Den Tod muss man leben - Angela Fournes - E-Book

Den Tod muss man leben E-Book

Angela Fournes

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Beschreibung

„Der Tod ist für mich das Natürlichste von der Welt“

Mit überraschender Leichtigkeit erzählt die Bestatterin Angela Fournes vom Ende des Lebens. Sie ist überzeugt, dass die Verbindung zu anderen Menschen nicht mit deren Tod verloren geht, sondern sich nur verändert. Geist und Seele der Verstorbenen – für die Augen unsichtbar – nimmt Angela Fournes daher in ihre Arbeit mit auf.
Mit großer menschlicher Wärme bezieht sie die Hinterbliebenen in alle Prozesse des Bestattens ein und vollbringt dadurch Wunderbares: Die Angst vor dem Tod weicht und die Seele erhält Zeit und Gelegenheit, das Erlebte zu verdauen.

Erleichternd, tröstlich und sogar heiter – ein ungemein bereichernder Blick auf das Lebensende, das zugleich ein Anfang ist.

Aufgeschrieben von der Journalistin Annette Bopp

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Die Bestatterin Angela Fournes ist mit dem Tod vertraut wie kaum jemand sonst. Als Dreizehnjährige erlebte sie den unnatürlichen Umgang mit Verstorbenen, als ihr Vater in den USA starb. Sieben Jahre später begleitete sie ihre sterbende Mutter in der Schweiz auf deren letztem Weg. Als Sterbebegleiterin und Bestatterin lernte sie, wieviel Angst verloren geht, wenn man über den Tod spricht. Ehrlich, einfühlsam und mit einer überraschenden Leichtigkeit erzählt sie jetzt, was in anderen Kulturen mit Verstorbenen geschieht, was in den einzelnen Stadien des Sterbens und kurz danach passiert und wie sie Sterbende und ihre Angehörigen über den Moment des Todes hinaus begleitet.

ANGELA FOURNES

ANNETTE BOPP

Eine Bestatterin hilft – denen, die gehen,

und denen, die bleiben

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der besseren Lesbarkeit wegen haben wir im ganzen Buch die männliche Sprachform beibehalten. Selbstverständlich sind alle anderen Geschlechter immer genauso gemeint.

Originalausgabe 10/2018

Copyright © 2018 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Text’up Lilian Kura, Starnberg (www.textup.de)

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design unter Verwendung eines Motives von: Shutterstock Images LLC

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21296-4V001

www.Ludwig-Verlag.de

ZU DIESEM BUCH

WIE ICH BESTATTERIN WURDE

Eltern, Kindheit und Jugend

Mexiko

Schulzeit und zurück in die USA

Vaters Bestattung

Noch einmal Mexiko

In Deutschland

Der Tod meiner Mutter

Lehr- und Wanderjahre

Am Priesterseminar

In Peru

Auf der Suche

Endlich angekommen

»Bestatter sein ist ein Übungsweg«

GUT VORBEREITET SEIN

Die physische Vorbereitung auf das Sterben

Die letzten Dinge ordnen

Dokumente vorbereiten

Eine Bestattungsverfügung erstellen

Den digitalen Nachlass regeln

Die seelische Vorbereitung auf das Sterben

Das Lassen üben

Die geistige Vorbereitung auf das Sterben

Den Schatten begegnen

Die Parallelen von Geburt und Tod

»Einen würdigen Umgang ermöglichen«

DEN TOD LEBEN

Versorgen, Waschen, Ankleiden

Das Waschen

Das Ankleiden

Alter Brauch neu entdeckt: das Aufbahren

»Es war eine ganz wunderbare Erfahrung«

Den Sarg bemalen und schmücken

Den Toten in den Sarg betten und aussegnen

Lebens- und Abschiedsfeier, Beisetzung

Den Sarg oder die Urne bestatten

»Ich bin froh, so begleitet worden zu sein«

Sollen Kinder dabei sein?

Geschichten zum Vorlesen für Kinder und Erwachsene

»Die Kinder waren ständig mit dabei«

Das Nachtreffen nach 40 Tagen

»Wir leben weiterhin zusammen, nur auf andere Art«

Mit den Verstorbenen leben

Das Café Tod

Die zwei Seiten des Todes

ANHANG

Checklisten

Zum Vorlesen und Vortragen

Nützliche Internetadressen

Weiterführende Literatur

Quellenverzeichnis der zitierten Textstellen

ZU DIESEM BUCH

»Ich möchte dem Tod seine menschliche Seite zurückgeben«

Der Tod ist für mich das Natürlichste von der Welt. Statt als absolutes Ende empfinde ich ihn als Tor zu einer Verwandlung unseres Seins – danach geht es in einer anderen Dimension weiter.

Früher gehörte der Tod viel stärker zum Alltag. Gestorben wurde meist zu Hause, im Kreis der Großfamilie, auch in Anwesenheit der Kinder. Zusammen wusch man den Leichnam, zog ihn an und bahrte ihn für einige Tage auf. Freunde und Verwandte kamen, um sich zu verabschieden; während der Totenwache wurde die Familie von Nachbarn mit Essen und Trinken versorgt. Später hob man gemeinsam das Grab aus und schaufelte es wieder zu.

Heute ist all das ein Tabu, obwohl das Thema »würdiges Sterben« durch zahlreiche Bücher und Artikel langsam wieder eine Lobby bekommt. Der Tod selbst jedoch wird weiterhin verdrängt. Wer im Krankenhaus stirbt, den bringt das Personal schon nach zwei Stunden ins Kühlfach der Pathologie, von dort holt der Bestatter den Leichnam dann ab. Im Normalfall sehen die Angehörigen den Verstorbenen erst bei der Bestattungsfeier im Sarg wieder – oder gar nicht mehr. Alles, was bis dahin notwendig ist, verläuft ohne ihr Beisein. Das ist umso bedauerlicher, als Tote genau in dieser Zeit einen gravierenden Veränderungsprozess durchlaufen: Es dauert ungefähr drei Tage, bis sich Seele und Geist vollkommen aus dem Körper gelöst haben und lediglich eine leere Hülle zurückbleibt. Dieser Prozess wird den Hinterbliebenen vorenthalten, obwohl er enorm wichtig ist für einen guten Abschied und für die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Trauer wird eben nicht leichter verarbeitet, wenn man alles, was mit dem Verstorbenen zu tun hat, den Profis überlässt. Mehr noch: Man vergibt die einmalige Chance, einem geliebten Menschen einen allerletzten Liebesdienst zu erweisen – ebenso wie sich selbst.

Dieses Buch ist aus dem Anliegen heraus entstanden, dem Tod seine menschliche Seite zurückzugeben und ihn als Teil unseres Lebens zu verstehen. Es soll dazu ermutigen, die alte Tradition des Aufbahrens wieder neu zu beleben. Es soll aufzeigen, wie erfüllend es ist, die Begleitung eines Verstorbenen bis zur letzten Ruhe bewusst zu gestalten.

Ich habe dieses Buch nicht selbst geschrieben. Zum Glück konnte ich die Journalistin und Autorin Annette Bopp dafür begeistern, die sich schon in zwei Büchern intensiv mit dem Thema Sterben und Tod beschäftigt hat. Sie hat meine zunächst noch ungeordneten Gedanken und Geschichten in eine gut lesbare Form gebracht.

Wir hoffen beide, dass die Lektüre Sie inspiriert, künftig dem Tod einen Platz in Ihrem Leben zu geben – und einer neuen, menschlicheren Bestattungskultur eine Chance.

Berlin, im September 2018

Angela Fournes

»Den Tod als integralen Bestandteil des Lebens verstehen«

Es ist jetzt gut ein Jahr her, dass mich ein Anruf von Angela Fournes aus Berlin erreichte: Ob ich mir vorstellen könne, mit ihr ein Buch über das Bestatten zu schreiben, über den würdigen Umgang mit einem Verstorbenen – vom Moment des Todes bis zur Trauerfeier und Beisetzung? Schon in den vergangenen Jahren hatte ich mich intensiv mit dem Thema Sterben und Tod befasst. Das Ergebnis waren zwei Bücher, die ich zusammen mit der Palliativkrankenschwester Dorothea Mihm geschrieben habe: Die sieben Geheimnisse guten Sterbens und Anleitung zum guten Sterben. Der Aspekt des Bestattens fehlte noch; er war in den bisherigen Werken nicht vorrangig.

Angelas Anfrage kam in einer Zeit, als mir Fakten aus dem Jahr 2013 wieder in die Finger kamen, die nicht nur für Sterben und Tod, sondern auch für die heikle Frage der Organspende relevant sind. Forscher hatten im Fachblatt Human Neurosciences neue Erkenntnisse zu den körperlichen Funktionen Sterbender publiziert, die bisher kaum Beachtung gefunden hatten. Sie sind das Ergebnis wissenschaftlich fundierter Messungen abseits jeder Esoterik:

•   Das Gehirn stirbt nach dem Tod nicht gleich ab, sondern arbeitet noch mehr als zehn Minuten lang weiter. Nur wenige Minuten zuvor empfängt es letztmals wahre Salven von Elektrizität.

•   Zeichnet man in dieser Zeit die Gehirnströme mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG) auf, ist das Muster bei jedem Menschen unterschiedlich. Das bedeutet, jeder einzelne von uns macht auch nach dem offiziellen Eintritt des Todes noch individuelle Erfahrungen.

•   Das Gedächtniszentrum ist weiterhin aktiv, auch wenn das restliche Hirn bereits tot ist. Es ist der letzte Teil des Gehirns, der erlischt. Unmittelbar bevor es seine Aktivität einstellt, schickt es noch einmal besonders emotionale Erinnerungen vor die Augen des bereits Gestorbenen.

•   Noch zwei Tage nach dem Tod arbeiten mehr als tausend Gene in unserem Körper. Einige davon sind hochaktiv. Es sind Gene, die Entzündungen triggern, das Immunsystem anregen, Stress entgegenwirken und sogar das Krebswachstum fördern. Warum werden diese Gene ausgerechnet im bereits gestorbenen Körper wieder lebendig?

Diese Erkenntnisse und nicht zuletzt die Erforschung von Nahtoderlebnissen stellen uns unweigerlich vor eine entscheidende Frage: Ist vor diesem Hintergrund der Hirntod als Definition für den Todeszeitpunkt noch zu rechtfertigen? Mehr noch: Lässt sich die heute übliche Praxis im Umgang mit Verstorbenen noch aufrechterhalten? In Krankenhäusern schieben wir sie kurzerhand ins Kühlfach, in Pflegeheimen und anderswo lassen wir sie möglichst schnell vom Bestatter abholen, der sie wiederum in irgendeinen Kühlraum verfrachtet. Ist dieses Vorgehen vertretbar, wenn doch der Körper noch ein bis zwei Tage nach seinem Tod ganz offensichtlich bestimmte Funktionen aufweist, auch wenn diese bereits im Ersterben begriffen sind? Was tun wir ihm damit an?

Nein, ich möchte nicht, dass mit mir so umgegangen wird. Ich möchte die Möglichkeit haben, in Ruhe mein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes – auszuhauchen, möglichst im Kreise meiner Lieben, zu Hause. Deshalb habe ich inzwischen genau verfügt, wie mit mir umgegangen werden soll, wenn es zu Ende geht. Und ich kann nur hoffen, dass diese Wünsche dann so umgesetzt werden können.

Es ist wichtig, dass wir schon zu Lebzeiten auf diese Fragen aufmerksam werden und nicht erst, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht. Natürlich erfordert das etwas Mut. Deshalb habe ich es sehr begrüßt, dass nun ein Buch über die Möglichkeiten entstehen sollte, Verstorbenen anders zu begegnen: menschlich, liebevoll, angstfrei.

Schon mehrfach durfte ich miterleben, wie Menschen nach ihrem Tod aufgebahrt wurden – und empfand es ausnahmslos als eine schöne, sinnvolle und würdige Tradition. Es wurde geweint und gelacht am Totenbett, Lustiges und Nachdenkliches miteinander geteilt. Man fühlte sich miteinander und mit dem Verstorbenen verbunden, und das Leben bekam damit eine neue, noch lebendigere Dimension. Leider ist es aber immer noch keine Selbstverständlichkeit, Menschen zu Hause sterben zu lassen. Noch viel seltener werden sie dort aufgebahrt. Die meisten Hinterbliebenen wissen gar nicht, dass das möglich ist, oder sie haben Angst vor dem Umgang mit einem Leichnam. Es ist allerdings höchste Zeit, dass wir den Tod endlich als integralen Bestandteil des Lebens verstehen lernen.

Mit Trauerfeiern habe ich sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, gute wie schlechte. Angesichts der allgegenwärtigen Berührungsängste schien es mir mehr als drängend, das Thema aus der Schmuddelecke zu holen und ein Modell zu entwickeln, wie man besser mit Sterben und Tod umgehen kann. Angela Fournes steht für eine besondere, heutzutage noch wenig verbreitete Kultur: als professionelle Außenstehende die Angehörigen und auch den Verstorbenen selbst durch diese wichtige Phase zu begleiten.

Und so ließ ich mir von ihr berichten, wie sie dabei vorgeht, welche Motive sie bewegen und wie sie überhaupt dazu kam, Bestatterin zu werden. Ich habe alles bewusst so aufgeschrieben, wie sie es mir erzählt hat, in ihren eigenen Worten, weil ich wollte, dass es so authentisch bleibt, wie Angela nun einmal ist. Das Bestatten ist ihr Herzensthema. Ich war nur das Instrument dafür, ihre Erfahrungen zu Papier zu bringen.

Zusätzlich habe ich mit Menschen gesprochen, die mit dieser besonderen Art des Bestattens eigene tiefgreifende Erfahrungen gemacht haben. Sie sind die besten Zeugen dafür, wie bereichernd und heilsam der direkte, unverstellte Umgang mit einem Toten sein kann. Die Protokolle dieser sehr persönlichen Geschichten finden Sie über das ganze Buch verteilt.

Wenn es dazu beiträgt, dass mehr Menschen den Mut finden, den Tod in ihrer Lebens- und Gedankenwelt willkommen zu heißen und dadurch anders mit Verstorbenen umzugehen – dann hat dieses Buch sein Ziel erreicht.

Hamburg, im September 2018

Annette Bopp

WIE ICH BESTATTERIN WURDE

Dass Menschen sterben, war für mich schon als Kind etwas ganz Alltägliches. Das liegt sicher daran, dass ich in Mexiko aufgewachsen bin, wo man damit ganz anders umgeht als in Europa. Der Tod gehört dort in allen Generationen ganz selbstverständlich zum Leben. Bekamen wir zum Beispiel beim Spielen mit, dass irgendwo ein anderes Kind gestorben war, radelten wir hin, um es zu verabschieden – das gehörte sich einfach so. Der kleine Leichnam lag in einem Bettchen oder Sarg, immer in einem Meer von Blumen. Es gab zu essen und zu trinken, man lachte und weinte zusammen, nichts daran war bedrohlich.

Für die Menschen in Mexiko ist es normal, auf diese Weise Anteil zu nehmen und den Toten einen guten Weg zu wünschen. Verstorbene Kinder nennt man in Mexiko übrigens bis heute »Engelchen«, weil sie noch nicht ganz auf der Erde angekommen sind und so zwischen Himmel und Erde vermitteln können. Ich finde das ein schönes Bild.

Dieser besondere Umgang der Mexikaner mit dem Sterben geht über 3 000 Jahre auf die Azteken mit ihrer großen Ahnenkultur zurück. Für sie war der Tod Bestandteil des Lebens, ganz einfach aus dem Grund, weil Leben nur entstehen kann, wenn etwas anderes stirbt. Geborenwerden und Sterben waren untrennbar miteinander verbunden, zwei Tore innerhalb eines unendlichen Kreislaufs. Der Tod galt als Portal für ein weiteres Leben, so wie die Geburt eines in das Leben hinein war.

Den Toten waren im aztekischen Jahreslauf zwei Feiertage gewidmet: das Blumenfest im Juni/Juli für die Kinder und das Erntedankfest Ende August für die Erwachsenen – die Blütezeit als Symbol für das Heranwachsen, der Herbst für Reife. Als die Spanier das Land eroberten und ihm das Christentum aufzwangen, verboten sie diese »heidnischen« Bräuche. Kurzerhand verlegten die findigen Mexikaner das Totenfest auf die katholischen Feiertage Allerheiligen und Allerseelen. Bis heute feiert man am 31. Oktober vorab die verstorbenen Kinder und an den beiden Folgetagen die Erwachsenen. Am 1. und 2. November ziehen die Menschen mit Kerzen, Blumen und prall gefüllten Picknickkörben zu den Friedhöfen und verbringen die ganze Nacht dort. An den Gräbern wird gebetet und getrauert, Musik gemacht, geschmaust und gefeiert – es ist ein einziges großes Happening, ein riesiges, lautes, buntes und fröhliches, aber auch besinnliches Fest der Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten.

Am Eingang der Friedhöfe werden riesige Holzgestelle aufgebaut, über und über geschmückt mit leuchtend orangefarbenen Studentenblumen (Tagetes), weil Tote angeblich die Farben Orange und Gelb erkennen können. Deshalb markieren orangefarbene Blumen auch den Weg vom Friedhof zur Wohnung.

Vor jedem Haus hängt eine Laterne, alle Räume sind picobello geputzt und als Einladung an die Verstorbenen mit Weihrauch ausgeräuchert. Im Wohnzimmer steht ein bunt geschmückter Gabentisch mit Fotos und allem, was der Verstorbene im Leben besonders gern aß und trank. Der ganze Tisch ist überhäuft mit kleinen Totenköpfen, Särgen und Skeletten aus Zucker, Schokolade oder Marzipan. Das soll niemanden er- und abschrecken. Vielmehr gelten die Totenköpfe als »Gefäße«, in die die Seelen einkehren können. Deshalb liegen sie in allen nur denkbaren Varianten herum, beschriftet mit dem Namen des Verstorbenen, der erwartet wird. Außerdem verschenkt man sie an noch Lebende, mit deren Namenszug versehen, als süße Erinnerung an unsere Endlichkeit.

Neben Süßigkeiten und Kuchen – unbedingt dabei: »Pan de Muerto«, das süße Totenbrot – dürfen auch Obst und Gemüse nicht fehlen. Immerhin ist der Tag gleichzeitig ein Erntedankfest! Zahllose Kerzen sorgen für stimmungsvolles Licht, überall hängen bunte Girlanden. Wichtig sind ein Stuhl, ein Wasserkrug und ein Handtuch zum Händewaschen für den Verstorbenen: Er muss sich ja von seiner Reise ausruhen und frisch machen.

Traditionell machen sich in dieser Zeit als Tote Verkleidete über die aktuelle Politik lustig und ziehen die Verantwortlichen gehörig durch den Kakao.

Eine der wichtigsten Figuren des mexikanischen Totenfestes ist die »Calavera Catrina«. Das ist eine Fantasiefigur mit der Maske eines menschlichen Skeletts in einem farbenprächtigen, lang herabwallenden Frauengewand, gekrönt von einem ausladenden Hut oder Kopfschmuck. Eine beeindruckende Erscheinung! Die Mexikaner verkleiden sich mit Vorliebe als Catrinas und kennen unzählige Variationen davon; heiß geliebt sind sie alle.

Die Feierlichkeiten enden mit der Verabschiedung der toten Seelen am Abend des 2. November auf dem Friedhof … bis zum nächsten Jahr.

Diese Tage sind das höchste Fest im mexikanischen Jahreslauf. Von der UNESCO wurde der Brauch 2003 zum »Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit« ernannt und 2008 in die »Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit« übernommen. Schade, dass das in Deutschland kaum jemand weiß.

Leider musste ich die schöne Tradition, von der ich hier berichte, mit 15 Jahren in Mexiko zurücklassen. Der fröhliche Umgang mit Sterben und Tod ist mir dennoch geblieben – und einer der Gründe, warum ich mir dazu eine recht unkomplizierte Einstellung bewahrt habe. Die anderen liegen in meiner kurvenreichen Lebensgeschichte begründet. Beides zusammen führte dazu, dass ich heute als Bestatterin arbeite – weshalb ich Sie einladen möchte, mit mir kurz auf diesen Lebensweg zurückzuschauen.

Eltern, Kindheit und Jugend

Meine Mutter wurde 1922 in Hausberge an der deutschen Porta Westfalica geboren. Sie war Fotografin wie ihr Vater. Schon ihre Eltern hatten Kontakt zur Anthroposophie gehabt, der von Rudolf Steiner begründeten Geisteswissenschaft. Beide gehörten zur »Christengemeinschaft«, einer Glaubensgemeinschaft, die der Anthroposophie nahesteht. Dort werden christliche Sakramente gepflegt wie Taufe, Konfirmation, Beichte, Trauung, Priesterweihe und Letzte Ölung. Der Gottesdienst besteht in einer »Menschen-Weihehandlung«. Meine Mutter ist in dieser Tradition aufgewachsen und fühlte sich darin beheimatet.

Weil mein Großvater offenbar zweimal verhinderte, dass sie sich verlobte, war meine Mutter mit 34 Jahren noch immer unverheiratet – für damalige Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich. Um endlich selbstbestimmt leben zu dürfen, brach sie 1956 mutig nach New York auf.

Schon während der Transatlantikpassage auf einem Frachter – das Schiff hatte noch nicht einmal abgelegt! – nahm das Schicksal ihr weiteres Leben in die Hand. Als meine Mutter nämlich ihre Kabine beziehen wollte, bekam sie die Tür nicht auf. Zufällig ging gerade Kapitän William Donald Craig vorbei. Er gewann den Kampf gegen das klemmende Türschloss – und verlor sein Herz. Für den Rest der Überfahrt ließ er die hübsche, deutlich jüngere Frau kaum noch von seiner Seite. Nur vier Monate später, am 30. November 1956, heirateten die beiden in New York City. Für Bill war es die zweite Ehe; von seiner ersten Frau, die 1949 gestorben war, hatte er bereits zwei inzwischen erwachsene Kinder.

Vier Jahre später wurde ich geboren, anderthalb Jahre danach mein Bruder. In dieser Zeit ging mein Vater in Rente; er war 25 Jahre älter als meine Mutter und litt an Asthma. Auf See hatte ihn die Krankheit nicht weiter beeinträchtigt, doch die Großstadt war Gift für seine Lungen. Und so stellte sich 1962, als er den Kapitänsdienst quittierte, die Frage: wohin? Nur ein Ort in Küstennähe oder im Gebirge kam infrage. Die Wahl fiel auf Guadalajara, eine mexikanische Stadt in 1 590 Metern Höhe. Hier waren meine Eltern zwar noch nie gewesen, aber laut Erzählungen herrschte hier ein lungenfreundliches Klima und obendrein wohnte dort einer von Bills Cousins. Wie viele ältere Amerikaner war er schon vor Jahren nach Mexiko übergesiedelt, weil es sich dort auch mit einer kleinen Rente gut leben ließ.

So zogen wir in einem großen Auto los, Hab und Gut auf einem Anhänger im Schlepptau. Eigentlich wollten wir nur drei Jahre bleiben. Es wurden dreizehn.

Mexiko

Als ich in Mexiko ankam, war ich zwei Jahre alt und redete kaum ein Wort. Es wurden Wetten abgeschlossen, was ich zuerst sprechen würde: Deutsch wie meine Mutter oder Englisch wie mein Vater. Damit, dass ich kurz darauf auf Spanisch wie unsere mexikanischen Hausangestellten loslegen würde, hatte keiner gerechnet – und doch hatte ich damit meine Muttersprache gefunden. Wenn meine Mutter Englisch oder Spanisch redete, machten wir Kinder uns immer über ihren dicken deutschen Akzent lustig. Manchmal musste sie trotzdem zwischen uns und Vater übersetzen, weil er sich weigerte, die Sprache seines neuen Heimatlandes zu lernen.

Insgesamt haben wir Kinder unseren Vater immer mit einer gewissen Distanz und eher wie einen Opa wahrgenommen, weil er schon ziemlich alt war. Natürlich hat er sich bemüht, aber er war einfach nicht mehr so belastbar und vor allem mir kleinem Wildfang kräftemäßig nicht gewachsen. Trotzdem hat er mir viel Liebe mitgegeben und eine goldene Kindheit ermöglicht.

Diese Zeit in Mexiko war die schönste seines Lebens. Er konnte sein Rentnerdasein in vollen Zügen genießen, weil er kaum Verpflichtungen hatte, das war sehr entspannt. Meine Mutter und er hatten viel Zeit füreinander, die Menschen waren freundlich und offen, wir hatten viele Bekannte und Kontakte in die dort reichlich vorhandenen Clubs. Das Klima war trocken und warm mit durchschnittlich 25 Grad Celsius, sodass wir den Pool in unserem großen Garten fast ganzjährig genießen konnten. Um die meisten anfallenden Arbeiten kümmerten sich, wie es in Mexiko damals selbstverständlich war, ein Gärtner und das Hausmädchen.

Die Familie spielt in Mexiko eine große Rolle. Besonders der Sonntag ist ein Familientag: Alle gehen zusammen in die Kirche, essen gemeinsam, machen Ausflüge – und die Verstorbenen gehören ganz selbstverständlich mit in diesen Familienverbund.

Wenn man wie die Mexikaner davon ausgeht, dass der Tod nur eine Durchgangsstation ist, steht man von alleine viel gelassener im Leben. Geht man dagegen, wie viele Menschen bei uns in Europa, davon aus, dass nach dem Tod nur noch Leere kommt, schiebt man jeden Gedanken daran lieber möglichst weit weg. Natürlich haben auch Mexikaner Angst vor Schmerzen beim Sterben, aber den Tod selbst sehen sie entspannt. Sie wissen: Spätestens an jedem 1. und 2. November sind sie mit ihren Lieben wieder vereint.

Familie, Freunde, die Zeit, die man miteinander verbringt: All das ist Mexikanern viel wichtiger als Materielles. Aus diesem Zusammensein, dieser mit vollen Händen ausgeteilten menschlichen Wärme und Freude definiert sich für sie Glück, das strahlen sie aus. Ich habe dieses Lebensgefühl tief in meiner Seele verankert.

Schulzeit und zurück in die USA

Meine Eltern schickten mich nicht in eine amerikanische oder internationale Schule, sondern in eine mexikanische, die von katholischen Nonnen geführt wurde. Für diese Entscheidung bin ich ihnen trotz der Strenge des dortigen Schulsystems sehr dankbar, denn so konnte ich in die Kultur des Landes eintauchen und eine richtige kleine Mexikanerin werden.

Mein Draufgängertum hat das natürlich noch gefördert; mexikanische Kinder sind ziemliche Energiebündel und nicht leicht zu zähmen. Um diesem kindlichen Freiheitsdrang zu begegnen, musste die Schule umso unerbittlicher sein. Alle Schüler trugen eine einheitliche Uniform, die in mir eine tiefe Abneigung gegen Dunkelblau hinterlassen hat. Die Nonnen unterrichteten pro Klasse 60 Schüler und führten von 8 bis 15 Uhr ein hartes Regiment. Schläge waren damals noch nicht tabu, es setzte häufig Backpfeifen oder eins auf die Finger. Jeden Montag hatten wir in Galauniform anzutreten, die Landesfahne zu grüßen und die Nationalhymne zu singen. Zuspätkommende mussten schandvoll in der Ecke stehen – ein Bann, der mich des Öfteren traf.

Alle sechs Monate hatten wir anspruchsvolle Prüfungen abzulegen, von der ersten Klasse an. Hier war Pauken angesagt, das meine Mutter mit deutscher Gründlichkeit überwachte: Erst nach stundenlangen Hausaufgaben durften wir raus zum Spielen, ohne Ausnahme.

Das bunte und zufriedene Leben endete 1972 abrupt, als mein Vater bei einem Autounfall aus dem Wagen geschleudert wurde – er war im Gegensatz zu meinem Bruder und mir nicht angeschnallt gewesen. Vermutlich erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma, das dazu führte, dass er ab diesem Tag immer wieder halluzinierte. Eine Art Demenz kam hinzu. Unsere Mutter kümmerte sich rührend um ihn, aber er wurde immer sonderbarer.

Als seine Pflege zu Hause immer schwieriger wurde, reisten unsere erwachsenen Halbgeschwister an, um das weitere Vorgehen zu beraten. Gemeinsam mit meiner Mutter beschlossen sie, die ganze Familie in die USA zu holen, wo meine Halbschwester ein Sommerhaus auf Cape Cod in der Nähe von Boston besaß. Mein Vater sollte dort in einem Pflegeheim untergebracht werden.

So zogen wir zurück in die USA, und ich war zum ersten Mal entwurzelt. Zu diesem Zeitpunkt war ich knapp zwölfeinhalb Jahre alt, der Kulturschock zwischen dem warmen, heiteren Mexiko und dem eher kühl-zurückgezogenen Ostküsten-USA beendete meine Kindheit abrupt.

In einer Sache hatte ich Glück: Ich musste kein Schuljahr wiederholen, weil die mexikanischen Schulen vom Stoff her den amerikanischen voraus waren. Mein miserables Englisch stellte allerdings ein umso größeres Problem dar. Wie oft wurde ich wegen meines mexikanischen Akzents gehänselt!

Sechs Monate nach unserer Ankunft, am 20. Dezember 1973, starb mein Vater – drei Tage vor meinem 13. Geburtstag. Er hat uns zum Schluss nicht mehr erkannt. Ich erinnere mich an einen Ausflug ans Meer, den wir kurz vorher mit ihm gemacht haben. Er saß da und schaute aufs Wasser, und auf einmal sagte er: »Es tut mir so leid, dass ihr das alles durchmachen müsst meinetwegen.« Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Vaters Bestattung

Die Beerdigung meines Vaters in den USA war für mich ein Schock. Aus der Zeit in Mexiko waren mir Tote nicht fremd; gerade erst kurz bevor wir wegzogen, war unsere betagte Nachbarin gestorben. Sie lag in ihrem Haus aufgebahrt, eindeutig tot, traditionell mitten in einem Meer von Blumen. Als ich jedoch meinen Vater im Bestattungshaus in seinem Sarg sah, war ich wie vom Donner gerührt: Er sah total lebendig aus, seine Wangen waren rosig und er hatte sogar die Brille auf der Nase. Ich erwartete beinahe, dass er jeden Moment aufsteht! Die Verstorbenen, die ich bisher gesehen hatte, hatten einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht als zu Lebzeiten, ihre Hautfarbe war anders … sie erschienen wie eine leere Hülle. Mein Vater aber sah frischer aus als vorher. Offenbar ertrug man es in den USA nicht, dass ein Toter wie ein Toter aussieht.

Erst später habe ich verstanden, dass mein Vater wohl thanatologisch behandelt worden war. Dabei saugt der Bestatter alle Körpersäfte ab und ersetzt sie durch Formaldehyd. Damit hält sich der Körper sehr viel länger und der Verwesungsprozess beginnt erst deutlich später. Ursprünglich stammt diese Konservierungsmethode aus dem Medizinstudium, wo man damit Leichen für den Anatomieunterricht aufbereitet hat. In den USA ließ man normalen Verstorbenen die gleiche Behandlung angedeihen und schminkte auch noch Gesicht und Körper. Womöglich empfinden es viele Menschen als angenehmer, wenn jemand »ganz normal« aussieht und nicht wie das, was er in diesem Moment nun einmal ist: ein Leichnam. In den USA wird das bis heute so gemacht, wenn man nicht ausdrücklich widerspricht. Für mich ist dieses Verfahren in seiner Unnatürlichkeit verwirrend und abstoßend.

Noch einmal Mexiko

Für meine Mutter war der Tod ihres Mannes zwar traurig, aber dennoch eine Erleichterung. Die letzte Zeit war für sie extrem anstrengend gewesen, da mein Vater in seiner Demenz wieder voll in die Kapitänsrolle geschlüpft, und alle ganz schön herumkommandiert hatte.

1974 gingen wir deshalb nach Mexiko zurück. In Cape Cod hielt uns nichts mehr und uns plagte das Heimweh. Diesmal kam ich allerdings auf eine kleine amerikanische Schule, damit ich mein Englisch nicht wieder verlernte.

Unser Haus hatten wir zwischenzeitlich an zwei Amerikanerinnen vermietet gehabt. Bei unserer Rückkehr stellte sich heraus, dass sie mit Drogen gehandelt, das Haus total heruntergewirtschaftet und einen Großteil unserer Sachen verkauft hatten. Mutter wurde fuchsteufelswild, setzte sie sofort vor die Tür und verklagte sie. Zum Glück gab es genug Beweise und die beiden kamen hinter Gitter.

Dieser Vorfall war nur der erste von mehreren Gründen, warum wir unsere Zelte in Mexiko schon nach zwei Jahren wieder abbrachen. Ein weitaus wichtigerer Anlass war meine Großmutter, die 77 Jahre alt war und der ihr Arzt wegen ihrer Herzkrankheit Besuche in Guadalajara verboten hatte. Aus dem Altersheim in Deutschland, in dem sie lebte, wollte Mutter sie unbedingt herausholen.

Der dritte Grund war ein spiritueller: Nach ihrer Überfahrt in die USA 1956 hatte meine Mutter in New York Kontakt zur Christengemeinschaft aufgenommen. Unser Umzug nach Mexiko hatte ihr diese geistige Heimat genommen. Jetzt, nach dem Tod ihres Mannes, wollte sie sich wieder stärker mit der Anthroposophie verbinden.

Ein vierter Punkt auf der Liste war unsere finanzielle Zukunft. Denn Mexiko ging es gerade wirtschaftlich nicht gut und es stand eine massive Entwertung des Pesos bevor. Über kurz oder lang würde unser Geld kaum noch etwas wert sein.

Grund Nummer fünf kann ich erst so richtig nachvollziehen, seit ich selbst erwachsen bin: Meine Mutter hatte ernsthafte Sorge, dass ich mich in einen Mexikaner verlieben und womöglich dort sesshaft werden würde. Mexikaner können ja ziemliche Machos sein. Das hatte meine hübsche, europäisch aussehende Mutter häufig zu spüren bekommen und immer verabscheut.

Und sechstens hatte sie es gründlich satt, dass man in Mexiko mit Dingen, die in Deutschland ganz klar geregelt sind, stets auf sehr besondere Weise umgeht. Es ist ein ständiges Verhandeln und Diskutieren und Taktieren. Immer mal wieder muss man in Mexiko tricksen und schummeln und bestechen. Bei Problemen findet sich zwar immer ein Weg, aber der hat dann eben seinen Preis. Auf der anderen Seite ermöglicht genau das eine gewisse Unbeschwertheit. Der Straßenverkehr zum Beispiel ist komplett chaotisch, und doch passieren vergleichsweise wenig Unfälle – weil man sich grundsätzlich nicht auf Regeln verlässt. Dasselbe gilt für Gesetze: Es gibt sie, aber man nimmt sie nicht so ernst.

Dass Mutter auf der Klaviatur der dadurch entstehenden Möglichkeiten durchaus meisterhaft spielen konnte, wenn sie wollte, schmälerte nicht ihre Abneigung dagegen. Dieser Lebensstil entsprach einfach nicht ihren Moralvorstellungen und lastete richtiggehend auf ihrer Seele. Außerdem wollte sie nicht mehr die ganze Verantwortung alleine tragen müssen, sie hatte Heimweh nach Deutschland und nach ihrer Mutter.

In buchstäblich letzter Minute konnten wir unser Haus verkaufen. Nur einen Tag später gaben die Banken keine Kredite mehr, was alles zunichtegemacht hätte, denn die Käufer brauchten ja das Geld! Der Erlös aus dem Verkauf war unser Kapital: Meine Mutter war schon lange nicht mehr berufstätig und ihre Witwenrente daher bescheiden.

Wieder standen wir vor der Frage: Wohin gehen wir? Die Entscheidung fiel auf Freiburg. Es liegt nahe bei Dornach, der Heimat der Anthroposophie, wo auch das Goetheanum mit der Freien Hochschule für Geisteswissenschaften angesiedelt ist. Dort war die geistige Heimat meiner Mutter.

In Deutschland

In einem Vorort von Freiburg fanden wir eine kleine Einzimmerwohnung. Die vierzig Quadratmeter unterm Dach teilten wir uns zu viert: meine Mutter, mein Bruder, ich und unsere Großmutter. Zwar hatte jeder seine Ecke, aber es war doch sehr beengt, zumal mein Bruder begann, in die Höhe zu schießen – innerhalb eines Jahres um zwanzig Zentimeter! Gottlob zogen wir acht Monate später ins fünf Kilometer entfernte Oberried, in ein ganzes Haus nur für uns.

Meine Mutter fand Arbeit als Hauswirtschaftsleiterin in der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach bei Freiburg, einer anthroposophischen Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Hauswirtschaft war zwar nicht ihr Beruf, aber sie war froh um den Job – und die Arbeit lag ihr. Überdies konnte sie schon nachmittags wieder zu Hause sein, weil sie frühmorgens begann.

Die Suche nach einer Schule für mich und meinen Bruder gestaltete sich schwieriger als geplant: keine hatte einen Platz für uns, außer einem Gymnasium in Kirchzarten. Am ersten Tag führte mich der Direktor in die 9b und stellte mich vor: »Das ist Angela, sie kommt direkt aus Mexiko.« Ich fühlte mich, als hätte er gesagt: »Das ist Angela, sie kommt direkt vom Mond« – in diesem Alter ist einem ja alles peinlich und ich wollte am liebsten in der Erde versinken.

Die Lehrer bestanden darauf, dass ich in Windeseile Deutsch sprechen und schreiben lernte. Außerdem musste ich die neunte Klasse wiederholen und eine riesige Menge an Stoff komplett neu erarbeiten, weil ich die letzten zwei Jahre an einer viel langsameren amerikanischen Schule gewesen war. Das alles bedeutete jeden Tag vier bis sechs Stunden Hausaufgaben. Ich verstand ja kaum ein Wort und musste alles nachschlagen! Man traf mich nie ohne Wörterbuch an, und zur Not musste mir meine Mutter die Begriffe auf Englisch oder Spanisch erklären. So habe ich Deutsch gelernt.

Meine Großmutter hat in dieser Zeit gekocht und geputzt, darin war sie perfekt. Weil sie immer warmherzig und lieb zu uns war, klappte das Zusammenleben in der anfänglichen Beengtheit einigermaßen. Meine Mutter hingegen war bei aller Wärme, die sie ausstrahlen konnte, doch sehr streng, oft überarbeitet und dann mit den Nerven am Ende. Wir beide stritten viel. Und ich hatte schreckliches Heimweh nach meinem geliebten Mexiko.

Unter diesen Umständen dauerte es lange, bis ich einigermaßen zurechtkam. Trotz aller Mühen blieben meine Noten durchschnittlich bis schlecht, was mich so frustrierte, dass ich nach der zehnten Klasse abging. Ohnehin hatte ich mittlerweile ein Musikstudium ins Auge gefasst. Dafür brauchte ich kein Abitur, und so nahm ich den Klavierunterricht, mit dem ich schon als Achtjährige begonnen hatte, bei einem Dozenten der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Freiburg wieder auf. Letztlich scheiterte das Vorhaben aber daran, dass ich zum Üben nicht lange genug stillsitzen konnte.

In dieser Zeit stellte man bei meiner Mutter Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium fest. Bei der sofort angesetzten Operation konnte der Tumor nicht vollständig entfernt werden und es war unklar, wie lange sie noch leben würde. Bestimmt hing die Erkrankung auch mit dem unglaublichen Druck zusammen, dem sie in den Jahren zuvor ausgesetzt war: die Pflege und der Tod ihres Mannes, die Umzüge zwischen den Kontinenten, die alleinige Verantwortung für uns Kinder und ihre kranke Mutter, die Wohnungssuche, meine ewigen Schwierigkeiten in der Schule und die Unsicherheit, wie es mit uns weitergehen würde. Ihr Leben lang hat sie ihre ganze Kraft in die Familie investiert – und jetzt war sie damit offenbar am Ende.