Demokratisierung von Organisationen – Erfolgsmodell Schweiz - Ralph Höfliger - E-Book

Demokratisierung von Organisationen – Erfolgsmodell Schweiz E-Book

Ralph Höfliger

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Beschreibung

Direkte Demokratie hat aus dem Armenhaus Europas das beste Land der Welt gemacht. In 14 Metriken ist die Schweiz weltführend oder nahe daran. Das Governance-System der Schweiz gilt als bestes der Welt. Kein anderes Land vereint die Aspekte Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Anpassungsfähigkeit besser. Wirtschaftsorganisationen sollten davon lernen. Direkte Demokratie nutzt das Potenzial aller Mitarbeitenden und erhöht die Selbstadaptionsfähigkeit, Resilienz, Agilität und Innovationskraft der Organisation. Direkte Demokratie befähigt Organisationen, sich laufend an sich verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Ralph Höfliger zeigt in diesem Buch anschaulich und unterstützt vom Denkpinsel® Michael Meier, welches die wichtigsten Elemente des Schweizer Governance-Systems sind, wie jedes Element wirkt und wie es in eine Wirtschaftsorganisation übertragen und dort genutzt werden kann. Im zweiten Teil zeigt er anhand eines Praxisbeispiels auf, wie ein mehrjähriger Demokratisierungsprozess konkret ausschauen kann. Damit leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, Organisationen attraktiv, agil und zukunftsfähig zu machen. Es führt kein Weg an Demokratisierung vorbei, wollen Organisationen in der VUCA-Welt überleben.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Versus Verlag AG, Zürich

Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter www.versus.ch

Zeichnungen: Michael Meier, Denkpinsel®

Herstellung: Versus Verlag Zürich

Print ISBN 978-3-03909-314-4

E-Book ISBN 978-3-03909-794-4

Gewidmet meinen Töchtern Sara und Lea und meinemFreund Kuno Hämisegger, einem grossen Kenner undVerehrer der direkten Demokratie der Schweiz.

Inhaltsverzeichnis

I.Einführung

A.Eine bemerkenswerte Kluft

B.Wie entstand dieses Buch?

C.Wozu dieses Buch?

D.Warum jetzt?

E.Die Zielgruppe

F.Wie ist das Buch aufgebaut?

II.Die Schweiz: Ein Erfolgsmodell?

A.Das beste Land der Welt

B.Eine Staatsordnung als Modell für wirtschaftliche Organisationen?

C.Mythen aufklären

III.Die wichtigsten Elemente der direkten Demokratie und ihre Übertragung auf Wirtschaftsorganisationen

A.Kollegialitätsprinzip

B.Initiative

C.Referendum

D.Gewaltenteilung

E.Verfassung

F.Konkordanz

G.Partizipative Entscheidungsfindung

H.Subsidiaritätsprinzip, Föderalismus

I.Vernehmlassung, Konsultation der Stakeholder

J.Repräsentanten und Parteien

K.Fraktal skalierbare Organisationsstruktur

L.Notrecht, wenn es eilt

M.Das Fundament - kulturelle Werte

IV.Praxisbeispiel - Demokratisierung einer Wirtschaftsorganisation

A.Einleitung

B.Die Firma

C.Ausgangslage und Absicht

D.Der Transformationsprozess

E.Die grössten Herausforderungen auf dem Weg

F.Resultat, Wirkungen und Nutzen der Transformation

G.Interviews mit dem ehemaligen Inhaber und drei Nachfolgern

V.Danksagung

VI.Autor und Illustrator

A.Der Autor

B.Der Illustrator

VII.Fussnoten

I.Einführung

A.Eine bemerkenswerte Kluft

«Es herrscht eine bemerkenswerte Kluft in der Schweiz.

Eine Wahrnehmungs- und Denkkluft. Während das Land im Wesentlichen ohne einen Führer auskommt und es damit schafft, seit vielen Jahren in allen wesentlichen Standards die Welt anzuführen – Wohlstand, Lebensqualität, ökonomische Wettbewerbskraft, Sicherheit, Freiheit, Transparenz der Regierung und anderen mehr, und ein in einer komplexen, vernetzen, unvorhersehbaren Welt höchst anpassungsfähiges, agiles Land ist – glaubt man in recht krassem Gegensatz dazu in der Wirtschaft landläufig, eine erfolgreiche Organisation sei, in Anlehnung an alte feudalistische Zeiten, eine Machthierarchie mit klaren top-down Entscheidungs- und Befehlsstrukturen.»

Kuno Hämisegger, Februar 2018.

B.Wie entstand dieses Buch?

Die Geburtsstunde dieses Buches war jener Abend, als ich in einem gemütlichen Restaurant in Bern meinem Freund Kuno Hämisegger vom Engagement und der Lebendigkeit erzählte, die entsteht, wenn in Organisationen eine Governance eingeführt wird, die Freiheit und Selbstverantwortung fördert. Kuno war Assistent eines Bundesrates und leitete danach viele Jahre Public Affairs der Schweizerischen Bankiervereinigung. Er war deshalb hervorragend vertraut mit den Stärken und Schwächen des Regierungssystems Schweiz. Als ich ihm über die neuen Organisationsmodelle «jenseits der Machthierarchie» erzählte, die sich in Wirtschaftsorganisationen immer mehr ausbreiten, wie Soziokratie, Holakratie, Responsive Org, Teal, S3, kollegiale Führung, etc., ihm darlegte, weshalb und wie ein hoher Selbstorganisationsgrad eine Organisation agiler und resilienter macht, und erklärte, wie dadurch auch Innovationskraft, Produktivität und Attraktivität für die Mitarbeitenden steigen, sagte er nach einer Weile nachdenklich: «Hmm, solch ein System haben wir doch schon lange in der Schweiz, schon seit über 170 Jahren! Es funktioniert hervorragend und hat aus dem Armenhaus Europas das beste Land der Welt gemacht. Wieso wird das Rad neu erfunden?».

Diese Aussage elektrisierte mich. Wir begannen herauszuschälen, welches die wesentlichen Elemente dieses genialen Regierungssystems sind. Begeisterung entstand, als wir erkannten, wie wenige Elemente es eigentlich sind, die das System konstituieren, und wie einfach es im Grunde genommen aufgebaut ist und funktioniert. Ganz nach Albert Einstein’s Spruch: «Alles Geniale ist einfach!».

Am Ende des Abends war klar: Das müssen wir aufschreiben! Das muss grossflächig bekannt gemacht werden!

C.Wozu dieses Buch?

Die direkte Demokratie der Schweiz entstand aus dem urmenschlichen Bedürfnis nach Freiheit als Antwort auf die ausbeuterische feudalistische Machtherrschaft der Habsburger.

Freiheit mobilisiert Lebensenergie, Kreativität, Ideenvielfalt und Engagement und erweitert das Bewusstsein. Denn wer Freiheit hat, hat die Wahl. Wenn man die Wahl hat, muss man wissen, was man will. Wenn man herausfindet, was man will, erweitert man das eigene Bewusstsein, ein Bewusstsein jenseits des «Autopilots» und konditionierter Idealbilder, ein Bewusstsein über das, was Mensch wirklich will.

Direkte Demokratie ist die Freiheit und Verantwortung, das eigene Paradies zu erschaffen.

Diese Freiheit und diese Eigenverantwortung – in dem System, in dem man lebt und arbeitet, das Paradies zu erschaffen – möchte dieses Buch in die Welt bringen und so zu einer besseren Welt beitragen.

Freiheit führt deshalb zu erhöhter Eigenverantwortung und Verbundenheit mit dem System, in dem man lebt, weil man erkennt, dass man «niemandem die Schuld für die eigene Misere» geben kann.1

Freiheitsentzug führt zum Gegenteil: Die Menschen distanzieren sich, kümmern sich nur noch um ihre eigenen Dinge und geben dem Umfeld die Schuld für ihr Leiden.

In der direkten Demokratie haben alle Bürgerinnen und Bürger2 die Freiheit und Möglichkeit, beim Erkennen eines Problems oder einer Chance mittels einer Initiative eine entsprechende Veränderung zu initiieren, die bei genügend Gefolgschaft auch umgesetzt wird. Somit sind alle potenzielle «Change Agents», Agenten des Wandels, Mitgestalter und Optimierer des eigenen Systems: der Strukturen und Regeln, die das eigene Leben entscheidend prägen.

Die meisten Unternehmen und Organisationen sind heute jedoch immer noch mittelalterlich post-feudalistisch organisiert.

Im Kern einer feudalistischen Governance liegt die Trennung von Entscheiden und Handeln. «Oben» wird nachgedacht, entschieden und geplant, «unten» wird ausgeführt. Diese Trennung führt dazu, dass ein Grossteil der im Betrieb vorhandenen Ressourcen nicht genutzt oder gar verschleudert werden. Folgende kleine Geschichte dazu:

Petra beobachtet zwei Strassenarbeiter. Der eine hebt ein Loch aus, der andere schüttet es wieder zu. «Um Gottes Willen, was machen Sie denn da?!?», fragt sie die beiden erstaunt. Diese antworten: «Unser Kollege, der den Baum einpflanzt, ist krank und unsere Chefin den ganzen Tag in Sitzungen.»

Können wir noch länger auf das Engagement und Bewusstsein all der Menschen verzichten, die durch ein post-feudalistisches System gezwungen werden, das Denken auszuschalten und blind den Anweisungen von oben zu folgen? Können wir uns noch erlauben, dass einige Wenige an der Spitze einer Machthierarchie denken und entscheiden, und die grosse Masse im Autopilot-Modus tut, was befohlen wird und über die Zustände wehklagt und lästert, anstatt mitzudenken und sich für das grössere Ganze zu engagieren? Können wir uns diese grossflächige Unbewusstheit in unseren Organisationen noch länger leisten?

Die Einladung an die geschätzten Leser dieses Buches ist, die Governance der direkt-demokratischen Schweiz als Erfolgsmodell für moderne Wirtschaftsorganisationen zu betrachten und den Blick zu wagen, ob, was und wie man von diesem Erfolgsmodell lernen kann.

Dabei wird Demokratisierung nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel und Weg verstanden, den Sinn und Zweck einer Organisation – die Wertschöpfung – erfolgreicher und nachhaltiger zu erfüllen in einer Zeit, die geprägt ist von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität und Ansprüchen der Mitarbeitenden, die weit über das reine Geldverdienen hinausgehen.

Weiter ist die Absicht dieses Buches aufzuzeigen, wie die Einführung der direkten Demokratie in Wirtschaftsorganisationen die Grundwerte Freiheit, Selbstverantwortung, Bewusstsein und Engagement für das System, in dem man lebt, und damit grundsätzlich nachhaltiges Denken und Handeln fördert – etwas, was die Welt angesichts der aktuellen Herausforderungen dringend braucht.

Bei KMUs gibt es bereits viele erfolgreiche Beispiele demokratisch geführter Organisationen3. Aus der Tatsache, dass es noch keine Grossunternehmen mit direkt-demokratischer Governance gibt, könnte man irrtümlicherweise schliessen, dass direkte Demokratie nur in überblickbaren KMUs funktioniert. Dieses Buch zeigt auf, dass direkte Demokratie auch in grossen Organisationen funktioniert (und gemeint ist wirklich gross: Die «Organisation Schweiz» hat 8.5 Mio. Mitglieder!), und wie sie schrittweise eingeführt werden kann.

D.Warum jetzt?

Disruptiver Wandel ist zur Normalität geworden, nicht erst seit Covid-19. Die Globalisierung verbreitete ein Virus in Monatsfrist um die ganze Welt und beschleunigte den disruptiven Wandel, den bereits die Digitalisierung in die Welt brachte.

Wer hätte sich noch vor wenigen Jahren vorstellen können, dass das grösste Taxiunternehmen keine Autos besitzt (Uber)? Das grösste Film-Unternehmen keine Kinos (Netflix)? Das grösste Unternehmen für die Bereitstellung von temporären Unterkünften keine Hotels und Ferienhäuser (Airbnb)?

Feudalistische Machthierarchien mögen zielführend gewesen sein zur Zeit der grossen Heere und Schlachtfelder: Dort mag es genügt haben, wenn der General auf dem Hügel den Überblick hatte (das Bewusstsein über das System), seine Strategie entwarf und Befehle erteilte. Ähnliche Verhältnisse gab es zur Zeit der Industrialisierung, aus welcher die hierarchischen Organisationsformen stammen: Märkte und Technologien waren überschaubar.

In Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity – VUCA) hat jedoch niemand mehr den Überblick.

In der VUCA-Welt versagen Einzelkämpfertum, postheorisches Management und Machthierarchie. VUCA erfordert Bewusstheit, Intelligenz und Engagement Vieler für nachhaltige Lösungen. Und genau dies leistet die direkte Demokratie4, genau dies fördert dieses Buch.

Direkte Demokratie stärkt Agilität und Resilienz und damit die VUCA-Fähigkeit einer Organisation.

Agilität und Resilienz entstehen, wenn ein System in der Lage ist, sich an verändernde Umweltbedingungen rasch anzupassen. Dazu muss es sich selbst, d.h. die Art und Weise wie es funktioniert, verändern können («State Management»). Es muss Strukturen und Prozesse besitzen, die AM System arbeiten. Ein agiles System kennt und nutzt deshalb die Unterscheidung von Arbeit IM System versus Arbeit AM System.

Arbeit IM System ist System erhaltend, sichert die kurzfristige Existenz («survival system»), wird geführt vom operativen Management, der EXEKUTIVE.

Arbeit AM System ist System transformierend, sichert die langfristige Existenz («advancement system»), wird geführt von der strategischen Führung, der LEGISLATIVE.

Arbeit IM System ist oft nicht simpel, aber meistens relative einfach im Verhältnis zur Arbeit AM System, die fast immer komplex ist.

Einfache, komplizierte und komplexe Systeme unterscheiden sich fundamental voneinander. Komplexe Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass eine hohe Unsicherheit, Volatilität und Unvorhersehbarkeit vorherrscht bei gleichzeitig hoher Varietät (viele Elemente, die vielfältig miteinander vernetzt sind). Solche Systeme sind prinzipiell nicht steuerbar, da keine fixe Koppelung von Ursache und Wirkung vorliegt. Sie sind auch nicht regulierbar, da Regulation bedingt, dass alle Systemzustände im Regelwerk abgebildet sind5, was bei einer hohen Varietät aber nicht mehr möglich ist.

Die geeignete Governance für ein komplexes System ist die Selbstorganisation.

Das Führungsparadigma in Selbstorganisation ist «vernetze und ermächtige» – das Gegenteil von «command & control» bzw. «teile und herrsche»!

Direkte Demokratie trägt auf geniale Weise genau diesen Zusammenhängen Rechnung. Sie ermöglicht zwei unterschiedliche Systeme: Regelung und Hierarchie für Arbeit IM System, die Exekutive, und Selbstorganisation für Arbeit AM System, die Legislative.

Dieses Buch möchte diesen wichtigen Unterschied aufzeigen und die bewährte, erfolgreiche Governance der direkten Demokratie der Schweiz in Wirtschaftsorganisationen bringen. Die Absicht ist, sie agiler, resilienter und attraktiver für Mitarbeitende zu machen, damit sie auch in einer disruptiven, volatilen und unsicheren Welt überleben.

In der CEO Studie «Unternehmensführung in einer komplexen Welt» schrieb IBM bereits 2010: «Die Komplexität wird künftig weiter zunehmen, und mehr als die Hälfte der CEOs hat Zweifel, ob sie diese Komplexität beherrschen können. […] 79 Prozent der CEOs rechnen damit, dass die Welt noch komplexer wird.»6 Seither ist ein Jahrzehnt vergangen, und wir können sagen, dass die Voraussage zutrifft. Und alles weist darauf hin, dass dies erst der Anfang ist.

Und nicht nur das Umfeld ist komplexer geworden, sondern auch die Organisationen selbst. Eine Analyse der Boston Consulting Group, ebenso aus dem Jahr 2010, errechnete, dass Organisationen in den letzten 55 Jahren 35-mal komplizierter und sechsmal komplexer geworden sind.7

Auch dieser Trend der Verkomplizierung hat sich in den letzten zehn Jahren durch die Regulatorien weiter verschärft.

Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich an der Führungskultur und den Machtstrukturen in all dieser Zeit wenig geändert hat. Man führt Organisationen immer noch mehrheitlich nach dem gleichen Paradigma wie vor 100 Jahren. Das Paradigma heisst: «Teile und regle». Aber Regulierung führt bei hoher Komplexität direkt in die Sackgasse, denn Regulierung erhöht die Kompliziertheit des Systems und verschärft damit das Problem, das sie zu lösen versucht. «Teile» ist genauso wenig zielführend, weil die erhöhte Aussenvernetzung durch Globalisierung und Digitalisierung intern abgebildet werden muss, damit die Organisation sie verarbeiten kann. «Teile» verhindert genau diese notwendige interne Vernetzung.

Das Gesetz der erforderlichen Varietät (engl. Law of Requisite Variety) gehört zu den zentralen Erkenntnissen der Kybernetik. Es wurde von W. R. Ashby formuliert und wird daher auch Ashby’s Law genannt.8 Das Gesetz lautet: «Die Varietät eines Steuerungssystems muss mindestens ebenso gross sein wie die Varietät der auftretenden Störungen, damit es Steuerung ausführen kann.»

Die Varietät einer Machthierarchie ist verhältnismässig klein, denn es ist geradezu ihr Zweck, die Varietät zu verringern, um dadurch Vorhersehbarkeit zu gewährleisten. Dies geschieht nach dem Leitsatz von «teile und regle»: Durch Abteilungen und Departemente wird die Organisation in kleinere Einheiten eingeteilt und verwaltet («gemanaged»). Dies ist zielführend, solange die äussere Varietät tief ist. Ist diese aber hoch wie in der VUCA-Welt, dann versagt ein solch gesteuertes System, weil es die erforderliche Varietät intern nicht aufbringt. Mikropolitik und Symptombekämpfungen sind die Folgen.

Diese Gefahr wurde schon in den 70er Jahren erkannt9 und man versuchte, die Binnenvarietät durch die Einführung der Matrixorganisation zu erhöhen (zwei Vorgesetzte). Später wurde sie nochmals erhöht, indem über die Matrix noch eine Projektorganisation gelegt wurde (drei Vorgesetzte). Jeder, der in einer solchen Organisation gearbeitet hat, kann ein Lied über die Nachteile einer solch komplizierten Struktur singen.

Demokratisierung ist der viel elegantere und einfachere Weg, die Binnenvarietät zu erhöhen und damit die Fähigkeit zu stärken, hohe Aussenvarietät zu verarbeiten.

Es braucht ein neues Paradigma, um in der VUCA-Welt zu überleben. Das Gegenteil von «teilen» ist «vernetzen», Verbundenheit. Das Gegenteil von «regeln» ist «ermächtigen», Selbstverantwortung. Ein VUCA taugliches Führungsparadigma muss also heissen «vernetze und ermächtige»!

Dies bedeutet nicht, das Kind mit dem Bad auszuschütten. «Teile und herrsche/regle» hat auch in der VUCA-Welt durchaus seine Existenzberechtigung, denn obwohl die Welt immer volatiler, unsicherer, komplexer und ambiger wird, gibt es immer Aufgaben und Kontexte, die Nicht-VUCA sind, sprich relativ stabil, vorhersehbar, einfach und eindeutig. Für solche Aufgaben und Kontexte ist «teile und regle» nach wie vor ein hilfreiches und zielführendes Führungs- und Organisationsparadigma.

Es geht also nicht darum, «teile und regle» zu ersetzen, sondern mit «vernetze und ermächtige» zu ergänzen. Und genau dieses Sowohl-als-auch ermöglicht die direkte Demokratie: Selbstorganisierende, dem Paradigma «vernetze und ermächtige» folgende Netzwerke in der Legislative und gemäss «teile und regle» funktionierende Hierarchien in der Exekutive. Darauf wird detailliert im Kapitel Gewaltenteilung eingegangen.

Bewusst zu machen, dass direkte Demokratie genau dieses Sowohl-als-auch nutzt, ist Absicht dieses Buches. Es zeigt auf, dass es ein wohl erprobtes und sehr erfolgreiches Führungs- und Organisationssystem gibt, das in der VUCA-Welt ausserordentlich gut funktioniert, gerade weil es beide Paradigmen, «teile und regle» und «vernetze und ermächtige», in sich vereint: die direkte Demokratie der Schweiz.

Zusammengefasst ist die Absicht dieses Buches aufzuzeigen, wie direkte Demokratie in Wirtschaftsorganisationen eingeführt werden und funktionieren kann, um sie zu befähigen, erfolgreicher in der VUCA-Welt zu operieren, indem das Potenzial der Menschen freigesetzt und das Bewusstsein und Engagement gefördert wird für die Gestaltung der eigenen Organisation, ganz nach dem Motto: Direkte Demokratie ist die Freiheit und Verantwortung, das eigene Paradies zu erschaffen.

E.Die Zielgruppe

Das Buch richtet sich an alle, die an «New Work», an Kulturtransformation in der Arbeitswelt, an Organisationsentwicklung und Design neuer Governance Systeme interessiert sind.

Insbesondere werden Systemgestalter, Führungskräfte und Berater profitieren, die auf der Suche sind nach Organisationskulturen, Strukturen und Prozessen, die besser als postfeudalistische Machthierarchien geeignet sind, die heutigen Herausforderungen zu meistern, und die attraktiver sind für die neue Generation Mitarbeitender und deren Ansprüche an sinnvolle Arbeit, Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme.

F.Wie ist das Buch aufgebaut?

1.Zuerst wird geprüft, ob sich die Schweiz wirklich als Erfolgsmodell für Unternehmen und Organisationen eignet. Was ist Erfolg? Für wen? Wie messen wir Erfolg? Wie können wir sicher sein, dass der Erfolg der Schweiz auf sein Betriebssystem und nicht auf andere Faktoren zurückzuführen ist? Zudem, ein Staat ist kein Unternehmen: Wo liegen die Grenzen der Übertragbarkeit eines Staatssystems auf wirtschaftliche Organisationen?

2.Anschliessend werden einige Mythen über Demokratie aufgeklärt, z.B. dass direkte Demokratie bedeute, dass alle überall mitreden können. Oder dass sie langsam sei. Oder dass in ihr keine Hierarchien und keine Führung existieren.

3.Im Hauptteil werden die Kernelemente der direkten Demokratie untersucht. Für jedes der folgenden Kernelemente der direkt-demokratisch organisierten Schweiz wird untersucht: Was ist es (Definition) und wie funktioniert es? Was ist der Nutzen davon? Kritik? Wie lässt es sich auf eine Wirtschaftsorganisation übertragen? Wie einführen?

A.Kollegialitätsprinzip

B.Initiative

C.Referendum

D.Gewaltenteilung

E.Verfassung

F.Konkordanz

G.Partizipative Entscheidungsfindung

H.Subsidiaritätsprinzip, Föderalismus

I.Vernehmlassung, Konsultation der Stakeholder

J.Repräsentanten und Parteien

K.Fraktal skalierbare Organisationsstruktur

L.Notrecht, wenn es eilt

M.Das Fundament: Kulturelle Werte

4.Zum Schluss wird der Transformationsprozess von einer post-feudalistisch hin zu einer demokratisch geführten Wirtschaftsorganisation an einem Praxisbeispiel illustriert: 30 Architekten übernehmen die Firma vom Gründer und Inhaber in direkt-demokratischer Governance. Es wird beleuchtet: Ausgangslage und Absicht, der Transformationsprozess, die Herausforderungen und Erfolgsfaktoren auf dem Weg und das Resultat, die Wirkungen, der Nutzen heute. Interviews mit dem ehemaligen Inhaber und den Nachfolgern runden das Buch ab.

II.Die Schweiz: Ein Erfolgsmodell?

A.Das beste Land der Welt

1.Was ist für wen Erfolg?

Erfolg ist das, was auf Handlungen «er-folgt». Handlungen sind in aller Regel auf implizite oder explizite Ziele ausgerichtet. Was Erfolg ist, bestimmt deshalb immer der Handelnde selbst auf Basis von bewussten oder unbewussten Erfolgsindikatoren. Wird beispielsweise ein persönliches Ziel «schlanker werden» formuliert, wäre ein Erfolgsindikator dafür eine entsprechende Reduzierung des Körpergewichts und/oder Bauchumfangs.

Was sind Ziele und Erfolgsindikatoren eines Landes, einer Staatsordnung?

Die Urschweiz wurde als Antwort auf die feudalistischen Machtansprüche der Habsburger gegründet. Dabei ging es primär um Freiheit und Sicherheit. Möglicherweise ist dieses Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit das Kerndilemma jeder Staatsordnung, denn meistens erhalten wir das eine nur auf Kosten des anderen: Wird versucht, mit vielen Regeln die Sicherheit zu erhöhen, verringert dies die individuelle Freiheit.

Erfolg in diesem Sinne wäre also, wenn es gelingt, maximale Freiheit mit maximaler Sicherheit zu kombinieren.

Die Schweiz gilt als eines der sichersten Länder der Welt, und zwar sowohl gegen aussen – seit der Gründung des Bundesstaates 1848 unversehrt von Krieg – als auch nach innen – mit einer im internationalen Vergleich sehr tiefen Kriminalitätsrate. Gleichzeitig dürften sich die meisten Schweizer als ausgesprochen frei bezeichnen. Bezüglich dieses Spannungsfelds ist die Schweiz also bereits als erfolgreich zu bewerten.

2.Wer misst wie den Erfolg der Schweiz?

Nach dem Motto «trau keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast!» liegt es nahe, selbst auf die Suche nach Erfolgsindikatoren für das System Schweiz zu gehen. Google macht das leicht und siehe da, der Erfolgsmeldungen sind viele:

«Die Schweiz ist das wettbewerbsfähigste Land der Welt» titelt SRF News10: «Die Schweiz baut ihre Siegesserie aus: Zum achten Mal hintereinander ist sie das wettbewerbsfähigste Land der Welt, wie die alljährliche Studie des WEF feststellt. Dahinter folgen Singapur und die USA. Spitze sei die Schweiz bei der Effizienz des Arbeitsmarkts, beim direkten Geschäftsumfeld und den Geschäftsmodellen von Unternehmen, bei der Innovation sowie zum ersten Mal bei der technologischen Bereitschaft. Die Schweiz habe wohl eines der fruchtbarsten Innovationsökosysteme, hielt das WEF fest. […] Auch das politische System und die Infrastruktur seien förderlich, die Hochschulen und Universitäten seien herausragend. Gleichzeitig vermöge die Schweiz die besten Talente anzuziehen. Vorteile seien auch die zahlreichen Grosskonzerne, das dichte Netz an KMU sowie die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.»

«Die Schweiz belegt Spitzenplatz bei Standortqualität» titelt punkt411: «Die Schweiz belegt den ersten Platz in der Rangliste zur Standortqualität von IW Consult12. Zu ihren Stärken gehören starkes Humankapital sowie gute institutionelle Rahmenbedingungen.»

«Die Schweiz belegt den Spitzenplatz» titelt die Neue Zürcher Zeitung: «In einem Tourismusvergleich des WEF unter 133 Ländern belegt die Schweiz den Spitzenplatz. Ins Gewicht fällt insbesondere das gut ausgebaute Verkehrsnetz. Sehr gut bewertet wurde auch die Infrastruktur. Auf den weiteren Podestplätzen folgen Österreich und Deutschland.»13

«Schweiz belegt Spitzenplatz bei der Breitbandabdeckung» titelt Computerworld: «99 Prozent der Schweizer Haushalte verfügen über einen Internetanschluss mit einer Bandbreite von mindestens 30 Megabit pro Sekunde. Das sei ein internationaler Spitzenwert, schreibt Suissedigital.»14

«EHCI: Schweiz belegt Spitzenplatz» titelt AEH: «Wie bereits im Jahr 2013 belegt die Schweiz im diesjährigen Euro Health Consumer Index den zweiten Rang unter 36 europäischen Ländern. Die Schweiz wird als äusserst patientenfreundlich wahrgenommen und ist bezüglich Zugänglichkeit in allen Bereichen hoch bewertet.»15

«Das sind die besten Unis der Welt – eine Schweizer Hochschule verteidigt Spitzenplatz in den Top 10» titelt das Tagblatt: «Letztes Jahr stieg die ETH einen Rang auf. Nun verteidigt die Zürcher Hochschule Platz sechs im neuesten QS World University Rankings. Die EPFL Lausanne macht vier Ränge wett und liegt nun auf Platz 14.»16

«Im internationalen Vergleich belegen Schweizer KMU einen Spitzenplatz» titelt das KMU Portal des WBFG: «Im internationalen Vergleich belegen Schweizer KMU […] einen Spitzenplatz. Die vergleichsweise hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hiesiger KMUs widerspiegelt sich in den durch KMU neugeschaffenen Stellen. Diese weisen häufiger als in anderen Ländern überdurchschnittliche Saläre auf.»17

«Schweiz ist das innovativste Land in Europa» titelt M-Q: «Im diesjährigen European Innovation Scoreboard der EU-Kommission belegt die Schweiz erneut den Spitzenplatz. Punkten kann sie unter anderem mit ihrer Forschungsinfrastruktur und ihrem Humankapital.»18

«Die Schweiz hat beim weltweiten Kampf um Fachkräfte weiter die Nase vorn, zeigt eine IMD-Studie» titelt die Handelszeitung: «In der Vergleichsstudie World Talent Ranking der Businessschule IMD Lausanne behauptete die Schweiz auch in der Ausgabe 2019 ihren Spitzenplatz vor Dänemark und Schweden.»19

Also auch dieser heuristische Weg legt nahe, dass die Schweiz als Erfolgsmodell dienen kann.

Eine andere Möglichkeit, den Erfolg der Schweiz zu beurteilen, ist die Nutzung einer breit abgestützten Informationsquelle. Dazu bietet sich Wikipedia an, die freie, kollektiv erstellte Online-Enzyklopädie. Was schreibt die umfassendste Version davon, die englischsprachige, zur Schweiz?

«The sovereign state is one of the most developed countries in the world, with the highest nominal wealth per adult and the eighth-highest per capita gross domestic product. It ranks at or near the top in several international metrics, including economic competitiveness and human development. Zürich, Geneva and Basel have been ranked among the top ten cities in the world in terms of quality of life, with Zürich ranked second globally. In 2019, IMD placed Switzerland first in attracting skilled workers. World Economic Forum ranks it the 5th most competitive country globally.»20

Den umfassendsten Nachweis für den Erfolg der Schweiz liefert allerdings der «Best Country Report» welche das Medienunternehmens U.S. News, das Beratungsunternehmen Y&R's BAV zusammen mit der Wirtschaftshochschule Wharton School der Universität Pennsylvania jedes Jahr auf Basis einer Befragung von 21'000 Menschen weltweit erstellt. Die Schweiz hat in der Gesamtwertung die besten Werte erreicht und belegt damit zum dritten Mal in Folge den ersten Platz. «Switzerland Continues its Reign at the Top of the 2020 Best Countries Report» schreibt US-News.21

Die gewichteten Dimensionen dieser Befragung mit ihren Unterkategorien sind:

Adventure (2%): friendly, fun, pleasant climate, scenic, sexy.

Citizenship (15.88%): cares about human rights, cares about the environment, gender equality, progressive, religious freedom, respects property rights, trustworthy, welldistributed political power.

Cultural Influence (12.96%): culturally significant in terms of entertainment, fashionable, happy, has an influential culture, modern, prestigious, trendy.

Entrepreneurship (17.87%): connected to the rest of the world, educated population, entrepreneurial, innovative, provides easy access to capital, skilled labor force, technological expertise, transparent business practices, well-developed infrastructure, well-developed legal framework.

Heritage (1.13%): culturally accessible, has a rich history, has great food, many cultural attractions.

Movers (14.36%): different, distinctive, dynamic, unique.

Open for Business (11.08%): not bureaucratic, cheap manufacturing costs, not corrupt, favorable tax environment, transparent government practices.

Power (7.95%): a leader, economically influential, politically influential, strong international alliances, and a strong military.

Quality of Life (16.77%): a good job market, affordable, economically stable, family friendly, income equality, politically stable, safe, well-developed public education system, well-developed public health system.

In Bezug auf Erfolg kann damit wohl bestätigt werden, dass die Schweiz als Erfolgsmodell dienen kann.

Die andere Frage ist, ob sie auch als Modell dienen kann.

B.Eine Staatsordnung als Modell für wirtschaftliche Organisationen?

Ob etwas als Modell dienen kann, ist eine Frage der Übertragbarkeit. Inwieweit kann eine Staatsordnung auf eine Wirtschaftsorganisation übertragen werden? Um diese Frage zu beantworten werden zuerst Gemeinsamkeiten und Unterschiede betrachtet und daraus die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit abgeleitet.

1.