlossen, die Stände noch verstaut waren. Ich war hungrig, machte mir deshalb aber keine Sorgen; irgendetwas Essbares würde sich schon finden. Bereits nach wenigen Minuten hatte ich die letzten Ausläufer des Ortes hinter mir gelassen. Ich überquerte eine Kreuzung und befand mich nun auf offener Landstraße, zu beiden Seiten von Feldern flankiert und vom lauten Morgengesang einer Vogelschar begleitet. So ging ich vielleicht eine Stunde lang. Die Sonne war noch immer nicht aufgegangen, wenn auch im Osten, zu meiner Linken, der Himmel über einer nicht sehr fernen Hügelkette langsam hell wurde. Je weiter ich kam, desto höher schienen sich diese Hügel zu erheben. Wenngleich kein Gebirge, waren sie doch hoch genug, um noch die Sonne zu verdecken, die nun schon hinter dem Höhenzug glühte und seine Konturen scharf gegen den Himmel abhob. Ich blieb stehen. Mir stockte der Atem, und ein Schauer lief mir über den Körper. Dies war der Ort, den ich so oft gesehen hatte.

Eine Seitenstraße bog in Richtung der Hügel ab. Sie führte zu einem kleinen Kreisel und der Talstation einer Sesselbahn, deren metallene Sitze am reglosen Seil baumelten wie die Karussellsitze auf einem verlassenen Jahrmarkt außerhalb der Saison. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ein breiter befestigter Weg führte den Hügel hinauf. Als ich ihn zu ersteigen begann, überkam mich ein intensives Gefühl des Vertrauten. Dieser Ausblick mit dem Talausschnitt, die Felswand, die Spalten im Gestein bis hin zu den Umrissen der Blätter, die über den Weg fegten – all das kannte ich. Es war nicht nur das Wiedererkennen der Bilder, die ich im Traum gesehen hatte. Es war die Erinnerung an diesen Ort selbst. Dies war einmal meine Heimat gewesen, der Ort, an dem ich zu Hause war.

Und im selben Augenblick, in dem sich diese Tür der Erinnerung auftat, erfasste mich eine Woge der Ratlosigkeit. Nichts von all dem ergab Sinn. Was tat ich hier überhaupt?

2

Heimkehr zum Geierberg

Jenen, die voller Vertrauen und edler Gesinnung

von ganzem Herzen den Buddha zu sehen wünschen,

nicht zögernd und sei es um den Preis ihres Lebens,

werde ich mit der ganzen Mönchsgemeinde

auf dem Geierberg erscheinen.

Lotos-Sutra

Meine Wanderung den Hügel hinauf mochte eine weitere Stunde gedauert haben. Auch wenn es wärmer wurde, blieb die Temperatur doch angenehm, und die Luft wurde mit jedem Schritt klarer. Der Weg führte an den Eingängen mehrerer Höhlen vorbei. Ich wollte sie näher erkunden, als mir weiter oben eine Mauer auffiel, ein Teil eines Bauwerks, das vom vor mir liegenden Gipfel halb verdeckt war. Ich stieg weiter hinauf. Der gewundene Pfad ging in einen Stufenweg über, der in eine weitläufige Steinterrasse mündete, die auf dem Gipfel in den Fels gebaut und an drei Seiten von einer niedrigen Ziegelsteinmauer umgeben war. Eine kleinere Fläche in der Mitte war von einer ebensolchen Mauer eingefasst. Der Platz war leer, nichts deutete auf seine Verwendung hin. Die verwitterten Ziegelsteine hätten auch aus grauer Vorzeit stammen können. Sie erinnerten mich an archäologische Fundstätten, wie ich sie nicht weit von unserem Dorf gesehen hatte, wo Backsteinfundamente von einer reichen und komplexen Welt kündeten, die nun fast vollständig ausgelöscht war.

Wenn ich hier beschreibe, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, erklärt das nicht das Gefühl unaussprechlichen Friedens, das ich an diesem Ort verspürte. Die Ausläufer der Hügel bildeten den Rahmen für die weite Aussicht in das vor mir liegende Tal, in dem sich jede Spur menschlicher Aktivität verlor. Die Stille war gewaltig. Ich fühlte mich wie im Himmel schwebend und zugleich geborgen zwischen den Hängen des benachbarten Hügels und dem hinter mir aufragenden Fels. Nach den seltsamen Erlebnissen auf meiner Reise war dies eine sichere Zuflucht, als würde die Erde ihre schützenden Arme um mich legen. Ich war von etwas hierher getrieben worden, das ich nicht begriff, aber es zu verstehen war auch nicht von Belang. Es war genug, dass ich hergefunden hatte.

So saß ich lange Zeit und überließ mich ganz der Stille. Die Sonne brannte nun schon heiß, und mich überkam die Müdigkeit. Zwei Nächte ohne Schlaf forderten ihren Tribut. Ich beschloss, zu den Höhlen zurückzugehen, um einen Platz zum Schlafen zu finden. Meine Entscheidung stand fest: Ich würde hierbleiben. Ich würde ein Einsiedler werden, und dies sollte mein Zuhause sein.

Als ich wieder bei den Höhlen ankam, fand ich in den Büschen ein Schild, verrostet und kaum lesbar. Die Indische Archäologische Gesellschaft teilte mir mit, dass es sich bei diesen Höhlen möglicherweise um die »steinernen Häuser« auf dem Griddhakuta, dem Geierberg, handele, von denen der chinesische Pilgermönch Xuanzang im siebten Jahrhundert berichtete. Solche rätselhaften Hinweise waren typisch für diese Gegend und hätten dem einen oder anderen Historiker in meiner Familie wohl einen ganzen Vortrag entlockt. Mir aber sagten diese Namen nichts, und es war niemand da, der sie mir hätte erklären können.

Eine der Grotten war der Inbegriff einer perfekten Höhle: ein weicher Boden, die Decke gerade hoch genug, der Raum gerade tief genug. Mit dem Fuß beförderte ich den getrockneten Kuhdung aus meinem neuen Heim und ließ mich nieder. Ich lehnte mich an die rückwärtige Höhlenwand und schloss die Augen.

»He, Junge!« Bei diesem Ausruf erschrak ich zu Tode. »Was machst du denn hier?« Wer mich da so anherrschte und im Befehlston mit mir sprach, war ein Mann in grüner Khakiuniform und dem Barett der indischen Forstbehörde auf dem Kopf, der mit einem Gewehr im Höhleneingang stand. Als ich ins Freie trat, war ich einen Moment lang vom Sonnenlicht geblendet. Dann sah ich einen zweiten Mann dort stehen, der ebenfalls bewaffnet war.

Ich erklärte, dass ich in der Höhle bleiben und das Leben eines Einsiedlers führen wolle. Dafür sei ich zu jung, entgegnete der erste Mann – nun in respektvollerem Tonfall, wenn auch gewiss weniger aus Rücksicht auf meine spirituellen Bestrebungen als im Hinblick auf die subtilen Anzeichen des Standes- und Bildungsunterschiedes, der zwischen uns bestand. Außerdem, fügte er hinzu, gebe es Schlangen und wilde Tiere in der Gegend, und vor Kurzem habe man sogar Tiger gesichtet. Es sei also keine gute Idee, an diesem Ort allein zu bleiben. Ich solle stattdessen den Tempel auf dem anderen Gipfel besuchen, und er wies mich auf eine Weggabelung unterhalb der Höhle hin. Von dort führte ein zweiter Pfad im Zickzack den größeren Berg hinauf, wo er an der Bergstation des Sessellifts endete, den ich zuvor schon gesehen hatte. Das Forstamt unterhalte dort eine Wachstation, und der Tempel liege oberhalb davon.

Abermals machte ich mich auf den Weg, und nach zwanzig Minuten hatte ich die Tempelanlage erreicht. Was ich dort zu sehen bekam, unterschied sich von allem, was mir jemals vor Augen gekommen war. Auf einem in Terrassen ansteigenden Sockel stand ein gewaltiger weißer Kuppelbau – ein Stupa, wie ich später erfuhr –, in den rundum vier Bogennischen mit goldenen Statuen eingelassen waren. Unweit davon gab es noch einen kleineren, ebenfalls weißen Tempel. Viele Gebäude würde man landläufig als weiß bezeichnen, aber im Klima Indiens ist jedes Weiß schnell vergilbt, von den Schlieren ausblutenden Betons durchsetzt oder mit den Stockflecken sich ausbreitenden Schimmels bedeckt. Dies aber war ein makelloses, blütenreines, strahlend helles Weiß, geschmückt mit glänzendem Gold und Ornamenten aus hellem Gelb. Es vermittelte den Eindruck einer einzigartigen Reinheit und einer Sorgfalt in der Pflege eines irdischen Ortes, wie sie mir noch nie zuvor begegnet war.

Wie zum Beweis dafür war der einzige Mensch, den ich finden konnte, ein Mann, der mit Reinigungsarbeiten beschäftigt war. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich aus der Höhle verscheucht worden sei und hoffe, hierbleiben zu können. Er erwog die Situation und meinte dann, ich solle mit einem gewissen Baba sprechen, den ich unten in einem anderen Tempel antreffen würde. »Unten« hieß im Tal, wo ich eine Pferdedroschke nehmen könne, die mich zurück in die Stadt zu den heißen Quellen bringen würde. Von dort sei es nur noch ein kurzer Fußweg. Falls ich mich verliefe, solle ich nach dem Japanischen Tempel fragen. Ich kam vor Hunger und Erschöpfung an meine Grenzen, aber solange ich ein Ziel vor Augen hatte, war ich bereit, den nächsten Schritt zu tun.

• • •

Den Eingang zum Tempelgelände bildete eine imposante Toreinfahrt, wo sich eine kleine Gruppe streikender Arbeiter niedergelassen hatte und halbherzig Parolen skandierte. Ihren Worten konnte ich ihre Forderungen nicht entnehmen, aber ich zögerte weiterzugehen. Einen Streikposten zu passieren kam für mich einem Frevel gleich. Einer meiner Vorfahren, Basawon Sinha, war einer der Väter der indischen Arbeiterbewegung gewesen. Gemeinsam mit Jayaprakash Narayan (im Volk auch als J. P. bekannt) hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeiter in den Kohlebergwerken, Eisenbahnbetrieben und Zuckerfabriken von Bihar in Gewerkschaften zu organisieren. Basawon Sinha konnte Reden von drei oder vier Stunden halten, ohne sein Publikum zu ermüden, und er bediente sich dieser Gabe, um mich und meine Vettern mit seinen Geschichten zu fesseln – wie er, kaum älter als ich damals, als Junge die Schule abgebrochen habe, um dem Aufruf Gandhis zu einem Kampf für Indien zu folgen, wie er Jahre in einem britischen Gefängnis zugebracht habe, in den Hungerstreik getreten und auf wagemutige Weise ausgebrochen sei und wie er verkleidet durch Afghanistan gereist sei, wozu gehörte, sich einen Bart wachsen zu lassen und fünfmal am Tag zu beten …

»Du hast aber kein Rindfleisch gegessen, oder?«, fragte ich ihn mit gespieltem Entsetzen.

»Glaubst du, dass ich dir all meine Geheimnisse verrate?«

Er war erst wenige Monate zuvor gestorben, und auch wenn er ein langes und gutes Leben gehabt hatte, war ich doch traurig, dass uns mit ihm nun auch seine Geschichten verlassen hatten. Um was es bei dem Streik vor dem Tempel auch gegangen sein mag: Er hätte gewollt – so sagte ich mir –, dass ich mein eigenes Abenteuer finde und mich nicht an seiner Schwelle von falschen Rücksichten davon abhalten lasse. Für die Streikenden war es ohnehin nicht von Bedeutung, ob ich an ihnen vorbeiging oder nicht. Für sie war ich bloß ein Kind.

Und so betrat ich einen weiteren Bezirk jener fremden Welt, von der ich oben auf dem Berg einen Vorgeschmack bekommen hatte. Dieser Tempel war noch sehr viel größer, aber im gleichen Stil: makelloses Weiß, umrahmt von Gold und Gelb, mit einem von zwei goldenen Löwen bewachten Treppenaufgang aus weißem Marmor. Vor dem Tempel stand ein gewaltiger steinerner Monolith, in den japanische Schriftzeichen eingraviert waren, auch sie in Gold. Sie waren von erlesener Schönheit und schienen mir sehr viel komplexer zu sein als jede andere Schrift, die ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte. Und auch hier zeigte sich wieder dieselbe Reinheit und Liebe zum Detail.

Ich hatte schon zahllose Hindutempel gesehen: von den kleinen Heiligtümern, über denen die rote Fahne Hanumans an einem in heiligem Basilikum stehenden Bambusmast wehte, wie es sie in fast jedem Dorf der Gegend gab, bis hin zu den von Menschen wimmelnden Tempelanlagen, die an Feiertagen Tausende von Pilgern anzogen. Als Vorbereitung auf meine Schnurzeremonie hatte ich mit meiner Familie einige dieser großen Tempel besucht und fand sie bestürzend schmutzig. Ihr verwahrloster Zustand war nicht nur unerfreulich, sondern schien mir auch unangemessen, genauso wie das Verhalten der Priester, die in ihre Mantragesänge Bitten um Geldspenden einflochten, die sie in einem Atemzug damit vortrugen: Om Kali, maha Kali, takadin, takadin … Ich verstand mich darauf, ihr schamloses Betteln nachzuahmen, und brachte meine Schwestern damit zum Lachen.

In meinem eigenen Dorf gab es einen kleinen, meiner Familie geweihten Tempel, der nicht mehr enthielt als sieben kleine Hügel aus Tonerde. Keine Statuen, keine Bildwerke, keinerlei Farbe außer Ansammlungen roten Pulvers, mit dem die Menschen die Hügel bestrichen. Einer dieser gesichtslosen Klumpen trug den Namen der Göttin Bhudevi, der Mutter Erde. Nachbarn und die Mitglieder meiner Familie kamen jeden Morgen am Brunnen zusammen, den mein Großvater unmittelbar neben dem Tempel gegraben hatte. Sie schöpften aus ihm Wasser, um sich zu waschen, zündeten dann im Tempel Räucherstäbchen an und sprachen ein Gebet, bevor sie sich auf die Felder begaben oder wohin immer ihr Arbeitstag sie führen mochte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, lernte ich auf diese Weise eine Vielzahl von Möglichkeiten kennen, was einen Tempel ausmachen oder wie das Göttliche seine Darstellung finden konnte, von der bescheidensten Andeutung bis hin zur aufwendigsten Inszenierung in Samt und Brokat. In meiner Erfahrungswelt fand sich aber nichts, was mit der ganz besonderen Atmosphäre vergleichbar war, die mich hier umgab: eine stille Kraft, eine äußerste Sorgfalt, eine Meisterschaft im Detail. Und dazu ertönte der tiefe, dröhnende Klang einer Trommel, der all das in einem vollkommen gleichmäßigen Rhythmus wie ein Herzschlag durchdrang.

Dem Klang der Trommel folgend, stieg ich die Treppe zum Tempel hinauf und trat in ihn ein. Der Innenraum war von gewaltigem Ausmaß, eine Säulenhalle von strahlendem Weiß, mit einem aufwendig gearbeiteten Altar, der bis an das golden glänzende Deckengewölbe reichte. Ich hatte aber nur Augen für die Trommel, die größer war als ein Fass und im Rhythmus der zwei glänzenden Schlägel dröhnte, mit denen ein Mönch mit kahl geschorenem Kopf, in weißer Tunika und hellgelbem Talar, sie schlug. Den Rhythmus begleitete er mit einem Sprechgesang aus Worten, deren Bedeutung ich nicht kannte.

Ich durchschritt den Tempelraum und öffnete das Tor in der niedrigen Holzabsperrung, die Altar und Trommel vom übrigen Raum trennte. Der Trommler warf mir einen überraschten Blick zu, hielt aber nicht inne, bis ich mich auf den Boden neben ihn hockte. Er ließ die Schlägel in seinem Schoß ruhen und sah mich an. Er muss Japaner sein, dachte ich.

»Wir haben dich erwartet«, sagte er dann. Er sprach Hindi – und dabei in einem sehr sanften Tonfall.

Obwohl seine Worte mich erstaunten, passten sie doch zu all den anderen höchst seltsamen Begebenheiten des Tages. Ich wagte nicht, zu fragen, was er meinte, vielleicht aus Angst, den Zauber zu zerstören oder unhöflich zu sein, oder auch aus dem unsicheren Gefühl heraus, mich in einem Universum zu bewegen, dessen Regeln ich nicht kannte. Soweit ich wusste, war dies aber die übliche Begrüßung unter solchen Leuten, und so sagte ich einfach: »Ich bin da.«

»Hast du schon gegessen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Lass mich die Gebete beenden, und dann werden wir zusammen essen.« Er hob die Schlägel, senkte sie auf das Fell der Trommel und begann wieder mit seinem gleichmäßigen und kraftvollen Sprechgesang zum Rhythmus des Trommelklangs, der mir durch Mark und Bein ging.

Währenddessen wanderten meine Augen hinüber zum Altar. Ein Baldachin aus herabhängendem Goldzierrat schwebte über einer Ansammlung von Statuen, Blumen, Lampen, Glocken und vielem mehr, das die Wand füllte. Inmitten dieser verwirrenden Vielfalt und unverkennbar ihr – wenn auch unscheinbares – Zentrum bildend, befand sich eine gerahmte Fotografie. Der betagte Mann, der von ihr aus in den Raum blickte, war derjenige, der mir so oft erschienen war.

Ja, ich war hier am rechten Ort. Es gab ihn wirklich, er war nicht nur ein Produkt meiner Fantasie. Die Vermutung lag nahe, dass er Japaner war, obwohl mir meine Träume und Visionen keinen Hinweis auf seine fremde Herkunft gegeben hatten. Jedenfalls würde ich ihm nun sicher schon sehr bald begegnen.

Es gab eine kleine Küche, in welcher der Trommler, der sich mir als Ehrwürdiger Nabatame vorstellte, Chai zubereitete. Wir saßen an einem Tisch unmittelbar vor der Küche und nahmen ein Chai-Frühstück mit Chapati und ein wenig Honig zu uns. Ich war längst am Verhungern, und so schlicht sie war, hat keine Mahlzeit mir jemals so gut gemundet.

Ich wartete darauf, dass Nabatame etwas sagen oder mir eine Frage stellen würde, aber er schien nicht zu einer Unterhaltung aufgelegt zu sein. Ich bin niemals schüchtern gewesen. Schon als Kind fiel es mir leicht, mit Fremden ins Gespräch zu kommen, etwa mich bei einem Bauern danach zu erkundigen, wie es mit der Ernte bestellt sei, so wie es ein Erwachsener tun würde. Aber es schien mir klüger, Nabatames Beispiel zu folgen und mich auf das Notwendige zu beschränken. Also sagte ich, was mir wirklich auf dem Herzen lag: »Ich würde gern hierbleiben.«

»Die Arbeiter streiken. Wenn du bleibst, musst du mir beim Saubermachen und bei den Gebeten helfen.«

»Sehr gern.«

Wir aßen rasch zu Ende, ohne dass noch ein weiteres Wort zwischen uns fiel. Auf diese Weise nahmen wir jede unserer Mahlzeiten zu uns. Unmittelbar nach dem Frühstück begannen wir mit dem Putzen. Nabatame zog sich ein T-Shirt und einen orangefarbenen Umhang über, den er in der Art eines Hemdes zusammenraffte, und dann begaben wir uns auf alle viere, um die Marmorböden mit einem feuchten Lappen abzuwischen. Wie ich später erfuhr, streikten die Arbeiter, die normalerweise die Böden säuberten, weil sie auf Dauer in den Staatsdienst übernommen werden wollten, aber der Tempel hatte nicht die Befugnis, diese Art von Arbeitsverhältnis zu vergeben. In der Auseinandersetzung sowohl mit den Arbeitern als auch mit der komplizierten Bürokratie legte Nabatame eine unerschütterliche Ruhe an den Tag, und gleichmütig erledigte er inzwischen die Putzarbeiten, solange es nötig war.

Diese Marmorböden waren nun für viele Stunden, viele Tage meine Beschäftigung. Nie zuvor hatte ich körperliche Arbeit verrichtet. Ehrlich gesagt gab es für mich auch niemals irgendwelche Pflichten im Haushalt, da wir immer Dienstboten hatten, die sich solcher Dinge annahmen. Der Reiz des Neuen, den das Wischen der Böden daher für mich hatte, verlor sich jedoch, lange bevor die Arbeit getan war, denn sie schien kein Ende zu nehmen. Trotzdem machte sie mir Spaß, und von der Makellosigkeit des strahlend weißen Marmors ging ein besonderer Zauber aus. Aber ich wollte mich in dieser Welt nicht nur nützlich machen, sondern brannte darauf, ihr anzugehören. Angespornt in meinem Eifer durch die Fotografie auf dem Altar, konnte ich es kaum erwarten, diesem Mann zu begegnen. Immer hielt ich nach ihm Ausschau, lauschte auf Schritte auf der Treppe, auf das Fahrgeräusch eines Autos, das sich dem Tor näherte. Aber er erschien während des ganzen Tages nicht. Es gab überhaupt nur wenige Menschen, die kamen und gingen.

Nach einem kurzen Mittagessen, das wiederum aus Chai, Chapati und etwas Gemüse bestand, setzten wir das Reinigen der Böden fort, bis es erneut Zeit für das Gebet war. Nabatame legte seine Gewänder an und setzte sich an die große Trommel. Ich hockte mich neben ihn, und er gab mir eine Handtrommel, auf der ich ihn begleitete. Der Rhythmus war sehr einfach, sodass ich ihn nicht erst weiter erlernen musste. Auch der Sprechgesang war sehr schlicht und bestand nur aus sieben Silben, die endlos wiederholt wurden: Namu Myōhō Renge Kyō. Nabatame gab sich Mühe, die Worte möglichst deutlich auszusprechen, bis er sich sicher war, dass ich sie richtig wiedergeben konnte.