Demenz: Das große Vergessen (GEO eBook Single) -  - E-Book

Demenz: Das große Vergessen (GEO eBook Single) E-Book

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Beschreibung

"Ein halber Held". Dieser ironische Begriff stammt von Horst Wenderoth, denn so empfindet er sich, seit ihm der Alltag entgleitet. Sein Sohn schildert berührend, was geschieht, wenn Demenz in eine Familie einbricht Die großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.

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Seitenzahl: 41

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Herausgeber:

GEO

Die Welt mit anderen Augen sehen

Gruner + Jahr AG & Co. KG, Druck- und Verlagshaus,

Am Baumwall 11, 20459 Hamburg

www.geo.de/ebooks

Inhalt

Ein halber Held

Von Andreas Wenderoth

Zusatzinfos

Was passiert, wenn der Geist streikt

Von Hanne Tügel

Was Angehörigen Mut machen kann

Von Hanne Tügel

Info-Adressen

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EIN HALBER HELD

Dieser ironische Begriff stammt von Horst Wenderoth, denn so empfindet er sich, seit ihm der Alltag entgleitet. Sein Sohn schildert berührend, was geschieht, wenn Demenz in eine Familie einbricht

Von Andreas Wenderoth

Wie geht es dir heute?

Bin ein bisschen wirrwarrig. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie ich mit dem Auto zum Arzt gekommen bin.

Der Arzt ist zu dir gekommen. Du bist nicht Auto gefahren.

Ach, der ist zu mir gekommen? Ja, welcher Arzt denn? Wie dem auch sei, ich hab mich jedenfalls ins Bett geworfen und mir gesagt, in deinem Bett ist solches Chaos, du wirst doch in Ruhe nachher mal aufräumen, zunächst mal in deinem Kopf. Das ist das Wichtigste.

An einem schneelosen Sonnabend im November 2013 verliert mein Vater sich selbst. Wir sind gegen Mittag verabredet, ich fahre nach Berlin-Lichterfelde und rufe aus der S-Bahn an. Meine Mutter ist am Telefon, aufgelöst: Der Vater sei aggressiv gegen sie. Er rede wunderlich, eigenartigerweise wünsche er, dass die Arbeiter von der Baustelle nebenan ihm seine Medizin reichten.

„Hilfe, Hilfe“, ruft er aus dem Hintergrund, meine Mutter reicht den Hörer weiter. „Papa, was ist mit dir?“ – „Ich sterbe!“ Und: „Die Mama will mich umbringen!“ Ich versuche ihn zu beruhigen. „Nein, das will sie nicht, sie möchte dir helfen. Aber du musst dir von ihr helfen lassen.“ Ich setze mich in ein Taxi, meine Mutter öffnet schließlich die Tür, ich sehe, sie hat nicht geschlafen. Sie deutet mit dem Finger nach oben. Mit angsterfüllten Augen sitzt dort mein Vater in seinem Arbeitszimmer, seltsam zusammengekrümmt auf dem alten beigefarbenen Ohrensessel, weint, als er mich sieht. Ich streichle ihm den Kopf und sage: Es ist gut. Er müsse sich nicht mehr sorgen. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Und auch er wird es ahnen.

Später bugsieren wir ihn irgendwie ins Bett. Als meine Mutter sagt, er müsse seine Position verändern, schaut er sie gereizt an. Er mag es nicht, wenn man an ihm herumzerrt.

Sein Schlaf ist unsere Erholung.

Am nächsten Morgen versucht er, im Bad das Fenster zu öffnen. Weil es ihm nicht gelingt, nimmt er seinen Spazierstock und will das Glas einschlagen. Meine Mutter versucht ihm den Stock zu entwenden. Er wehrt sich nach Leibeskräften, schafft es, das Fenster zu öffnen, und brüllt auf die Straße: „Hilfe! Meine Frau will mich umbringen!“ Passanten bleiben stehen, verfolgen die Szene. Ein Nachbar ruft die Feuerwehr.

IN DER ZWISCHENWELT

So hat es angefangen. Jedenfalls kam es uns damals so vor, weil sich die Krankheit zum ersten Mal mit Nachdruck offenbarte. In Wahrheit hatten wir ihren Beginn versäumt. Weil wir zu wenig wussten. Weil wir die Zeichen nicht gelesen hatten. Natürlich hatte es Hinweise gegeben. Zum Beispiel im Urlaub ein paar Monate zuvor, der unser letzter gemeinsamer werden sollte. Zum ersten Mal hatte mein Vater darauf verzichtet, selbst Auto zu fahren. Weil er immer wieder an seine Grenzen kam, wenn es darum ging, ein entferntes Ziel zu erreichen. Entweder verfuhr er sich hoffnungslos, oder er wusste nicht mehr, wie das Navi zu programmieren war. Er vergaß, das Licht auszumachen. Oder rechtzeitig zu tanken.

In jenen drei Wochen auf Usedom wollte er nichts tun, aber verlangte oft ängstlich nach unserer Gesellschaft. Ein Strandspaziergang? Ausgeschlossen, er könne nicht gehen. „Ich will nach Hause“, sagte er immer wieder. Sehr bald würde er nun auch zu Hause sagen, dass er nach Hause wolle. Zu Hause war für ihn kein Ort mehr, sondern eine Befindlichkeit, die er verloren hatte. Er war in sich selbst nicht mehr zu Hause. Würde sich bald mit Toten, die er im Raum wähnte, unterhalten oder von ihnen gestört fühlen. Es machte ihm Angst, wenn er seinen Freund Herbert im Zimmer stehen sah. Wir sagten ihm dann, weil wir schnell merkten, dass es in erster Linie um seine Beruhigung ging, Herbert habe sich sicher nur nach ihm erkundigen wollen. Vielleicht aber war Herbert der Vorbote eines Reiches, das bereits nach meinem Vater gerufen hatte. Auf der Erde war er nicht mehr hinreichend verwurzelt, aber noch hatte er zu viel Kraft, sie zu verlassen. Er bewegte sich in einer Zwischenwelt, voller Ängste und Irritationen.