Depression - Melissa Gerber - E-Book

Depression E-Book

Melissa Gerber

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Beschreibung

Mobbing macht der jungen Melissa das Leben zur Hölle. Als sich ihre Mutter kritisch über ihre Figur äußert, verweigert sie das Essen und wird magersüchtig. Niemand deutet den stummen Hilfeschrei des Mädchens richtig, sodass es schlussendlich zu einer Zwangseinweisung kommt. Auch später, nach einem Selbstmordversuch, gibt es keinen, der ihr wirklich zuhört. Auf der Suche nach Verständnis und Unterstützung rutscht Melissa immer weiter ab, bis sie im Drogensumpf landet. Doch noch ist die Talfahrt nicht zu Ende. Wird sie jemals einen Menschen finden, der ihr hilft, das eigentliche Problem zu lösen?

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Depression

- Schritt für Schritt aus dem Leben -

 

 

Melissa Gerber Christof Ruckli

 

 

 

 

 

Original-Ausgabe erschienen im November 2020 bei Merlins Bookshop.

 

Copyright © Merlins Bookshop

Korrektorat & Lektorat: Klarissa Klein, Merlins Bookshop

Verlag: Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

Alle Rechte liegen bei Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

 

Coverfoto: Adobe Stock

 

 

Vorwort

Vorwort Co-Autor

Einleitung

«Ein sehr eigenwilliges Mädchen»

Ich bin viel zu dick

Über sieben Brücken musst du gehen

Ich wollte nicht mehr ich selbst sein

Endstation Krankenhaus

Nicht einmal Sterben sollte mir vergönnt sein

Lob für zwanghaftes Verhalten

Dann war ich eben niemand

Eine ganze Packung Beruhigungstabletten

Verfolgt von meiner Vergangenheit

«Glaub mir, du wirst dich nachher besser fühlen»

Dieses Gefühl wollte ich von nun an immer wieder haben

Die Vergangenheit ließ mich mehr und mehr in Ruhe

«Ich bin maßlos enttäuscht von Ihnen!»

Eine Sucht gegen eine andere eingetauscht

„Wie vergesslich bist du eigentlich!“

Bei ihm durfte ich sein, wie ich war

„Warum das denn? Sie sind doch nicht krank.“

Nichts war schlimmer als das Nichts

Nachwort

Dank

 

Bemerkung

Alle Namen sind geändert, zufällige Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Autorin stammt aus der Schweiz. Daher sind evt. einige Begriffe etwas »ungewohnt«, weil sie der schweizer Sprache geschuldet sind. Teilweise haben wir dann die Begriffe und Redewendungen angepasst.

 

Vorwort

Schon als Kind habe ich gerne Geschichten geschrieben, daher war es naheliegend, auch meine eigene Geschichte aufzuschreiben. Das vorliegende Buch beruht zum größten Teil auf meinen Tagebüchern, in denen ich über die Jahre hinweg ausführlich erfasst habe, was ich erlebt habe und was das in meinem Innenleben ausgelöst hat. Vieles habe ich zum Zeitpunkt des Geschehens nicht einordnen können und erst im Nachhinein – zum Teil viele Jahre später – verstanden.

Ich bin ein Mensch, dem es schwerfällt, unschöne Dinge zu verarbeiten oder gar zu vergessen. Mit der Niederschrift in diesem Buch hoffe ich, dass meine Vergangenheit zwischen zwei Buchklappen endlich zur Ruhe kommt.

Heute, mit zweiunddreißig Jahren, möchte ich sie definitiv hinter mir lassen.

 

April 2020

Melissa Gerber

 

 

Vorwort Co-Autor

Im November 2017 erhielt ich einen Anruf von einer Melissa Gerber, die mich bei ihrer Geschichte um Unterstützung bat. Sie erzählte mir, dass sie magersüchtig gewesen sei, depressiv und noch einiges mehr. Zwei Wochen später trafen wir uns für ein unverbindliches Erstgespräch und ich war gespannt auf den Menschen, den ich kennenlernen würde.

Was sie mir am Telefon erzählt hatte, ließ jemanden über vierzig erwarten, wahrscheinlich vom Leben gezeichnet. Ich täuschte mich: Mir gegenüber saß eine attraktive, junge Frau, der man ihre Geschichte auf keinen Fall ansah. Genau dieser Aspekt, so erfuhr ich später, sollte ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens sein. Man sah ihr gewisse Dinge von außen nicht an. Gleichwohl waren sie da.

Fast zweieinhalb Jahre und rund eintausendsechshundert überarbeitete Seiten später liegt ihr Buch vor. Es erzählt die Geschichte eines Mädchens, respektive einer jungen Frau, die zeitlebens um Gehör und Verständnis kämpfen musste, meist vergeblich. Irgendjemand wusste immer besser, was gut für sie war.

Was ich in ihrem Manuskript gelesen habe, hat mich tief berührt. Melissa besitzt mit gut dreißig Jahren einen Tiefgang – man könnte auch von Weisheit sprechen – wie nur wenige in ihrem Alter. Wäre es in meiner Hand, dann würde ich dieses Buch zur Pflichtlektüre im Psychologiestudium und für alle Psychiater erklären, ebenso könnte ich mir vorstellen, dass es an Oberstufen-Schulklassen gelesen wird.

Ich wünsche Melissa von Herzen, dass es ihr mit diesem Buch endlich gelingt, dass man ihr tatsächlich zuhört.

 

April 2020

Christof Ruckli

 

Einleitung

Am 29. Juni 1987 kam ich in Zürich zur Welt. Mein erstes Lebensjahr verbrachte ich in einer kleinen Stadtwohnung mitten in der Stadt Zürich, bis meine Schwester unterwegs war und meine Eltern beschlossen aufs Land zu ziehen. Geld war nicht viel vorhanden, es reichte nur für ein kleines Häuschen, in dem es keine Zentralheizung gab. Wir mussten mit Holz und Kohle feuern, was im Winter für eine gewisse Gemütlichkeit sorgte. Ich wohnte gerne da und fühlte mich wohl.

Mein Vater war ein introvertierter Mensch, der gleichzeitig eine gewisse Autorität ausstrahlte und mit uns Kindern immer viel strenger umging, als es unsere Mutter tat. Konflikte mochte er nicht und über Probleme redete er nicht gerne. Das Leben betrachtete er durch eine konservative Brille und so verlief auch seine Berufskarriere. Ursprünglich lernte er Automechaniker, wurde später zum Experten beim Straßenverkehrsamt und brachte es dank Ehrgeiz, Fleiß und Intelligenz bis zum Lehrer an der IBZ, der Schweizer Schule für Technik und Management. Das Geld für die Familie brachte er allein nach Hause.

Meine Mutter war im Gegensatz zu Vater extrovertiert und direkt. Sie heiratete bald nach ihrem Lehrabschluss als Friseurin meinen Vater und wurde kurz darauf schwanger. Das erste Kind starb kurz vor der Geburt noch im Mutterleib, das zweite war ich und weitere zwei Jahre später folgte meine Schwester Leonie. In ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter ging sie voll auf, obwohl sie mit uns, oder besser mit mir, häufig überfordert war. Ich erlebte sie aufbrausend, nicht sehr einfühlsam und hatte schon früh das Gefühl, ihr nicht gut genug zu sein. Rügen bekam ich deutlich häufiger zu hören als Lob, was diesen Eindruck noch verstärkte.

Leonie war intelligent und im Leben schien ihr alles leicht zu fallen. Genau wie meine Mutter war sie ein sehr extrovertierter Mensch. Sie war stets gut in der Schule und im Sport; nur Verlieren mochte sie überhaupt nicht. Schon als Kind war sie äußerst ehrgeizig, was meiner erfolgsbedachten Mutter sehr zusagte. Ich war oft neidisch auf sie, weil ich glaubte, dass unsere Mutter sie viel lieber hätte als mich.

Eigentlich waren wir eine typische Schweizer Familie, in der alles seinen gewohnten Lauf hätte gehen können.

Aber es kam anders.

 

«Ein sehr eigenwilliges Mädchen»

Wie süß ich doch aussah in meinem geblümten Kleid, den strahlend blauen Augen und den hellblonden, zu zwei Schwänzchen gebundenen Haaren. Mein erster Schultag! Ich hatte mich wahnsinnig auf diesen Tag gefreut und nun stand ich vor dem Haus, um mich von meiner Mutter fotografieren zu lassen. Anschließend lief ich ein Stück die Straße hoch und wartete beim gelben Briefkasten auf meine beiden besten Freunde Adya und Sebastian, mit denen ich schon im Kindergarten gewesen war.

Die ersten paar Wochen in der Schule vergingen wie im Flug, und ich fühlte mich wohl. Nichts deutete darauf hin, dass sich dies ändern könnte.

Mit meiner jüngeren Schwester Leonie verstand ich mich damals sehr gut. Sie hatte kastanienbraune Haare und braune Augen. Genau wie mein Vater. Ich hatte die blonden Haare und blauen Augen von meiner Mutter geerbt. Leonie und ich verbrachten viel Zeit miteinander, manchmal schliefen wir sogar im gleichen Bett und spielten unter der Bettdecke heimlich mit unseren Puppen, wenn wir hätten schlafen sollen.

Nach einiger Zeit gab es in der Schule eine Veränderung. Die anderen Kinder fingen an, meine Freundin Adya wegen ihrer Hautfarbe zu hänseln. Sie stammte aus Indien und war von einer Schweizer Familie adoptiert worden. Sebastian und ich versuchten natürlich mit allen Mitteln unsere Freundin zu verteidigen. Es gelang uns mehr schlecht als recht und schließlich sonderten wir drei uns völlig von der Klasse ab.

Ich war ein verträumtes Mädchen, das am liebsten spielte. Daher machte ich mir nicht viel aus der Schule. Ich ging gerne hin, aber nicht, weil ich da etwas lernte, sondern weil ich mit meinen Freunden spielen konnte. Während des Unterrichts träumte ich meistens vor mich hin, den Schulstoff fand ich nicht interessant. Hausaufgaben machte ich auch nicht gerne. Die fand ich genau so langweilig und wenn ich sie machte, dann nur auf den letzten Drücker und unter Zwang meiner Mutter.

Die ersten drei Schuljahre vergingen wie im Flug und wieder einmal standen Zeugnisse an: Meines war nicht das beste, was mich allerdings nicht störte. Die Sommerferien standen vor der Tür und meine Schwester und ich würden sie abwechselnd bei unseren Großeltern verbringen. Die Großeltern väterlicherseits mochte ich am liebsten. Das lag an Oma, die immer so warmherzig war. Das Gegenteil meiner Mutter. Manchmal stellte ich mir vor, wie toll es wäre, für immer bei Oma zu wohnen, die in einem Wohnblock mitten in Zürich daheim war. Sie schien mich bedingungslos zu lieben. Die Großeltern mütterlicherseits waren auch nett, aber diese Oma war meiner Mutter ähnlicher, nicht so liebevoll wie die andere.

Nach den Sommerferien folgte mein erster Tag in der Mittelstufe. Es war ein trauriger Tag. Ich war nicht mit meiner besten Freundin Adya zusammen in einer Klasse. Außer ihr und Sebastian hatte ich keine Freunde in der Schule und Sebastian, der in meine Klasse kam, hing jetzt viel lieber mit den Jungs rum. Ich war sehr unsicher, als ich am Morgen zur Schule ging. Als ich ins Klassenzimmer ging, sah ich oberhalb der Tür einen großen, goldenen Schlüssel hängen. Ich betrachtete ihn lange; er erinnerte mich irgendwie an Glück. Doch so etwas wie Glück sollte ich in den nächsten drei Jahren nicht haben.

Der Lehrer war ein älterer Mann und ging auf die Sechzig zu. Mit seiner großen Brille sah er streng aus und in den nächsten Wochen stellte ich fest, dass er nicht nur so aussah, sondern es auch war. Außerdem mochte er keine Kinder. Keine Ahnung, warum er Lehrer geworden war.

Zu dieser Zeit gab es überall Lehrermangel an den Schulen und um genügend Lehrer zu haben, stellte man Menschen ein, die keine komplette pädagogische Ausbildung absolviert hatten. Ein Crashkurs musste reichen. Herr Arnold, so hieß er, hatte tatsächlich keine pädagogischen Kenntnisse. Und Geduld auch nicht. Wenn ein Kind etwas nicht gleich verstand, brüllte er es an und beleidigte es. Dabei hatte er es nicht auf bestimmte Kinder abgesehen, er behandelte alle gleich schlecht.

Ich mochte ihn nicht und hatte Angst vor ihm. Als zehn Jahre altes, schüchternes, unsicheres Mädchen war ich das perfekte Opfer. Wenn er mich anbrüllte oder vor der ganzen Klasse bloßstellte, machte ihm das sichtlich Spaß. In solchen Momenten schloss ich die Augen und hoffte, dass der Albtraum vorbei wäre, wenn ich sie wieder aufmachen würde. Außerdem war Herr Arnold faul. Wenn wir eine Mathematikarbeit geschrieben hatten, nahm er sie nicht etwa mit nach Hause zum Korrigieren, sondern ließ das von den Schülern erledigen. Da er die Tests nie selbst korrigierte, konnte man leicht schummeln. Theoretisch gesehen. Ich war zu blöd dazu. Oder zu ängstlich. Am Schluss der Selbstkorrektur sagte er uns, wie wir unsere Note ausrechnen konnten, und anschließend musste jeder in der Klasse sie laut sagen, damit er sie in sein Büchlein eintragen konnte.

Die Schule gefiel mir schon lange nicht mehr. Ich ging nur noch hin, weil ich musste. Nebst dem kinderhassenden Lehrer war ich in der Klasse eine Außenseiterin und wurde oft von meinen Mitschülern, vor allem von einem Mädchen namens Marisa und ihren Freundinnen, Marisa war die Anführerin, gehänselt. Freunde hatte ich nur außerhalb. Mit den Nachbarskindern, zu denen auch Adya gehörte, verstand ich mich super und wir spielten oft zusammen.

Im Unterricht wurde ich manchmal von Marisa und ihren Freundinnen mit Sachen beworfen oder sie schnitten Grimassen in meine Richtung.

In den Pausen riefen sie mir oft Beleidigungen, wie «du blöde Schlampe», hinterher. Wenn ich dann wegging und es ihnen gerade langweilig war, verfolgten sie mich, um mich weiter beleidigen und auslachen zu können. Aus diesem Grund hielt ich es für besser, die Pausen alleine zu verbringen, was häufig klappte. Am Anfang hatte ich den Kontakt zu meinen Mitschülern noch gesucht, doch meistens wurde ich weggeschickt. Niemand wollte mit mir spielen. Als das Mobbing schlimmer wurde, bemühte ich mich nicht mehr um die anderen Kinder. Das Alleinsein in der Schule, so redete ich mir ein, machte mir nichts aus. Ich legte mir kurzerhand eine Fantasiefreundin zu und nannte sie Claudia. Claudia und ich verstanden uns super. An besonders schlimmen Mobbing-Tagen suchte ich Trost bei meinen Haustieren, der Hündin Senta und dem Kater Struppi. Sie schienen mich nicht zu hassen, so wie die Kinder in der Schule es taten. Meinen Eltern hatte ich nicht sofort von den Hänseleien in der Schule erzählt. Erst als es immer schlimmer wurde. Allzu ernst nahmen sie es nicht.

In unserer Klasse gab es einen Klassenbriefkasten. Jeder konnte so über die Woche einem Klassenkameraden Briefe oder kleine Nachrichten zukommen lassen. Ich bekam nie Post. Doch das sollte sich ändern. An einem Freitag, als der Lehrer die Klassenpost verteilte, waren gleich drei Briefe für mich dabei. Leider stand nichts Nettes drin, sie waren voller Beleidigungen. Zu Hause zeigte ich meiner Mutter die Briefe und dieses Mal nahm sie es ernst und wollte mit meinem Lehrer reden. Das Gespräch sollte aber erst in drei Wochen stattfinden und in dieser Zeit erhielt ich noch mehr solcher Briefe.

Nach dem Gespräch zwischen dem Lehrer und meiner Mutter endeten die Hassbriefe zwar, aber die üblichen Schikanen in den Pausen blieben. Zu Hause beschwerte ich mich wieder bei meinen Eltern über das andauernde Mobbing meiner Mitschüler. Ich weiß nicht, wie ernst meine Mutter die Angelegenheit nahm, jedenfalls sagte sie einmal nach einer meiner vielen Beschwerden zu mir, dass ich halt schon ein sehr eigenwilliges Mädchen wäre. Ich müsse eben auch mal auf meine Mitschüler zugehen und nicht immer die Pausen allein verbringen, wenn ich gemocht werden wollte.

Ich fühlte mich zutiefst hilflos und unverstanden.

Wie sollte ich mich jemandem anschließen, wenn ich dauernd ausgeschlossen wurde? Niemand wollte in der Pause mit mir zusammen sein und ich wusste nicht mal wieso. Bei den Nachbarskindern war ich immer beliebt gewesen. So endete das erste Jahr in der Mittelstufe ebenso traurig, wie es begonnen hatte, und ich war noch nie so froh über die Sommerferien gewesen.

Nach den Ferien würde meine kleine Schwester Leonie ins gleiche Schulhaus kommen; das freute mich, denn dann könnte ich in der Pause mit ihr spielen und wäre nicht mehr allein. Am ersten Schultag konnte ich es kaum erwarten, sie zu sehen. Als es zur Pause klingelte, beeilte ich mich auf den Pausenhof zu rennen, um sie auf keinen Fall zu verpassen.

Schließlich kam Leonie lachend zusammen mit ihrer besten Freundin und ein paar anderen Mädchen auf den Pausenhof. Sie bildeten einen Kreis und schwatzten. Meine Schwester schien mich nicht gesehen zu haben, also ging ich einfach auf sie zu und stellte mich zu ihr und den anderen Mädchen hin. Leonie beachtete mich kaum und schwatzte fröhlich weiter. Ich fühlte mich fehl am Platz und im Hintergrund sah ich die Mädchen aus meiner Klasse kichern. Schließlich wurde es mir zu blöde und ich verzog mich.

In den folgenden drei Tagen ging ich wieder in jeder Pause zu meiner Schwester und ihren Freunden. Am Abend des dritten Tages sagte Leonie unfreundlich, dass ich gefälligst zu meinen eigenen Freunden gehen und nicht immer bei ihr sein solle. Wir stritten uns heftig und Mama mischte sich ein. Sie sagte mir, dass meine Schwester schon recht hätte mit dem, was sie sagte. Wenn ich immer nur bei ihr sei, anstatt mich mit meiner eigenen Klasse abzugeben, wäre es auch kein Wunder, dass ich keinen Anschluss finden und gehänselt werden würde. Vater gab mir ähnlich kluge Ratschläge wie Mutter. Er meinte, wenn es mich so sehr störe, wenn mich jemand in der Schule hänselt, dann solle ich mich eben auch mal zur Wehr setzen, anstatt immer nur zu Hause herumzujammern.

Meine ganze Familie verstand meine Situation nicht im Geringsten. Ihrer Meinung nach waren die Schikanen in der Schule einzig und allein meine Schuld. Es waren nicht etwa diejenigen, die mich mobbten, verantwortlich; nein, ich, die gemobbt wurde, war schuld, denn schließlich würde ich das mit meinem Verhalten provozieren.

Ich begann die Schule zu hassen und begann die Tage von den einen Ferien bis zu den nächsten zu zählen. Dafür bastelte ich mir einen Kalender, hängte ihn an die Wand neben meinem Bett und jeden Schultag, den ich überstanden hatte, hakte ich ab. Mit elf Jahren machte ich mir zum ersten Mal in meinem Leben Gedanken um Zeit.

Zwei lange Jahre würde ich diesen Terror noch ertragen müssen.

 

Es beteiligten sich jedoch nicht alle Kinder am Mobbing. Die meisten waren stille Zuschauer. Ein einziges Mal wurde ich von einem Mädchen, namens Michélle, vor den anderen in Schutz genommen. Ich war in der fünften Klasse und in Naturkunde sollten wir eine Gruppenarbeit machen. Ich hasste Gruppenarbeiten, weil ich den anderen schutzlos ausgeliefert war. Im Unterricht war immerhin noch der Lehrer da. Auch wenn dieser nie wirklich etwas gegen die Attacken unternahm, (in meiner Klasse wurde noch ein weiteres Mädchen genauso gehänselt wie ich), konnte man mich nicht so offensichtlich beleidigen wie in den Pausen. Gruppenarbeiten fanden außerhalb des Klassenzimmers statt und waren meist nicht unter Aufsicht des Lehrers. Jedenfalls nicht die ganze Zeit. Wenn ich das Wort «Gruppenarbeit» nur hörte, lief mir kalter Schweiß den Rücken runter. Zu meinem Glück kam ich auch noch mit Marisa, die Anführerin meiner Mobber, in eine Gruppe. Kaum war der Lehrer nicht mehr in Sichtweite, ging es mit den üblichen Beleidigungen los. Es dauerte nicht lange, da mischte sich Michélle ein. Sie war genauso ein kleines Mädchen wie ich und hatte lange braune Haare.

«Was stimmt denn nicht mit dir?! Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als Melissa fertigzumachen?! Du bist diejenige, die nervt, nicht Melissa!», mischte sich Michélle ein.

Das war das erste und letzte Mal, das jemand den Mut hatte, mich in Schutz zu nehmen. Ich glaube, Marisa war genau so überrascht wie ich und wir beide waren sprachlos. Michéles Ansage hatte Wirkung gezeigt, denn von nun an ließ mich Marisa in Ruhe. Zumindest während der Gruppenarbeit.

 

Als Marisa in diesem Jahr Geburtstag feierte, schmiss sie bei sich zu Hause eine riesige Geburtstagsparty. Nur ich und ein anderes Mädchen, ebenfalls eine Außenseiterin, wurden nicht eingeladen. Am nächsten Tag schaute sich die ganze Klasse Fotos von der Party an. Nur wir zwei nicht.

In dieser Zeit litt ich immer häufiger unter starken Bauchkrämpfen, nicht selten von Fieber begleitet. Die Krämpfe waren teilweise so stark, dass ich kaum aufrecht gehen konnte. Meine Mutter hatte mich deswegen schon mehrere Male zum Arzt gebracht, doch nie konnte etwas festgestellt werden.

Mittlerweile war ich zwölf Jahre alt geworden und die Schule war nach wie vor ein Horror für mich. Außerdem kam ich in die Pubertät. Das verunsicherte mich zusätzlich. Mein Kinderkörper begann sich zu verändern und diese Veränderungen gefielen mir gar nicht. Obwohl mich Mutter bezüglich meiner Unsicherheit beruhigt hatte, fürchtete ich mich. Ich hatte Angst davor nicht mehr hübsch zu sein, denn das war ich immer gewesen. Jedenfalls war mir das oft gesagt worden – und trotzdem konnte mich in der Schule niemand leiden.

Ich war der Meinung, dass die Tatsache, dass mich niemand leiden konnte, an meiner Persönlichkeit liegen musste, denn mein Äußeres konnte nicht schuld sein. Sogar die Mädchen, die mich ständig mobbten, hatten einmal zu mir gesagt, dass dieser oder jener Junge nur in mich verliebt wäre, weil ich hübsch sei.

Und wenn ich nun plötzlich nicht mehr hübsch wäre? Wer war ich dann noch? Ein Niemand. Diese blöde Pubertät würde meinen wunderschönen Kinderkörper womöglich so verändern, dass ich komplett wertlos sein würde. Ich wollte diese Veränderung nicht. Ich wollte so hübsch bleiben, wie ich war.

Also begann ich damit, weniger Süßigkeiten zu essen und mich mehr zu bewegen. Ich musste so schlank bleiben wie immer. Keine Ahnung, wie in meinem Kopf die Idee zustande gekommen war, dass schlank gleichbedeutend mit hübsch sein sollte. Vielleicht hatte ich etwas im TV gesehen. Oder vielleicht hatte ich die Idee von meiner Mutter, die immer wieder neue Diäten ausprobierte, um ein paar Kilogramm zu verlieren.

An die vielen Streitigkeiten mit meiner Mutter in dieser Zeit, erinnere ich mich kaum im Detail, aber eine ist mir geblieben. Wie so häufig hatte ich irgendetwas gemacht oder nicht, was meine Mutter fürchterlich aufgeregt hatte. Ohne es zu wollen, schaffte ich es regelmäßig, meine Mutter zur Weißglut zu treiben. Darin schien ich echt talentiert zu sein. Meine Schwester hatte diese Begabung nicht, deshalb regte sich Mama auch ständig über mich auf und schrie mich an. Und während einer dieser Streitigkeiten sagte sie zu mir, dass ich mit meinen zwölf Jahren gar nicht mehr so schlank wäre wie noch vor einem Jahr. Das traf mich tief und trug wahrscheinlich zum späteren Unheil bei. Im Übrigen war es nicht wahr, was meine Mutter gesagt hatte. Ich wog mit 1,50 Meter kaum mehr als vierzig Kilogramm.

~~°~~

Silvester stand vor der Tür. Um genau zu sein, die Silvesternacht 2000. Meine Eltern hatten ein befreundetes Paar und deren Söhne Michael und Raphael eingeladen. Michael war so alt wie meine Schwester und Raphael zwei Jahre jünger. Leonie und ich mochten die beiden Jungs, wir kannten sie von klein auf und hatten immer viel Spaß mit ihnen gehabt. Nun freuten wir uns, dass sie für die Silvesternacht zu uns kamen.

Am Nachmittag bekam ich wieder Bauchkrämpfe. Ich nahm eine Schmerztablette, doch leider vergebens. Meine Mutter wollte mich zum Arzt bringen, aber ich weigerte mich. Ich hatte mich so auf die Silvesternacht und meine beiden Freunde gefreut. Als dann aber noch Fieber dazukam und die Schmerzen schlimmer wurden, ließ ich mich dann doch ins Krankenhaus fahren. Ein netter Arzt untersuchte mich und kam zum Schluss, dass irgendetwas nicht stimmte. Soso. Doch wie schon die Ärzte zuvor, konnte er nicht sagen, was mir fehlte.

Er zog einen zweiten Arzt zurate, doch der wusste auch nicht weiter und schließlich wurde der Chefarzt höchstpersönlich hinzugezogen. Dieser untersuchte mich nochmals per Ultraschall und meinte, dass mein ganzer Bauchbereich entzündet sei und er deshalb nicht genau erkennen könne, ob es sich um eine Entzündung des Blinddarms handelte.

Ich sagte sofort, dass ich nicht glauben würde, dass der Blinddarm das Problem sei, weil ich diese Bauchschmerzen schon oft gehabt hätte. Der Chefarzt beriet sich noch einmal mit den anderen beiden Ärzten. Ich weinte aus Angst, operiert zu werden. Nachdem sich die Ärzte beraten hatten, sagte mir der Chefarzt behutsam, dass es besser wäre, wenn ich operiert würde. Jetzt weinte ich erst recht und Mama versuchte mich zu trösten.

Das beruhigte mich nicht, aber ich hatte keine Chance und wurde in den Operationssaal gebracht.

Als ich einige Zeit später aus der Narkose aufwachte, erkannte ich meine Mutter. Auch Papa und Leonie waren da. Es war elf Uhr und Mama fragte mich, ob sie noch bis zwölf Uhr bei mir bleiben soll, weil doch Millennium war. Doch in Feierlaune war ich ganz und gar nicht. Für mich war die Silvesterparty gelaufen, ich wollte nur noch schlafen und diesen schrecklichen Tag hinter mir lassen.

Am dritten Tag kam eine Krankenschwester zu mir und fragte, ob ich duschen wolle. Ich bejahte und sie begleitete mich zu den Duschen. Wegen der Blinddarmnarbe konnte ich nur ganz langsam und nach vorne gebeugt gehen. Ich war gerade dabei mich auszuziehen, als die Schwester hereinplatzte. Erschrocken bedeckte ich mich mit einem Handtuch. Sie lächelte mich freundlich an und sagte, dass sie mir beim Duschen helfen würde. Das wollte ich nicht und sagte ihr das auch. Daraufhin meinte sie, dass allein duschen zu gefährlich wäre. Ich könnte stürzen und mich verletzten. Daraufhin zog ich mich wieder an. Die Schwester schaute mich verdutzt an und fragte, wieso ich denn solche Hemmungen hätte, mir beim Duschen helfen zu lassen.

«Ich schäme mich für meinen Körper, ich bin viel zu dick.»

Ohne noch etwas zu sagen, ging ich in mein Zimmer zurück.

Am Nachmittag wurde ich nochmals von einem Arzt untersucht. Er tastete meinen Bauch ab. Ich hasste das, weil ich mich für meinen, meiner Meinung nach, viel zu dicken Bauch schämte. Während der Untersuchung fragte ich den Arzt scherzhaft, ob er nicht auch ein bisschen Bauchfett hätte absaugen können. Er lachte und meinte, dass es bei mir ja gar nichts zum Absaugen gäbe. Endlich durfte ich nach Hause.

Im Übrigen stellte sich im Nachhinein heraus, dass mein Blinddarm doch nicht die Ursache für die Entzündung im Bauch gewesen war.

Auf mich hatte man nicht gehört. Das sollte mir noch öfters passieren.

 

~~°~~

 

Die Bauchschmerzen traten immer wieder auf und obendrein kamen Schlafprobleme dazu. In meiner frühen Kindheit hatte ich nie Probleme mit dem Schlafen gehabt, mich höchstens mal vor Monstern unter dem Bett gefürchtet. Jetzt aber fürchtete ich mich, ohne zu wissen, vor was. Hellwach und verschwitzt lag ich manchmal nachts im Bett und vor lauter Angst traute ich mich nicht, mich zu bewegen. Häufig schlüpfte ich dann zu meinen Eltern ins Bett, was die Angst, vor was auch immer linderte. Nicht einschlafen zu können, war für mich ein Albtraum, weil ich am anderen Morgen trotzdem um sieben Uhr aufstehen musste. Ich fürchtete, in der Schule vor lauter Müdigkeit einzuschlafen.

Das Jahr 2000, ich war in der sechsten Klasse, war ebenso schlecht wie die vorangegangenen. In der Schule hatte ich das Gefühl, das ich noch mehr gemobbt wurde als sonst. Es störte mich auch zunehmend, dass ich immer allein war, was mir in der vierten und fünften Klasse noch wenig ausgemacht hatte, weil ich ja Claudia, meine Fantasiefreundin, hatte. Aus irgendeinem Grund ließ diese mich mehr und mehr im Stich.

Die sechste Klasse war das letzte Jahr der Mittelstufe und alle Schüler gaben sich mehr Mühe als sonst, weil es um den Übertritt in die Oberstufe ging. Alle wollten ins höchste Niveau kommen; der Sek A. Für eine genauere Einschätzung mussten wir unter anderem einen Fragebogen zur Selbsteinschätzung bezüglich der schulischen Leistungen ausfüllen. Ich hatte überall mittelmäßig angekreuzt, um mich nur ja nicht zu überschätzen.

Im Elterngespräch meinte Herr Arnold, dass ich seiner Ansicht nach in die Sek B gehöre. Meine Eltern waren anderer Meinung, sie wollten, wie so viele Eltern, dass ihr Kind in die Sek A geht. Bei einem zweiten Gespräch einigte man sich darauf, dass ich ein Jahr lang in die Sek B gehen solle und wenn meine Noten gut wären, könnte ich in die Sek A wechseln.

Was ich wollte, hatte niemand gefragt.

Auf dem Heimweg nach dem Elterngespräch sagte mir meine Mutter, dass ich mich im neuen Schuljahr unbedingt anstrengen müsse, um den Aufstieg in eine bessere Schulstufe zu schaffen. Ich nickte brav, obwohl ich nicht an der Sek A interessiert war, es sei denn, die Sek B würde noch schlimmer sein als die aktuelle Klasse. Aber das würde kaum möglich sein.

 

Ich bin viel zu dick

Am ersten Tag in der Oberstufe war ich froh, wieder mit Adya in einer Kasse zu sein, und noch mehr freute ich mich, dass nur ganz wenige meiner ehemaligen Mitschüler in die Sek B gekommen waren.

Adyas beste Freundin aus der Mittelstufe, Katja, war ebenfalls in der Klasse. Ich hatte nichts gegen sie und stellte mir vor, dass wir zukünftig einfach zu dritt rumhängen würden. Die ersten Wochen verliefen gut, niemand hänselte mich und ich hatte Adya wieder an meiner Seite, zu der ich in der Mittelstufe keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Auch schrieb ich zum ersten Mal gute Noten. Mein Fleiß lohnte sich und ich ging gerne zur Schule.

Mit der Zeit jedoch fühlte ich mich in unserer Dreiergruppe fehl am Platz. Adya und Katja unternahmen in ihrer Freizeit viel zusammen und redeten dann darüber. Da ich nie dabei war, konnte ich auch nicht mitreden. Langsam wuchsen Wut und Enttäuschung, dass Adya mich mehr oder weniger links liegen ließ. So kapselte ich mich immer weiter von ihr ab und schloss mich stattdessen Desi und Vali an. Ohne Probleme gelang es mir, in diese Gruppe aufgenommen zu werden.

Den Turnunterricht hatten wir leider zusammen mit den Mädchen der Sek A, also mit einem Großteil meiner damaligen Mobber. Auch jetzt konnten sie es nicht lassen, mich, wo immer möglich, zu schikanieren. Und da passierte es: Eine gewisse Desi nahm mich in Schutz und es kam zu einem heftigen Streit. Irgendwann musste sogar die Turnlehrerin eingreifen. Ich war total gerührt, dass Desi mich in Schutz genommen und sogar eine Strafe von der Turnlehrerin riskiert hatte. Desi hatte ohnehin eine große Klappe und war die Anführerin unserer Gruppe. Ihr zu widersprechen war keine gute Idee, denn wie ich feststellte, konnte sie ziemlich heftig austeilen.

In der Schule wechselte ich den Platz von Adya zu Desi, meiner neuen besten Freundin. Die Noten blieben gut, das stärkte mein Selbstbewusstsein und motivierte mich zum Lernen. Manchmal lernte ich so viel, dass meine Eltern mir zu einer Pause rieten. Desi war hingegen keine gute Schülerin und hielt auch nichts vom Lernen. Fast jeden Morgen schrieb sie vor der Schule ihre Hausaufgaben bei mir ab.

 

~~°~~

 

Die Zeit verging und ich fühlte mich noch immer wohl in dieser Klasse. Zu Hause hingegen ging es weniger gut. Meine Eltern redeten mit mir viel über den Übertritt in die Sek A. Ich wusste wieso, aber ich konnte ihnen nie richtig sagen, dass ich schreckliche Angst davor hatte, und ich am liebsten dortbleiben würde, wo ich war. Ich hatte Angst, wieder gemobbt zu werden, da ich in der Sek A mit all jenen zusammenkommen würde, die mich die ganze Mittelstufe über schon gehänselt hatten. Von meiner Angst konnte ich meinen Eltern nichts sagen, sie wären enttäuscht gewesen von mir.

Von Tag zu Tag fühlte ich mich schlechter. Ich konnte mich nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren und hatte Schwierigkeiten, mich in der Gruppe anzupassen.

Manchmal war ich nur noch körperlich da.

Dass etwas nicht stimmte, merkten auch die anderen aus meiner Clique, aber sie verstanden es nicht. Das führte zu Streitereien und langsam sonderte ich mich von ihnen ab.

Ich wollte mich wieder Adya und Katja anschließen. Adya war für mich immer eine Person gewesen, der ich immer alles hatte sagen können und der ich vertrauen konnte. Doch schon nach einem Tag merkte ich, dass ich in ihrer Gruppe nicht aufgenommen wurde. Sie schickten mich zwar nicht weg, aber beachteten mich auch nicht.

Also verbrachte ich die Pausen wieder allein.

Abends konnte ich lange nicht einschlafen; zu viele Gedanken drehten sich in meinem Kopf und langsam kehrte eine altbekannte Ahnung zurück, die ich schon von der Mittelstufe her kannte.

Es war das Gefühl von Einsamkeit und Wertlosigkeit.

Irgendwann vertrug ich mich wieder mit Desi und Vali, doch das Gefühl von Traurigkeit in mir ging nicht weg. Im Gegenteil, die üblen Bauchschmerzen kehrten zurück, wegen derer ich damals eine unnötige Blinddarmoperation hatte über mich ergehen lassen müssen. Sie wurden so schlimm, dass ich eine Woche lang zu Hause bleiben musste und viel Zeit hatte, um nachzudenken. Das half mir nicht weiter, dafür legte sich dieses schreckliche Empfinden – je länger ich nachdachte, desto mehr –, wie eine eiserne Klammer um meine Brust und ließ mich kaum noch atmen.

Es erdrückte mich mehr und mehr.

Ich musste etwas dagegen tun; wollte es nicht mehr hinnehmen, die Marionette anderer Leute zu sein, die glaubten über mein Leben bestimmen zu können. Ebenso wenig wollte ich mich von meinen Mitschülern schikanieren und quälen lassen. Früher hatte ich es nicht anders gekannt, als eine Außenseiterin und der Sündenbock der Klasse zu sein. Doch in der neuen Klasse hatte ich gelernt, dass es auch anders sein kann.

Ich wollte, dass man mir endlich zuhörte! Zu Hause, in der Schule, einfach überall! Ich fragte mich, war ich es nicht wert, dass man mir zuhörte? War ich es nicht wert, dass man mich ernst nahm? War ich so unbedeutend, dass man mich gar nicht beachtete und nicht mal meine eigenen Eltern merkten, wie schlecht es mir ging?

Warum war meinen Eltern meine Schulstufe wichtiger als mein seelisches Wohl!?

In den nächsten Tagen und Wochen drehten sich meine Gedanken oft um mein Äußeres. Eigentlich fand ich, war ich nichts Besonderes. Eben ein ganz normales, jugendliches Mädchen.

Vielleicht würde der Eindruck von Wertlosigkeit verschwinden, wenn ich hübscher wäre?

Oder vielleicht musste ich mich körperlich so verändern, dass meine Eltern einfach merken mussten, dass es mir schlecht geht?

Vielleicht würden sie sich dann für meine Probleme interessieren und mir zuhören?

Immer häufiger stand ich vor dem großen Schrankspiegel im Schlafzimmer meiner Eltern und betrachtete mich. Ich war viel zu dick! Dieser Gedanke war mir schon früher durch den Kopf gegangen, aber ich hatte ihn nie weiterverfolgt. Jetzt war ich der Meinung, dass ich dringend abnehmen müsste.

Und außerdem hatte ein wertloser Mensch – wie ich einer war – überhaupt nicht so viel Essen verdient.

Die Waage zeigte fünfundvierzig Kilogramm an. «Viel zu viel», dachte ich. Vierzig Kilogramm wären ideal. Ich nahm mir vor, gesünder zu essen. Das hieß, ich aß keine Schokolade, keine Chips und allgemein nichts Süßes oder Fettiges mehr. Auch den Farmerriegel, den ich immer als Nachtisch nach dem Mittagessen gegessen hatte, würde ich weglassen. Nach einer Woche wollte ich mich wieder auf die Waage stellen, um zu sehen, ob meine Methode Erfolg zeigte. Vierundvierzig Kilogramm. Ich war begeistert – und musste unbedingt noch disziplinierter werden.

Stand ich vorher hin und wieder vor dem Spiegel, war es jetzt täglich. Bis zu einer Stunde. Ich musterte mich von allen Seiten, mit Kleidern, in Unterwäsche, manchmal auch nur in Unterhose und war einfach nicht zufrieden mit mir. Immer noch war ich viel zu dick. Wahrscheinlich waren vierzig Kilogramm noch zu viel für mich und achtunddreißig würden besser aussehen.

Meine Disziplin wurde kontinuierlich besser. Manchmal konnte ich einem Farmerriegel oder einem Stück Schokolade nicht widerstehen, aber immer, wenn die Waage dann anzeigte, dass ich nur achthundert Gramm statt einem Kilogramm abgenommen hatte, schimpfte ich mit mir selber und hielt mir vor, wie dumm und unnütz ich sei. Das half immer. Es fiel mir von Tag zu Tag leichter, auf Nahrung zu verzichten, wenn mir etwas Essbares angeboten wurde.

 

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In der Schule standen die Elterngespräche an und ich war total aufgeregt. Herr Keller, der Lehrer, lächelte mich an und erzählte viele gute Dinge über mich; dass ich sehr gute Noten hätte, fleißig wäre und mich mit meinen Klassenkameraden gut verstehen würde. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre die Sache an dieser Stelle beendet gewesen. Aber nach mir ging es ja nur selten. Ich wusste genau, dass die Sache für meine Eltern noch nicht beendet war. Sie wollten natürlich wissen, ob ich nach den Sommerferien in die Sek A gehen könnte. Für sie spielte es keine Rolle, dass ich das gar nicht wollte. All meine Argumente interessierten sie nicht. Für sie stand fest, dass ihre Tochter in die Sek A musste. Herr Keller machte ein ziemlich skeptisches Gesicht und meinte, dass ich eine sehr gute Schülerin sei, aber er denke, dass ich jetzt am richtigen Ort sei. Bei Prüfungen wäre ich immer eine der letzten und in der Sek A wäre das Tempo viel schneller. Meine Eltern gaben sich damit nicht zufrieden. Sie bestanden auf einem weiteren Gespräch zwei Monate später, um mir noch eine Chance zu geben, mich zu verbessern.

Als wir uns von Herrn Keller verabschiedet hatten, und die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mein Vater bemerkte nichts davon. Mutter sah sie, nahm mich bei der Hand, und sagte zu mir, dass sie gut verstehen könne, dass ich jetzt so traurig sei.

«Du hast dich in der letzten Zeit so angestrengt in der Schule, ich begreife auch nicht, dass Herr Keller dich nicht in die Sek A gehen lassen will. Aber im nächsten Gespräch wird das sicher klappen!»

In diesem Moment fühlte ich mich so einsam und unverstanden wie noch nie zuvor.

Mit einem Mal war meine ganze Hoffnung auf zwei letzte gute Schuljahre verschwunden. In den nächsten Tagen ging es mir sehr schlecht. Um mich aufzubauen, gestaltete ich meinen Diätplan noch strenger. Ich halbierte das Mittagessen. Jeden Morgen, wenn ich auf der Waage stand und sah, dass ich abgenommen hatte, tröstete mich das. In der Schule blieben meine Noten trotz allem gut, dafür lief es im Freundeskreis nicht mehr. Ich zog mich immer mehr in meine eigene Welt zurück, dachte oft über meinen Diätplan nach, und wie man noch schneller abnehmen konnte.

Drehten sich meine Gedanken einmal um etwas anderes als mein Gewicht, dann dachte ich nach, wie ich die Hänseleien und Sticheleien in der Sek A nochmals zwei Jahre lang ertragen konnte, ohne dabei kaputt zu gehen.

 

Über sieben Brücken musst du gehen

Meine Mutter war mal wieder auf einem neuen Diättrip. Jeden Abend mischte sie sich einen Shake, der das Abendessen ersetzen sollte. Das kam mir gerade recht. Unter diesen Umständen aß die Familie nicht mehr wie früher zusammen zu Abend, sondern jeder zu einer anderen Zeit. So fiel es nicht auf, dass ich kaum noch etwas zu mir nahm. In den folgenden Tagen und Wochen ging es mir immer schlechter. Ich verlor den Kontakt zu meinen Freunden immer mehr, wurde depressiv und äußerst sensibel. Ich konnte mich über Kleinigkeiten völlig aufregen.

Für gute Noten musste ich mich immer mehr anstrengen und höllisch aufpassen ja nichts Ungesundes oder gar zu viel zu essen. Dazu kam der Zwang, mich stundenlang vor dem Spiegel zu betrachten. Noch immer war ich viel zu fett, obwohl ich die achtunddreißig Kilogramm schon lange unterschritten hatte! Der ganze Stress und die Hektik der letzten Wochen zehrten zunehmend an meinen Nerven.

Jeden Tag strampelte ich eine halbe Stunde auf unserem Hometrainer und hörte Musik dazu. Während ich radelte, konnte ich über vieles nachdenken. Grübeln nennt man das wohl. Das Lied «Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehen» von Peter Maffay fand ich sehr passend. Ich hoffte so sehr, dass es auf der anderen Seite der Brücke Licht für mich gab. Es schien jedoch in weiter, weiter Ferne.

Meine Mutter mischte sich noch immer diese komischen Drinks am Abend und ich fragte sie, ob ich mich ihrer Diät anschließen dürfte. «Nein, das ist etwas für Erwachsene und ungesund für dich!» Daraus entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung mit dem Resultat, dass ich sie anschrie: «Du willst nur, dass ich das hässliche Entlein bleibe, und du die schöne, schlanke Mutter spielen kannst. Du hast kein Recht, eine Diät zu machen und es mir zu verbieten!»

Mutter blieb bei ihrer Entscheidung und ich beschloss, mir zum Abendessen selbst einen Schokoladendrink zu mixen. Vor dem nächsten Volleyballtraining trank ich nur eine kalte Schokolade; ich wollte es Mutter zeigen! Sie ließ sich davon nicht sonderlich beeindrucken, hielt es wahrscheinlich für eine Trotzreaktion. In der letzten Zeit war der Hunger mein ständiger Begleiter gewesen, jetzt hatte ich Angst, dass er im Volleyballtraining noch quälender würde. Erstaunlicherweise vergaß ich ihn, und als ich danach wieder nach Hause kam, warf ich mich todmüde ins Bett.

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Nach einer Woche merkte meine Mutter, dass das mit der Schokolade doch nicht nur eine Trotzreaktion gewesen war. Wieder stritten wir uns heftig. Mutter meinte, ich hätte eine Essstörung und ich konterte, dass sie dann auch eine habe. Vater mischte sich ein und meinte zu mir, wie ich denn die Sek A schaffen wolle, wenn ich nicht genügend essen würde. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich auf die Sek A scheiße, doch ich rannte mit Tränen in den Augen in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Ich weiß nicht, wie lange ich so dort lag und weinte. Allmählich beruhigte ich mich wieder. Meine Mutter kam ins Zimmer, nahm mich in den Arm und redete mit leiser Stimme zu mir: «Wir machen uns doch nur Sorgen um deine Zukunft.»

Das tat gut, aber die Einsamkeit und die Traurigkeit blieben in meinem Herzen.

Mittlerweile hatte ich fünfunddreißig Kilogramm als mein Traumgewicht ausgegeben. Aber bei sechsunddreißig Kilogramm machte ich mir bereits Gedanken, ob mein angestrebtes Ziel wohl genügen würde, um nicht zu dick zu sein. Ich machte also weiter mit meiner Diät.

Seelisch ging es mir immer schlechter. Der Druck in der Familie wurde immer größer. Mein Vater zwang mich, am Abend zu meinem Glas Milch zusätzlich Brot zu essen. Gott sei Dank hatten wir einen Hund, der beim Essen immer unter dem Tisch lag. In unbeobachteten Momenten warf ich Brotwürfelchen unter den Tisch, bis schließlich alles weg war. Das ging einige Zeit lang gut, bis meine Eltern mir auf die Schliche kamen.

Mutter schlug vor, dass wir zu meinem Hausarzt gingen, um die ganze Sache mit ihm zu besprechen. Ich hatte nichts dagegen. Vielleicht würde er meiner Mutter mal die Augen öffnen und ihr sagen, dass ich eine Diät bitternötig hatte. Doch nichts dergleichen geschah.

Der Arzt meinte, dass ich für mein Alter und meine Größe viel zu leicht wäre. Das war nicht das, was ich hören wollte, und ich hatte augenblicklich keine Lust mehr, auch nur eine Sekunde länger in dieser Praxis zu bleiben. Doch so schnell kam ich nicht davon. Der Arzt fragte mich, ob ich Probleme mit dem Essen hätte. Natürlich hätte ich keine Probleme damit, sagte ich ihm. Dann fragte er mich, was ich denn heute alles gegessen hätte. Ich fing an aufzuzählen. Einen Joghurt, Nudeln und Gemüse. Dann fragte er, ob ich denn den Teller mit Nudeln ganz gefüllt hätte. Ich bejahte, obwohl es nicht einmal die Hälfte gewesen war. Der Arzt schlug vor, dass ich einmal pro Woche zur Gewichtskontrolle komme. Mutter stimmte zu. Ich war vehement dagegen, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Er vereinbarte mit meiner Mutter einen Termin. Schließlich konnte ich die Tränen nicht mehr halten und lief traurig-wütend aus der Praxis. Das darauffolgende Gespräch mit Mutter verlief ergebnislos. Ich hatte mich zu fügen.

 

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In der Schule stand das alljährliche Skilager an. Das schien eine prima Gelegenheit, um dem ganzen Stress zu Hause zumindest für eine Woche zu entkommen. Ständig wurde ich von meinen Eltern unter Druck gesetzt, etwas zu essen, und Mutter meinte zur Krönung des Ganzen auch noch, dass meine Freundin Desi kein guter Umgang für mich sei. Ich fand das unerhört, denn schließlich kannte sie sie gar nicht. Vielleicht war Desi wirklich kein so guter Umgang, aber zumindest hielt sie zu mir und gab mir das Gefühl der Freundschaft, ein Gefühl, das ich in meiner ganzen Schulzeit sonst kaum gehabt hatte.

Als ich ein anderes Mal vom Volleyballtraining nach Hause kam, wurde mir einmal mehr bewusst, wieso ich unbedingt in dieses Skilager wollte. Der Krach zu Hause war vorprogrammiert. Als ich zur Tür hereinkam und mich die Treppe hinauf in mein Zimmer verziehen wollte, rief mein Vater: «Es wird aber nachher noch was gegessen!»

Ich überhörte es und blieb einfach ein bisschen länger als sonst in meinem Zimmer. Ich hoffte, dass er es vergessen würde. Doch dem war nicht so. Eine halbe Stunde später rief er mich zum Essen. Ich trank meine kalte Schokolade und wollte gehen, doch er sagte zu mir, dass ich erst gehen könne, wenn ich eine Scheibe Brot gegessen hätte. «Ich habe keinen Hunger!»

Doch er ließ mich nicht gehen.

Der Trick mit dem Brot unter dem Tisch funktionierte auch nicht mehr, denn er beobachtete mich wie ein Adler seine Beute. Er sagte keinen Ton, saß einfach nur da und wartete darauf, dass ich das Brot aß. Doch ich nahm keinen Bissen zu mir und war überzeugt, dass es ihm bald zu dumm würde. Doch ich hatte kein Glück. Er forderte mich immer wieder auf, das Brot endlich zu essen, aber ich blieb stur. Irgendwann wurde es mir zu bunt: «Ich muss noch Hausaufgaben erledigen.»

Er ließ mich aber immer noch nicht gehen. Keine Ahnung was er damit erreichen wollte.

Auf einmal stieg eine unbändige Wut in mir auf und ich schrie ihn an, dass er ein Rabenvater wäre und sich einen Dreck um mich scheren würde. «Euch geht es sowieso nur darum, dass ich in der Schule erfolgreich bin! Wie es mir seelisch geht, wollt ihr nicht sehen! Ihr sorgt euch erst um mich, seit es mir körperlich schlecht geht! Aber auch jetzt ist eure Hauptsorge nicht meine Gesundheit, sondern die Sek A!»

Mit diesen Vorwürfen lief ich heulend in mein Zimmer.

Meine Mutter kam nach einer Weile, tröstete und überredete mich, nach unten zu Papa zu kommen. «Er möchte nochmals mit dir reden.»

Vater saß immer noch seelenruhig am Küchentisch und das Brot lag an seinem Ort. Er fing an zu reden, von wegen, dass er schon gemerkt hätte, dass es mir seelisch schlecht geht, aber es würde auch nicht besser werden, wenn ich mich zu Tode hungern würde. Wenn ich wolle, würde er mich auf die katholische Schule schicken, wo ich noch mal ganz neu anfangen könnte.

Wie wenig Ahnung er von mir und meinem Leben doch hatte. Neu anfangen? Ich hatte längst neu angefangen! Damals, als ich in diese Klasse gekommen war und zum ersten Mal keine Angst mehr gehabt hatte, zur Schule zu gehen. All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, aber ich traute mich nicht, sie laut auszusprechen und zu sagen, dass ich bleiben wollte, wo ich war.

Vater riss mich aus meinen Gedanken und befahl erneut, dass ich die Scheibe Brot endlich essen solle. Er schien es ernst zu meinen. Doch meine Hände bewegten sich keinen Zentimeter unter dem Tisch hervor. Er redete weiter auf mich ein, als ich an meinen Beinen das warme Fell von Senta spürte. Das war die Gelegenheit, das Brot zum Verschwinden zu bringen, denn nur so kam ich von hier weg.

Vater redete und redete und schaute mir dabei immer in die Augen. Ich brach ein Stück Brot ab und tat so, als ob ich es in den Mund stecken würde. Dann kaute ich, ohne irgendetwas im Mund zu haben, und steckte währenddessen unter dem Tisch Senta das Brotstückchen zu. So ging es immer weiter. Ich hörte meinem Vater überhaupt nicht zu, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war, die Brotbrocken unauffällig unter dem Tisch verschwinden zu lassen.

Als das Brot weg war, beendete er seine Rede. Zum Schluss sagte er zu mir: «Da siehst du, es geht doch.»

Ich lächelte ihn an und ließ ihn in dem Glauben, dass seine Rede tatsächlich etwas gebracht hätte.

---ENDE DER LESEPROBE---