Depersonalisation und Derealisation - Matthias Michal - E-Book

Depersonalisation und Derealisation E-Book

Matthias Michal

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Beschreibung

Menschen, die sich abgetrennt von sich selbst und von ihrer Umwelt erleben, die das Gefühl haben, nicht mehr richtig da zu sein, und die ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahrnehmen, sind dadurch zutiefst verunsichert. Verschlimmert wird ihr Leiden noch, wenn sie keine angemessene Hilfe erhalten. Oft hören Betroffene Sätze wie "das gibt es nicht" oder "damit kenne ich mich nicht aus". Der Ratgeber soll hier eine Hilfe darstellen. Er bietet umfassende Informationen über Depersonalisation und Derealisation sowie die zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen, beschreibt häufige psychische Begleiterkrankungen und stellt Selbsthilfe- und Behandlungsmöglichkeiten vor. Psychotherapeuten erhalten Anregungen und Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Behandlung. Für die 5. Auflage wurde der Ratgeber überarbeitet und aktualisiert, u.a. im Hinblick auf die neue ICD-11.

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Inhalt

Cover

Titelei - Rat + Hilfe

Vorwort

Gebrauchsanweisung für den Ratgeber

1 Was ist Depersonalisation und Derealisation?

2 Das Symptom, die Diagnose und die Krankheit

2.1 Die diagnostischen Kriterien

2.2 Die häufigsten seelischen Erkrankungen bei Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung

2.2.1 Depressive Störungen

2.2.2 Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen und Zwänge

2.2.3 Somatoforme Störungen

2.2.4 Hallucinogen Persisting Perception Disorder

2.2.5 Persönlichkeitsstörungen

2.2.6 Abgrenzung der Depersonalisation von der Schizophrenie und anderen psychotischen Erkrankungen

2.2.7 Bipolare Störungen

2.2.8 Depersonalisation und Derealisation als Symptome anderer psychischer Störungen

2.2.9 Körperliche Erkrankungen und Depersonalisation

3 Die Geschichte der Erkrankung

3.1 Die Entfremdungsdepression

3.2 Das Phobische-Angst- Depersonalisationssyndrom

4 Wie häufig ist die Depersonalisations- Derealisationsstörung?

5 Der Verlauf der Depersonalisations- Derealisationsstörung

6 Auslöser und Ursachen

6.1 Auslöser der Depersonalisations- Derealisationsstörung

6.2 Ursachen der Depersonalisations- Derealisationsstörung

6.3 Die Bedeutung der frühen Kindheit

6.4 Soziokulturelle Faktoren

6.5 Typische Persönlichkeitseigenschaften

6.6 Psychologische Krankheitsmodelle

6.7 Biologische Befunde

7 Die Entfremdung überwinden

7.1 Die Behandlungserfahrungen der Patienten

7.2 Erste Schritte

7.3 Medikamentöse und biomedizinische Behandlungsmöglichkeiten

7.3.1 Antidepressiva

7.3.2 Lamotrigin

7.3.3 Benzodiazepine

7.3.4 Naltrexon

7.3.5 Neuroleptika

7.3.6 Cannabidiol

7.3.7 Repetitive transkranielle Magnetstimulation

7.3.8 Elektrokrampftherapie

7.4 Selbsthilfe – Die Einstellung zur Krankheit ändern

7.5 Die Bedeutung einer gesunden Lebensführung

7.5.1 Schädlicher Gebrauch von Drogen, Alkohol und Nikotin

7.5.2 Gesunder Schlaf

7.5.3 Körperliche Aktivität

7.5.4 Medienkonsum und Verhaltenssüchte

7.6 Die Symptome normalisieren

7.6.1 Achtsamkeit

7.6.2 Achtsamkeitstraining

7.6.3 Achtsame Kommunikation

7.7 Die Angst beruhigen

7.7.1 Ruhiges Ein- und Ausatmen

7.7.2 Beruhigender innerer Dialog

7.7.3 Gute Erinnerungen zu Hilfe rufen

7.7.4 Die 4 – 7 – 8-Atmung

7.7.5 Eiswürfel, Ammoniak, Riechsalz, Gummibänder usw.

7.7.6 Andere Entspannungsverfahren

7.8 Die maladaptive Selbstbeobachtung überwinden

7.9 Aufmerksamkeitstraining

7.10 Das Symptomtagebuch: Den Sinn hinter den Symptomen finden

7.11 Die zugrunde liegenden seelischen Probleme erkennen lernen

7.11.1 Die Bedeutung der Emotionen

7.11.2 Unterscheidung adaptiver und maladaptiver Affekte

7.11.3 Unterscheidung zwischen Erleben und Ausleben

7.11.4 Angst

7.11.5 Angst vor Gefühlen

7.11.6 Meine Vorstellung von mir und anderen Menschen

7.12 Seelische Probleme analysieren

7.12.1 Typische Abwehrmechanismen

7.13 Schreiben als Selbsthilfe

7.13.1 Expressives Schreiben über die Achtsamkeitsmeditation

7.13.2 Expressives Schreiben über die psychotherapeutische Behandlung

7.13.3 Schreibtherapie am Beispiel des Symptomtagebuchs

7.13.4 Gefühlsdrehbücher

7.14 Die psychotherapeutische Behandlung

7.14.1 Ambulante Psychotherapie und typischer Verlauf

7.14.2 Stationäre Psychotherapie

7.14.3 Allgemeine Informationen zur Psychotherapie

7.14.4 Wie wirkt Psychotherapie?

7.14.5 Aufgaben des Psychotherapeuten

7.14.6 Aufgaben des Patienten

7.14.7 Typische Probleme mit der Psychotherapie

8 Psychotherapie der Depersonalisations- Derealisationsstörung

8.1 Die Behandlung in Gang bringen

8.1.1 Therapeutische Haltung

8.1.2 Die initiale Diagnostik

8.1.3 Mikroanalyse symptomverstärkender Situationen

8.1.4 Therapieziele definieren

8.1.5 Typische Veränderungsbarrieren

8.1.6 Affektabwehr

8.1.7 Beeinträchtigte Affekttoleranz

9 Das Wichtigste in 7 Merksätzen

Ansprechpartner

Hausarzt

Ambulanter Psychotherapieplatz

Stationäre oder tagesklinische psychosomatisch- psychotherapeutische Behandlung

Notfälle

Spezialsprechstunden

Zusatzmaterial zum Download

Literatur

Sachregister

Rat + Hilfe

Fundiertes Wissen für Betroffene, Eltern und Angehörige –Medizinische und psychologische Ratgeber bei Kohlhammer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Ratgeber aus unserem Programm finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/rat+hilfe

Der Autor

Prof. Dr. med. Matthias Michal, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, leitet seit 2005 die erste Spezialsprechstunde »Depersonalisation-Derealisation« in Deutschland. Matthias Michal ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Behandlung und Erforschung schwerer Depersonalisations-Derealisations-Zustände.

Matthias Michal

Depersonalisation und Derealisation

Die Entfremdung überwinden

5., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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5., überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043571-1

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043572-8epub:ISBN 978-3-17-043573-5

Vorwort

Menschen, die sich im Vergleich mit ihrem früheren Sein, plötzlich oder schleichend, komplett verändert fühlen, sich gefühllos wie ein Roboter vorkommen, erleben abgelöst von ihrem Körper zu sein, alles wie zweidimensional oder wie durch dickes Glas sehen, unecht und kulissenhaft, sind dadurch zutiefst verunsichert und verängstigt. Sie befürchten, oft ganz und gar den Kontakt zu ihrer Umwelt, die Kontrolle über ihren Verstand und ihr Verhalten zu verlieren (»verrückt« zu werden). Gleichzeitig, und dies macht es oft noch schlimmer, fühlen sie sich isoliert und alleingelassen: Sei es, weil sie mit Niemandem darüber sprechen können, aus Angst, nicht verstanden zu werden, oder sei es, weil sie tatsächlich auf Unverständnis bei ihren Angehörigen, Freunden und Behandlern treffen. Dieses Unverständnis ist leider keine Seltenheit. Es macht einen bedeutenden Teil des Leidens der Betroffenen aus. Die betroffenen Personen leiden somit unter einer doppelten Isolation. Einerseits erleben sie sich von sich selbst und ihrer Umwelt wie abgelöst, und andererseits begegnet ihnen Unverständnis bei denjenigen, von denen sie sich Hilfe und Verständnis erhoffen.

Um dieser doppelten Isolation etwas entgegenzusetzen, wurde dieses Buch geschrieben. Es wurde für Menschen geschrieben, die unter dauerhafter Depersonalisation und Derealisation leiden, und für diejenigen Personen, die Betroffene besser verstehen wollen. Das Buch entstand aus einer nun mehr als 20-jährigen klinischen und forscherischen Arbeit mit Menschen, die unter einer Depersonalisations-Derealisationsstörung leiden, und der Diskussion mit Kollegen im klinischen und wissenschaftlichen Alltag.

In diesen mehr als zwei Jahrzehnten habe ich hunderte Betroffene untersucht, ihren Krankengeschichten und Behandlungserfahrungen zugehört, sie hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten beraten, und selbst zahlreiche Patienten in stationärer oder ambulanter Kurz- und Langzeitpsychotherapie behandelt und mich mit Kollegen über das Krankheitsbild, Behandlung und Behandlungsschwierigkeiten ausgetauscht. Dabei schälten sich immer wiederkehrende Themen heraus: Informationsbedürfnisse, Anliegen und Behandlungserfahrungen, die von fast allen Patienten berichtet wurden, und stereotype Behandlungsschwierigkeiten, die einerseits mit der Art der Erkrankung und den zugrunde liegenden Krankheitsursachen und andererseits mit mangelndem Wissen und manchmal auch Ignoranz seitens der Fachleute zusammenhingen.

Das Ziel dieses Ratgebers ist es, Betroffenen ein Buch zur Verfügung zu stellen, in denen sie sich mit ihren Erfahrungen wiederfinden, das ihnen hilft, ihre Erfahrungen besser einzuordnen, und das ihnen einen Ausweg aus dieser quälenden Isolation aufzeigt. Denn es ist möglich, auch noch nach sehr vielen Jahren, sich das eigene Leben wieder anzueignen und in einen lebendigen Kontakt mit sich und der Welt zu kommen. Psychotherapeuten erhalten Orientierung und Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Behandlung. Hierzu wird ein psychodynamischer Therapieansatz, der besonders auf das emotionale Erleben fokussiert, beschrieben.

Für die 5. Auflage habe ich den Ratgeber überarbeitet und aktualisiert. Derzeit verwende ich der leichteren Lesbarkeit wegen weiterhin das generische Maskulinum (das sämtlich binäre und non-binäre Personen umfasst).

Mein besonderer Dank gilt meinen Kollegen und den Betroffenen, die mir mit ihren Erfahrungen und Rückmeldungen geholfen haben, die Depersonalisations-Derealisationsstörung und den Weg zu dessen Überwindung besser zu verstehen. Und zuletzt möchte ich mich beim Kohlhammer-Verlag und meiner Lektorin Anita Brutler bedanken, die den Ratgeber sorgsam redigiert hat.

Wiesbaden, im Sommer 2023Matthias Michal

Gebrauchsanweisung für den Ratgeber

Im ersten Teil des Ratgebers finden Sie die wichtigsten Informationen zu den Symptomen Depersonalisation und Derealisation, zum Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung und häufigen, oft gleichzeitig damit vorkommenden, psychischen Störungen.

Der zweite Teil zeigt einen Weg zur Überwindung der Depersonalisations-Derealisationsstörung. Hierzu werden eine Menge Informationen vermittelt: erstens zu den Behandlungsmöglichkeiten, zweitens zu unterschiedlichen Selbsthilfemöglichkeiten und drittens zum Thema Psychotherapie.

Der dritte Teil richtet sich an erster Stelle an Psychotherapeuten. Er informiert über wichtige Behandlungsprobleme und beschreibt, wie es gelingen kann, einen erfolgreichen psychotherapeutischen Prozess in Gang zu bringen.

Nutzung der elektronischen Zusatzmaterialien zum Download

Wichtig für den Gebrauch des Ratgebers ist die Nutzung der elektronischen Zusatzmaterialien. Deshalb versäumen Sie es bitte nicht, sich am besten jetzt gleich mit diesen Zusatzmaterialien vertraut zu machen und die bereitgestellten Materialien auch wirklich anzuwenden (z. B. die Audiodateien mit der Anleitung zur Achtsamkeitsmeditation).

Den Weblink, unter dem die elektronischen Zusatzmaterialien zum Download verfügbar sind, finden Sie am Ende dieses Buchs im Kapitel »Zusatzmaterial zum Download«.

Übersicht über die Zusatzmaterialien

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Allgemeine Informationen zur Psychotherapie

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Audiodatei »10 Minuten Achtsamkeitsmeditation«

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Audiodatei »30 Minuten Body-Scan«

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Fragebögen zur Erfassung der Depersonalisation und Derealisation

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Cambridge Depersonalization Scale-Trait (CDS-Trait)

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Cambridge Depersonalization Scale-State (CDS-State)

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Kurzversion der Cambridge Depersonalization Scale (CDS-2)

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Fragebögen zur Erfassung von Angst und Depression

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PHQ-9 (Depressionsmodul des Gesundheitsfragebogens für Patienten)

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GAD-7 (Angstmodul des Gesundheitsfragebogens für Patienten)

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Lebenslauf verfassen

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Hilfreiche Weblinks

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Symptomtagebuch (Muster)

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»Symptome unterscheiden können« – Test zur Unterscheidung von Depression, Angst und Depersonalisation/Derealisation

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Therapie-Logbuch (Muster)

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Und anderes

1 Was ist Depersonalisation und Derealisation?

»Zunächst eine kurze Definition dessen, was wir als Depersonalisation bezeichnen. Ich verstehe darunter einen Zustand, in dem das Individuum sich gegenüber seinem früheren Sein durchgreifend verändert fühlt. Diese Veränderung erstreckt sich sowohl auf das Ich als auch auf die Außenwelt und führt dazu, dass das Individuum sich als Persönlichkeit nicht anerkennt. Seine Handlungen erscheinen ihm automatisch. Er beobachtet als Zuschauer sein Handeln und Tun. Die Außenwelt erscheint ihm fremd und hat ihren Realitätscharakter verloren. [...] Verändert ist nicht das zentrale Ich, das Ich im eigentlichen Sinne, verändert ist vielmehr das Selbst, die Persönlichkeit, und das zentrale Ich nimmt jene Veränderung im Selbst wahr« (Schilder 1914, S. 54).

Diese treffende Definition der Depersonalisation stammt aus der Monografie »Selbstbewusstsein und Persönlichkeitsbewusstsein«, die 1914 von Paul Ferdinand Schilder (* 15. Februar 1886 in Wien; † 7. Dezember 1940 in New York), einem österreichischen Psychiater, Neurologen und Psychoanalytiker veröffentlicht wurde. Paul Schilder gilt als einer der wichtigsten Depersonalisationsforscher bis in unsere Zeit.

Paul Schilder beschreibt die Depersonalisations-Derealisationsstörung als eine durchgreifende Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Person und der Außenwelt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man in seinem Handeln und Tun nicht mehr aufgeht, sich dies nicht mehr zu eigen macht, sondern nur noch wie ein Zuschauer teilnimmt. In seinem Buch lässt er in zahlreichen Krankengeschichten nicht nur Patienten ausführlich zu Wort kommen, teilweise in direkter Rede, sondern er berichtet auch von eigenen Depersonalisationserlebnissen im Zusammenhang mit übermäßigem Alkoholgenuss oder Erschöpfung in einer Psychotherapiesitzung:

»In leicht berauschtem Zustand (nach reichlich Weingenuss) überkommt mich ein eigenartiges Gefühl. Die Umgebung erscheint (innerlich) fern gerückt und von einem anderen, der nicht vollständig ich ist, wahrgenommen, und ich und die Stimme dessen, der mit mir spricht, ist fremd. Der Gang ist verändert und ungewohnt. Ich komme mir leicht und schwebend vor (soweit ich weiß, waren objektive Störungen nicht vorhanden). Die Gefühle sind gleichsam ferngerückt und von mir beobachtet. Wenn ich spreche und gehe, so beobachte ich mein Sprechen und Gehen« (Schilder 1914, S. 95).

»Als ich vormittags eifrig mit Arbeit beschäftigt war, kommt mein Patient X. zu mir, [...]. Er erzählt mir Dinge, die ich schon oft gehört habe. Plötzlich höre ich meine Stimme wie die eines anderen und habe nicht den Eindruck selbst zu sprechen, obwohl ich ziemlich Kompliziertes leicht und sinngemäß beantwortete. Es ist alles in eine andere Sphäre gerückt. Seine Worte stören mich und klingen mir etwas laut ins Ohr. Er selbst kommt mir eigenartig und fremd vor, etwas starr und seltsam. Bald erscheint er mir etwas größer, bald etwas kleiner, meist aber innerlich etwas ferner gerückt. Die übrigen Gegenstände des Raumes gehen nicht gleichartige Veränderungen ein. Mein Körper erscheint mir nicht verändert, ich fasse absichtlich nach meiner Hand, nur habe ich das Gefühl, dass meine Miene etwas scharf sei. Die ganze Situation ist nicht gerade angenehm. Gesamtgefühl des Unwillens und Ärgers. – Während der ganzen Beobachtung entschwindet mir durchaus nicht das Bewusstsein, dass ich es bin, der hört und spricht, wiewohl ein eigenartiges ›Als-ob-ich-es nicht-wäre‹ vorhanden ist« (Schilder 1914, S. 94).

Depersonalisation (DP) und Derealisation (DR) sind normale Reaktionsmöglichkeiten. Diese Phänomene sind genauso menschlich wie das Erleben von Fieber, Schmerz, Angst oder Wut. Diese Zugehörigkeit der Depersonalisation zu den allgemein menschlichen Erlebnismöglichkeiten zeigt sich auch in unserer Alltagssprache, wo Phänomene der Depersonalisation als Redensarten ihren Niederschlag gefunden haben. Wir sprechen vom »benebelt sein«, wenn jemand sich verwirrt oder angetrunken fühlt, oder vom »neben sich stehen«, wenn einer sich als überwältigt und fassungslos erlebt. Als Redensarten werden diese Beschreibungen meist aber nur symbolisch verwendet, ohne dass der Sprecher damit sagen will, dass er sich, wie in der Depersonalisation, tatsächlich so wahrnimmt, »als ob er neben sich stehe« oder »als ob er wie durch eine Art von Nebel oder Schleier« von seiner Umwelt abgetrennt sei.

Bevor wir aber uns eingehender mit den Ursachen der Depersonalisation (und Derealisation) beschäftigen, möchte ich genauer beschreiben, was eigentlich unter Depersonalisation und Derealisation verstanden und wie das Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung definiert wird. Der Einfachheit halber verwende ich nachfolgend die Abkürzung DDS für die Depersonalisations-Derealisationsstörung bzw. das Depersonalisations-Derealisationssyndrom.

Auf welche Art und Weise ist nun in der Depersonalisation und Derealisation die Wahrnehmung des Selbst (→ Depersonalisation, DP) und der Umwelt (→ Derealisation, DR) verändert. Typischerweise finden sich Betroffene in den folgenden Aussagen wieder (▸ Kasten 1.1), die dem Fragebogen »Cambridge Depersonalization Scale« entnommen sind (Michal et al. 2004, Sierra und Berrios 2000)1.

Kasten 1.1: Items der Cambridge Depersonalization Scale (CDS)

·

Aus heiterem Himmel fühle ich mich fremd, als ob ich nicht wirklich wäre oder als ob ich von der Welt abgeschnitten wäre.

·

Was ich sehe, sieht »flach« oder »leblos« aus, so als ob ich ein Bild anschaue.

·

Vertraute Stimmen (einschließlich meiner eigenen) klingen entfernt oder unwirklich.

·

Ich erlebe mich wie abgetrennt von meiner Umgebung oder diese erscheint mir unwirklich, so als ob ein Schleier zwischen mir und der äußeren Welt wäre.

·

Es kommt mir vor, als ob Dinge, die ich kürzlich getan habe, bereits lange Zeit zurücklägen. Zum Beispiel etwas, was ich heute Morgen getan habe, kommt mir vor, als ob ich es bereits vor Wochen gemacht hätte.

·

Ich komme mir wie abgetrennt von Erinnerungen an Ereignisse meines Lebens vor, so als ob ich nicht daran beteiligt gewesen wäre.

·

Es kommt mir vor, als ob ich mich außerhalb meines Körpers befände.

·

Wenn ich mich bewege, habe ich nicht den Eindruck, dass ich meine Bewegungen steuere, sodass ich mir »automatenhaft« und mechanisch vorkomme, als ob ich ein »Roboter« wäre.

·

Ich muss mich selbst anfassen, um mich zu vergewissern, dass ich einen Körper habe und wirklich existiere.

Wie man an dieser Auflistung sieht, können in der Depersonalisation sämtliche Bereiche des Selbsterlebens betroffen sein. Dabei steht Depersonalisation (DP) für die veränderte Wahrnehmung des körperlichen und seelischen Selbst, Derealisation (DR) hingegen für die veränderte Wahrnehmung der Umwelt. In der älteren psychiatrischen Literatur finden sich die Fachbegriffe autopsychische Depersonalisation, womit die veränderte Wahrnehmung der eigenen Gefühle, der Erinnerungen und des Vorstellungsvermögens gemeint ist. Somatopsychische Depersonalisation steht für die veränderte Wahrnehmung des Körpers (z. B. sich abgelöst vom Körper fühlen, wie hinter oder neben mir stehend, wie aufgelöst, so als ob ich nur noch aus Augen bestünde, hohl, nur eine Hülle, ganz federleicht usw.). Die sogenannte allopsychische Depersonalisation steht für die veränderte Wahrnehmung der äußeren Welt, die heute als Derealisation bezeichnet wird (»mir kommt alles künstlich wie ein Bild vor, unecht, zweidimensional, wie eine Kulisse«; »ich fühle mich wie in der Truman-Show«, »wie in Matrix2«). Da Depersonalisation und Derealisation sehr eng zusammenhängen und meist auch gemeinsam auftreten, wird der Kürze halber in der Literatur, und so auch hier, Depersonalisation als der beide Phänomene umfassende Oberbegriff verwendet (Michal und Beutel 2009).

Ein weiterer Begriff, der in der Literatur oft im Zusammenhang mit der Depersonalisation auftaucht, ist derjenige der Dissoziation oder dissoziativen Störung. Man versteht darunter eine Gruppe von Erkrankungen, deren gemeinsames Kennzeichen »der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen« ist (vgl. ICD-103: F44). Beispiele für dissoziative Störungen sind z. B. die dissoziative Amnesie. Deren wichtigstes Kennzeichen ist »der Erinnerungsverlust für meist wichtige, kurz zurückliegende Ereignisse, der nicht durch organische psychische Störungen bedingt und zu schwerwiegend ist, um durch übliche Vergesslichkeit oder Ermüdung erklärt werden zu können. Die Amnesie zentriert sich gewöhnlich auf traumatische Ereignisse wie Unfälle oder unerwartete Trauerfälle und ist in der Regel unvollständig und selektiv. Ausmaß und Vollständigkeit der Amnesie variieren häufig von Tag zu Tag und bei verschiedenen Untersuchern« (vgl. ICD-10: F44.0). Am Beispiel der seelischen Funktion des Gedächtnisses bzw. des Erinnerns lässt sich sehr gut der Unterschied zwischen einer dissoziativen Amnesie und der Depersonalisation aufzeigen. Bei der dissoziativen Amnesie hat der Betroffene keinen Zugriff mehr auf die Informationen in seinem Gedächtnisspeicher. Er weiß z. B. nicht mehr, was er die letzten Tage gemacht hat, wohingegen bei der Depersonalisation die gefühlsmäßige Einstellung zu den Gedächtnisinhalten verändert ist. Bei einer Depersonalisations-Derealisationsstörung kann sich der Betroffene noch an die Tatsachen und Fakten erinnern, aber es kommt ihm so vor, als ob die Geschehnisse sehr weit zurückliegen, ja fast so weit, als ob das Erlebte eigentlich gar nichts mehr mit ihm selbst zu tun hätte.

Endnoten

1Unter den elektronischen Zusatzmaterialien finden Sie mehrere Fragebögen zur Erfassung der Depersonalisation und Derealisation.

2Die »Truman-Show« ist ein Spielfilm, bei dem der Protagonist in einer Filmkulisse lebt, ohne es zu wissen. In dem Spielfilm »Matrix« wird u. a. die Frage nach der Wirklichkeit thematisiert.

3Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis (2004). Bern: Huber.

2 Das Symptom, die Diagnose und die Krankheit

Zur Untersuchung bei einem Psychiater, Psychotherapeuten, Neurologen oder Nervenarzt gehört in der Regel die Erhebung eines psychischen oder psychopathologischen Befundes (»psychopathologisch« bedeutet krankhafte Veränderung der seelischen Funktionen). Im Rahmen dieser Befunderhebung beurteilen sie unter anderem auch, ob der Patient Symptome von Depersonalisation und Derealisation aufweist. Im deutschen Sprachraum werden diese Symptome den sogenannten Ich-Störungen zugerechnet, im anglo-amerikanischen den Wahrnehmungsstörungen. Da sehr häufig Patienten nicht spontan über diese Symptome klagen, sollte der Arzt gezielt danach fragen. Werden solche Symptome berichtet, sollte der Arzt den Patienten ermuntern, so ausführlich und konkret wie möglich seine Symptome zu schildern. Wichtig ist dabei auch, dass der Arzt etwas über den zeitlichen Verlauf der Symptome erfährt: Also, handelt es sich um eine Art von anfallsweisem Auftreten, bei dem die Symptome nur für ein paar Sekunden oder Minuten da sind, oder handelt es sich um längere über Stunden anhaltende Zustände, oder gar um einen über Monate und Jahre anhaltenden Dauerzustand? Diese Informationen sind für den Arzt wichtig, weil sie bereits Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung liefern können. Zum Beispiel kommt es bei der Panikstörung nur zu kurzdauernden Anfällen von Depersonalisation/Derealisation, die üblicherweise noch von anderen Angstsymptomen begleitet sind. Genauso kommt es bei der Temporallappenepilepsie gleichfalls nur zu kurzdauernden Anfällen von Depersonalisation/Derealisation. Bei der Migräne hingegen können auch über Stunden andauernde Depersonalisationszustände auftreten. Es gibt aber auch das Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung (DDS). Bei Patienten mit einer DDS ist das ganze Erleben von Depersonalisation und/oder Derealisation gekennzeichnet. Man spricht dann auch von primärer Depersonalisation, wohingegen Symptome von Depersonalisation, die ausschließlich im Rahmen einer anderen Erkrankung auftreten (z. B. Panikstörung, Epilepsie), als sekundäre Depersonalisation bezeichnet werden.

Das oben genannte Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung ist eine offizielle Diagnose. Seelische Erkrankungen werden weltweit nach dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verschlüsselt. Dieses Klassifikationssystem heißt »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (engl.: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD). Es ist das wichtigste und weltweit anerkannte Klassifikationssystem für Krankheiten in der Medizin. Die Diagnose war bereits in jeder Version der ICD vorhanden und findet sich auch wieder in der neuen 11. Version (ICD-11), die seit Anfang 2022 gültig ist. Im Vergleich zur Vorgängerversion ICD-10 wurde erfreulicherweise die Definition an das amerikanische Diagnosesystem angeglichen. Die Diagnose der Depersonalisations-Derealisationsstörung wird in Zukunft nicht mehr unter den sonstigen neurotischen Störungen gemeinsam mit der Neurasthenie (chronisches Erschöpfungssyndrom) geführt, sondern zusammen mit den dissoziativen Störungen aufgelistet. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist das in der Forschung mehr verwendete Diagnosesystem der American Psychiatric Association (APA, Amerikanische Psychiatrische Vereinigung) gebräuchlich (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM; deutsch: Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen). Aktuell liegt die fünfte Version vor (DSM-5, APA 2013).

2.1 Die diagnostischen Kriterien

Die Tabelle zeigt die diagnostischen Kriterien der Depersonalisations-Derealisationsstörung der ICD-10 (F48.1) und des DSM-5 (300.6) (▸ Tab. 2.1). In der seit 2022 geltenden ICD-11 erfolgt eine weitgehende Angleichung der ICD-Kriterien an das DSM-5. Außerdem wird in der ICD-11 die Depersonalisations-Derealisationsstörung nicht mehr unter den sonstigen neurotischen Störungen geführt, sondern wie im DSM-5 unter den dissoziativen Störungen. Allerdings wird es noch mehrere Jahre dauern, bis die ICD-11 im Gesundheitssystem auch auf administrativer Ebene angewendet werden kann. Bis zur Umstellung werden die Abrechnungsdaten und Diagnosen in den Arztbriefen noch mit der ICD-10 verschlüsselt. In der ICD-10 wird die Depersonalisations-Derealisationsstörung auch als Depersonalisations-Derealisationssyndrom bezeichnet. In beiden Klassifikationssystemen fehlt ein Zeitkriterium. Experten sind sich aber einig, dass die Diagnose in der Regel nicht vergeben werden sollte, wenn die Symptome nicht über mindestens drei Monate (besser sechs) die meiste Zeit des Tages vorhanden waren.

Tab. 2.1:Diagnostische Kriterien der Depersonalisations-/Derealisationsstörung nach DSM-5 und ICD-10

DSM-5: 300.6

ICD-10: F48.1

A.

Das Vorliegen andauernder oder wiederkehrender Erfahrungen der Depersonalisation, Derealisation oder von beidem:

1.

Depersonalisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit, des Logelöstenseins oder des Sich-Erlebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, des Körpers oder Handlungen (z. B. Wahrnehmungsveränderungen, gestörtes Zeitempfinden, unwirkliches oder abwesendes Selbst, emotionales und/oder körperliches Abgestumpftsein).

2.

Derealisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung (z. B. Personen oder Gegenstände werden als unreal, wie im Traum, wie im Nebel, leblos oder optisch verzerrt erlebt).

B.

Während der Depersonalisations-/Derealisationserfahrung bleibt die Realitätsprüfung intakt.

C.

Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

D.

Das Störungsbild ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Krampfanfall).

E.

Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung wie Schizophrenie, Panikstörung, Major Depression, Akute Belastungsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere dissoziative Störung erklärt werden.

A.

Entweder 1 oder 2:

1.

Depersonalisation: Die Betroffenen klagen über ein Gefühl von entfernt sein, von »nicht richtig hier« sein. Sie klagen z. B. darüber, dass ihre Empfindungen, Gefühle und ihr inneres Selbstgefühl losgelöst seien, fremd, nicht ihr eigen, unangenehm verloren oder dass ihre Gefühle und Bewegungen zu jemand anderen zu gehören scheinen, oder sie haben das Gefühl, in einem Schauspiel mitzuspielen.

2.

Derealisation: Die Betroffenen klagen über ein Gefühl von Unwirklichkeit. Sie klagen z. B. darüber, dass die Umgebung oder bestimmte Objekte fremd aussehen, verzerrt, stumpf, farblos, leblos, eintönig und uninteressant sind, oder sie empfinden die Umgebung wie eine Bühne, auf der jedermann spielt.

B.

Die Einsicht, dass die Veränderungen nicht von außen durch andere Personen oder Kräfte eingegeben wurden, bleibt erhalten.

Kommentar: Diese Diagnose sollte nicht gestellt werden, wenn das Syndrom im Rahmen einer anderen psychischen Störung auftritt, (...), in Folge einer Intoxikation mit Alkohol oder anderen psychotropen Substanzen, bei einer Schizophrenie (...), einer affektiven Störung, einer Angststörung oder bei anderen Zuständen (wie einer deutlichen Müdigkeit, einer Hypoglykämie oder unmittelbar vor oder nach einem epileptischen Anfall). Diese Syndrome treten im Verlauf vieler psychischer Störungen auf und werden dann am besten als zweite oder als Zusatzdiagnose bei einer anderen Hauptdiagnose verschlüsselt.

Typischerweise empfinden die Betroffenen die Symptome als quälend. Häufig fühlen sich Betroffene durch die Symptome im zwischenmenschlichen und oder beruflichen Bereich beeinträchtigt. Sehr häufig sind vor allem Ängste, »verrückt« zu werden, die Kontrolle über den Verstand zu verlieren und peinlich aufzufallen (»man könnte mir ansehen, dass etwas mit mir nicht stimmt«). Im späteren Verlauf der Erkrankung leiden die Betroffenen vor allem unter dem Gefühl der Isolation und der Angst, ihr Leben oder den Sinn ihres Lebens zu verpassen. Mit Bezug auf die Arbeits- oder Studier- und Lernfähigkeit beklagen die Betroffenen oft, dass sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, neue Informationen aufzunehmen und zu behalten. Im zwischenmenschlichen Bereich fühlen sich die Betroffenen oft durch Ängste in sozialen Situationen, ihre »Gefühllosigkeit« oder dem Gefühl, »nicht authentisch zu sein«, beeinträchtigt.

Für die Diagnose einer Depersonalisations-Derealisationsstörung ist es erforderlich, dass die Symptome von Depersonalisation und Derealisation nicht durch einen organischen Krankheitsprozess erklärt werden. Die wichtigsten organischen Erkrankungen, die ausgeschlossen werden sollten, sind Anfallskrankheiten wie die Temporallappenepilepsie oder andere Epilepsieerkrankungen, bestimmte Migräneformen und Schädigung des Gehirns durch Blutungen oder Tumore. Weiterhin sollten chronische organische Schlafstörungen (z. B. ein Schlafapnoesyndrom) ausgeschlossen sein, weil chronischer Schlafmangel auch zu Depersonalisation und Derealisation führen kann. Der Ausschluss einer organischen Ursache erfolgt meist in Form einer Blutentnahme und Laboruntersuchung (z. B. zum Ausschluss einer Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion), einer Aufzeichnung der Hirnstrommuster mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) und/oder einer Magnetresonanztomografie (MRT) zur Darstellung des Gehirns. Falls Betroffene in der körperlichen Untersuchung keine neurologischen Auffälligkeiten haben, kann auf eine umfangreiche apparative Diagnostik verzichtet werden. Wenn Betroffene ausschließlich unter einer visuellen Wahrnehmungsstörung leiden (z. B. alles »wie zweidimensional« sehen oder »wie durch dickes Glas«), kann auch die Konsultation eines Augenarztes sinnvoll sein (Michal et al. 2006c). Tatsächlich waren auch die meisten Patienten, die mich wegen eines Depersonalisations-Derealisationssyndroms aufsuchten, wegen ihrer Beschwerden zumindest einmal bei einem Augenarzt gewesen. Allerdings ohne, dass ein Augenarzt jemals etwas Besonderes feststellen konnte. Meiner Erfahrung nach ist eine organische Ursache für einen langandauernden Zustand von Depersonalisation oder Derealisation extrem selten.

Da Symptome von Depersonalisation bei vielen unterschiedlichen Krankheiten vorkommen können, betonen beide Diagnosesysteme, dass Symptome von Depersonalisation und Derealisation nur dann als eine eigenständige (= primäre) Störung diagnostiziert werden können, wenn diese Symptome nicht ausschließlich als Begleitsymptome einer anderen seelischen oder körperlichen Erkrankung vorkommen. Zum Beispiel tritt kurzeitige Depersonalisation/Derealisation sehr häufig im Rahmen von Panikattacken auf. Es handelt sich dabei um heftige Angstanfälle, die meist nur 5 – 30 Minuten andauern, aber mit einer längeren Erwartungsangst (d. h. Angst vor dem erneuten Auftreten einer Panikattacke) einhergehen. Im Rahmen solcher Panikattacken kommt es nicht selten zu kurzzeitiger, Minuten dauernder, Depersonalisation. Tage, Monate oder gar Jahre dauernde Depersonalisation/Derealisation fällt jedoch nicht darunter.

Aufgabe des Arztes oder Psychologen ist es, durch eine gründliche Befragung nach allen weiteren Krankheitssymptomen zu klären, ob die Depersonalisation/Derealisation ausschließlich als Symptom einer anderen psychischen Störung auftritt oder als eigenständige Störung. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass Patienten, die unter einer Depersonalisations-Derealisationsstörung leiden, in den meisten Fällen auch Diagnosen anderer seelischer Erkrankungen, meist einer Angststörung oder Depression, aufweisen.

Typisch für Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung sind weiterhin oft folgende Probleme und Begleiterscheinungen, ohne dass sie direkt zu den diagnostischen Kriterien zählen (vgl. DSM-5, APA 2013, S. 303 ff): Betroffene geben oft Schwierigkeiten an, ihre Symptome zu beschreiben, obgleich es ihnen mit entsprechender Ermunterung meist sehr gut gelingt. Sie befürchten, »verrückt« zu sein oder zu werden, oder aber an einem unheilbaren Gehirnschaden zu leiden. Sehr häufig beklagen Patienten eine subjektiv veränderte Zeitwahrnehmung, sei es, dass die Zeit viel zu schnell oder zu langsam vergehe. Außerdem haben Betroffene oft Schwierigkeiten, sich Erinnerungen lebhaft ins Gedächtnis zu rufen und ihre Erinnerungen als persönlich bedeutsam zu empfinden. Unspezifische körperliche Beschwerden wie Kopfdruck, Kribbeln oder Benommenheit sind ebenfalls nicht selten. Viele Betroffene berichten von einer Verschlimmerung der Symptome bei grellem Licht, Neonlicht oder überhaupt, wenn es hell ist. Auch andere Arten der Überreizung (z. B. Menschenmengen, Lärm) führen nicht selten zu einer Intensivierung der DDS-Symptomatik (vgl. Simeon und Abugel 2008). Manche Betroffene verfallen in ein extremes Grübeln: Sie können sich kaum noch von der Frage lösen, ob sie tatsächlich existieren. Oder aber sie sind ständig mit der Kontrolle der eigenen Wahrnehmung beschäftigt. So überprüfen sie andauernd, wie »wirklich« oder »unwirklich« die Art ihrer Wahrnehmung gerade ist. Dieses ständige Überprüfen empfinden sie als sehr anstrengend. Sie können es aber nicht einstellen, aus Angst, sonst die Kontrolle zu verlieren. Unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome von Angsterkrankungen oder Depressionen sind ebenfalls typisch.

2.2 Die häufigsten seelischen Erkrankungen bei Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung

Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung leiden aktuell oder litten in ihrer Vergangenheit meist noch unter anderen seelischen Erkrankungen (Michal und Beutel 2009, Sierra 2009, Simeon und Abugel 2008). Am häufigsten sind dies depressive Erkrankungen, Angststörungen und sogenannte Persönlichkeitsstörungen. Eine umfassende Untersuchung von 117 Patienten mit einer DDS, die an einer Spezialeinrichtung in New York durchgeführt wurde (Simeon et al. 2003), fand heraus, dass die meisten Patienten noch an Angststörungen, Depressionen und 52 % an Persönlichkeitsstörungen litten (▸ Tab. 2.2 und ▸ Tab. 2.3).

In einer Untersuchung, die in England am Institute of Psychiatry/London durchgeführt wurde, wiesen von 204 Patienten mit einer DDS 62 % eine depressive Störung, 41 % eine Angststörung, 16 % eine Zwangsstörung, 14 % eine Agoraphobie, 8 % eine bipolare Störung, 7 % eine Schizophrenie, 7 % Drogenabhängigkeit und 5 % Alkoholabhängigkeit auf (Baker et al. 2003).

Tab. 2.2:Häufigkeit komorbider symptombezogener psychischer Störungen bei Patienten mit einer DDS1,2

Soziale Phobie

28,2 %

Dysthymie (anhaltende depressive Verstimmung)

23,1 %

Generalisierte Angststörung

16,2 %

Panikstörung

12,0 %

Major Depression (Depression)

10,3 %

Zwangsstörung

8,5 %

Spezifische Phobie

5,1 %

Somatoforme Störung

6,0 %

Spezifische Phobie

5,1 %

Körperdysmorphe Störung

4,3 %

Anpassungsstörung

2,6 %

Posttraumatische Belastungsstörung

1,7 %

Hypochondrie

0,9 %

Da also die Komorbidität bei Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung eher die Regel als die Ausnahme ist, und weil es allgemein wichtig und hilfreich ist, auch als Patient seine Symptome richtig einordnen zu können, werden in den nachfolgenden Kapiteln die wichtigsten seelischen Erkrankungen beschrieben.

Tab. 2.3:Häufigkeit aktueller komorbider Persönlichkeitsstörungen bei 117 Patienten mit einer DDS1

Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung

23 %

Borderline-Persönlichkeitsstörung

21 %

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

21 %

Paranoide Persönlichkeitsstörung

15 %

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

13 %

Abhängige Persönlichkeitsstörung

10 %

Schizotype Persönlichkeitsstörung

7 %

Histrionische Persönlichkeitsstörung

6 %

Schizoide Persönlichkeitsstörung

4 %

Die richtige Einordnung der eigenen Krankheitssymptome ist für die Kommunikation mit Ärzten und Psychotherapeuten hilfreich. Dies erleichtert es dem Patienten, den Behandlern deutlich zu machen, dass nicht alle Beschwerden in der Diagnose einer Depression oder Angststörung aufgehen. Mit dem entsprechenden Wissen fällt es dem Patienten leichter, sich zu äußern, wenn man den Eindruck hat, vom Fachmann falsch verstanden zu werden. Es ist aber auch für einen Patienten aufschlussreich zu erfahren, dass nicht alle seine Probleme oder Symptome zur Depersonalisations-Derealisationsstörung gehören. Er erkennt beispielsweise, dass er möglicherweise bereits vor dem dramatischen Beginn der Depersonalisations-Derealisationsstörung gesundheitliche beziehungsweise seelische Probleme hatte; oder aber er merkt, dass eine Verschlechterung seines Befindens eher mit einer Depression und nicht unbedingt mit einer Verschlimmerung der Depersonalisation zusammenhängt. Eine Patientin lernte zum Beispiel im Verlauf ihrer Behandlung, ihre unterschiedlichen Reaktionen auf Stress besser zu unterscheiden. So hatte sie schmerzhafte Verspannungszustände im Gesichts- und Kopfbereich früher als identisch mit ihrer Depersonalisation interpretiert, weil Verspannungszustände und eine Verschlimmerung der Depersonalisation meist gleichzeitig auftraten. Im Verlauf ihrer Therapie kam es jedoch bereits nach etwa 20 Sitzungen zu einem deutlichen Rückgang der Depersonalisation. Dabei bemerkte sie, dass diese Verspannungszustände im Gesichtsbereich eigentlich unabhängig von der Depersonalisation sind und ihr als psychosomatisches Symptom eine persönliche Überlastung anzeigen. Bewusst eingesetzte Entspannung und physiotherapeutische Übungen konnten hier dann weitere Linderung bringen.

2.2.1 Depressive Störungen

Depressive Störungen sind die nach den Angsterkrankungen häufigsten seelischen Erkrankungen. Nachfolgend referiere ich die wichtigsten Fakten zu depressiven Erkrankungen auf Grundlage der Leitlinie »Unipolare Depression«.

In der erwachsenen Bevölkerung leiden während eines Jahres mindestens 7,7 % an einer Depression. Auf die Lebenszeit bezogen erleiden mindestens 17 von 100 Personen einmal eine Depression. Davon erkrankt etwa die Hälfte bereits vor ihrem 31. Lebensjahr. Eine Depression kann aber auch erstmalig bereits in der Jugend auftreten.

Depressionen werden anhand nachfolgender Symptome diagnostiziert. Man unterscheidet hierbei Haupt- von Nebensymptomen. Die Symptome müssen über eine Dauer von zwei Wochen an der Mehrzahl der Tage zu einer deutlichen Belastung führen. Die Hauptsymptome einer depressiven Erkrankung sind (1) die gedrückte, niedergeschlagene Stimmung; (2) der Interessenverlust und die Freudlosigkeit und (3) die gesteigerte Ermüdbarkeit und der Antriebsmangel (z. B. dass man sich ständig müde und erschöpft fühlt und nur unter Schwierigkeiten die Aufgaben des Alltags bewerkstelligen kann). Für die Diagnose einer Depression müssen mindestens zwei dieser Hauptsymptome und zwei oder mehr Zusatzsymptome vorliegen. Die Zusatzsymptome einer Depression sind a) Konzentrationsschwierigkeiten (zeigen sich beispielsweise darin, dass man Mühe hat, Texte zu lesen, einem Gespräch zu folgen oder fernzusehen; b) Versagensgefühle (d. h. man fühlt sich selbstunsicher, traut sich nichts mehr zu oder kommt sich minderwertig vor); c) Schuldgefühle (d. h. man macht sich ständig Selbstvorwürfe); d) eine negative und pessimistische Einstellung gegenüber der Zukunft; e) Todeswünsche, Lebensüberdruss und Suizidgedanken; f) Schlafstörung in Form von Ein- und Durchschlafstörungen mit der Folge eines nicht erholsamen Schlafes oder eine deutliche Ausdehnung der Schlafdauer; und g) Appetitstörungen (verminderter oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsveränderung).

Häufig kommen bei einer Depression auch zahlreiche körperliche Beschwerden vor. Typisch sind Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Magendruck, Verstopfung, Durchfall, diffuser Kopfschmerz, Druckgefühl in Hals und Brust, Herzbeschwerden, Atembeklemmung, Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Muskelverspannungen, Verlust des sexuellen Verlangens, Sistieren der Menstruation, Impotenz und andere sexuelle Funktionsstörungen.

Anhand der Anzahl und Ausprägung der Haupt- und Nebensymptome unterscheidet man leicht-‍, mittel- und schwergradige Depressionen. Eine leichtgradige Depression ist durch zwei Hauptsymptome und zwei Zusatzsymptome gekennzeichnet, eine schwergradige Depression durch drei Hauptsymptome und mindestens vier Zusatzsymptome. Meistens verlaufen Depressionen episodisch. Die Dauer einer Episode beträgt meist zwischen vier bis acht Monate. Bei einem Teil der Patienten dauert eine Depression jedoch über zwei Jahre an.

Als Dysthymie wird eine länger als zwei Jahre bestehende depressive Verstimmung bezeichnet. Maßgeblich für die Diagnose einer Dysthymie ist, dass der Betroffene sich mehr als die Hälfte aller Tage in den letzten zwei Jahren depressiv gefühlt hat, zumindest zeitweise und unter einigen der folgenden Symptome litt: Energielosigkeit, unruhiger Schlaf, schlechter Appetit, und geringes Selbstbewusstsein.

Mehr als die Hälfte der Patienten, die einmal an einer Depression litten, werden im Lauf ihres Lebens wieder an einer Depression erkranken. Das Risiko für eine Wiedererkrankung erhöht sich mit der Zahl der Krankheitsepisoden.

Für depressive Erkrankungen gibt es in der Regel mehrere Ursachen. Zum einen werden genetische Ursachen angenommen. Depressive Störungen kommen familiär gehäuft vor. Angehörige ersten Grades haben ein etwa 50 % höheres Risiko als Menschen aus der Allgemeinbevölkerung.