Denn Sie sollten unbedingt wissen, was Sie tun - Helene Elis - kostenlos E-Book

Denn Sie sollten unbedingt wissen, was Sie tun E-Book

Helene Elis

0,0
0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Lebt in Ihrer Familie jemand, der traumatisiert ist? Haben Sie demnächst vor, einen traumatisierten Flüchtling aufzunehmen? Sind Sie mit jemandem befreundet, der unter PTBS leidet? Möchten Sie dazulernen im Umgang mit traumatisierten Menschen? Dann ist dieses Buch für Sie eine sehr wichtige und übersichtliche Hilfe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helene Elis, Anna Tee

Denn Sie sollten unbedingt wissen, was Sie tun

Ratgeber für alle, die mit Traumatisierten leben und umgehen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Widmung

 

 

 

Dieses Buch widme ich all denen, die mit Traumatisierten leben, mit ihnen befreundet sind, liiert oder verwandt,

insbesondere all den vielen ehrenamtlichen Helfern in dieser unfassbaren Zeit.Vor allem widme ich es Hannah und ihren Eltern und Verwandten.

Vorwort

 

Sie unterhalten sich, so denken Sie, mit einem Menschen, der viel erlebt hat, der nun aber von Ihnen etwas Warmes zu essen bekommt, eine Decke oder ein Heim, wofür er Ihnen dankbar ist. Sie denken, nun ist er in Sicherheit und kann sich endlich erholen. Jetzt wird es besser, Tag für Tag. Endlich wird ein schönes Leben für diesen Menschen beginnen können. Aber das ist leider nicht unbedingt richtig.

 

Was Sie nicht wissen, ist, dass Sie beide in unterschiedlichen Realitäten leben, die nichts mit Kultur oder Herkunft zu tun haben. Ein traumatisierter Mensch ist von Ihnen so weit weg, als stünde er auf der anderen Seite des Rheins. Er sieht Sie vielleicht nur als sehr kleine Figur – oder überhaupt nicht richtig. Ja, er spricht mit Ihnen, aber ob Ihre Worte diesen Menschen im Herzen erreichen, ist sehr zu hinterfragen.

Ich möchte gleich sagen, dass ich dieses Buch hier im Turbogang verfasse! So, wie die Dinge stehen in Deutschland und in Europa, ist es mehr als wichtig, Aufklärung zu betreiben. Ich bin Autorin, ich bin traumatisiert – ich fühle mich aufgerufen, und die Zeit drängt nicht, sie ist abgelaufen! Daher verfasse ich diesen Ratgeber in der kürzest möglichen Zeit, verzichte auf vieles, was ein gewissenhafter Autor sonst machen würde, ich greife auf das zurück, was ich selbst in 8jähriger Traumaarbeit ambulant oder in Kliniken gelernt, in Büchern, in Online-Videos über Wissenschaft und Trauma-Foren gelesen und gesehen habe, und ich gebe da, wo es nötig ist, wo ich also zitiere, die Quellen an.

Bedenken Sie bitte zusätzlich: Ich bin kein Arzt, dies Buch ersetzt auf keinen Fall den Rat eines Experten oder gar eine Therapie!!!      Wenn ich schreibe: „der Traumatisierte“ oder „der Betroffene“, dann geschieht das nicht, weil ich keinen Sinn dafür habe, dass es Männer wie Frauen unter den Betroffenen gibt: Allein die Zeit drängt mich zu dieser Vereinheitlichung.

Bitte verzeihen Sie also alle Ungenauigkeiten – dafür ist hier keine Zeit! Es sind jetzt traumatisierte Flüchtlinge unter uns, nicht wenige, und viele ehrenamtliche Helfer benötigen diese Unterstützung dringend, vor allem, wenn sie Flüchtlinge bei sich zuhause aufgenommen haben.

 

Ich bewundere Ihre Arbeit, und dies hier ist nun mein Beitrag!

 

Hochachtungsvoll, Ihre

 

Helene Elis

 

1 Die Welt des Traumatisierten

 

„Ich war wach bis 4 Uhr nachts. Scheiße, ich habe mal wieder verpennt bis 14 Uhr, kein Wunder. Ich versuche, die Augen zu öffnen, aber sie kleben. Alles klebt irgendwie. Ich fühle mich immer noch schwer und müde – aber 14 Uhr, das habe ich mir geschworen, das geht nicht! Es ist irgendwie grell draußen. Toll, die Sonne scheint, aber mich blendet sie heute. Ich bin traurig. Ey, warum?

Warum heule ich blöde Kuh jetzt auch noch? Sie hatten alle Recht, ich bin echt nichts Wert, ich schaffe nichts.Mein Kopf ist nur zum Hütetragen gut, so sieht es aus. Ich bin schuld. Ich hätte ja eher ins Bett gehen sollen. Oh Mann, ich schaffe es nicht. Der Tag ist im Grunde gelaufen. Oh nein, es klingelt. Habe ich wieder eine Rechnung vergessen? Das ist mal wieder so ein scheiß Geld-Eintreiber, verdammt, nein, geh weg! Geh doch endlich weg! Verdammt, wo sind meine Taschentücher? Aber ich bewege mich nicht, sonst hört mich der Geldeintreiber noch, scheiße! Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

Okay, das Klingeln hört auf. Oh scheiße, jetzt das Telefon! Da will mich jemand unbedingt sprechen – oh Mann, ich KANN NICHT! ICH KANN NICHT! Lasst mich doch bitte alle in Ruhe!

Ja, da kriechst du nun unter der Bettdecke, du armes Würstchen, du Scheusal! Du bist irre, verrückt, ausgetillt, du gehörst in eine Anstalt! Hast Angst vor so einem Klingeln, oooooh, wie grausam, es klingelt, oooooh!

Geht weg, ihr, wer ihr auch immer seid! Das ist die Stimme meiner Schwester, ich höre sie genau! Das hat sie nie so gesagt. Aber bestimmt gedacht!

Jaaa, schieb es immer anderen in die Schuhe!!! Es ist DEINE Verantwortung! Du Versager!

Das war meine Mutter. Jetzt wieder das Klingeln an der Tür, NEIN! BITTE, HÖRT ALLE AUF!!!

Jetzt ist es still. Verdammt, warum habe ich mir nur eine Parterre-Wohnung gesucht?

Du wolltest ja nicht hören …

Jetzt klopft es auch noch! Verdammt – es ist meine Freundin Karla!!! Verdammt! Sie will bestimmt ihr Buch wiederhaben – aber wenn ich jetzt aufmache, mache ich mich voll lächerlich!

Du bist voll lächerlich!

Ich warte einfach, bis sie wieder weg ist, und bringe ihr das Buch vorbei! Ah, jetzt kommen auch noch wieder die Schmerzen. Ah, oh mein Gott!!! Ich brauche … nein, das letzte Schmerzmittel habe ich gestern aufgebraucht. Scheiß Zahnschmerzen! Ah, verdammt … hoffentlich wird mir jetzt nicht wieder übel … das kann echt heiter werden … was mache ich nur, das ist wie Folter … Scheiße! Aber ich geh nicht zur Apotheke jetzt – sie steht immer noch vor meiner Tür, sie wartet … Oh Mann. Die Schmerzen werden schlimmer, alles klar. Das kann 20 Minuten dauern, ich bleibe besser im Bett. Jetzt nur nicht jammern, das Fenster ist offen. Ich darf nicht jammern. Dann hört sie mich. Jammern ist jämmerlich. Letztes Mal wurde ich ohnmächtig davon – da kann ich ja drauf hoffen!“

 

Dies ist eine meiner eigenen Erinnerungen. Ich war 21 und endlich von zuhause ausgezogen, dachte, nun wird alles gut. Aber ich habe mich und meine lädierte Psyche mitgenommen. Es wurde nicht gut, es wurde jeden Tag schlimmer, bis ich ‑  Gott sei Dank! ‑ von einer aufmerksamen Freundin in eine Psychiatrie gebracht wurde.

Danach habe ich jahrelang nach der richtigen Therapie für mich gesucht. Erst 2007, also als ich 37 Jahre alt war, fand ich die richtige Therapieform für mich, und seitdem erst geht es langsam bergauf.

Horror ist die richtige Umschreibung für das, was Traumatisierte Tag für Tag, ja, auch an „schönen“ Tagen, erleben. Sie verstecken es, denn die meisten wissen nicht damit umzugehen. Sie erdulden stumm. Sie verbergen, um nicht für „bekloppt“ abgestempelt zu werden – und das werden sie. Denn ihre Ansichten sind „ver-rückt“, etwas hat dafür gesorgt, dass sie die Dinge anders sehen. Wenn ich mit Traumatisierten rede, was für sie ein „schöner Tag“ ist, dann kommen Antworten wie:

 

Heute hatte ich etwas weniger Schmerzen, das war erholsam.Das Schöne ist, wenn der Schmerz zwischendurch kurz aufhört.Schöner Tag? Was meinst du damit?Es gibt keine schönen Tage für mich.

 

Sie klingen theatralisch und pathetisch, aber glauben sie mir: Das ist echt, und es ist bitterböser Ernst.

2 Was ist denn da los?

 

 Das fragen sich tatsächlich auch die Traumatisierten selbst.

„Was ist nur los mit mir? So kenne ich mich nicht.“ Leider hört man auch nicht selten: „Ich kenne das nicht anders.“

Die Ursachen im einzelnen möchte ich nicht beschreiben, es gibt genug Erlebnisberichte von Traumatisierten in der Literatur. Hier will ich nur ganz kurz erklären, was im Gehirn eines Traumatisierten passiert ist, und warum er deshalb sich nicht lösen kann von seinem Trauma und immer wieder Flashbacks (Kapitel 4) erlebt, sich im Kreis dreht, keinen Ausweg findet.

Unser Gehirn hat Orte, wo es Erinnerungen abspeichert. Normal lernt der Mensch über Erfahrungen, die er wiederholt. Als Logopädin weiß ich, dass wir Sprache erlernen, indem wir uns Worte anhören. Unser Hörnerv bringt das Hörsignal zu Gehirnzentren, wo Nerven quasi „ausgebildet“ werden. Diese Nerven lernen, Lautreihenfolgen zu erkennen: /m/ - /a/ - /m/ - /a/, bis das Wort „Mama“ als Einheit erkannt wird. Und bis es erkannt wird und sich damit erstes Wortverständnis ausbildet, muss das Wort mehrere Tausend Male wiederholt werden. Daher haben Mütter im genetischen Programm wahrscheinlich auch, dass sie immer alles in einem hohen Tonfall vor ihren Kindern wiederholen, egal, wie doof sich das anhört: „Ma-ma! Ja, Mama! ICH bin die Ma- ma! Sag mal …“ und so weiter.

Aber es gibt auch Dinge, die wir sofort lernen müssen, denn mehrfache Wiederholung wie beim Laufen- oder Sprechenlernen wäre da fatal! Müssten wir mehrere Tausend Male in ein Feuer fassen, bis wir gelernt haben, dass Feuer zu heiß ist für unsere Finger, dann würde sich das Lernen bald erübrigt haben.

Diese Signale, die für unseren Selbstschutz gedacht sind, werden im Gehirn woanders abgespeichert: Normale Erinnerungen finden sich unter anderem auf der Großhirnrinde, und auf die haben wir bewusst Zugriff. Wir können unser Wissen durch Lesen erweitern und sehr viel Wissen erlangen, aktiv und auch praktisch. Wenn mir also jemand erzählt, du, Feuer ist echt heiß, Finger weg!, dann kann ich tatsächlich ohne Eigenerfahrung den Griff ins Feuer meiden lernen.

Traumatische Ereignisse jedoch speichern sich über Gerüche, Geräusche, alle Sinneseindrücke allein, und diese befinden sich in der Amygdala und im Hippocampus, also tief im Mittelhirn, wo Wesentliches und Lebenswichtiges geregelt wird. Hier haben wir mit unserem Bewusstsein keinen Zugriff!

Normalerweise werden die Informationen aus dem Mittelhirn an die Großhirnrinde und andere Speicherorte weitergeleitet, wo sie dann als „normale“ Erinnerungen (cold memory) gespeichert werden.

 

Auf gefährliche Erlebnisse reagiert das Gehirn mit einem Überlebensmechanismus:

Adrenalin-Zufuhr (Kampf- oder Fluchtbereitschaft),Erhöhung des Blutdrucks und der Herzschlagfrequenz, (dass man auch bloß rennen oder kämpfen KANN,Erhöhung der Atemzufuhr undHerunterschaltung der Wahrnehmung von Schmerz, sowieFokussierung auf die Situation, Ausblendung aller anderer umgebenden Informationen.

 

Dauert aber die Stress-Situation lange an, ist weder Kampf noch Flucht möglich oder ist die Situation anderswie überfordernd und verwirrend dazu, so dass das Treffen bewusster Entscheidungen nicht mehr gelingen kann, schaltet der Körper automatisch auf einen weiteren Überlebensmechanismus um:

1. Absinken von Herzschlag und Blutdruck (Kein Mechanismus kann auf Dauer in Übererregbarkeit gehalten werden),

2. Erschlaffen der Muskulatur,

3. Ausschüttung von Körper-Opiaten,

4. Stimmbandlähmung,

5. Schreckstarre (Freezing) und

6. Ergebenheitsreaktion.

 

Alles, was nun erlebt wird, wird nicht mehr im Ganzen abgespeichert, sondern in, sagen wir, Puzzelteile des Gedächtnisses aufgeteilt. Diese Puzzelteile sind fest verbunden mit Gerüchen, Geräuschen, einzelnen Bildern. Und jeder Geruch, jedes Bild und jedes Geräusch ist wiederum mit äußerst intensiven Gefühlen und auch körperlichen Reaktionen zunächst untrennbar verbunden.

Weil die Erinnerung fragmentiert ist wie auf einem lange benutzten und nie aufgeräumten PC, ist das Erzählen einer zusammenhängenden Geschichte kaum oder gar nicht möglich, es kommt dabei sofort zu den Reaktionen, diezum Zeitpunkt des Traumageschehensnicht gelebt, sondern gebremst wurden durch körpereigene Opiate etc. Die Erinnerung wird zur ungewollten Erfahrung des „Wiederdurchlebens“ mit „Hier-und-Jetzt“-Qualität („hot memory“). Und dies ist ebenso belastend für den Traumatisierten, wie es das Trauma an sich war.

 

Quelle: http://www.pro-psychologie.de/trauma.html

Ein Beispiel aus eigenem Erleben:

 

Ich schlenderte nichtsahnend und relativ guter Dinge durch die Gänge der Kurklinik. Ein netter Herr kam mir entgegen, wir kannten uns schon vom Schwimmen her, er war stets nett und talkative.

Er hielt mich im Gang an. Das war schon der erste "Trigger".

 

Es war plötzlich alles dunkler. Ich sah blitzartig, nur für den Bruchteil einer Sekunde vielleicht, eine Bundeswehruniform vor mir. Etwas raubt mir kurz den Atem - war es ein Schlag mit dem Ellenbogen gegen meine Rippen?

 

Der nette Herr lächelt mich an. Vor meinen Augen versuche ich, das Doppelbild unter Kontrolle zu bekommen. Ich atme kontrolliert und grüße erst einmal, weiche einen Schritt zurück. Er macht den Schritt mit mir, lächelnd auf mich zu. Mir wird kalt und heiß gleichzeitig.

"Ich hörte von Ihrer Geldnot. Da wollte ich helfen. Hier, 50 Euro!"

Jetzt wird die ganze Situation gefühlsmäßig völlig bizarr! Ich versuche weiter, Abstand zu dem Mann zu bekommen, derweil er mir Geld anbietet. "Wie einer *****", denke ich und merke sofort, dass dieser Gedanke genauso abwegig ist wie sein sicher lieb gemeintes Angebot.

"Das ist lieb", bringe ich hervor, "aber das ist mir doch unangenehm und geht zu weit! Danke, aber: nein, danke!"

"Ein 'Nein' akzeptiere ich nicht!", sagt er plötzlich unerwartet laut. Oder kam es mir nur so vor?

Wieder ist es dunkler, mir wird kalt. Er hat denselben Schnauzbart wie mein Täter damals. In meine Verwirrung mischt sich ein Klumpen aus Angst, blinder Wut und unfassbarer Verunsicherung. Ich muss an mir herunter sehen, trage ich die grauen Stiefel wie damals? Nein, es sind Pantoffeln. Aber gerade war mir, als sehe ich die Laterne mir ins Gesicht scheinen, während er versucht, mich zu *****. Wieder mache ich einen Schritt zurück, versuche zu sagen:

"Nein ist aber alles, was Sie von mir hören werden. Ich brauche Ihr Geld nicht. Nein, danke!"

Jetzt mischt sich auch noch schlechtes Gewissen dazu: Habe ich das Recht, dieses Geld abzulehnen? Es könnte meinen Kindern gut tun, wir haben nicht so viel...