Den Kaiser herausfordern - Egon Flaig - E-Book

Den Kaiser herausfordern E-Book

Egon Flaig

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Beschreibung

Im Römischen Reich kam es gelegentlich zu Usurpationen, dabei wurde der Kaiser herausgefordert und gestürzt. Im 1. Jahrhundert gelangten auf diese Weise Galba, Otho, Vitellius und Vespasian zur Macht. Kein Phänomen beleuchtet das Funktionieren dieser Monarchie so gut wie solche Fälle extremer politischer Krisen. In ihnen kommen die Bedingungen der Akzeptanz und die Strukturen der Herrschaft jäh zum Vorschein. Mithilfe von Diskursanalyse, Politischer Anthropologie und Historischer Soziologie entwirft Egon Flaig in seinem Standardwerk eine eigene Theorie des politischen Systems im Römischen Reich und leistet damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Politischen.

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Egon Flaig

Den Kaiser herausfordern

Die Usurpation im Römischen Reich

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Im Römischen Reich kam es gelegentlich zu Usurpationen, dabei wurde der Kaiser herausgefordert und gestürzt. Im 1. Jahrhundert gelangten auf diese Weise Galba, Otho, Vitellius und Vespasian zur Macht. Kein Phänomen beleuchtet das Funktionieren dieser Monarchie so gut wie solche Fälle extremer politischer Krisen. In ihnen kommen die Bedingungen der Akzeptanz und die Strukturen der Herrschaft jäh zum Vorschein. Mithilfe von Diskursanalyse, Politischer Anthropologie und Historischer Soziologie entwirft Egon Flaig in seinem Standardwerk eine eigene Theorie des politischen Systems im Römischen Reich und leistet damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Politischen.

Vita

Egon Flaig ist emeritierter Professor für Alte Geschichte an der Universität Rostock.

Inhalt

Vorwort zur neuen Fassung

Methodische Einleitung: Die Unordnung des Diskurses. Zur Konstruktion von Historie

1. Wissenschaftlich konstruieren – eine knappe Rechtfertigung

2. Historiographische Texte und ihre Diskurse

3. Imaginäres und Handlungswissen – zum Selbstverständnis von Gruppen

4. Praxeologische Historie – und darüber hinaus

1. Die Akzeptanzmonarchie

1.1 Staat und Staatlichkeit – zur Anwendbarkeit der Begriffe

1.2 Der Prinzipat – eine fest institutionalisierte Monarchie

1.2.1 Das kollektive Gedächtnis – ausgerichtet auf die neue Monarchie

1.2.2 Der Senat und die Monarchie. Zum SC Pisonianum

1.3 Monarchien nach Typen sortieren

1.4 Der ›historische Pakt‹ des Prinzipates

2. Der unablässige Konsens. Kaiser und Plebs urbana

2.1 Politische Eintracht trotz sozialer Heterogenität?

2.2 Entpolitisierung? Ludi und politische Symbolik

2.3 Trennlinien disziplinieren die Aristokratie

2.4 Ritual und Politisierung. Für eine Kulturgeschichte des Politischen

2.5 Normenkonsens und politisierte Themen

2.6 Politische Semiurgie und verweigerter Gehorsam

2.7 Das Nahverhältnis zwischen Kaiser und Plebs

2.8 Modus der Politisierung und ritualisierter Konsens

2.9 Gestörte Kommunikation und Stile des Herrschens

3. Der herrschende Stand im Römischen Reich. Princeps und Senatorenschaft

3.1 Elitenzirkulation und Normkonformität

3.2 Verwalten im aristokratischen Modus

3.3 Die politischen Grenzen von Klientel und Patronage

3.3.1 Die maßgebliche Schwelle: Politische Loyalität

3.3.2 Makler-Patronage mit überforderten Kapazitäten

3.4 Senatorische Konkurrenz und Feindschaften im Senat

3.5 Die Fähigkeit zum Entscheiden geht verloren

3.6 Standesehre und Kaisernähe

3.7 Der Senat konnte niemals den Kaiser wählen

4. Roms Militär. Der Imperator und sein Heer

4.1 Der militärische Apparat – eine totale Organisation

4.2 Hohe Selektivität – intensive Sozialisierung

4.3 Sozialer Status gegen politische Ehrenstellung

4.4 Amateure kommandieren eine professionelle Armee

4.5 Naher Legat und ferner Kaiser. Patronage im Heer?

4.5.1 Affektive Nähe als politisches Erfordernis

4.5.2 Die Loyalität gehört dem Kaiser

4.5.3 Der Imperator und sein Heer: Symbolische Interaktion

4.6 Der politische Charakter des Heeres

4.6.1 Keine Söldnerarmee

4.6.2 Keine Heeresklientel

5. Legitimität und Akzeptanzverlust

5.1 Kollidierende Gehorsamsmodalitäten und unzulängliches Staatsrecht

5.2 Auf der Suche nach der verlorenen Legitimität

5.3 Mommsens Theorie des gewaltsamen Kaiserwechsels im Römischen Reich

5.3.1 Eine Autokratie, temperiert durch die rechtlich permanente Revolution

5.3.2 Was bedeutet Mommsens Begriff ›Dyarchie‹?

5.3.3 Ergebnisse und Folgerungen

5.4 Von der Kritik zur Heuristik

5.5 Die ›politische Formel‹: consensus universorum

5.6 Die Usurpation als Typus des Herrscherwechsels

6. Kaiserwechsel und Spielraum für Usurpationen

6.1 Tiberius 14 n. Chr. – die unproblematische Nachfolge

6.2 Caligula – die Übertragung der kaiserlichen Gewalten en bloc

6.3 Der gewaltsame Kaiserwechsel im Januar 41

6.3.1 Die Vorgänge

6.3.2 Ergebnisse und Perspektiven

6.4 Die ersten Usurpationsversuche

6.4.1 Die Vorgänge

6.4.2 Analyse

7. Die Usurpation Galbas

7.1 Nero verliert die Akzeptanz

7.2 Der Aufstand des Vindex

7.3 Die Konsularlegaten am Rhein dulden den Aufstand

7.4 Galbas Erhebung und Propaganda

7.5 Die staatsrechtliche Position des Usurpators

7.6. Die Kettenreaktion

7.6.1 Die Usurpation des Clodius Macer in Africa

7.6.2 Die Reaktion in Britannien und am Rhein

7.7 Neros Gegenmaßnahmen

7.8 Der Konflikt zwischen Vindex und Verginius Rufus

7.9 Nero stürzt – Galba wird Princeps

7.9.1 Der Handlungsspielraum des Gardepräfekten

7.9.2 Der Zwang zur Anerkennung Galbas

7.10 Der Sturz des Nymphidius Sabinus

7.11 Ergebnisse und Perspektiven

8. Usurpationen überkreuzen sich

8.1 Die Usurpation Othos

8.1.1 Das Regime Galba verliert die Akzeptanz

8.1.2 Die Frage der Nachfolge

8.1.3 Othos Putsch

8.1.4 Die prekäre Akzeptanz

8.1.5 Die Niederlage

8.2 Die Usurpation des Vitellius

8.2.1 Der anomische Prozeß in den Rheinheeren

8.2.1.1 Si meretur!

8.2.1.2 Die Bereitschaft der Offiziere

8.2.1.3 Der Kandidat

8.2.2 Soldatische Spontaneität überrollt die Planung der Offiziere

8.2.3 Mobilisierung und Organisierung der Ressourcen

8.2.4 Der Anschluß der meisten westlichen Provinzen

8.2.5 ›Propaganda‹ und Selbststilisierung

8.2.6 Affektives Nahverhältnis und monarchische Willkür

8.2.7 Vitellius destabilisiert sein Regime

8.2.7.1 Die Nichtbestattung der gefallenen Othonianer

8.2.7.2 Vitellius verfeindet sich die anderen Heeresgruppen

8.2.7.3 Die Selbstisolierung des Kaisers

9. Die Usurpation Vespasians

9.1 Die flavische Gruppierung um 69

9.2 Die Anhängerschaft formiert sich

9.3 Die Vorbereitung der Usurpation

9.4 Die Verbundenheit der Orientlegionen mit dem Donauheer

9.5 Der Abfall des Donauheeres von Vitellius

9.5.1 Rebellierten die mösischen Legionen auf eigene Faust?

9.5.2 Der Aufstand an der Donau. Hypothetische Rekonstruktion

9.6 Die Erhebung im Osten

9.7 Der eigenmächtige Feldzug des Donauheeres

9.8 Die Korrosion des vitellianischen Regimes in Rom

9.9 Der flavianische Putsch und die Widersprüchlichkeit des consensus

9.10 Regierungsübernahme und Widerspenstigkeit der Plebs

9.11 Die Behandlung der unterlegenen Truppen

9.12 Ansätze einer neuer Herrschaftskonzeption

9.13 Eingriffe in die Zusammensetzung des ordo senatorius

9.14 Resultate und Schlußfolgerungen

10. Die Usurpation des Antonius Saturninus

10.1 Die Senatorenschaft im domitianischen Regime

10.2 Kommunikationsfehler und bellizistischer Ton

10.3 Die obergermanischen Legionen. Ein enttäuschter Verband

10.4 Der Verlauf der Usurpation

10.5 Die Strafmaßnahmen

10.5.1 Gegen die Offiziere

10.5.2 Gegen die Mitwisser. Zur Frage der aristokratischen Loyalität

10.5.3 Gegen die Chatten. Klientelstämme involvieren?

10.6 Die Motive der Truppen

10.7 Die Isoliertheit des Usurpators

10.8 Die kaisertreue Plebs urbana

11. Kontur einer Historischen Soziologie des Truppenverhaltens

11.1 Über das Donativ

11.1.1 Die symbolische Gabe

11.1.2 Galba verweigert das Donativ

11.1.3 Die Donative im Vierkaiserjahr

11.1.4 Schlußfolgerungen

11.2 Die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung

11.2.1 Die berichteten Fälle

11.2.2 Wem gehörte die Beute?

11.2.3 Analyse der Fälle

11.2.4 Schlußfolgerungen

11.3 Militärische Anomie: Der Untergang irregeführter Legionen

11.3.1 Führungsfehler und politische Irreleitung

11.3.2 Die Auflösung der drei Legionen

11.4 Der Abfall vom Imperator

11.5 La Garde meurt

12. Usurpation und Reichsdefinition

12.1 Gab es eine Zivilbevölkerung? Die Mobilisierung der Provinzialen

12.2 Der Bataveraufstand und die Grenze zwischen Innen und Außen

12.2.1 Usurpation und auswärtiger Krieg

12.2.2 Das hegemonische System und die Rolle der socii

12.2.3 Der batavische Stamm im Imperium Romanum

12.2.4 Der Aufstand und die Frage der Zugehörigkeit

12.3 Zur politischen Semantik von Innen und Außen

12.4 Die Behandlung der Auxiliartruppen und des batavischen Stammes

13. Staatsrecht und reales Funktionieren der ›Verfassung‹

13.1 Warum es keine Samtherrschaft im Prinzipat geben konnte

13.2 Eine Usurpation legalisieren? Zur transitorischen Klausel in der Lex de imperio Vespasiani

13.3 Exire de imperio? Über die Todverfallenheit des Princeps

13.3.1 Es gab keine Abdankung vom Prinzipat

13.3.2 Der Rücktrittsversuch des Vitellius

Zur Zitierweise

Abkürzungen

Lexika und Handbücher:

Quellensammlungen:

Inschriften, Fasten, Chroniken, Prosopographien:

Münzen:

Rechtsquellen:

Literatur

ἐπιστήμης γὰρ οὔτε νόμος οὔτε τάξις οὐδεμία κρείττων, οὐδὲ θέμις ἐστὶν νοῦν οὐδενὸς ὑπήκοον οὐδὲ δοῦλον ἀλλὰ πάντων ἄρχοντα εἶναι, ἐάνπερ ἀληθινὸς ἐλεύθερός τε ὄντως ᾖ κατὰ φύσιν.

»Denn der Wissenschaft ist kein Gesetz und keine Anordnung überlegen. Auch ist es nicht Satzung, daß die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin sei. Sondern sie muß über alles herrschen, sofern sie gemäß ihrer Natur wahrhaft und frei ist.«

(Platon, Nomoi)

ἡ θεωρία τὸ ἥδιστον καὶ ἄριστον

»Die Theorie ist das Angenehmste und Beste«

(Aristoteles, Metaphysik)

Vorwort zur neuen Fassung

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert erschien die erste Fassung dieses Werkes. Als ich damals das Thema rechtfertigte, tat ich das mit Sätzen, von denen heute einige entbehrlich geworden sind.

Usurpationen ereigneten sich im Römischen Reich während der beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte nicht häufig; und im zweiten Jahrhundert waren es noch weniger als im ersten. Doch kein Phänomen taugt so sehr dazu, die Struktur der Akzeptanz, der Loyalität, die Bedingungen des Funktionierens der römischen Monarchie zu erhellen wie diese extremen Fälle politischer Krisen. Dennoch ist die Usurpation erst 1992 systematisch untersucht worden, in der ersten Fassung dieses Werkes.

Dabei handelt es sich nicht um ein Versäumnis der empirischen Forschung. Erst unter einer spezifischen Konstellation eröffnet sich der Fragehorizont, innerhalb dessen die Usurpation als eigenes Feld für die Forschung abzustecken ist. Bestimmte Auffassungen des Prinzipats lassen den Gegenstand erst gar nicht in den Blick kommen. So etwa jene Konzeption, wonach die Stellung des Kaisers völlig verrechtlicht gewesen sei: In ihrer Optik läßt sich die Usurpation nur als Sonderfall bei der Nachfolgeregelung erfassen.1 Doch die Tatsachen widerlegen diese Vorstellung. Denn keine Usurpation der Prinzipatsepoche2 ereignete sich deswegen, weil der verstorbene Kaiser es versäumt hatte, für seine Nachfolge zu sorgen. Die Usurpation hat nichts zu tun mit einer fehlenden Regelung der Nachfolge. Das Bedingungsverhältnis wirkt umgekehrt: Weil in einer Monarchie Usurpationen möglich sind, deshalb kann eine Nachfolgeregelung im Sinne monarchischer Legitimität sich nicht herausbilden. Eine kardinale Rolle hat jene Konzeption gespielt, wonach es dem Prinzipat an monarchischer Legitimität gebrach: Dieser Sichtweise stellt sich die Usurpation als anomischer Vorgang dar, der dem politischen System notwendig inhärent war. Bestenfalls wird diese Anomie rechtsphilosophisch eingefangen, was Theodor Mommsen aufwändig und rigoros leistet. Mommsen läßt die Usurpation aus der revolutionären Struktur des römischen Kaisertums hervorbrechen, als intermittierendes Aufzucken einer anarchischen Volkssouveränität. Die Aporien dieser Konzeption, die tief verstrickt ist in die staatsphilosophischen Debatten ihrer Zeit, lassen sich aufzeigen.

Die sozialgeschichtliche Forschung hat vom siebten bis zum neunten Jahrzehnt des 20. Jhs. neue Themengebiete erschlossen, um die Träger des politischen Systems sowie die städtischen Eliten genauer zu untersuchen. Die aufkommende neue Kulturgeschichte hat hingegen die symbolische Dimension des Politischen sowie die sozialen und kulturellen Praktiken ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Themen, die von der ›staatsrechtlich‹ orientierten Forschung beherrscht zu sein schienen, hat sie auf andere Weise konzeptualisiert; und sie mußte in vielerlei Hinsicht abrücken von der traditionellen Sozialgeschichte. Ihr ist es letztlich zu verdanken, daß der römische Prinzipat sich auf neue Weise konzipieren ließ. Sie ermöglichte es, die Usurpation als Thema sui generis systematisch zu entfalten und forschungspraktisch zu erörtern.

Die römische Usurpation wird hier bestimmt als Herausforderung des amtierenden Kaisers.3 Ein politisches System, in dem der Herrscher herausforderbar ist, betont weniger die Legitimität seiner Stellung als vielmehr die Akzeptanz seiner Person. Rückt man die Akeptanz des regierenden Kaisers ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dann lautet die methodische Konsequenz: Es sind Handlungen und Gesten zu untersuchen, die auf Akzeptanz hinwirken oder diese beeinträchtigen und untergraben. Folglich hat dieses Buch sich auf politische Semiotik einzulassen und nach den spezifischen Bedingungen der Kommunikation zwischen den maßgeblichen Gruppen zu fragen.

Indes, ist das nicht eine praxeologisch bedingte Horizontverengung? Heißt das nicht, strukturelle Gegebenheiten beiseite schieben und die rechtliche Dimension ausblenden? Einige Kritiken an der ersten Fassung dieses Buches haben Anstoß daran genommen, wie barsch die staatsrechtlich orientierte Forschung darin abgefertigt wurde. Die Kritik ist berechtigt. Jene polemische Härte erklärt sich aus der wissenschaftlichen Konstellation zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es galt, der Neuen Kulturgeschichte ihr Recht zu verschaffen und die Dominanz der verengten Sozialgeschichte aufzubrechen. Dabei erwies sich auch der staatsrechtlich gezogene Horizont als Hindernis.

Wir haben nun seit dem Beginn des 21. Jhs. eine ganz andere Konstellation in der Fachwissenschaft. Daher hat es nicht genügt, an dem Werk von 1992 ein paar Retouchen vorzunehmen. Vielmehr waren ganze Kapitel umzuschreiben. Die kardinalen Thesen haben die Kritiken und Diskussionen des vergangenen Vierteljahrhunderts bestanden; daher präsentieren sie sich erneut. Allerdings werden sie teilweise verfeinert, präzisiert oder mit neuen Begründungen versehen. Denn die Forschung hat in der Zwischenzeit erneut umfangreiche und vielseitige Erkenntnisse zutage gefördert. Allerdings habe ich für die neue Fassung des alten Werkes nur diejenige Literatur berücksichtigt, die meine Kernthemen berühren.

Der Aufbau des Buches folgt dem zentralen Anliegen.

Das Kapitel 1 begründet, wieso der römische Prinzipat als Monarchie zu bestimmen ist; es umreißt einen komparativen Rahmen, innerhalb dessen usurpationsgefährdete Monarchien sich unter einem spezifischen Monarchietyp fassen lassen. Die Kapitel 2 bis 4 widmen sich der Kommunikation und der Interaktion des Kaisers mit den drei maßgeblichen Sektoren des politischen Systems und explizieren, warum der Prinzipat eine Akzeptanzmonarchie war. Hier verdeutlicht sich, wieso die Usurpation als Thema der Forschung sich nur erschließt im Rahmen einer neuen Theorie des Prinzipats.

Das Kapitel 5 erbringt das theoretische und forschungsstrategische Fazit der vorangehenden Kapitel. Hier wird die Frage nach der Legitimität gestellt; hier findet die Auseinandersetzung mit Theodor Mommsen statt – sowohl mit seiner Theorie der Usurpation als auch mit seiner These von der ›Dyarchie‹; und hier soll das Modell der Akzeptanzmonarchie die theoretische Prüfung bestehen. Das Kapitel 6 erörtert die ersten zwei Kaiserwechsel bündig unter dem Aspekt der Kodifizierung der herrscherlichen Befugnisse, den dritten Kaiserwechsels hingegen unter dem Aspekt der Kräfteverhältnisse zwischen den maßgeblichen politischen Sektoren. Damit ist das Feld abgesteckt, auf welchem die Usurpationen sich konkret abspielen, und es wird die erste gescheiterte Usurpation besehen.

Die Kapitel 7 bis 10 behandeln die Usurpationen des 1. Jhs. n. Chr. Die Ereignisgeschichte kommt dabei nur insoweit in Betracht, als sie bedeutsam ist für die Analyse des politischen Handelns und seiner Spielräume.

Die letzten drei Kapitel 11 bis 13 behandeln systematisch zentrale Aspekte des Themas, nämlich das Truppenverhalten, die Reichskonzeption sowie die rechtliche Stellung des Princeps.

Die ›Methodische Einleitung‹ gibt Rechenschaft darüber, warum hier die Quellen anders gelesen werden als in der Historie sozialgeschichtlicher oder staatsrechtlicher Prägung. Sie erläutert ferner, wieso eine theoretische Achsenverschiebung gegenüber der Erstfassung nötig geworden ist.

Bedanken möchte ich mich für sorgfältige Fehlersuche bei den Frauen Marthe Becker, Franziska Hermes und Carlotta Voß, für Kritik und Ratschläge bei meinem Kollegen Uwe Walter, für nachsichtige Geduld auf der Seite des Verlages bei Jürgen Hotz, für beruhigende Fernbetreuung bei meinem Kollegen Stefan Rebenich. Für rücksichtsvolle Ablenkung danke ich meiner Frau.

Methodische Einleitung: Die Unordnung des Diskurses. Zur Konstruktion von Historie

Die Einleitung zur Erstauflage dieses Werkes verfolgte zwei Ziele. Zum einen machte sie die Diskursanalyse stark gegen eine ›herkömmliche‹ Hermeneutik; dies betraf den Umgang mit den literarischen Quellen. Zum anderen verdeutlichte sie, welche Möglichkeiten der praxeologische Theorieansatz geboten hat; das berührte die Analyse von Ereignisverläufen und das Erfassen von sozialem Handeln. Auch regte jene Einleitung dazu an, die semiotische Dimension in kommunikativen Prozessen weitaus stärker zu beachten als damals üblich. Das war vor einem Vierteljahrhundert. Nun verlangt die veränderte kulturwissenschaftliche Lage eine neue Einleitung. Damals war es notwendig, eine beinahe schroffe Abkehr von der klassischen Sozialgeschichte vorzunehmen, um die kulturelle Dimension des Politischen auf neue Weise in den Blick zu bekommen. Die heutige Forschungspraxis hingegen verlangt nach theoretischen Regeln und Methoden, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Ansätze synthetisieren lassen – und zwar ohne Einbuße an Kohärenz. Die neue Einleitung muß Einseitigkeiten zurücknehmen, Überspitzungen abschwächen und den Horizont an einigen Stellen ausweiten.

1. Wissenschaftlich konstruieren – eine knappe Rechtfertigung

Die Historie als Wissenschaft ist bedroht von den verheerenden Wirkungen jenes Diktums von Nietzsche: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« Der Diskursanalyse sowie der Dekonstruktion gilt dieser Satz als axiomatische Fundierung. Davon hat sich die historische Kulturwissenschaft verabschieden müssen. Andernfalls wäre ihr der Begriff der Objektivität abhandengekommen. Inzwischen hört man manchenorts den Ruf, ›Objektivität‹ sei ein Kampfbegriff und ›Wahrheit‹ sei eine Kenoklese, ein leeres lexikalisches Signal ausgebliebenen Sinns, dessen erhabene Hohlheit einschüchtert und definitorische Machtansprüche absichert, letztlich ein rhetorischer Effekt. Indes, jedwede Episteme, die sich von der Wahrheit als Leitidee verabschiedet, hört auf Wissenschaft zu sein; sie ist außerstande zu unterscheiden zwischen Tatsachen und Fiktionen.4 Wenn die Historie keine Wissenschaft mehr sein will, dann stellen sich augenblicklich zwei Folgen ein:

Erstens wird dann das ›anything goes‹ zur Richtschnur; der disziplinäre Rahmen verliert seine Verbindlichkeit, die methodische Embolie wird zum Dauerzustand, und folglich büßt jedwede Methodendiskussion ihren Zweck ein. Das Erzeugen von ›fake history‹ wird zur legitimen akademischen Aktivität. Der radikale Konstruktivismus treibt in diese Richtung; seine Hochtöner haben die Produktion von ›alternativen Fakten‹ angeheizt, welche heute unsere geistige Welt zumüllen. Zweitens verwandelt sich die Historie als wissenschaftlich geregelte ›histoire‹ in die ›mémoire‹ von politischen, ethnischen, religiösen, sexuellen oder pseudorassischen Partialkulturen. Und diese fabrizieren sich nach Gutdünken Bilder ihrer Vergangenheit, die sie instrumentalisieren, um in der Gegenwart Ansprüche anzumelden und die sie aggressiv gegen alle intellektuelle Kritik abschirmen. Dieser geistige Klimawandel im postfaktischen Zeitalter ist deswegen so beunruhigend, weil er vielleicht weniger reversibel ist als der globale. Wie weit sich Kulturwissenschaften bereits eingefinstert haben, bezeugt die kategorische Aussage des Soziologen Anthony Giddens:

»In science, nothing is certain, and nothing can be proved, even scientific endeavor provides us with the most dependable information about the world to which we can aspire. In the heart of the world of hard science, modernity floats free.«5

Diese emphatischen Wortgebilde dokumentieren, in welchem Ausmaß aus unseren Disziplinen jene theoretische Bildung entwichen ist, welche zu Zeiten von Max Weber oder Emile Durkheim vorausgesetzt wurde. Mathematische Gewißheiten haben immer schon gegolten, im Andromeda-Nebel ebenso wie in der Milchstraße. Nach Giddens könnten wir morgen wieder zum geozentrischen Weltbild zurückkehren und übermorgen die Erde wieder zur Scheibe erklären, während Austronauten zu Raumstationen fliegen, Astronomen Gravitationswellen nachweisen und Genetiker Lebewesen klonen. Die objektive Realität leugnen hieße, sich in einen postfaktischen Zustand zu begeben, den niemand – außerhalb universitärer Seminarräume oder der geschlossenen Psychiatrie – auch nur einen Tag überleben könnte. Wie sollen jene Wissenschaften, die sich als solche verstehen, unsere Disziplinen noch ernst nehmen?

Das zentrale Anliegen der kantischen ›Kritik der reinen Vernunft‹ ist es, den Begriff der Objektivität zu verteidigen. Darum nannte Kant seinen transzendentalen Idealismus einen »empirischen Realismus«. Und weil die Kulturwissenschaft es mit empirischen Sachverhalten zu tun hat, benutzten Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Max Weber den Begriff ›Wirklichkeitswissenschaft‹. Hätten jene Kulturwissenschaftler, die auf den dekonstruktionistischen bandwagon aufgesprungen sind, gelesen, was Johann Gustav Droysen etwa 1858 formulierte, dann hätten sie nicht das Rad neu und in quadratischer Form erfinden müssen:

»Die Wissenschaft der Geschichte ist das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens (ἱστορία). Alle Empirie beruht auf der ›spezifischen Energie‹ der Sinnesnerven, durch deren Erregung der Geist nicht ›Abbilder‹, aber Zeichen von den Dingen draußen […] empfängt. Er entwickelt sich so Systeme von Zeichen, in denen ihm sich die Dinge draußen entsprechend darstellen, – eine Welt von Vorstellungen, in denen er, fort und fort sie in neuen Wahrnehmungen berichtigend, erweiternd, steigernd, die Welt draußen hat, so weit er sie haben kann, sie haben muß, um sie zu fassen und wissend, wollend formend zu beherrschen.«6

Kantianisch orientierten Historikern ist sehr wohl bewußt, daß der forschende Historiker konstruieren muß und deshalb angewiesen ist auf Zeichensysteme und Vorstellungen. Die historischen Phänomene, die wir untersuchen, sind uns nicht als empirische Tatsachen gegeben. Sie sind, sobald wir uns mit ihnen beschäftigen, notwendigerweise gedankliche Gebilde:

»Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.«

Was vergangen ist, kann nicht gegeben sein. Das verändert den Begriff des empirischen Forschens: »Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor.«7 Die Niederlage der Römer in der Schlacht bei Cannae ist für den Historiker keine ›vorliegende Tatsache‹. Droysen leugnet damit keinesfalls die ›objektive Realität‹; denn nach seiner Definiton war die Schlacht bei Cannae sehr wohl eine ›objektive Tatsache‹, obschon sie unserer Forschung nicht mehr ›vorliegt‹. Indes, sie lag schon den Mitwirkenden nicht mehr als empirische Tatsache vor, als Karthago 14 Jahre später kapitulierte. Die Kulturwissenschaft hat es zu tun mit Sachverhalten, die existieren oder existierten, ob menschliches Bewußtsein sie wahrnahm oder nicht. Als solche können sie sehr wohl ›objektiv‹ und zutreffend sein, denn sie beziehen sich ja auf Wirklichkeit, obschon diese Wirklichkeit vergangen und empirisch nicht mehr gegeben ist.

Wichtig ist nun, daß diese in Gedanken konstruierte Wirklichkeit eine fundamental andere wird, wenn man sie begrifflich so konzipiert, daß sich aus ihr mehrere verschiedene Geschehensverläufe ergeben können, also historische Alternativen. Mit dieser intellektuellen Operation verwandelt sich – wie Max Weber ausführte – die gedachte Wirklichkeit in einen »Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen.« Der nächste Schritt besteht darin, jene Faktoren, die in der analysierten Situation wirkten, gedanklich zu isolieren und sie zu gewichten. Um sie zu gewichten, sind Hypothesen aufzustellen und nacheinander die isolierten Faktoren aus dem Spiel zu nehmen, um zu ersehen, welche Wirkung sich auf die gedachten Verläufe ergibt. Indem man verschiedene Vorgänge konstruiert, deren Verschiedenheit sich daraus ergibt, welche Bedingungen man verändert und welche Faktoren man wegläßt, wird das Gewicht der Faktoren abschätzbar; Weber faßt diese Methode in die lapidare Sentenz: »Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.« Der tatsächlich eingetretene Ereignisverlauf – also das realiter Geschehene – erscheint als ein logisch konstruierbares Resultat. Eben das versteht Max Weber unter einer ›historischen Erklärung‹.

Indes, wenn man die realen Abläufe eines historischen Geschehens im Geiste abändert, um den eingetretenen Verlauf als eine Möglichkeit unter mehreren zu denken, dann ist eine Grenze zu beachten. Der Historiker hat die »objektiven Möglichkeiten« herauszuschälen; es sind nämlich viele Verläufe aus sachlichen Gründen nicht möglich, obwohl wir sie denken können. Was in Anbetracht der objektiven Gegebenheiten möglich ist, war oder gewesen wäre, das ist nach Max Weber eine »objektive Möglichkeit«. Aber was berechtigt einen Historiker dazu, unter der riesigen Menge von denkbaren Alternativen nur wenige als ›objektiv möglich‹ einzustufen und die weitmeisten auszusondern? Webers Antwort lautet:

»Betrachtet man nun aber diese ›Möglichkeitsurteile‹ – d. h. Aussagen über das, was bei Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen geworden ›wäre‹ – noch etwas genauer und fragt zunächst danach: wie wir denn eigentlich zu ihnen gelangen? –, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich durchweg um Isolationen und Generalisationen handelt, d. h. daß wir das ›Gegebene‹ so weit in ›Bestandteile‹ zerlegen, bis jeder von diesen in eine ›Regel der Erfahrung‹ eingefügt und also festgestellt werden kann, welcher Erfolg von jedem einzelnen von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als ›Bedingungen‹, nach einer Erfahrungsregel zu ›erwarten‹ gewesen ›wäre‹. Ein ›Möglichkeits‹urteil in dem Sinne, in welchem der Ausdruck hier gebraucht ist, bedeutet also stets die Bezugnahme auf Erfahrungsregeln.«8

Unabdingbar zum Forschen ist demnach ein positives Wissen von ›Regeln des Geschehens‹, ein ›nomologisches‹ Wissen. Dieses erlaubt, Ursachen ›zuzurechnen‹ – genauer: den ermittelten Faktoren verschiedene Grade von Wirksamkeit zuzusprechen.9 Solche Regeln müssen erweitert, modifiziert und differenziert werden. Das verlangt ihr eigener Begriff, denn sie sind nach Weber aus der Erfahrung gewonnen. Die gedanklich vollzogenen Experimente stehen somit auch unter der Kontrolle von empirischen Kenntnissen und empirisch gewonnenen Einsichten. Im Folgenden versuche ich das nach Kräften zu beherzigen.

2. Historiographische Texte und ihre Diskurse

Unsere Disziplin pflegte manche der kaiserzeitlichen Historiographen und Epitomatoren als Historiker zu bezeichnen, so als ob sie jener Fachwissenschaft angehörten, die mit Chladenius, Ferguson, Gibbon, Ranke und Droysen ihre disziplinäre Kontur gewonnen hat. Dagegen erhob sich der Einwand, Thukydides sei »kein Kollege« – eine Sentenz, die vortrefflich dazu taugte, die antiken Kulturen ethnologisch zu ›verfremden‹. Doch in vielen Hinsichten befolgen Thukydides und Polybios die disziplinären Regeln der Historie strenger als ein erheblicher Teil der historiographischen Produktion in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Vergleicht man die logische Kohärenz und die Konstruktion von Kausalitäten, dann ist nicht zu leugnen, daß in den Texten von Thukydides und Polybios sich die Historie außerordentlich autonomisierte, wiewohl diese Errungenschaften sich nicht verstetigten oder gar mittels eines Lehrbetriebs institutionalisierten.10

Anders die römische Historiographie der Kaiserzeit. Deren Terminologie löst sich nicht aus einer historisch spezifischen Semantik. Nehmen wir als Beispiel den Versuch Plutarchs, die Usurpation qualitativ zu klassifizieren. Er sagt, der Aufstand gegen Nero sei erst dadurch von einer »Empörung« (ἀπόστασις) zum »Bürgerkrieg« (πόλεμος ἐμφύλιος) geworden, daß er in Galba einen zum Herrschen befähigten Mann zum Führer bekam.11 Die Denotation ›Bürgerkrieg‹ ist für die Forschung nur unter diskursanalytischem Gesichtspunkt interessant. Die Usurpation war kein Bürgerkrieg. Den kaiserzeitlichen Historiographen ist wenig daran gelegen, unterschiedliche historische Verläufe zu sortieren und zu klassifizieren. Das politische Denken der Kaiserzeit verknappt die politische Lexik, reduziert dramatisch die Terminologie und schafft somit Homonymien. Diese hat man aufzubrechen, will man nicht die Verkennungen wiederholen, die sie herstellen. Diesen historiographischen Texten bleibt ihre Dignität dort, wo die Forschung sie als semantische Ensembles betrachtet. Das ist aber in der empirisch forschenden historischen Wissenschaft nur am Rande der Fall; diese erforscht soziale und politische Praktiken, kulturelle Semantiken, Strukturen, Funktionszusammenhänge und ereignishafte Verläufe.12

Wie weit die kaiserzeitlichen Historiographen von unserer Episteme entfernt sind, zeigt sich gerade bei Autoren, die sorgfältig originale Dokumente in ihre Darstellung einarbeiten, wie das bei Tacitus der Fall ist. Dennoch suspendiert dieser Historiograph sehr häufig die Ereignislogik und entstellt dabei die Abläufe. In seltenen Fällen werden die Vorgänge nur verständlich, wenn man das genaue Gegenteil von dem annimmt, was der Text sagt.13 Die ›Quellenkritik‹ steht vor diesem Phänomen überwiegend ratlos. Am wenigsten hilft eine hemdsärmelige ›Quellenkritik‹, die den Text auseinanderschneidet in Passagen, der sie unterschiedliche politische ›Tendenzen‹ zuschreibt. Das erschwert eine Verständigung darüber, was als elementarer Bericht von Tatsachen zu gelten hat. Aber ohne Tatsachen läßt sich Historie nicht betreiben.

Um den taciteischen Text vor unkontrollierter Verwerfung zu retten, ist ein tauglicher Bestand an berichteten Tatsachen zu sichern. Zu diesem Behufe ist diejenige Textebene auszusondern, wo die politische Semantik regiert. Dann ist jedes Textelement daraufhin zu untersuchen, ob es von der Semantik bis zur Unbrauchbarkeit überwältigt ist oder noch Informationen über historische Sachverhalte und Vorgänge hergibt. Das ließe sich grosso modo so sagen: Der Forscher hat das Sachliche zu trennen vom Bewerten und auch vom Deuten des Historiographen.

Um zu verdeutlichen, wie der Text zu sortieren ist, mögen drei Beispiele aus den Historien des Tacitus dienen. Den Textstellen in der linken Spalte sind jeweils rechts Erläuterungen zum situativen oder argumentativen Kontext gegenübergestellt:

1. Ceterum Italia gravius atque atrocius quam bello adflictabatur.

(Übrigens wurde Italien damals schwerer und schrecklicher heim­gesucht als im Krieg) <Tac. hist. 2,56,1>

Frühjahr/Sommer 69, zeitweise 120.000 Sol­daten in Oberitalien, wo schon im Früh­jahr/Sommer 68 ca 30.000 gestanden waren; logisti­sche Probleme. (Tac. hist. 2,56,2)

Die spezifische Faktur zeigt sich. Liest man die Erzählung der Geschehnisse, dann erwartet man nicht das jeweilige Urteil bzw. den jeweiligen Kommentar des Historiographen. Zwischen dem Bericht und der kommentierenden Deutung klafft eine Diskrepanz; das Verhältnis beider ist sogar kontradiktorisch. Diese relative Unverbundenheit erlaubt uns, den Text zu zerlegen in zwei unterschiedliche Diskurse: Die kommentierende Deutung sowie die deutungsteuernde Semantik nenne ich den maximischen Diskurs; die berichtende Erzählung soll berichthafter Diskurs heißen. Diskursanalyse ist also unumgänglich – aber welche soll hier zum Einsatz kommen? Der in diesem Buch verwendete Begriff der Diskursanalyse bewegt sich innerhalb der Grenze, den die neukantianische Wissenschaftslehre gezogen hat und unterstellt sich ihrer Jurisdiktion. Er setzt sich von demjenigen Foucault’scher und Lyotard’scher Prägung scharf ab. 14

Verdeutlichen wir die Zweiteilung. Das rhetorische Verfahren im obigen Beispiel operiert mit Hyperbel und Interferenz. Geht man von der Aussage aus, daß 69 n. Chr., als die vitellianischen Truppen auf Rom marschierten, Italien grausamer als im Kriege heimgesucht wurde, so erwartet der Leser brennende Städte, Verwüstungen weiter Landstriche und Versklavung ganzer Bevölkerungen. Doch darüber berichtet Tacitus nichts, denn nichts davon geschah. Was sich tatsächlich abspielte, war nicht der Erzählung wert: Furagieren und Requirieren. Die Geschehnisse selber wechseln also in einer Verschleifung das semantische Feld, d. h. sie werden dem Bereich der Logistik entrissen und dem Bereich militärischer Zerstörung zugewiesen. Die Last, die Oberitalien tatsächlich zu tragen hatte, erscheint als eine völlig andere; und diese andere hat realiter nichts zu tun mit der tatsächlichen, denn Requirieren und Furagieren sind – auch wenn sie als Übel empfunden werden – technisch und organisatorisch andere Vorgänge als Ausplündern und Verwüsten. Das militärische Reglement ließ Plünderungen nicht zu; die Kommandeure verlangten in der Regel von den kommunalen Verwaltungen, das Geforderte zu liefern. Aber auch innerhalb der politischen Semantik fallen beide Lasten – die tatsächliche und die vorgespiegelte – scharf auseinander: Die Kommunen und die Dörfer hatten einen Aufwand für das Heer des Imperators zu leisten, also für ihre Res publica; bei einer kriegerischen Invasion hingegen wären sie von Feinden ausgeraubt worden.

Im zweiten Beispiel kommt dieselbe Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Erzählten zutage:

2. Et media acie perrupta fugere passim Othoniani, Bedriacum petentes. immen­sum id spatium, obstruc­tae strage cor­porum viae, quo plus caedis fuit; neque enim civilibus bellis capti in praedam vertuntur.(Als ihr Mitteltreffen durchbro­chen war, wandten sich die Otho­nianer allenthalben zur Flucht auf Bedriacum zu. Das war eine be­deutende Strecke, die Wege wa­ren durch Lei­chenhaufen ver­sperrt; das Ge­metzel wurde da­durch noch größer; in Bürgerkrie­gen werden nämlich die Ge­fangenen nicht zur Beute ge­macht) <Tac. hist. 2,44,1>

15. April 69, Schlacht zwischen den Hee­ren von Otho und Vi­tellius bei Be­driacum. Am folgen­den Tag geschlosse­ner Übertritt des be­siegten Heeres; Fraterni­sierung, Venia für alle, Umverei­digung auf den neuen Imperator. (Tac. hist. 2,45)

Die Prämisse des maximischen Leitsatzes lautet: Gefangene werden entweder niedergemetzelt oder als Beute verkauft. Der maximische Leitsatz selber behauptet: Im Bürgerkrieg werden römische Bürger zu Gefangenen; doch als solche kann man sie nicht in die Sklaverei verkaufen; ergo macht man eben keine Gefangenen. Wenn Prämisse und Leitsatz zuträfen, dann hätte das gesamte Heer Othos, als es sich ergab, entweder niedergemetzelt oder in die Sklaverei verkauft werden müssen. Doch die sich ergebenden Soldaten wurden nicht abgeschlachtet; sie wurden aber auch nicht als Sklaven verkauft. Folglich stimmt keine einzige Kategorie des maximischen Diskurses – bellum civile, captus, praeda – mit dem Bericht soweit überein, daß Widersinnigkeiten vermieden würden.

Ganz anders sieht es aus, wenn man die berichteten Einzelheiten zugrunde legt und von ihnen ausgeht. Dann klären sich die Geschehnisse. Der taciteische Text berichtet: Römische Soldaten wurden bei Kämpfen in Usurpationen nicht als capti behandelt; sie legten den Eid auf den siegreichen Imperator ab und behielten ihren Status als Soldaten. Daraus folgt erstens: Es war niemals möglich, sich ergebende römische Soldaten als Beutegut zu behandeln, d. h. in die Sklaverei zu verkaufen. Und es folgt zweitens: Der Grund, den Tacitus für die hohen Verluste angibt, ist falsch.

Dennoch kann es richtig sein, daß viele Othonianer fielen. Das Problem ist dann allerdings anders zu stellen. Nicht das Verhalten der siegreichen Verfolger steht zur Debatte, sondern das Verhalten der unterlegenen Soldaten. Nicht die Schonung ist der kritische Punkt, sondern die Ergebung: Römische Soldaten in der Kaiserzeit ergeben sich in der Regel nicht, bzw. nur in ganzen Einheiten. Hätten die fliehenden othonianischen Soldaten sich ergeben, dann hätten die Verfolger sie genauso behandelt wie am folgenden Tag die gesamte besiegte Armee. Die rhetorische Strategie des historiographischen Textes unterschlägt somit ein spezifisch römisches Kampfverhalten.15 Mit dieser Unterschlagung vermag sie die blutigen Vorgänge invers zu beziehen – auf die Verfolger, statt auf die Fliehenden. Das vom Kommentar suggerierte Gesamtbild präsentiert sich als das genaue Gegenteil der berichteten Sachverhalte.

Daraus ist zu folgern: Die berichthaften Elemente sind überdeterminiert; sie sind dermaßen mit maximischen Postulaten befrachtet, daß sie sich der Ereignislogik entwinden. Wenn man bei den obigen Beispielen jeweils die rechte Seite – sie stellt resümierend den berichthaften Diskurs dar – zuhält, dann kann man von der linken Seite ausgehend in keinem Fall auf die Ereignisse zurückschließen. Indes, jene Episteme, die Thukydides und Polybios praktizierten und die auch die unsere ist, verlangt diese logische Vereinbarkeit: Das subsumierte Ereignis muß als Beispiel herhalten können für die Wirksamkeit oder die Geltung der subsumierenden Maximen, Regeln oder Gesetze.

Der maximische Diskurs kreist um wenige Punkte, letztlich sogar um diesen einen: Die soziale Ordnung ist stets gefährdet; sie bedarf einer stabilen Herrschaft; und eine solche aufrechtzuerhalten kostet konstante Mühe. Der Diskurs konstituiert demnach ein spezifisches Wissen. Er konnotiert Wirklichkeit, die erfahren und erzählt wurde, mit Konzepten einer spezifischen Vorstellung von Ordnung. Diese Konnotation verwandelt das Erzählte in ein Wissen davon, wie römische Herrschaft und Ordnung jeweils sich zu behaupten hatten. In diesem semantischen Dispositiv werden die Vorgänge der Usurpation zu Etappen und Verlaufsformen des Zusammenbruchs der Ordnung. Das Erzählte wandelt sich in ein Wissen vom bellum civile um.

Ein apriorisches Wissen beherrscht also die Textur. Die Grundoperationen dieses Wissens sind verblüffend simpel. Die erzählten Vorgänge werden schlicht den Konzepten folgender Wirkungskette zugeordnet: Bürgerkrieg → Abschwächung des Gehorsams → Infragestellung der Herrschaft → Lockerung der sozialen Kontrolle → Hervorbrechen von Gier (v. a. bei den Unterschichten) → Herrschsucht (bei den Protagonisten des Adels) → Zusammenbruch der sozialen Normen → Auflösung der Sozialität → Vertierung des Menschen. Sortiert man die bedeutungspendenden Begriffe, dann stellt man fest, daß es erstaunlich wenige sind: Gier, Aufruhr, Wankelmut, Furcht, Machtstreben, Neid, Bürgerkrieg, Gehorsam, Ordnung. Ich nenne sie maximische Konzepte. Weil diese so extrem knapp sind, können kaiserzeitliche Historiographen sich keiner soziologischen, historischen oder psychologischen Klassifikation im Sinne unserer Episteme annähern. Die perspektivische Verkürzung der narrativen Reichweite erzeugt stattdessen eine zirkuläre Unfehlbarkeit außerhalb der Tatsachen. Anders gesagt: Die Verknappung bewirkt, daß der maximische Diskurs in relativer Eigenständigkeit neben dem berichthaften Diskurs einhergeht. Diese relative Unverbundenheit erlaubt dem modernen Althistoriker, den maximischen Diskurs a priori zu verwerfen; denn der hilft nicht zur Rekonstruktion der sozialen und politischen Prozesse, was ja unserer Wissenschaft obliegt.

Die besagte Grundoperation adjustiert die erzählten Elemente nicht selten dergestalt, daß sich logischer Nonsens ergibt. Das dritte Beispiel, die Notiz über das Donativ Vespasians, illustriert diesen Sachverhalt:

3. donativom militi neque Mucianus prima contione nisi modice ostenderat, ne Vespa­sianus quidem plus ci­vili bello obtulit quam alii in pace, egregie fir­mus adversus militarem lar­gitionem eoque exercitu me­liore.(Die Aussichten auf ein Donativ, die Mu­cian den Leuten in der er­sten Versamm­lung eröff­nete, waren nicht eben groß, und selbst Ves­pasian gewährte ihnen während des Bürger­krieges nicht mehr als an­dere im Frieden, ent­sprechend sei­ner ganz entschiedenen Ein­stellung gegen Geldspenden an Soldaten, einer Haltung, die den Zustand des Heeres heben sollte) <Tac. hist. 2,82,2>

Gesagtes: Vespasian habe so viel gege­ben wie Nero und Claudius. Gemein­tes: Er habe verhältnis­mäßig wenig ge­geben. Prämisse 1: In ›Bürgerkriegen‹ steigen die Donative. Prämisse 2: An­stieg der Donative und Truppenmo­ral stehen in umgekehrt proportio­nalem Verhältnis zueinander. Ma­xime: Ein guter Princeps stei­gert Moral und Diszi­plin, indem er den Truppen selten und nied­rige Do­native gibt.

Die beiden Prämissen und die Maxime ergeben zusammen ein Gesagtes, das nicht nur abweicht vom Gemeinten, sondern dem Gemeinten diametral entgegensteht. Denn Otho hatte das Donativ (Antrittsgeschenk der Kaiser an die Soldaten) an die Garde auf 1/3 der Summe des Claudius gesenkt. Alle Kaiser bis zum Regierungsantritt Hadrians hielten sich an den von Otho gegebenen Betrag. Es ist durchaus möglich, daß Vespasian ein Antrittsdonativ an seine Prätorianer gab, das sogar noch unter der Summe Othos lag.16 Das ist der Gehalt, das Gemeinte der Stelle. Das Gesagte stellt einen Vergleich mit den letzten Kaisern ›im Frieden‹ her, also mit Claudius und Nero. Deren Donative betrugen allerdings 3.750 Denare für die Prätorianer und eine nicht zu ermittelnde Summe, wahrscheinlich 75 Denare, für die Legionäre. Vespasian hätte also – nach dem Gesagten – ebenfalls die höchste Summe des 1. Jhs. spendiert. Selbstverständlich steht dem der Sinn der ganzen Passage entgegen. Denn wenn Vespasian 3.750 Denare geschenkt hätte, wäre er gegenüber Otho als Verschwender erschienen und nicht egregie firmus adversus militarem largitionem. Der Widersinn kommt dadurch zustande, daß Tacitus partout die Donativhöhe mit dem ›Bürgerkrieg‹ semantisch verbinden will; dabei steht ihm freilich Othos drastische Absenkung im Wege. Nun hätte Tacitus die Donativhöhe des ersten Flaviers in Relation setzen können zu den Donativen späterer Kaiser. Stattdessen verknüpft er die Betragshöhe mit dem Zustand innerer Ruhe – im Gegensatz zum ›Bürgerkrieg‹. Diese Verknüpfung drängt ihn zur Formulierung ne … plus … quam alii in pace.

Das heißt aber schlicht: Tacitus will – oder kann – nicht sagen, was er meint. Wieso sollen wir ihm dann glauben, was er sagt? Wenn man nun nicht den Text in toto für ungültig erklären will, bedarf es einer neuen Verständigung, und zwar nicht darüber, was als Bestand anzuerkennen sei, sondern vielmehr darüber, wie dieser Bestand aufzufinden ist. Die Aufspaltung des Textes in zwei Diskurse ist der methodische Ausgangspunkt, den ich in dieser Untersuchung über die Usurpation gesetzt habe. Diese Setzung kann sich zwar rechtfertigen, taugt aber womöglich nur dann, wenn die Dimension ›Ordnung und Herrschaft‹ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Die Schwierigkeit entsteht beim berichthaften Diskurs. Zwar impliziert eine hohe Unverbundenheit beider Diskurse, daß Tacitus nicht jedes Mal die berichthaften Elemente verdrehen muß, damit sie zum maximischen passen; denn sie müssen ja nicht passen, beide Diskurse dürfen sich munter widersprechen. Trotzdem heißt das nicht, daß der gesamte berichthafte Diskurs als auswertbarer Bestand tel quel zu retten wäre. Denn allzu oft suspendiert Tacitus die sequentielle Logik der Ereignisse, ja pervertiert sie sogar. Fallweise wird der Historiker also berichthafte Elemente zurückweisen. Solche Zurückweisung kann sich nicht rechtfertigen aus der bloßen Auseinandersetzung mit dem Text selber, sondern indem man andere Quellen anführt oder die Sachlogik in die Waagschale wirft.17

Die Überdeterminierung des berichthaften Diskurses durch den maximischen hat eine für die Forschung sehr unerfreuliche Konsequenz. Bei vielen berichthaften Elementen ist es nämlich unmöglich, zu ermitteln, welchen sachlichen Gehalt sie haben. Ein obsessiv wiederkehrendes Thema der Historiographen illustriert dieses Dilemma: Die Soldaten sind immerzu und vor allem auf Raub und Plünderung aus. Das Bild vom miles ist dermaßen verunstaltet, daß es unmöglich ist, festzustellen, wann und wo Soldaten wirklich für die eigene Tasche plünderten. Tacitus verstellt also in seinem Text historische Vorgänge – delinquentes Verhalten von Soldaten in konkreten Situationen –, indem er das Bild des Soldaten generell entstellt. Wir können daher nicht mehr feststellen, wann tatsächlich geplündert wurde. Dem Text einfach glauben hieße dem maximischen Diskurs aufsitzen und in neunzehn von zwanzig Fällen zu sicheren Fehlurteilen gelangen.

3. Imaginäres und Handlungswissen – zum Selbstverständnis von Gruppen

Am Abend vor der zweiten Schlacht von Bedriacum läßt Tacitus die flavianischen Soldaten, welche die Stadt Cremona zu plündern wünschten, folgenderweise räsonieren: »Die Beute einer eroberten Stadt gehört dem Soldaten, die einer sich ergebenden dem Feldherrn.«18 Dafür gibt es m. W. kein einziges Beispiel in der vorangegangenen römischen Geschichte. Die Regel lautete ganz anders: Sobald die Bestürmung begann, verfiel eine Stadt der Plünderung; ergab sie sich vorher, so entging sie ihr. Das galt jedoch für auswärtige Kriege; ob Belagerung und Eroberung von Städten mit römischem Bürgerrecht überhaupt im Dienstreglement vorgesehen waren, ist zu bezweifeln. Jedenfalls sahen die Soldaten seit mehr als vier soldatischen Generationen nichts mehr von der Beute. Kein Rekrut irgendeiner Auxiliareinheit kann erwogen haben, was Tacitus altgedienten Legionären in den Mund legt. Vorschriften fürs Plündern kannten sie auswendig wie Wachbefehle, und sie wußten, daß die Beute dem Kaiser gehörte – nicht ihnen und nicht dem Feldherrn.

Die Äußerungen sind also gar nicht getan worden. Wenn der Historiograph sie eigens für seine Textur erfindet, so befolgt er den Ratschlag einer politischen Semantik. Der semantisch überdeterminierte Text fluchtet auf eine Imago des Soldaten, welche als Bedeutungspender das erzählte Geschehen ordnungspolitisch auflädt. Dem Leser wird vor Augen geführt, mit welcher Ignoranz und welcher Arroganz bei dieser Soldateska zu rechnen ist: Sie ist zu unwissend, um ihr Reglement zu kennen; und sie maßt sich an, neues Recht zu setzen – das Recht des Acheron.

Dieses Phantasma rechtsetzender soldatischer Brutalität stammt aus dem politischen Imaginären der Bürgerkriegszeit. Es fungiert als Schrecksignal einer paränetischen Rhetorik. Warum liefert Tacitus eine Imago des Soldaten, die er durch kein ›Ereignis‹ bestätigt? Auch wenn er den Ehrenkodex dieser Großgruppe hartnäckig leugnet, so weiß er doch, daß Dienstvorschriften und Militärstrafrecht kein dieser Imago entsprechendes Verhalten zulassen.19 Die Paränese beruht auf Annahmen der – popularisierten und vulgarisierten – stoischen und platonischen Anthropologie: Materielle Gier motiviere das Handeln des Menschen in primärer Weise, wofern er im Rohzustande verharrt, und falls nicht Zucht und Bildung ihn zu Höherem anhalten. Gier und Wankelmut reduzieren den Menschen auf einen Zustand unterhalb jeglicher Sozialität. Unterschichten sind dieser Gefahr in hohem Maße ausgesetzt. Soldaten sind Unterschichten in Waffen und erliegen ihr auf jeden Fall, wenn nicht strenge Führung sie davon abhält. In diesem Diskurs obliegt es den herrschenden Klassen, die Sozialität aufrechtzuerhalten. Herrschaft soll niederhalten, was die Sozialität unmittelbar und am stärksten bedroht, d. h. die materiell orientierte Triebstruktur der Unterschichten. Daher hat die Machtelite ihre eigene ambitio zu unterbinden – jenes Machtstreben, das die Eintracht der Aristokratie rhythmisch untergräbt. Denn durch Zwietracht entstehen Lücken in der Herrschaft selber; und diese Lücken reizen die Beherrschten dazu, sie explosiv aufzubrechen. Als Unterschichten in Waffen sind Soldaten also nicht allein Verteidiger der römischen Zivilisation, sondern gleichermaßen virtualiter die schlimmsten Feinde der Ordnung, ihre gefährlichsten schlechthin.

So wird die Polemik gegen das Donativ, einem realen Element der Politik, verständlich und auch die Klage über fiktive ›Plünderungen‹. Der Autoritätstyp, den die Aristokratie im Diskurs als idealen wünscht, auch wenn sie realiter ihr Verhalten gegenüber mehreren Gruppen nicht an ihm ausrichten kann, beinhaltet fraglose Durchgängigkeit des Gehorsams, weil jede Lücke zur Bresche wird, wo das Chaos einbricht. Wenn Kaiser Donative auszahlen, wecken und fördern sie die materielle Gier – avaritia. Diese wird beim Plündern aktiv und gewaltsam; dammbruchartig schwemmt sie Recht und Ordnung hinweg und verwüstet die Sozialität.

Nun zum sozialen Gebrauchswert dieses Diskurses. Das in ihm enthaltene Wissen war nur eingeschränkt tauglich. Zum einen handelte es sich nicht um ein operationalisierbares Wissen. Die Beherrschten tatsächlich so zu behandeln, wie sie im Diskurs objektiviert wurden, hätte schwere Spannungen und Meutereien in den Militärlagern provoziert. Die rigide Auffassung von Autorität in diesem Diskurs kollidierte mit dem tatsächlichen Gehorsamsmodus. Das wußte jeder Legionschef. Jenes Wissen war somit weit entfernt vom Handlungswissen der herrschenden Klasse. Zum anderen handelte es sich um eine besondere Ideologieform.20 Es diente nicht der Aufrechterhaltung der Herrschaft; es verschleierte nicht die Herrschaftsverhältnisse, und es wurde nicht weitergereicht an die Beherrschten. Es blieb ideologisch, insofern als es ein spezifisches ›notwendiges Bewußtsein‹ strukturierte. Es war nicht ›notwendig falsches Bewußtsein‹, weil es nicht notwendig falsch war; gleichwohl war es als falsches notwendig; denn seine Inhalte konnten schwerlich durch andere ersetzt werden. Es homogenisierte die Deutungsschemata der herrschenden Klasse; und vor allem diente es der Selbstsituierung einer extrem schmalen Gruppe, die als Träger der Herrschaft von sich glaubte, Garant der Ordnung schlechthin zu sein, freilich nicht durch ihr bloßes Vorhandensein, sondern einzig durch ständige Anstrengung.21 Daher die unablässigen Appelle der historiographischen Texte an die Leistungsbereitschaft dieser Aristokratie, an die Bewahrung ihrer Standeskultur und v. a. an ihre ethische Homogenität. Dieses Wissen mobilisierte unterbrechungslos die Bereitschaft, alles daran zu setzen, daß die stets gefährdete Herrschaft – und somit die römische Zivilisation überhaupt – bestehen blieb.

Somit kann eine praxeologische Forschung das im Diskurs affirmierte Selbstverständnis wichtiger Gruppen außer Betracht lassen. Es ist nur dort relevant, wo es tatsächlich die Praktiken mitkonstituiert. Denn es ist keineswegs deckungsgleich mit dem sozial wirksamen Selbstverständnis. Verhaltensrelevant ist diese Ideologie lediglich innerhalb der herrschenden Klasse selber und nur für bestimmte kommunikative Situationen. Ansonsten ist sie entweder nicht wirksam – und insofern ist sie für uns unwichtig –, oder aber sie ist desaströs. Letzteres brachte Kaiser Galba zum Vorschein. Bei ihm konvergierten Ideologie und Mentalität an einer heiklen Stelle, nämlich beim Umgang mit dem Heer. Galba handelte wiederholt dieser Ideologie gemäß – mit fürchterlichen Folgen.

Damit gelangen wir zur Kategorie ›Mentalität‹. Der überwiegende Teil der mentalitätsgeschichtlichen Forschung sucht die Mentalität in den rekonstruierbaren Vorstellungen, die eine Gruppe von ihrer Situation und ihrem Handeln hat. So gerät man freilich in die Versuchung, die Mentalität aus dem Diskurs, bzw. aus den Diskursen herauszuklauben. Dagegen vollzieht die Praxeologie einen epistemologischen Bruch. Für die praxeologische Historie gilt: Der Mentalität entspricht nur das sozial wirksame Selbstverständnis. Folglich brauchen die handelnden Gruppen keine verbal äußerbare Vorstellung von dem zu haben, was sie tun. Sie können davon sogar irrige Vorstellungen hegen, um dennoch zu handeln, d. h. Praktiken zu vollziehen oder zu verändern. Daraus ergibt sich ein einfacher Schluß: Die Mentalität steckt im Verhalten, sie ist vollkommen kongruent mit ihm.22 Mentalität ist folglich nicht in den Diskursen zu fassen, bzw. nur dann, wenn der seltene Fall eintritt, daß die Diskurse sich mit den Praktiken decken. Diese Kongruenz aber a priori vorauszusetzen, ist unzulässig. Somit fallen Ideologie und Mentalität in der Regel weit auseinander. Daraus resultiert keinerlei Schizophrenie. Das Bewußtsein ist ja nicht gespalten, denn es ist keine kohärent organisierte Instanz. Ohne Bewußtsein funktionieren zwar die sozialen Handlungen nicht, aber nur bei ganz wenigen Handlungen werden jene Prinzipien, Maximen, Normen und Motive explizit, die das Handeln leitet. Derjenige Teil des Bewußtseins, der das soziale Verhalten tatsächlich steuert, ist – wie Pierre Bourdieu nicht müde wurde zu betonen – zum überwältigenden Teil implizit.

Paul Veyne hat den Status des Bewußtseins so umrissen: »Dem Bewußtsein kommt nicht die Rolle zu, uns die Welt wahrnehmen zu lassen, sondern es ermöglicht uns, uns in ihr zu orientieren.« Dieser Satz steht in einem hochgradig relevanten und dauerhaft aktuellen Zusammenhang, welcher die Neugewichtung des routinemäßigen Handelns betrifft. Schon 1825 erhob Johann F. Herbart gegen Kant und den deutschen Idealismus insgesamt den Einwand, daß das Bewußtsein nur mit begrenzter Reichweite operiert. Handelten die Menschen ständig mit reflexiver Aufmerksamkeit, würden sie unfähig, ihren Alltag zu bewältigen, denn sie wären unablässig und endlos damit beschäftigt, ihre Umwelt und deren Details in die Reflexion einzuholen. Als Wilhelm Dilthey am Ende des 19. Jhs. seine Theorie radikaler geschichtlicher Existenz entwarf, nahm er Herbarts These zum axiomatischen Ausgangspunkt. Sein großer Einfluß tat ein Übriges, um binnen kurzer Zeit sowohl Max Weber wie Edmund Husserl und Martin Heidegger zu theoretischen Entwürfen des ›Orientiertseins‹ anzuregen. Weber machte aus dem Thema ein kardinales Anliegen der Soziologie: Gerade weil das Bewußtsein auf kulturelle Haltepunkte fixiert ist, vermögen die Akteure sich in der Sozialwelt zu orientieren. Sich orientieren heißt, das allermeiste übersehen, nicht wahrnehmen, sondern die Aufmerksamkeit auf die relevanten Signale der sozialen Interaktion richten.23 Das Bewußtsein, sei es implizit oder explizit, dient also unentwegt der Verkennung – sowohl seiner selbst als auch der Sozialwelt. Kulturwissenschaftlich relevant werden einerseits das implizite Wissen – also jenes Wissen, das in den Praktiken enthalten ist und zur ›Logik der Praxis‹ in Beziehung steht –, anderseits die Habitualisierung des Nichtwahrnehmens und des Wahrnehmens. Wir gelangen hier an die Schnittstelle zur ›Theorie der Praxis‹.24

4. Praxeologische Historie – und darüber hinaus

Vor einem Vierteljahrhundert mußte dieser Unterabschnitt noch erläutern, was praxeologische Geschichtswissenschaft ist und was sie leistet. Das ist entbehrlich geworden, da eine neue Form der historischen Kulturwissenschaft entstanden ist, welche praxeologischen Themen und Konzepte in ihr theoretisches Repertoire aufgenommen hat.

Der historischen Wissenschaft obliegt es, Sachverhalte zu erklären, die zwar vergangen sind, aber dennoch der objektiven Realität angehören. Kulturwissenschaftliches Erklären heißt, herausgegriffene Elemente der Realität – und sei diese vergangen – unter logisch konstruierte Begriffe zu fassen. Der Fortschritt in der Wissenschaft kann sich darum kaum anders vollziehen als vermittelst der Konkurrenz von begrifflichen Modellen. Diese konkurrieren nicht allein um größere Plausibilität, sondern auch um höhere logische Konsistenz. Und diese Konkurrenz wird entschieden nicht nur auf dem schmalen, durchlöcherten Boden unserer notorischen Quellenarmut, sondern auch auf dem Gebiet historischer Komparatistik, wie Durkheim klassisch formulierte: »Die Geschichte kann sich nur als Wissenschaft erweisen, indem sie Erklärungen bietet; man kann jedoch nur erklären, indem man vergleicht […] Sobald sie jedoch vergleichend arbeitet, unterscheidet sich die Geschichte nicht mehr von der Soziologie.«25 Aus diesem Grund hat Pierre Bourdieu, der diese Sätze mehrfach zitierte, seine Soziologie eine ›Anthropologie‹ genannt. Diesem Impuls bleibt das vorliegende Werk treu. Gleichwohl ist einzuräumen, daß die neoinstitutionelle Soziologie auf Schwächen in der ›Theorie der Praxis‹ hingewiesen hat. Und diese Hinweise sind fürderhin zu beherzigen. Denn die Konkurrenz der Modelle soll ja die Erkenntnis voranbringen.

Was bleibt zu tun? Zunächst ist zu veranschaulichen, wie die ›Theorie der Praxis‹ sich gewinnbringend anwenden läßt – auf historische Gegenstände, die mit dem Thema des Buches zusammenhängen. Danach sind die Stellen zu benennen, an denen die historische Kulturwissenschaft über die Praxeologie Bourdieu’scher Prägung hinausgehen muß.

Wie also läßt sich die ›Theorie der Praxis‹ forschungspraktisch anwenden? Als Ausgangspunkt bleibt: Wenn die Geschichte Wissenschaft sein will, dann muß sie erklären. ›Praxeologisch‹ nennt sich diejenige Historie, die diesen Anspruch einzulösen versucht, indem sie Praktiken erforscht. Ihre grundlegenden theoretischen Texte stammen von Norbert Elias, Paul Veyne und insbesondere von Pierre Bourdieu.26

Um Praktiken zu registrieren, gebraucht eine solche Historie heuristische Konzepte: Serie, Regelhaftigkeit, Möglichkeitsbedingung und Ereignis. Um Praktiken in ihren historischen Kontext einzubetten, verwendet sie vor allem: Figuration, Interdependenz, Feld, Klasse, Habitus, Strategie, Interaktion.27 Auch wenn diese Kategorien auf den folgenden Seiten seltener auftauchen sollten, als die Sachverhalte es nahelegen, so strukturieren sie dennoch den Duktus der Erklärung, die Argumentation. Was leistet nun praxeologische Historie in der konkreten Forschungspraxis?

Um Beziehungen zwischen Gruppen und deren Veränderungen zu thematisieren, sind Handlungsspielräume zu rekonstruieren, Machtbeziehungen und Konfliktlagen zu bestimmen. Hierbei kann es entscheidend sein, welche Motive eine Gruppe einer anderen unterstellt. Die Aktionen der ›anderen‹ zu dekodieren ist ein kardinales Bedingnis für alle politische Interaktion. Deswegen hat der Historiker die Handlungen darauf zu prüfen, inwieweit sie Gesten mit Codefunktionen darstellen. Die Reaktionen der anderen Akteure lassen ein Netz von Interaktionen entstehen, befragbar auf Regelmäßigkeit, Ereignis und Serie. Um die Wechselseitigkeit zu verstehen, ist die jeweilige Bedeutung der Performanzen und Gesten zu erschließen. Will man die performative Dimension des Agierens würdigen, kommt man nicht umhin, der Semiotik einen Stellenwert einzuräumen, den sie in den herkömmlichen politischen Analysen nicht innehält. Nicht immer erschließt sich dem Historiker die Semantik von Akten aus den Reaktionen der anderen Gruppen; denn Gesten können mehrdeutig sein, Mißverständnisse sind möglich. Nicht nur der Historiker mißversteht; auch die Akteure unterliegen diesem Deutungsrisiko. Sie können ›falsch‹ reagieren, weil sie falsch interpretieren. Doch interpretieren müssen sie auf jeden Fall, andernfalls würden sie unfähig zu jeglicher Aktivität.

Der ›Sinn‹ von Handlungen liegt überdies im differentiellen Abstand zur Serie. Wenn z. B. die Kaiser stets bei Antritt ihrer Regierung den Truppen ein Donativ, der Plebs ein congiarium spendieren, Galba jedoch im Herbst 68 das Donativ rundheraus verweigert, dann wird dieses kaiserliche Handeln zu einer Geste mit präziser Codefunktion – vor dem semantischen Hintergrund dessen, daß diese Geschenke den Status der Beschenkten bestätigten. Da alle Kaiser ein Donativ gaben, wäre der ›Sinn‹ von Galbas Weigerung sogar dann erschließbar, wenn die Historiographen nicht überliefert hätten, wie kategorisch Galba seine Haltung begründete. Denn der ›Sinn‹ der Handlung des Kaisers war, den Status des Heeres zu verändern; dabei ist es fürs erste ganz gleichgültig, welche Motive ihn dazu bewogen.

Auf diese Weise lassen sich die Praktiken in Register eintragen, Serien erstellen, Regelmäßigkeiten und differentielle Abstände verzeichnen; und es bieten sich unentwegt Alternativen an. Der tatsächliche historische Verlauf stellt sich nicht selten dar als eine bestürzend zufällige Nichtrealisierung von anderen Möglichkeiten. Das wirkt sich beträchtlich auf die hypothetischen Konstruktionen aus und vor allem auf die Darstellung, die keiner Narration mehr folgen kann. Dazu unten.

Eine praxeologische Historie erschließt neue Möglichkeiten, indem sie ein Register von Handlungen erstellt, um eine spezifische Handlungsweise zu erklären. Das läßt sich illustrieren an einem solch einfachen Ereignis wie der Meuterei und dem Abfall einer Legion. Wenn man streng darauf achtet: Welche Offiziere werden getötet? Welche in Fesseln gelegt? Welche nur entwaffnet? Wann wird der eigene Legat nicht mehr gegen einen abgeschickten Mörder geschützt? – dann lassen sich Aussagen gewinnen über die Struktur eines Vorganges, der als anomischer eingestuft wird, aber vielleicht strengeren Regeln gehorcht, als der Historiker zunächst gewärtigt.

Wenn der Eid auf den Imperator nur unwillig abgelegt oder verweigert wird, so kann dies in unterschiedlichsten Formen erfolgen: a) Die Soldaten sprechen die Eidesformel nach, lassen aber den Imperatornamen aus; b) nur die vorderen Reihen sprechen die Formel; c) die ganze Einheit schweigt; d) die Soldaten machen durch Sprechchöre die Abhaltung der Zeremonie unmöglich; e) vereinzelte Steinwürfe treffen die imagines des Kaisers; f) Soldaten reißen die Bildnisse des Imperators herunter und stürzen seine Statue um. Sortiert man diese Aktionen gemäß der Intensität des Revoltierens, dann lassen sie sich auf einer Skala ordnen. So entsteht – wie im Kapitel 8 exemplarisch zu sehen sein wird – ein Register: Manche Aktionen schaffen einen irreversiblen Tatbestand – der Punkt f) heißt: offener Abfall vom Imperator –; manche kommen ihm gefährlich nahe – so d) und e) –; manche tasten nur in die Richtung dieses definitiven Schritts. Jede dieser Praktiken ist in ihrer Codefunktion anders determiniert. Die politische Bedeutung wird desto eindeutiger, je mehr sich das Handeln an den irreversiblen Schritt – also an Punkt f) – annähert; sie ist proportional polyvalenter, je weiter sie unterhalb dieser Schwelle bleibt.

Es geht also um ›Sinnverstehen‹; dieses gehört konstitutiv zum Erklären der Vorgänge. Damit ist das Verhältnis zur Hermeneutik angesprochen. Angesichts des theoretischen Irrlichterns in unserer Disziplin soll der nächste Leitsatz lauten: Die klassische Hermeneutik behält ihr volles Recht. Denn – das sollten interpretierende Forscher nicht vergessen – die von Friedrich Schleiermacher konzipierte Hermeneutik ist angelegt auf ›Verstehen von Fremdem‹. Ihr Apriori lautet, daß Sinn aus menschlich produzierten Bedeutungen besteht und Menschen aller Epochen und aller Kulturen grundsätzlich befähigt sind, Bedeutungen selbst von fremdesten Kulturen zu erschließen und sie auf eine spezifische Weise zu verstehen; ob sie das leisten, hängt von den Informationen und von den interpretativen Techniken ab. Die klassische Hermeneutik ist kantianisch imprägniert; sie hat wenig zu tun mit jener Hermeneutik, die sich mit dem Namen von Wilhelm Dilthey verbindet. Das methodische Verstehen ist für Schleiermacher – wie auch für Droysen – ein intellektueller Vorgang, kein intuitiver; an dieser Stelle unterscheidet sich die klassische Hermeneutik deutlich von jener Diltheys. In einem berühmt gewordenen Satz hat Max Weber der klassischen Variante einen logischen Flankenschutz verschafft: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ›Kultur‹ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.« 28 Impliziert in dieser kategorischen Aussage ist, daß Menschen im selben Grade befähigt, Bedeutungen zu entziffern und zu verstehen, wie sie begabt sind, Bedeutungen zu verleihen. Sie sind es a priori. Deswegen gibt keine transzendentale Grenzlinie, weder zwischen den Kulturen noch zwischen den Epochen. Das trifft frontal auf jenen Vorbehalt, den G. Lardreau gegen das Transzendentale insgesamt formuliert hat: »Dire que le transcendental est historiquement constitué, c’est dire aussitôt qu’il faut penser un transcendental particulier.«29 Nun kann das Transzendentale nicht historisch konstituiert sein, weil es sich auf die Bedingung der Möglichkeit für Erkenntnis überhaupt bezieht; und diese Bedingung ist per definitionem nicht empirisch, sondern gehört – im kantischen Sinne – zur Vernunft überhaupt. Was Lardreau meint, berührt hingegen den semantischen Horizont, in welchem menschliche Akteure sich bewegen und ihre Lebenswelt deuten und ihr ›Bedeutungen verleihen‹. Selbstverständlich ist ein solcher Horizont ein jeweils historischer. Aber die epistemische Dimension läßt sich nicht reduzieren auf die kulturellen Kontexte. Andernfalls wäre Wissenschaft über den Wandel der Epochen hinweg unmöglich, desgleichen das Übersetzen von Geschriebenem oder Gesagtem von einer Kultur in die andere. Denn die semantischen Horizonte gerieten zu epistemischen Abgründen zwischen holistischen kulturellen Monaden. Die Semantiken würden inkommensurabel. Es sei daran erinnert, daß das Konzept des ›Paradigmas‹ von Thomas Kuhn just eine solche Inkommensurabilität als gegeben annimmt, und daß die ›Diskursformationen‹ Foucaults – und noch mehr sein Konzept der ›Wahrheitsregime‹ – auf eine radikale Abgeschottetheit kultureller Ganzheiten ausgerichtet sind. Eine solche Monadenhaftigkeit wäre der Tod jeglichen historischen Forschens.

Zurück also zur klassischen Hermeneutik. Was sie zum Verhältnis von Sinnverstehen und Fremdverstehen zu sagen hat, ist bisher nicht überholt worden, ähnlich wie Kants Transzendentalismus erkenntnistheoretisch nicht zu überbieten ist. Allerdings hat die historische Forschung es mit empirischen Gegenständen zu tun; und diese sind auf je spezifische Weise zu ›verstehen‹ und zu erklären. Die hermeneutische Arbeit gewinnt von den vielfältigen Anregungen aus anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.30 Jedenfalls bleibt die Theorie der Praxis auf gehörigem Abstand zu Interaktionismus und Handlungstheorie. Auf den ersten Blick mag das erstaunen; denn Praxistheorie und Interaktionismus sind beide akteurszentrierte Ansätze. Indes, handlungstheoretische Ansätze folgen einem methodologischen Individualismus: Man erklärt ein soziales Phänomen, indem man es zurückführt auf »die elementaren individuellen Aktionen, aus welchen es sich zusammensetzt.« Diese Verknappung von Faktoren kann sehr weit gehen; ein radikaler methodologischer Individualismus erklärt die Genese sozialer Strukturen »aus dem handelnden Zusammenwirken mehrerer Akteure beim Abarbeiten ihrer Intentionsinterferenzen«.31 Angelangt bei diesem extremen Standpunkt können Handlungstheoretiker den Wandel von Strukturen nur noch daraus abzuleiten, daß sich Intentionen oder Motive der Akteure verändern. Davon ist die Praxeologie weit entfernt. Jenen Makrostrukturen, die sich – in der Gestalt von sozialen Lagen, von ›Feldern‹ und von Hierarchien zwischen diesen Feldern – auf die Akteure auswirken, beläßt sie ihre Geltung. Das Konzept des ›Aushandelns‹ (negotiating) findet deswegen in der Praxistheorie keinen Platz; denn – das wird im Kapitel 1 zu sehen sein – die Akteure bewegen sich in Rahmen, die sie nicht infrage stellen und über die ihnen kein Verhandeln möglich ist.

Nun zum kritischen Verhältnis von Institutionalität und Praxeologie. An dieser Stelle muß die Forschung über die Praxeologie hinausgehen. Das Thema Usurpation enthält wichtige institutionsgeschichtliche Aspekte. Diese sind im Rahmen einer praxeologisch orientierten Kulturgeschichte neu zu verorten. Die neoinstitutionalistische Soziologie ist der Praxeologie einen großen Schritt entgegengekommen, als sie sich das Axiom zu eigen machte, daß die Institutionen das Handeln der Akteure nicht determinieren, sondern es bloß strukturieren.32 Will man Strukturen untersuchen, stellt man schnell fest, daß nirgendwo Strukturen an sich bestehen. Strukturen sind zu unterscheiden von den gedanklichen Modellen, ohne die keine Wissenschaft zu operieren vermag. Strukturen sind objektive Wirkzusammenhänge. Jede Struktur existiert dann und nur dann, wenn sie sich im Realen realisiert; und das kann sie nur tun in der Form von Geschehnissen. Diese sind als bedeutsame ›Ereignisse‹ begrifflich zu sezieren. Um strukturelle Bezüge und Wirkungen zu analysieren, braucht man demzufolge Ereignisse. Anders können die Akteure nicht ins Spiel kommen; doch sie sind es letztlich, die strukturiert handeln und mit ihrem Handeln die Strukturen implementieren und beleben. Indes, wenn man den Fokus richtet auf das Agieren der Akteure, die sich auf einem spezifischen sozialen Feld bewegen, ausgestattet mit einem spezifischen Habitus und versehen mit bestimmten ›Kapitalsorten‹, dann unterliegt der Forscher immer der Versuchung, die institutionellen Momente aus den Augen zu verlieren. Auch in der Bourdieu’schen Soziologie wirkt die Tendenz, Institutionalität in Praktiken aufzulösen. Die Unsicherheit, mit der seine Praxeologie das Thema der sozialen Normen umkreist, zeugt von einem methodischen Defizit.33 Dieses wird augenfällig und akut, wenn man gewahrt, daß Bourdieu politische Institutionen als historische Gegebenheiten nirgendwo in den Blick genommen hat. Aber eine Kulturgeschichte des Politischen, die sich mit dem gewaltsamen Herrscherwechsel in einem hochinstitutionalisierten System beschäftigt, kann dabei nicht stehen bleiben. Institutionen und Normen – auch die rechtlichen – verlangen Beachtung, nicht bloß in der Forschungspraxis selber, sondern auch in der diskussiven Darstellung der Ereignisse.

Damit gelangen wir zur Frage, wieso diese Untersuchung der Usurpation keine narrative Darstellung sein kann, sondern eine diskussive sein muß. Diskussiv bedeutet, daß jene Faktoren die für das Phänomen Usurpation konstitutiv sind, erörtert werden, im Medium einer Diskussion der maßgeblichen Argumente.34 Die Textur des Buches ist darum dezidiert nicht-narrativ. Das erfordert ein teilweise ungewohntes Leseverhalten. Die große Geschichtsschreibung gehorcht – mit Droysen gesprochen – entweder der ›erzählenden‹ oder der ›didaktischen‹ Darstellungsweise. Bei ihr fallen die Logik des Forschens und die Logik des narrativen Darstellens zur Gänze auseinander. Die Arbeit des Forschens wird großenteils unsichtbar und verschwindet hinter der gestalteten Narration. Dafür rückt die ästhetische Qualität der Textur in den Vordergrund. Und diese läßt sich zur Kunst steigern, wofür die Klassiker der Zunft brillante Zeugnisse bieten. Der landläufige Irrtum, die Historie sei eine Kunst, ergibt sich aus dieser Autonomisierung der narrativen Form.35 Bereits in der hellenistischen Historiographie boten dieser Irrtum und sein Grund reichlich Stoff für scharfe Abgrenzungen.

Weil dieses Buch aber den Regeln der diskussiven Darstellung gehorcht, kann es nicht den Gepflogenheiten des Erzählens folgen. Es befolgt das Gebot, die Reflexion beim Forschen selber transparent zu machen – auf Kosten der narrativen Dimension. Konkret bedeutet dies, daß der Fortgang der Ereignisse immer wieder unterbrochen wird, um die logische und sachliche Möglichkeit von anderen Verläufen abzuwägen. Die gedankliche Bewegung vollzieht sich stellenweise traktatförmig. Indes, dieses Verfahren läßt sich nur sparsam anwenden. Wollte die Historie ein Ereignis oder eine Situation vollständig erklären, müßte der Historiker unentwegt den Fortgang des Berichtens sistieren, um alle an einer bestimmten Stelle sich ergebenden möglichen Alternativen nacheinander darzustellen. Er müßte jeden Vorgang in mehreren Varianten auffächern, skizzieren und erzählen. Das täte er nicht, weil er um sein Leben erzählen müßte wie Scheherazade, sondern um der bloßen wissenschaftlichen Vollständigkeit willen. Daß uns eine solche Art von Historie erspart bleibt, verdanken wir der Knappheit unserer Quellen – aber auch der Klugheit des ansonsten geduldigen Lesers: Die Zeit des Lesens geht ab von der des Lebens. Wer mit der Frist leben – und lesen – muß, ist gehalten, sich zu entscheiden und sich auf Notwendiges zu beschränken. Und diese Entscheidung ist auch dem Historiker abzufordern.

1. Die Akzeptanzmonarchie

1.1 Staat und Staatlichkeit – zur Anwendbarkeit der Begriffe