Der Absturz - Will Jordan - E-Book + Hörbuch

Der Absturz Hörbuch

Will Jordan

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Beschreibung

Der Absturz des Black-Hawk-Helikopters in Afghanistan ist schon schlimm genug. Doch an Bord befand sich ein hochrangiger Geheimnisträger der CIA. Wenn die Informationen in seinem Besitz an die Öffentlichkeit gelangen, würde das die ISAF-Allianz zerschlagen und Afghanistan dem Chaos preisgeben. Ryan Drake wird angeheuert, den Mann aufzuspüren und die Informationen sicherzustellen. Ein Routineeinsatz. Doch unvermittelt taucht die ehemalige CIA-Agentin Maras auf, die mit Drakes Schützling noch eine eigene Rechnung offen hat ...

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Zeit:14 Std. 58 min

Sprecher:Mark Bremer

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Buch

Getroffen von einer Boden-Luft-Rakete, stürzte der Black Hawk ab. An Bord befand sich ein hochrangiger CIA-Geheimnisträger, der von Extremisten entführt wird. Und das war nur ein Anschlag aus einer neuen Terrorserie, die Afghanistan erschütterte …

Verzweifelt darauf bedacht, ihren Mann zu befreien, bevor ihm seine Geheimnisse entrissen werden, heuert die CIA Ryan Drake und sein Elite-Einsatzteam an. Der Auftrag ist einfach: Findet den Geheimnisträger und bringt ihn heim.

Doch nichts ist so einfach, wie es klingt. Kaum sind Drake und sein Team in dem kriegszerrissenen Land gelandet, befinden Sie sich mitten in einem tödlichen Konflikt zwischen brutalen Terroristen und einem skrupellosen – von den USA bezahlten – Söldnerführer. Und in den Schatten lauert eine Frau aus Drakes Vergangenheit, die vor Rachedurst brennt.

Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gerne, boxt oder – natürlich – liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte. Will Jordan hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in diesem Roman erwähnt wird.

Die Ryan-Drake-Romane bei Blanvalet:

1. Mission: Vendetta

2. Der Absturz3. Gegenschlag 4. Operation Black List 5. Codewort Tripolis6. Das CIA-Komplott 7. Kommando Black Site 8. Projekt Pegasus

Will Jordan

Der Absturz

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

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»Sacrifice« bei Arrow, London.

Deutsche Erstausgabe September 2014 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Will Jordan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2014 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlagmotiv: Johannes Frick, Neusäß/Augsburg,

unter Verwendung von Motiven von

Getty Images/Craig DeBourbon und Shutterstock

Redaktion: Rainer Michael Rahn

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-12435-9V002

www.blanvalet.de

Für Margaret, meinen Fels

TEIL EINS

Erinnerung

1839 marschierten in Indien stationierte britische Truppen in Afghanistan ein und begannen den ersten anglo-afghanischen Krieg. Obwohl es ihnen gelang, Schlüsselstädte einzunehmen, wurden sie von einer Welle der Rebellion zwei Jahre später zum Rückzug gezwungen. In zahllosen Hinterhalten wurde schließlich die gesamte Streitmacht aufgerieben.

Dieser Krieg gilt als eines der schlimmsten Desaster in der britischen Militärgeschichte.

GESAMTVERLUSTE:

16.500 britische und indische Soldaten wurden getötet, die Zivilisten nicht mitgerechnet. Die Zahl der getöteten Afghanen ist unbekannt.

1

Provinz Parwan, Afghanistan, 8. August 2008

Staub.

Staub und Sand und Felsen, vom einen Ende des Horizonts bis zum anderen.

Aus der offenen Schiebetür an der Seite des Helikopters, eines UH-60 Black Hawk, betrachtete Bordschütze Lawrence »Law« Carter die unwirtliche, öde Landschaft des östlichen Afghanistans, über die er mit etwa 120 Knoten in der Stunde hinwegglitt.

Wohin er auch blickte, sah er vertrocknete Felder, vom Wind geschliffene und geformte Felsbrocken, endlose Flächen staubiger Erde und gewundene, verschlungene Täler, die nirgendwo hinführten. All das erstreckte sich unter ihm und verlor sich in einem dunstigen, gelbgrauen Horizont, der alle Einzelheiten verhüllte und es unmöglich machte, Entfernungen abzuschätzen.

Das ganze Land sah aus, wie seiner Vorstellung nach die Dust Bowl in den Dreißigerjahren im Mittleren Westen gewirkt haben musste; alles Leben war verdorrt, jede Farbe schien ausgebrannt, weggeschmirgelt vom gnadenlosen Wind und dem allgegenwärtigen Staub.

Was für ein höllischer Platz, um Krieg zu führen.

Er schwenkte die sechsläufige M134-Minikanone, die an der Tür des Helikopters montiert war, langsam von links nach rechts. Er erwartete nicht wirklich, etwas zu sehen, aber er hatte das Gefühl, etwas gegen die Langeweile tun zu müssen. Da sie in etwa 2000 Fuß Höhe flogen, waren sie ohnehin zu hoch, um erkennen zu können, was genau sich auf dem Boden tat.

»Hab gehört, dass sie uns morgen Nacht auch rausschicken wollen«, meldete sich eine dünne, nasale Südstaatenstimme. Carter konnte fast das zu dieser Stimme gehörende spöttische Lächeln vor sich sehen. Es gehörte Eric Myers, einem hageren rothaarigen Texaner aus San Antonio, der seinen Heimatstaat kein einziges Mal verlassen hatte, bis er zur Armee gegangen war. »Nachtpatrouille am Rand der Green Zone. Der Captain hat sich uns dafür gezielt herausgepickt.«

»Wirklich? Wem hast du denn für diese Information einen blasen müssen, Myers?« Die Stimme des Fragenden klang tief und rau. Sie gehörte Dino Hernandez, einem drahtigen Latino aus Fresno, Kalifornien. Er war zur Armee gegangen, weil seine beiden älteren Brüder das auch getan hatten.

»Das ist bei Gott die ganze Wahrheit, ich schwöre«, beteuerte Myers, als würde das irgendetwas bedeuten. Die Hälfte von dem, was er redete, war völliger Blödsinn. »Hab gehört, wie eines dieser Etappenschweine, so ein Taktikgenie, darüber geredet hat. Wir stehen auf der schwarzen Liste des Hauptquartiers, Bruder, merk dir meine Worte!«

Als Etappenschwein bezeichnete man wenig schmeichelhaft die Offiziere und Soldaten, die zwar für die Planung von Operationen an der Front, aber nicht für deren Durchführung verantwortlich waren.

»Du meinst wohl, du stehst auf der schwarzen Liste«, erwiderte Carter und riss seinen Blick von dem staubigen Gelände los, um mit Myers zu reden. »Und zwar ganz oben, seit diesem Scheiß mit der 203.«

Während eines Feuergefechts mit aufständischen Taliban vor etlichen Monaten hatte Myers auf einem Flachdach gekauert und in einem Anfall von Heldenwahn mit seinem M203-Granatwerfer eines der schwer fassbaren Ziele anvisiert und gefeuert. Die Granate war in die steinerne Umrandung unmittelbar vor ihm eingeschlagen. Zum Glück wurden diese Granaten erst scharf, wenn sie etwa zwanzig Meter weit geflogen waren.

»Ich glaube, diese Granaten sind wirklich idiotensicher«, meinte Hernandez und lachte, als er sich an Myers’ panischen Sprung vom Dach erinnerte. Dessen Tollkühnheit hatte sich damals schlagartig in Luft aufgelöst.

Carter musste ebenfalls lachen, und nach einigen Sekunden störrischen Schweigens fiel selbst Myers ein.

Ein Mann jedoch lachte nicht, und zwar der vierte Passagier in der Mannschaftskabine. Er war ein ziemlich finsterer Kunde und saß auf der Bank achtern an der Backbordseite, direkt hinter Carter.

Der junge Bordschütze blickte unwillkürlich zu ihm.

Er schätzte den Mann auf mindestens fünfzig. Er hatte ein gebräuntes, zerfurchtes Gesicht, das durch den grau melierten Bart noch älter wirkte. Es war offensichtlich, dass er sich schon länger hier im Land aufhielt. Mit seinen dunklen Augen starrte er nachdenklich durch das schmutzige Fenster auf die Dust Bowl unter ihnen.

Der Mann strahlte eine Anspannung aus, eine Nervosität, die Carter beunruhigte. Dass er seit ihrem Start von der Vorgeschobenen Operationsbasis Salerno vor dreißig Minuten kein einziges Wort mit den Leuten im Helikopter gewechselt hatte, verstärkte Carters Unbehagen noch. Er war in letzter Sekunde an Bord gekommen; ein Passagier, ein Fremder und ein nicht sonderlich willkommener Gast.

Er war kein Militär, so viel war offenkundig. An seiner Schutzweste befand sich kein Namensschild, und nirgendwo an seiner Kleidung befand sich ein Rangabzeichen oder ein Abzeichen seiner Einheit. Genau genommen hatte er nichts an sich, das ihn hätte identifizieren können.

Keiner von ihnen sprach es aus, aber sie dachten alle das Gleiche. Der Kerl war ein Spion, entweder von der CIA oder von der NSA oder irgendeiner anderen geheimen Truppe weit oberhalb ihrer Gehaltsklasse. Er gehörte zu einer anderen Welt, von der weder Carter noch seine Kameraden etwas wissen wollten.

Aber was hatte er in ihrem Hubschrauber verloren?

Carter hatte keine Ahnung, dass ein Feldstecher auf den Helikopter gerichtet war, der sich schwerfällig durch den staubigen Himmel fräste. Die heißen Abgase flimmerten vor den Auspuffstutzen. Das Wummern der Rotoren war in zwei Meilen Entfernung nur schwach zu hören, wurde jedoch lauter, als der Hubschrauber näher kam.

Die Hände, die den Feldstecher hielten, waren groß und stark, und die Finger, acht Finger, waren dick und kräftig. Jahrelange körperliche Arbeit hatten sie gestählt und schwielig gemacht. Die beiden letzten Finger der linken Hand fehlten. Sie endeten in krummen Stümpfen unmittelbar vor dem ersten Knöchel.

Der Feldstecher wurde gesenkt, und dahinter kam ein schmales abgezehrtes Gesicht zum Vorschein. Es war von zahlreichen Falten durchzogen, Spuren eines Lebens voller Entbehrungen und Kämpfe. Dem Mann war anzusehen, dass sein Leben weder langweilig noch leicht gewesen war.

Mit dunklen, von tiefen Falten gesäumten Augen beobachtete er, wie sich sein Ziel rasch näherte. Der scharfe Verstand hinter diesen Augen stellte sich die Abfolge der Ereignisse vor, die sich gleich abspielen würden.

Die Männer in dem Helikopter waren zuversichtlich und selbstgefällig, hatten keine Ahnung, was ihnen bevorstand. Sie wähnten sich sicher, geschützt durch Höhe, Panzerung und Technologie.

Aber sie irrten.

Myers wollte gerade eine weitere Geschichte zum Besten geben, als ein schrilles Warnsignal aus dem Cockpit ertönte. Die Computer des Hubschraubers warnten die Besatzung, dass jemand sie anpeilte.

Carter spannte sich an, und sein Herzschlag beschleunigte sich, als sein Körper sich auf eine Gefahr vorbereitete, die er nicht verstand. Er fühlte sich wie eine Gazelle in den Steppen Afrikas, die gerade einen Löwen gesehen hatte, der sich in dem langen Gras an sie heranpirschte. Der Tod war nahe.

Bitte, lass es einen falschen Alarm sein, flehte er unwillkürlich. Eine Fehlfunktion der Instrumente, ein Blip von einer Radareinheit in der Nähe oder vielleicht von irgendeinem Arschloch am Boden, das mit einer Radarpistole maß, wie schnell Militärhubschrauber tatsächlich flogen.

»Wir leuchten wie ein Weihnachtsbaum«, warnte der Pilot.

Einen Moment später verwandelte sich das Piepen des Alarms in einen schrillen Dauerton.

»Scheiße! Wir werden anvisiert. Wir werden anvisiert!«

»Sieht jemand was?«, rief der Copilot.

Carter beugte sich weiter aus der Tür und blickte zu einer niedrigen Hügelkette im Osten. Er sah eine unschuldige, kleine weiße Rauchwolke aufsteigen und fühlte, wie ihm das Blut in den Adern gefror.

Etwa anderthalb Meilen vom Ziel entfernt startete der Operator das Geschoss. Einen Augenblick später verließ es die Startröhre, angetrieben von einem kleinen Ausstoßmotor, der abgeworfen wurde und harmlos auf den Boden fiel, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte. Der Antrieb der Rakete zündete eine Sekunde später, und mit einem brüllenden Fauchen beschleunigte das Geschoss auf Mach 2,2, mehr als doppelte Schallgeschwindigkeit.

»Rakete im Anflug!«, schrie er instinktiv, fast ohne es zu wollen.

Der Pilot reagierte blitzschnell. »Festhalten!«

Er riss den Steuerknüppel nach links und öffnete die Drosselklappen bis zum Anschlag, flog mit Vollgas eine scharfe Kurve nach Backbord und zog dann den Knüppel zurück, um an Höhe zu gewinnen. Er war kein nervöser Grünschnabel auf seinem ersten Flug, sondern ein erfahrener Veteran des Afghanistankrieges. Auf ihn war schon öfter mit Granaten und Handfeuerwaffen geschossen worden, als er zählen konnte. Er kannte alle Tricks und wusste auch, wie man sie am besten einsetzte.

Wenden, beschleunigen, höher steigen.

Aber ein Black Hawk war kein Apache-Kampfhubschrauber. Er wendete langsam und träge, eher wie eine luxuriöse Limousine, nicht wie ein Formel-1-Rennwagen. Trotzdem presste die Fliehkraft Carter brutal in seinen Sitz.

»Gegenmaßnahmen einleiten!«

Einen Augenblick später stieß der Hubschrauber einen Strom von hellen, glühenden Leuchtraketen auf beiden Seiten aus. Sie sollten anfliegende Sprengköpfe, die sich an der Hitze der Hubschrauberturbinen orientierten, verwirren und ablenken.

All das war jedoch vergeblich, weil die Rakete, die auf sie zuschoss, konstruiert war, um solche Maßnahmen zu umgehen. Sie ignorierte die Leuchtraketen und raste geradewegs auf sie zu. Noch tausend Fuß, 500 Fuß, 200 Fuß.

Dem Blitz, mit dem drei Kilogramm hochexplosiver Sprengstoff an der Backbord-Turbine explodierten, folgte einen Moment später eine Wolke von extrem heißem Gas, die sich ausbreitete, die Panzerung absprengte, innere Verstrebungen verbog, die stark belastete Mechanik zerschmetterte, Hydraulikleitungen und elektrische Kabel zerfetzte und alles in einen tödlichen Schrapnell-Hagel verwandelte, der durch die Kabine des Helikopters fetzte und dort noch mehr Schaden anrichtete.

Das Fluggerät schien zusammenzuzucken, wurde in der Luft durch die Gewalt der Explosion zur Seite geschleudert; eine Seite des Helikopters war zerstört, die Backbord-Turbine ein brennender Torso, während die andere stotterte und öligen schwarzen Rauch ausstieß.

Hernandez hatte das Pech, unmittelbar neben dem Aufschlagpunkt zu sitzen. Er hatte keine Chance. Sein weicher, zerbrechlicher Körper leistete keinerlei Widerstand, als das Schott hinter ihm sich auflöste und faustgroße Brocken aus glühendem Metall durch ihn hindurchschossen und ihn zerrissen.

»Oh Himmel! Oh Himmel!«, schrie Myers. Seine Schreie wurden von dem Kreischen des überstrapazierten Triebwerks und dem Ächzen berstenden Metalls übertönt, als der Rumpf des Hubschraubers um ihn herum nachgab.

»Hier spricht Kilo Six Niner, wir wurden abgeschossen!« Der Pilot schrie in das Mikrofon, damit er bei dem Lärm, den sein Fluggerät machte, verstanden wurde. »Ich wiederhole, wir wurden getroffen und gehen runter!«

Weiter hinten konnte Carter nichts anderes tun, als sich an seinem Sicherheitsharnisch festzuhalten, als der Hubschrauber sich heftig schüttelte und in seinem Todeskampf in einer engen Spirale dem Boden entgegenraste. Er hatte keine Ahnung, wie schnell es abwärtsging, ob die Piloten noch Kontrolle über den Helikopter hatten oder ob sie wie ein Stein vom Himmel stürzten.

Die Welt draußen flog wie ein Schemen vorbei, in dem undeutlich der Horizont, der staubige, orangefarbene Himmel, Staub, Felsen und sich windende Täler, die nirgendwo hinführten, einen Tanz aufführten.

Die Dust Bowl.

Ein Stück davon entfernt verfolgte der stumme Beobachter, wie der Hubschrauber in einer Spirale abschmierte und dabei eine Fahne aus Rauch und Flammen hinter sich herzog. Die Rotoren drehten sich noch, wahrscheinlich weil die Leerlaufeinheit der Turbine sich automatisch von der zerstörten Antriebswelle abgekoppelt hatte. Aber die Rotoren erfüllten keine Funktion mehr. Falls die Piloten noch lebten, kämpften sie in diesem Moment mit zerfetzten Hydraulikleitungen und lasen Kontrollanzeigen ab, die mit nichts mehr verbunden waren.

Er empfand fast Mitleid mit ihnen.

Die Rakete hatte ihren Job ausgezeichnet erledigt. Es hatte keine spektakuläre Explosion gegeben, keinen donnernden Feuerball wie im Film; es waren nur ein kleiner, aber effektiver Blitz und eine Stichflamme zu sehen gewesen, die schon bald erloschen und einer Rauchwolke aus den zerstörten Turbinen gewichen war.

Es hatte etwa zwei Sekunden gedauert, bis der Schall der Explosion ihn erreichte. Dann hatte er die Arme ausgebreitet, als wollte er ihn umarmen, hatte den Knall genossen, während das Echo von den Felswänden um ihn herum zurückgeworfen wurde.

Jetzt sah er zu, wie der Helikopter die Nase senkte und nach links wegkippte, als die Besatzung den letzten Rest von Kontrolle verlor. Er bohrte sich in einer Wolke aus Staub, Erde und Rauch in den Boden.

Der Beobachter lächelte, als er sich die Reaktion ausmalte, die dieser Angriff auslösen würde, sich die Furcht und Panik vorstellte, die er seinen Feinden einflößen würde. Das Blatt hatte sich heute gewendet, und zwar für immer.

Und bald, schon sehr bald würde er das bekommen, wonach er sich am meisten verzehrte. Vergeltung.

Er lebte noch.

Etliche Sekunden lang konnte Carters Gehirn nichts anderes verarbeiten als diese bemerkenswerte Erkenntnis. Er war am Leben. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und er hörte sein keuchendes, angestrengtes Atmen.

Irgendwie hatte er den Absturz überlebt.

Als sein Verstand wieder einsetzte, überkam ihn auch die erste Schmerzwelle. Dann brach alles über ihn herein.

Seine ganze Welt bestand aus Schmerz. Seine Brust fühlte sich an, als wäre sie in einen Schraubstock eingespannt, der seine Lunge zerquetschte. Jeder noch so schwache Versuch, Luft zu holen, bereitete ihm stechende Schmerzen. Gebrochene Rippen drückten gegen seine Lunge.

Es kostete ihn Mühe, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Die Mannschaftskabine war ein Chaos aus deformiertem Metall, zertrümmerten Kontrollinstrumenten und Leichen, die wie Puppen bei dem Aufprall umhergeschleudert worden waren.

Einer war auf jeden Fall tot. Er lehnte an der Rotorenachse. Ein Stück des Rotorblattes hatte ihm den Kopf von den Schultern abgetrennt. Carter brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass es sich um den Piloten handelte. Vielleicht war er bei dem Aufprall aus seinem Sitz geschleudert worden.

Dann roch er das Kerosin. Er musste hier raus. Die Schockwirkung durch den Absturz ließ nach, und sein Überlebensinstinkt setzte ein.

Er machte Anstalten, sich aus dem Harnisch zu befreien, und bereute es sofort. Ein qualvoller Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein, als gebrochene Knochen sich aneinander rieben. Er stieß unwillkürlich einen Schrei aus, während ihm alles vor den Augen verschwamm.

Plötzlich registrierte Carter eine Bewegung draußen vor dem Hubschrauber. Einen Augenblick später duckten sich zwei Männer in die Kabine. Sie waren nur Silhouetten vor dem grellen Licht in der offenen Tür, und er konnte ihre Gesichtszüge nicht erkennen. Aber er sah die Waffen, die sie in den Händen hielten. AK-47-Sturmgewehre.

Ein anderer Mann zerrte auf der anderen Seite der Kabine den schlaffen Körper des Spions, ihres Passagiers, zu der offenen Luke, um ihn hinauszuschaffen. Carter konnte nicht erkennen, ob der Mann tot war oder noch lebte.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er Myers hörte, der die Bewaffneten anflehte. »Wir … Wir sind Amerikaner«, stammelte er und kroch mit erhobenen Händen heran. »Wir sind unbewaffnet, Mann. Nicht …«

Gelassen hob der erste Mann das Gewehr an die Schulter, zielte und drückte einmal ab. Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch die Kabine, und Myers’ Hinterkopf explodierte. Blut und Gehirnmasse spritzten an das Schott hinter ihm. Carter fühlte, wie etwas davon auf seinem Gesicht landete, noch warm von dem gerade ausgelöschten Leben.

Er war zu geschockt, um sich zu bewegen, und konnte nur zusehen, wie der Lauf des Sturmgewehrs herumschwang und sich auf ihn richtete. Er hätte Furcht empfinden sollen, Entsetzen und Trauer angesichts der Tatsache, dass sein Leben jetzt gleich enden würde. Aber nichts davon regte sich in ihm. Ihm blieb keine Zeit für Gefühle.

Er blickte nach draußen, auf den Staub, den Sand und die vom Wind abgeschliffenen Felsen.

Was für ein höllischer Platz zum Sterben, dachte er, als ein zweiter Knall durch die Kabine hallte.

2

Washington, D.C., zwölf Stunden später

Es war ein warmer, schwüler Freitagabend in der Hauptstadt. Der Himmel leuchtete orange, als die Sonne unterging, und die ersten Sterne tauchten am tiefblauen Firmament im Osten auf.

Die Rushhour war zu Ende, aber es herrschte immer noch dichter Verkehr, als die letzten Regierungsangestellten nach einer langen Arbeitswoche heimwärts fuhren. Reihe um Reihe langweiliger, funktionaler Limousinen, SUVs und gelegentlicher Luxuskarossen schob sich Stoßstange an Stoßstange über die Ausfallstraßen. Die Autos wirkten ebenso müde wie ihre Fahrer.

In der Mitte dieser trägen Prozession wechselte ein silberfarbener Sportwagen unaufhörlich die Spur, beschleunigte und bremste, rang um jeden Meter Raumgewinn wie ein Rennpferd, das in einer Herde eingepfercht war.

»Komm schon, nun fahrt endlich«, murmelte Ryan Drake und gab Gas, um sich vor einen GMC Yukon zu schieben, der versuchte, ihn zu blockieren. Der gestresst wirkende Bürohengst hinter dem Steuer warf ihm einen gereizten Blick zu.

Drake ignorierte die Missbilligung des anderen Fahrers und verließ den verstopften Freeway an der nächsten Ausfahrt. Dann gab er Gas und verlangte seinem Audi TT alles ab. Der schnelle deutsche Sportwagen reagierte zwar ein wenig hart beim Abbiegen, aber mit seinen zweihundertfünfzig PS unter der Haube machte er das auf den Geraden mehr als wett. Der 3,2-Liter-Sechszylindermotor heulte auf, als er mit Vollgas eine Reihe von Ampeln überfuhr, die gerade auf Rot umgesprungen waren.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stieß einen Fluch aus. Er würde zu spät zu seiner Verabredung kommen. Und dabei handelte es sich um einen Termin, bei dem Unpünktlichkeit nicht toleriert wurde.

»Sie wird mich umbringen. Das weiß ich genau.«

In dem Versuch, seine Gedanken von dieser unerfreulichen Aussicht abzulenken, schaltete er das Radio an. Sie brachten gerade Wirtschaftsnachrichten.

»Der Dow Jones ist heute Nachmittag wieder gefallen und schloss mit einem Minus von zweihundertfünfzehn Punkten. Die Analysten gehen angesichts der wachsenden Sorge vor Insolvenzen bei größeren Investmentbanken von einem weiteren größeren Kursverfall aus. Insgesamt ist der Dow Jones im Zeitraum von einem Jahr um mehr als zwanzig Prozent gefallen, und auf den europäischen Märkten herrscht ebenfalls Unruhe …«

Es gab zurzeit jede Menge solcher Berichte, und sie alle benutzten Ausdrücke wie »Subprime-Immobilienkrise« und »untragbare Schuldenlast«. Was derzeit vor sich ging, war selbst für all jene nachvollziehbar, die die komplexen Einzelheiten nicht verstanden. Die Wirtschaft entwickelte sich rasend schnell von schlecht zu beschissen und zu noch Schlimmerem, und niemand wusste, wie man dem Einhalt gebieten sollte.

Komisch, wie viele Dinge sich in einem Jahr ändern können, dachte Drake, während er an einer Kreuzung links abbog.

Kurz darauf fand er sich in einer Welt aus luxuriösen Vorstadthäusern, saftig grünen Rasenflächen und makellos polierten SUVs wieder. Die Wohnsiedlung machte den Eindruck, als wäre sie auf dem Reißbrett geplant worden, so als hätte Walt Disney sie entworfen.

Jeden zweiten Straßenblock passierte er ein schickes Café mit Rauchglasscheiben und Bistrotischen aus Edelstahl. Hier trafen sich für gewöhnlich Leute, die Brillen mit dicken Gläsern trugen und eine halbe Stunde damit zubrachten, ihr Haar so zu stylen, dass es aussah, als wären sie gerade aus dem Bett gekommen. Sie taten, als würden sie irgendetwas Wichtiges in ihre Laptops eingeben, während sie ihre Moccacinos schlürften.

Jetzt jedoch waren die Tische leer, und kaum ein Laptop oder eine Designerbrille waren zu sehen. Eines dieser Cafés hatte sogar die Rollläden heruntergelassen, so als würde es sich gegen einen aufziehenden Sturm wappnen.

Ryan schob diese Gedanken beiseite, bog an der nächsten Kreuzung rechts ab, legte den zweiten Gang ein und gab Gas.

Er erreichte sein Ziel eine Stunde und fünfzehn Minuten zu spät. Nach seinen Maßstäben war das nicht schlecht, aber für die Leute, die er treffen wollte, war das inakzeptabel.

Drake schaltete den Motor ab und stieg aus. Es war ein warmer Abend; das Zirpen der Grillen und das Summen anderer Insekten war zu hören. Winzige Fliegen surrten um ihn herum und umkreisten sich gegenseitig in trägen Spiralen, wie uralte Doppeldecker, die in einem endlosen Luftkampf um die höhere und damit bessere Position rangen. Vor einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hing die amerikanische Fahne an einem Mast, durchaus passend für dieses Viertel. Aber die Flagge bewegte sich kaum in der trägen Luft.

Drake holte tief Luft und sog den Duft von frisch gemähtem Rasen, Blumen, frisch gesägtem Holz und vor allem das rauchige Aroma von gegrilltem Fleisch ein.

Verbranntes Fleisch traf es vielleicht besser.

Drake hoffte sehr, dass ihn sein Geruchssinn narrte, und ging zügig die gepflasterte Einfahrt zur Haustür hinauf. Er klopfte. Niemand antwortete.

Er klopfte noch einmal, diesmal lauter, aber mit demselben Ergebnis.

»He, John! Ist da drin noch jemand am Leben?« Er hob seine Stimme ein bisschen, damit man ihn auch im Garten hinter dem Haus hören konnte.

Jetzt endlich wurde er mit einer Antwort belohnt.

»Komm doch hintenrum, mein Junge! Die Pforte ist offen!«

Drake sprang über einen Busch am Rand der Veranda, ging zu der kleinen Pforte im Zaun und öffnete sie.

Im Gegensatz zu John Keegans oft unordentlichem Aussehen war sein Haus ein schönes, gepflegtes Einzelhaus in Brookeville, einer kleinen Vorstadt etwa fünfzehn Meilen westlich der City von Washington. Der Ausdruck »Kleinstadt« hätte es ziemlich genau getroffen. Hier schlossen die Leute ihre Autos nicht ab, jeder kannte jeden, und man blieb auf ein Schwätzchen stehen, wenn man sich auf der Straße begegnete.

Drake bezweifelte, dass er selbst in all den Jahren, die er in seinem Haus wohnte, mehr als ein Dutzend Mal mit seinen Nachbarn gesprochen hatte.

Keegan hatte sein Haus billig ergattert, wie er mehr als einmal selbstzufrieden verraten hatte. Er hatte es auf einer Auktion erstanden, nachdem der vorige Besitzer gestorben war. Weder das leckende Dach noch die veraltete Elektrik oder die Tatsache, dass es seit zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden war, hatten ihn auch nur eine Sekunde von dem Kauf abhalten können.

Keegan war ein durch und durch praktisch veranlagter Typ. Er machte sich mit einer geduldigen Zuversicht, die Drake irgendwie an seinen Großvater erinnerte, an die Renovierung. Männer wie er gehörten einer anderen Generation an; einer Generation, die zu wissen schien, wie bestimmte Dinge erledigt werden mussten.

Aber das Haus spielte heute nur eine Nebenrolle. Keegans ganzer Stolz war der solide Grill aus Ziegelstein, den er sich nur zum Spaß auf der rückwärtigen Terrasse gebaut hatte. Und getreu seinen Südstaatenwurzeln war es ein Grill, der mit Holz betrieben wurde, und nicht etwa mit Propangas.

Laut Keegan war Gas etwas für Mädchen – echte Männer grillten mit Holz.

Für Drake machte das keinen großen Unterschied, aber vermutlich war sein Gaumen auch durch seine Zeit beim SAS ruiniert. Ihre Barbecues hatten sie mit Fässern veranstaltet, die sie der Länge nach aufgeschnitten und mit allem befeuert hatten, was brannte. Hatten sie Nachschubschwierigkeiten an Brennmaterial, war für gewöhnlich immer ein Kanister mit Benzin zur Hand, mit dem sie sich aushalfen.

Keegan stand mit einem albernen Grinsen an seinem Barbecue, eine Flasche Bier in der einen und eine Grillzange in der anderen Hand. Seine zottelige blonde Mähne bedeckte eine ausgefranste Baseballcap mit dem Logo der Carolina Panthers. Selbst sein buschiger Schnauzbart sah aus, als müsste er dringend getrimmt werden.

Seine Kochkünste konnten leider mit seinen unbestrittenen Fähigkeiten als Heimwerker nicht mithalten, und er schien das angeborene Bedürfnis zu haben, alles zu verbrennen, was irgendwann mal gelebt hatte.

»Nett, dass du uns Gesellschaft leistest, Junge«, bemerkte er. Aus irgendeinem Grund schien es ihn zu amüsieren, das Wort »Junge« mit seinem gedehnten Südstaatenakzent auszusprechen.

Keira Frost stand in sicherem Abstand von dem qualmenden Grill und war deutlich weniger subtil.

»Wo zum Teufel hast du gesteckt, Ryan? Hast du unterwegs zu Abend gegessen?«

Drake zwang sich zu einem Lächeln und deutete mit einem Nicken auf den Grill. »Könntest du mir das verübeln?«

Natürlich gab es einen anderen Grund für seine Verspätung. Es war der gleiche Grund, weshalb er zu jeder Veranstaltung außerhalb der Arbeit zu spät kam, selbst wenn er nicht bereit war, das zuzugeben. Sich in seine Arbeit zu vergraben half ihm zu vergessen, was letztes Jahr passiert war.

Und es half ihm auch, die Frau zu vergessen, die dafür verantwortlich war.

Frost wirkte nicht sonderlich überzeugt und schien etwas erwidern zu wollen, als Keegan, der sensibel genug war, um das Thema nicht weiter zu vertiefen, auf die Blechwanne zu seiner Linken deutete. In dem Eiswasser schwammen Bierflaschen unterschiedlicher Marken. »Na, jetzt bist du ja hier. Schnapp dir ein Bier, Mann. Ich bin fast fertig.«

Drake lächelte und nahm sich ein Corona. Er wischte das Wasser von der Flasche, bevor er den Kronkorken öffnete. Eigentlich war ihm Peroni lieber, aber da seine Kehle trocken war und es reichlich Bier gab, wollte er sich nicht beschweren.

»Also was liegt an, John?« Frost trank einen Schluck aus ihrer Flasche. »Hast du auf dem Klo gesessen, als man uns beigebracht hat, wie man grillt, oder was?«

Der ältere Mann grinste. »Verflucht! Du brennst heute Nacht aber wirklich, Frost.«

»Die Burger da auch gleich, wenn du sie noch länger auf dem Feuer liegen lässt.«

Drake verfolgte das Wortgefecht zwischen seinen beiden Spezialisten mit einem Lächeln. Sie hatten in den letzten zwei Jahren ein Dutzend Operationen zusammen durchgeführt, und trotz ihrer Verschiedenheit hatte sich eine gewisse knurrige Zuneigung zwischen ihnen entwickelt.

Das war einer der Gründe, weswegen Keegan gelegentlich Barbecues veranstaltete, vor allem dann, wenn das Team gerade seinen Abschlussbericht abgegeben und damit eine weitere Operation abgeschlossen hatte. Es war wie eine Abschlussparty; etwas, womit man eine Operation definitiv ad acta legte.

Oder aber, in Keegans Fall, war es ein Vorwand, eine Flasche Tequila aufzumachen, damit die Welt wieder in Ordnung kam.

Keegan grinste, als er sich zu Frost herumdrehte. »He, das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen: Wie läuft’s mit deinem Auto?«

Selbst in dem dämmrigen Abendlicht konnte Drake sehen, wie Frost rot anlief. Die junge Frau hatte sich Anfang des Jahres einen alten, heruntergekommenen Ford Mustang gekauft, in der Hoffnung, ihn aufarbeiten zu können. Das letzte Mal, als Drake sich ein Herz gefasst und sie nach ihren Fortschritten gefragt hatte, hatte der gesamte Motorblock in Einzelteile zerlegt in ihrer Garage gelegen.

»Läuft ganz gut«, antwortete sie. Sie klang nicht sonderlich überzeugend.

Keegan hörte auf, die Burger auf dem Grill hin und her zu schieben. »Weißt du«, meinte er dann nachdenklich, »mein Daddy hat mal gesagt, man sollte Frauen niemals in die Nähe von Waffen, Autos oder Videorekordern lassen. Manchmal glaube ich, er war klüger, als er geahnt hat.«

Frost ließ sich nicht provozieren. »Ja, ich glaube, diese Haltung war in den Dreißigern ziemlich verbreitet, du weißt schon, damals, als du noch ein Kind warst.«

Drake setzte sich auf den Rand der hölzernen Terrasse, einer weiteren makellosen Konstruktion von Keegan, trank einen Schluck Bier, schloss die Augen und atmete dann langsam aus.

Nach einem Tag voll flimmernder Computerbildschirme, klingelnder Telefone und surrender Drucker war es eine Wohltat, an der frischen Luft zu sein und den Geräuschen der Welt ringsum zuzuhören.

»Hey.«

Drake öffnete die Augen, als Frost sich neben ihn setzte. Er zuckte zusammen und wappnete sich gegen einen weiteren verbalen Angriff. »Hör mal, Keira, wegen heute Abend …«

Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Du bist ja jetzt endlich hier. Das ist das Wichtigste.«

Drake hob eine Braue. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so nachsichtig zu sein. Ihre unerwartete Friedfertigkeit hatte ihn überrumpelt. Er fühlte sich unbehaglich, wusste nicht, was er sagen sollte, wollte aber auch nicht, dass das Gespräch einschlief.

Er erinnerte sich vage daran, dass sie gesagt hatte, sie wäre umgezogen, aber die Einzelheiten waren ihm entfallen. Wie eine halb ausgegorene Idee, die man schon lange aufgegeben hatte. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander aus Berichten, geheimen Dokumenten, Terminen und einem Dutzend anderer Probleme, die mit seiner Arbeit zu tun hatten und alles andere zu ersticken schienen.

»Also, wie läuft es mit deiner neuen Wohnung?«, fragte er auf gut Glück. »Bist du schon eingezogen?«

Das Zucken in ihren Augen sagte ihm, dass er einen Riesenfehler gemacht hatte. »Ryan, das war vor drei Monaten. Und es war meine Schwester, die umgezogen ist.«

Drake verließ der Mut. Er arbeitete fast jeden Tag mit diesen Leuten zusammen, verbrachte weit mehr Zeit mit ihnen als mit seiner eigenen Familie, und doch kam es ihm in Momenten wie diesem vor, als würde er sie kaum kennen. Er war heute Abend auch nur deshalb hier, weil Frost in sein Büro gestürmt war und sich geweigert hatte, es wieder zu verlassen, bevor er sein Kommen zugesagt hatte.

Sie hatte vorgegeben, nicht alleine unter Keegans Essen leiden zu wollen, aber er hatte ihre eigentlichen Beweggründe gespürt. Sie wollte, dass er Kontakt zu ihnen hielt und sich auf etwas anderes konzentrierte als nur auf seine Arbeit.

Es war ein tapferer, aber vergeblicher Versuch.

»Tut mir leid, Keira.« Er trank einen Schluck Bier, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Ich bin im Moment in meinen Gedanken vollkommen woanders.«

In Wahrheit war er mit seinen Gedanken an einem einzigen Ort, und zwar im Irak. Nachdem seine eigenen Leute Jagd auf ihn gemacht hatten und er einmal um die halbe Welt gereist war, hatte er eine Verschwörung und Korruption aufgedeckt, die fast bis zur Spitze der Agency reichte.

Dann hatte sich alles in Luft aufgelöst. Der einzige Mann, der ihnen hätte helfen können, war exekutiert worden, während all jene, die hinter der ganzen Sache gesteckt hatten, nicht nur überlebt, sondern sogar Karriere gemacht hatten. Drake selbst war nur am Leben, weil sein Freund Dan Franklin einen Deal für ihn eingefädelt hatte. Er hatte im Austausch für sein Schweigen Drakes Sicherheit erkauft.

Drakes Leben hing jetzt an einem seidenen Faden; er konnte die Agency nicht verlassen, wusste aber, dass sein Glück ihn eines Tages durchaus verlassen könnte. Er wusste jetzt, wie Damokles sich bei jenem Bankett gefühlt haben musste, als er versuchte, seine Mahlzeit zu genießen, während ein großes blutiges Schwert über seinem Kopf hing.

»Kann passieren.« Frost schwieg einen Moment und dachte über irgendetwas nach. Vielleicht wog sie aber auch nur gerade ab, ob jetzt der richtige Moment für das war, was sie zu sagen beabsichtigte. »Darf ich dich etwas fragen?«

Er sah sie an. Was kam jetzt? »Seit wann fragst du vorher um Erlaubnis?«

»Warum setzt du dich selbst so unter Druck?« Sie klang todernst.

Drake zögerte. Keira Frost war geradeheraus und hatte keine Angst, ihre Meinung zu äußern. Aber es sah ihr nicht ähnlich, plötzlich tiefschürfende Gespräche zu führen.

»Du hockst in diesem Büro und arbeitest Gott weiß wie lange«, fuhr sie fort. »In der realen Welt machst du kaum etwas. Ich meine, verdammt, ich musste dir praktisch eine Pistole an die Schläfe setzen, damit du heute Abend hierherkamst. Ist meine Gesellschaft so übel?«

»Ich berufe mich auf mein Recht, die Aussage zu verweigern«, erwiderte er in der Hoffnung, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Aber er merkte rasch, dass das vergeblich war. Sie hatte nicht vor, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. »Hör zu, es liegt einfach daran, wie es gerade bei der Arbeit läuft …«

»Ryan, es wird immer viel zu viel Arbeit geben, wenn du das so willst.«

Drake vermied sorgfältig ihren Blick. »Ich nehme an, du willst damit auf irgendetwas hinaus«, erwiderte er schließlich. Er wünschte sich, er würde nicht so klingen, als wollte er sich verteidigen.

»Du verausgabst dich völlig«, erwiderte sie schlicht. »Als würdest du versuchen, dich zu bestrafen oder irgendetwas zu beweisen. Aber was es auch ist, es ist nicht gut.«

»Für wen?«

»Für niemanden. Wenn du erschöpft bist und ausgelaugt, dann denkst du nicht logisch, was bedeutet, dass du unser Leben aufs Spiel setzt, wenn wir das nächste Mal im Feld sind.« Sie sah ihn scharf an. »Und auch wenn ich es nicht gern sage, ich mache mir Sorgen um dich. Ich will nicht erleben, dass du einem Burn-out zum Opfer fällst. Das hast du nicht verdient.«

Jetzt endlich drehte sich Drake herum, um sie anzusehen. Seine grünen Augen schimmerten im Schein der Glühbirnen ringsum.

Aber bevor er antworten konnte, summte das Handy in seiner Tasche. Aus alter Gewohnheit nahm er es heraus und warf einen Blick auf das Display.

Der Anrufer war George Breckenridge, der verantwortliche Officer für das Shepherd-Programm der CIA und Drakes unmittelbarer Vorgesetzter. Der Mann, der diesen Posten zuvor innegehabt hatte, Dan Franklin, war letztes Jahr zum Direktor der Special Activities Division befördert worden. Er hatte ein Machtvakuum hinterlassen, das gefüllt werden musste.

Drake hatte mittlerweile kaum noch Kontakt zu seinem ehemaligen Freund.

Und er hatte keine andere Wahl, als den Anruf anzunehmen. Wenn in der Agency an einem Freitagabend nach Feierabend der Boss anrief, war es wenig wahrscheinlich, dass er gute Neuigkeiten hatte.

Diesmal war Drake die Ablenkung jedoch nur recht.

»Ja, George?«

Breckenridge war wie immer barsch und kam gleich zur Sache. Er hatte keine Lust, sich mit Fußvolk wie Drake abzugeben, und versuchte auch nicht, das zu verbergen. »Sie müssen herkommen. Wo sind Sie?«

»Brookeville. Bei Keegan. Warum, was ist los?«

»Es gibt hier etwas, wozu wir Ihre Meinung hören wollen.«

Das sagte ihm gar nichts. Was ihn allerdings auch nicht überraschte. Sie sprachen über eine offene Leitung, und auch wenn Drake bezweifelte, dass die Russen oder Chinesen jedes seiner Telefonate abhörten, gab es Regeln. In der Geschichte der CIA war mehr als ein Operative – wie ein Agent im internen Sprachgebrauch der CIA genannt wurde – durch ein leichtsinniges Telefonat über eine ungesicherte Verbindung aufgeflogen.

»Wie dringend ist es denn?«

»Sorry, habe ich den Eindruck gemacht, es handelte sich bei meinem Anruf um eine Einladung zum Abendessen?« Breckenridge bemühte seinen herablassendsten Tonfall. »Wir wollen, dass Sie und Ihr Team vor fünf Minuten hier hereingeschneit sind. Irgendwas unklar?«

Nicht zum ersten Mal stellte Drake Franklins Wahl seines Nachfolgers ernsthaft infrage. Was auch immer der Auswahlprozess für diese Position war, er war sichtlich nicht geeignet, Arschlöcher auszuschließen. »Alles vollkommen klar.«

»Gut. Wir sehen uns in Konferenzraum eins in dreißig Minuten.« Er legte auf, ohne noch etwas zu sagen.

»Wichser«, sagte Drake leise, als er aufblickte.

Frost betrachtete ihn argwöhnisch. »Ärger im Paradies?«

»SNAFU, wie unsere Cousins von der Marine so gerne sagen.«

Sie nickte wissend. SNAFU bedeutete: Situation normal, alles fucked up.

»Was wollte er denn?«

Drake setzte die Bierflasche an und leerte sie in einem Zug. »Die gute Nachricht lautet, dass du zumindest heute Abend Keegans Burger entkommst.«

3

Central Intelligence Agency Headquarter, Langley, Virginia

Eins musste Drake der Agency lassen, die Leute dort hatten Sinn für Ironie. Das George Bush Center for Intelligence, ein Widerspruch in sich, war ein Platz, an dem einige der wichtigsten Entscheidungen in der Welt der Spionage, der Terrorismusbekämpfung, verdeckter Operationen und globaler Politik getroffen wurden. Und doch erinnerte der Ort mehr an ein Gartencenter als an den Dreh- und Angelpunkt der Informationsbeschaffung.

Mitten in dem mehrere Morgen großen, sehr gepflegten Parkgelände fanden sich Ziersträucher, Blumenbeete und makellos gepflegte Rasenflächen. Der Haupteingang war ein langer, verglaster Bogengang mit Pflanzen und teurem Dekor. Um den Eindruck eines Gartencenters zu vervollständigen, fehlten nur noch ein Karpfenteich und ein Café, das mit überteuertem Kaffee und Kuchen aufwartete.

Das CIA-Hauptquartier bestand aus zwei Hauptelementen, dem Old Headquarter Building, OHB, und dem, fantasievoll so getauften, New Headquarter Building, NHB. Das OHB war in einem doppelten H-Block angeordnet, der aus den Anfängen der Agency in den Fünfzigern stammte, während das NHB aus zwei sechsstöckigen Bürotürmen bestand, die die Landschaft beherrschten wie zwei neuzeitliche Burgen.

Drake und seine beiden Gefährten waren zum nördlichen der beiden Türme unterwegs. Nachdem sie die Hauptsicherheitsschleuse passiert hatten und durch den Glastunnel gegangen waren, bogen sie an der T-Kreuzung nach links ab.

»Ich kann nur hoffen, dass er einen verflucht guten Grund hat!«, zischte Frost. Sie marschierte zwischen ihren Kameraden, und der Blick ihrer Augen hätte selbst scharfe Wachhunde eingeschüchtert. »Und ich meine damit eine Invasion von Aliens oder die Entführung des Präsidenten.«

»Das ist für dich also etwas Gutes, ja?«, bemerkte Keegan.

»Große Worte, John«, konterte sie giftig. »Und ich dachte immer, ihr Hinterwäldler würdet euch immer noch damit abmühen, lesen und schreiben zu lernen.«

Der ältere Mann grinste sie an. »Ich war wohl ein Wunderkind.«

Ihr Weg führte sie an einem offenen Innenhof vorbei, in dem die berühmte Kryptos-Skulptur stand. Sie bestand aus vier großen Metallplatten, auf denen eine scheinbar sinnlose Fülle von Buchstaben eingraviert war. Seit das Kunstwerk vor fast zwanzig Jahren enthüllt worden war, hatte es Codeknacker und Verschwörungstheoretiker gleichermaßen fasziniert. Mittlerweile war der Code auf drei der vier Platten geknackt worden, die vierte jedoch verweigerte sich hartnäckig jeder Decodierung.

Drake wusste, dass sich selbst heute noch Leute aus der Agency gerne hier herumtrieben, vor allem die Geheimdienst-Analysten, die davon lebten, Codes zu knacken. Sie maßen ihre geistigen Fähigkeiten an Kryptos. Er selbst hatte die Faszination nie verstanden, die davon ausging, Codes zu knacken, um dann damit zu prahlen. Das war für ihn ebenso sinnvoll, wie in einen leeren Swimmingpool zu springen. Aber jedem das Seine.

Sie passierten die Automatiktür, die zum Nordturm führte. Dann nahmen sie den erstbesten Aufzug und fuhren hinauf in den fünften Stock. Drake ignorierte den neugierigen Blick des jungen Mannes in einem eleganten Anzug, der im zweiten Stock zustieg. In Langley herrschte Krawattenzwang, aber unglücklicherweise war Drake kein Krawattenträger, schon gar nicht heute Abend. Wenn Breckenridge ihn so dringend sehen wollte, musste er ihn so nehmen, wie er war. Und das bedeutete in diesem Fall, mit Cargohose, Freizeithemd und in Turnschuhen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Frost reagierte ebenfalls nicht sonderlich wohlwollend auf den forschenden Blick des jungen Mannes. Ihre Laune war im Keller, seit sie erfahren hatte, dass aus ihrem gemeinsamen Abend, den sie entspannt mit einem kleinen Umtrunk hatten verbringen wollen, eine Besprechung von oberster Priorität mit einem Mann geworden war, den keiner mochte.

»Is’ was?« Sie starrte den Jüngling scharf an.

Sie war offenkundig auf Krawall gebürstet, was dem Mann nicht entging. Er sagte nichts, wendete den Blick ab und schien plötzlich von seinen Manschettenknöpfen überaus fasziniert zu sein.

Kluger Junge, dachte Drake.

Konferenzraum eins war der erste im Gang, als sie im fünften Stock den Aufzug verließen. Es war ein großer, luxuriös eingerichteter Raum, der für Chefs und Besprechungen der oberen Entscheidungsebene reserviert war. Teilweise, weil er recht beeindruckend aussah, vor allem aber, weil er gegen jede Form von Überwachung gesichert war. Die Tatsache, dass ihre Besprechung hier stattfand, sagte Drake erheblich mehr als Breckenridges merkwürdiger Anruf.

In diesem Raum hatte er vor einem Jahr den Auftrag bekommen, in ein sibirisches Gefängnis einzubrechen und eine Frau zu befreien, von der er nur ihren Codenamen erfuhr, Maras. Zuerst hatte es wie ein einfacher Auftrag ausgesehen; wie sehr er sich da geirrt hatte, stellte er erst später fest.

Seitdem war Drake nicht mehr hier gewesen. Normalerweise erfolgten die Einsatzbesprechungen in einem der vielen kleineren, schlichteren Räume im Erdgeschoss, die auch mehr seinem Platz in der Hierarchie entsprachen. Und dort erstattete er auch Bericht.

Zugang zu diesem Raum gewährte ein Kartenleser neben der Tür. Drakes persönliche Zugangskarte war vermutlich vorher in das System eingespeist worden, also musste er nur die Karte durch das Lesegerät ziehen und seine PIN-Nummer eingeben. Das war’s.

Es piepte einmal und dann klickte es, als das Schloss sich öffnete. Wie immer funktionierte hier alles fehlerlos. Los geht’s, dachte er.

Als die Tür aufschwang, verglich er den Raum unwillkürlich mit dem Bild davon, das sich in seinem Gedächtnis eingeprägt hatte.

Im letzten Jahr hatte sich nicht viel geändert. Es stand noch derselbe lange Konferenztisch mit der polierten, aus einem einzigen Stück Holz gefertigten Mahagoniplatte da, der vermutlich mehr gekostet hatte, als er in einem ganzen Jahr verdiente. Dieselben Ledersessel mit den hohen Lehnen, dasselbe teure Kaffeegeschirr aus Silber, derselbe majestätische Blick über Langleys Gartencenter-Gelände auf den dichten Wald dahinter und den schlammigen Potomac, der in etwa einer halben Meile Entfernung vorbeiströmte.

Das Einzige, was sich geändert hatte, war die Person, auf die sie dort trafen. Statt Dan Franklin und Marcus Cain, des ehemaligen Direktors der Special Activities Division, erwartete sie diesmal das fleischige, regungslose Gesicht von George Breckenridge.

Der Mann war Anfang fünfzig, leicht ergraut und auf eine Art und Weise übergewichtig, aus der man schließen konnte, dass er niemals wirklich durchtrainiert gewesen war. Breckenridges Aussehen entsprach seiner Tätigkeit; seit dem College hatte er nichts getan, als mit seinem recht bemerkenswerten Hintern seine Hose auf allen möglichen Sesseln blank zu scheuern. Gott allein wusste, in welchem neonbeleuchteten Hinterzimmer Franklin auf diesen Kerl gestoßen war, aber es war jedenfalls kein Ort, den Drake freiwillig hätte aufsuchen mögen.

Er wusste nur wenig über Breckenridge, weil die Art ihrer Beziehung nicht gerade dem Austausch persönlicher Informationen förderlich war. Aber eines wusste er: Die Menge an Papierkram, die er bewältigen musste, hatte sich mehr als verdoppelt, seit Breckenridge das Shepherd-Programm übernommen hatte.

Es war schwer zu sagen, was Breckenridge über Drakes Geschichte wusste oder ob er tatsächlich den Auftrag hatte, ihn im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass er keinen Ärger mehr machte. Drake hatte jedenfalls beschlossen, sich den Mann auf Armeslänge vom Leib zu halten und ihm gegenüber so wenig wie möglich von sich preiszugeben.

»Drake. Gut, dass Sie da sind.« Breckenridge würde Drake niemals bei seinem Vornamen nennen, so ein Typ war er nicht. Keegan und Frost beachtete er so gut wie gar nicht.

Dafür warf er Drakes lässiger Kleidung einen unverhohlen verächtlichen Blick zu. Sein eigener, dunkelblauer Anzug sah aus, als wäre er heute Morgen frisch gebügelt worden.

Drake zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Sie wollten, dass ich so schnell wie möglich herkomme, George. Also gut, da bin ich.« Er nannte seinen Boss immer George, weil er wusste, dass ihn das nervte. Was wiederum Drakes Stimmung ein wenig hob. »Also, was liegt an?«

Breckenridge antwortete nicht. Stattdessen streckte er die Hand aus und drückte auf die Tasten der internen Kommunikationsanlage in der Mitte des Tisches. Es klingelte dreimal, bevor das Gespräch angenommen wurde.

»Ja?« Die Stimme klang müde, abgespannt und wohlbekannt.

»Breckenridge, Sir.« Er klang wie ein Schuljunge, der mit dem Direktor spricht. »Sie sind da.«

Schlagartig veränderte sich die Stimme, sie klang jetzt konzentriert und bestimmend. »Gut. Ich komme sofort.«

Mit einem Klicken endete das Gespräch. Die beiden Männer standen sich am Tisch gegenüber und schwiegen unbehaglich. Keiner von ihnen war bereit, sich hinzusetzen, so als wäre das ein Zeichen von Schwäche.

Frost hatte diesbezüglich keine Bedenken und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie stellte die Lehne so weit wie möglich zurück. Keegan folgte ihrem Beispiel einen Augenblick später.

Drake starrte über Breckenridges Schulter auf einen roten Sportwagen, der auf der Straße am gegenüberliegenden Ufer des Potomac fuhr. Er hoffte, dass der Fahrer einen besseren Abend hatte als er.

Schließlich summte es, und die Türen öffneten sich mit einem Klicken. Drake drehte sich herum, um seinen alten Freund zu begrüßen.

Dan Franklin war einmal ein Infanterist gewesen. Drake und er hatten in derselben zusammengewürfelten Taskforce in Afghanistan gedient, bis eine Landmine die militärische Karriere seines Freundes zerstört und ihn fast das Leben gekostet hatte. Die alten Schrapnell-Wunden bereiteten Franklin ständig Rückenschmerzen, die noch zunahmen, wenn er sich längere Zeit nicht bewegte.

Als der Direktor in das Zimmer marschierte, hielt Drake inne, bestürzt angesichts der Veränderungen, die er an seinem Freund wahrnahm. Franklin war gerade erst vierzig geworden, sah jedoch erheblich älter aus. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Sorgenfalten eingegraben, und seine Haltung strahlte sichtbar Anspannung aus, so als lastete ein schweres Gewicht auf ihm. Offenbar war es nicht leicht, die Bürde der Verantwortung zu tragen.

Franklin sah Drake an, und der bemerkte einen Moment lang den herzlichen Schimmer in den Augen des älteren Mannes. Franklin hob unwillkürlich den rechten Arm ein Stück, als wollte er ihm die Hand reichen, dann jedoch überlegte er es sich anders. Er drehte ab und ging zum anderen Ende des Konferenztisches. Es wäre ihm fast gelungen, diese kleine Geste vollkommen zu kaschieren.

Aber nur fast.

»Schön dich zu sehen, Ryan.« Seine Worte waren ebenso steif und förmlich wie seine Haltung. »Wie geht’s denn so?«

»Kann mich nicht beklagen.« Drake überlegte unwillkürlich, wann sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Jedenfalls hatte er seinen alten Freund seit dessen Beförderung im letzten Jahr nicht oft gesehen, was vermutlich auch nicht sonderlich überraschend war. Die Shepherd-Teams waren nur ein kleines Rädchen in der komplexen Maschinerie der Special Activities Division.

Jedenfalls schien Franklin mit der Auskunft zufrieden zu sein. Er deutete auf die Stühle an der Längsseite des Tisches. »Bitte, setz dich.« Er warf Frost und Keegan einen vielsagenden Blick zu. »Wie ich sehe, ist dir dein Team bereits zuvorgekommen.«

»In dieser Einheit legen wir nicht viel Wert auf Formalitäten, Sir«, antwortete Frost unschuldig. »So hat Ryan uns ausgebildet.«

Drake warf ihr einen scharfen Blick zu, als er sich setzte, sagte jedoch nichts. Das war nicht der richtige Moment für eine im Grunde belanglose Zurechtweisung.

»Ich war gerade dabei, Mr. Drake einzuweisen, Sir«, erklärte Breckenridge.

Franklin nickte knapp, und diese Geste verdeutlichte, was er war: ein leitender Angestellter, der es nicht nötig hatte, sich mit Banalitäten abzugeben. »Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.«

Breckenridge hustete, räusperte sich und widmete sich dann der kabellosen Tastatur vor ihm. Nach ein paar Tastenbefehlen und Mausklicks flammte ein Bild auf dem großen Flachbildschirm am anderen Ende des Raumes auf.

Es zeigte das Dossierfoto eines Mannes. Er war etwa Mitte fünfzig, hatte einen grau melierten Bart, widerspenstiges Haar, markante, ernste Züge und eine Nase, die mindestens einmal gebrochen worden war. Er blickte ziemlich finster in die Kamera, und der harte, durchdringende Ausdruck in seinen Augen verriet Drake, dass der Mann im Außendienst arbeitete.

»Das ist Hal Mitchell, einer unserer Case Officers, die in Afghanistan stationiert sind«, begann Breckenridge. »Er ist jetzt seit etwa fünfundzwanzig Jahren bei der Agency und Experte in diesem Theater. Ein guter Mann.«

Das glaubte Drake ihm aufs Wort. »Überwältigend. Was ist das Problem?«

Breckenridge warf ihm einen unwilligen Blick zu, als wäre er ein Magier, dessen Darbietung im entscheidenden Moment gestört worden war. »Vor etwa zwölf Stunden hat Mitchell einen Black Hawk bestiegen, der zu einer unserer Vorgeschobenen Operationsbasen an der Ostgrenze von Afghanistan fliegen sollte. Er ist von dort nicht wieder zurückgekommen.«

Er aktivierte ein anderes Bild, das geschwärzte und verbrannte Trümmer zeigte, die möglicherweise einmal ein Hubschrauber gewesen waren. Drake ging davon aus, dass die Benzintanks hochgegangen waren, weil das ganze Ding aussah, als wäre es von innen explodiert. Das Metall war durch die extreme Hitze verbogen und verdreht.

»Sein Hubschrauber wurde auf dem Rückweg nach Bagram von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen«, fuhr Breckenridge fort. »Als das Rettungsteam am Absturzort eintraf, war nicht mehr viel zu retten. Fünf Männer wurden bei dem Angriff getötet, die Piloten und drei weitere Besatzungsmitglieder.«

»Was ist mit Mitchell? Sir?«, erkundigte sich Frost. Wie sie das »Sir« aussprach, klang es einen Hauch verächtlich, was Breckenridge keineswegs entging.

Er sah sie kurz an und schien sie zurechtweisen zu wollen, dann überlegte er es sich anders. »Vor etwa einer Stunde haben wir das hier erhalten.«

Nach ein paar Mausklicks wurde ein Video auf dem Bildschirm abgespielt. Drake hatte erneut Hal Mitchell vor sich, nur sah der Operative jetzt ganz anders aus als auf seinem Dossierfoto.

Diesmal war der Mann mit Klebebändern an einen einfachen Rollstuhl gefesselt. Er war geknebelt, seine Kleidung war zerfetzt und zerrissen. Außerdem war sie blutig, wahrscheinlich von den Verletzungen durch den Absturz, vielleicht aber auch von später zugefügten Wunden. Sein Kopf fiel schlaff zur Seite, er blinzelte und konnte die Augen kaum offen halten. Eines war fast schwarz angelaufen und zugeschwollen.

Drakes Magen brannte. Er hatte solche Videos bereits gesehen und konnte sich vorstellen, wohin das hier führte.

Die Kamera wackelte. Ganz offenbar wurde sie von einem Amateur bedient. Sie zoomte ein bisschen zurück, um Mitchells unmittelbare Umgebung zu zeigen. Er befand sich in einer Art Halle. Hinter ihm war eine kahle Ziegelwand, von der bereits der Mörtel abbröckelte. Die Steine waren gesprungen, fleckig und an einigen Stellen bereits von gelbem Schimmel überzogen. Das elektrische Licht flackerte ab und zu, als würde die Glühbirne gleich durchbrennen.

Ein anderer Mann kam ins Bild. Er trug eine weite Hose, eine schwere, verschlissene Tarnjacke und eine uralte Kampfweste, die aussah, als hätte er sie vor zwanzig Jahren einem toten Russen abgenommen. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass dies ein Aufständischer war. Er war groß und schlank, und selbst die dicke Jacke konnte nicht verbergen, wie hager er war.

Er war bereits etwas älter. Seine ledrige Haut war wettergegerbt von vielen Jahren in Sonne und Wind, seine dichten Augenbrauen und sein Vollbart waren von grauen Strähnen durchzogen. Drake hätte schwören können, dass er ihn kannte, aber er tat diese Möglichkeit sofort ab. Es war unmöglich, dass der Mann, an den er dachte, der auf diesem Video sein konnte.

»Ihr wisst jetzt, wozu wir imstande sind«, begann er. Seine Stimme war tief und hatte einen starken Akzent. »Keiner eurer Leute ist sicher vor uns. Nicht auf dem Boden, nicht in den Städten und nicht in der Luft. Wir können überall zuschlagen, wo wir wollen, zu jeder Zeit. Nichts kann uns aufhalten, weil wir Allahs heilige Krieger sind. Wohin wir auch kommen, werden wir Verräter, Ungläubige und Spione ausrotten.«

Er deutete auf Mitchell.

»Ihr schickt Männer wie den da in unser Land, um unser eigenes Volk gegen uns aufzuwiegeln, um die Gläubigen aufzufordern, ihre Brüder zu hintergehen. Und dann wagt ihr es, uns Terroristen zu nennen?«

Er griff in seine schwere Jacke und holte eine automatische Pistole heraus. Drake konnte sie nicht genau erkennen, aber sie sah aus wie eine Browning 9mm, eine zuverlässige Halbautomatik, die seit den Dreißigerjahren benutzt wurde.

Aber dafür fiel Drake etwas anderes auf, als der Mann die Jacke zur Seite schob, um die Waffe zu zücken. Die letzten beiden Finger an der Hand des Mannes fehlten. Drake hatte das Gefühl, als rammte ihm jemand ein Messer in den Leib.

Er kannte den Mann.

Ohne zu zögern, zielte der Aufständische mit der Waffe nach unten und drückte gelassen ab. Das Mündungsfeuer blitzte, es knallte, und plötzlich war Mitchell nicht mehr halb bewusstlos. Sein Körper wurde steif, und er warf sich gegen seine Fesseln, schrie in seinem Knebel und riss die Augen vor Schmerz weit auf. Auf seinem linken Hosenbein breitete sich ein Blutfleck aus.

»Scheiße …!«, stieß Frost leise hervor und schüttelte den Kopf.

Drake ignorierte sie und konzentrierte sich auf das Video. Der Knebel dämpfte Mitchells Schreie, aber der Schütze musste trotzdem seine Stimme heben, damit sie ihn hören konnten, als er weitersprach.

»Ihr haltet Dutzende unserer Brüder illegal im Parwan-Gefängnis fest. Ihr werdet diese Gefangenen sofort freilassen und öffentlich die illegalen Folterungen und Verhöre dieser unschuldigen Männer verurteilen. Außerdem werdet ihr das Gefängnis für immer schließen. Wenn ihr das macht, kehrt euer Mann unversehrt zu euch zurück. Mehr oder weniger jedenfalls.« Boshaft drückte er den Lauf seiner Pistole in die Schusswunde auf Mitchells Bein. Der Mann stöhnte erneut vor Schmerz auf. »Wenn ihr dieser Forderung bis zum vierzehnten August zwölf Uhr mittags nicht nachgekommen seid, werden wir diesen Spion exekutieren und noch mehr von euren Flugzeugen abschießen. Und ihr solltet mir glauben, wenn ich sage, dass unser nächstes Ziel erheblich größer sein wird.«

Einen Moment später sah man nur undeutliche Bewegungen auf dem Bildschirm, als der Kameramann sein Gerät zur Seite drehte, um es abzuschalten. Schließlich wurde der Bildschirm schwarz.

Eine Weile herrschte Schweigen, während jeder im Raum das eben Gehörte und Gesehene verdaute. Aber Drake wartete nicht besonders lange.

»Sag mir, dass er nicht der ist, für den ich ihn halte, Dan.« Der ursprüngliche Schock über diese Entdeckung wich allmählich Wut.

Franklin schüttelte den Kopf. »Die Gesichtserkennung hat es bestätigt. Er ist es, Ryan.«

Frost sah die beiden Männer an. »Worum geht es hier? Wer ist dieses Arschloch?«

»Sein Name lautet Kourash Anwari. Wir glauben, er ist ein ehemaliger Mudschaheddin«, erklärte Franklin. »Er hat in den Achtzigern gegen die Sowjets gekämpft und in dem darauf folgenden Bürgerkrieg seine eigene Miliz gegründet. Im Grunde waren es Söldner. Sie sind von unserem Radar verschwunden, als die Taliban an die Macht gekommen sind. Nachdem wir dann 2001 in Afghanistan einmarschiert sind, ist er wieder aufgetaucht. Diesmal arbeitet er für die Aufständischen.«

»Die Taliban engagieren jetzt Söldner?«, erkundigte sich Keegan.

»Wir machen das auch, warum sollten sie es nicht tun?« Franklin zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Da Al-Kaida jetzt in der Klemme steckt, gibt es einen großen Markt für gut ausgebildete Männer, die bereit sind zu kämpfen.«

Die CIA hatte in den letzten sieben Jahren zusammen mit etlichen anderen militärischen und zivilen Geheimdiensten ohne viel öffentliches Aufheben etliche ranghohe Anführer von Al-Kaida ausgeschaltet. Dadurch hatten sie ihre obere Kommandoebene mehr oder weniger lahmgelegt. Das Ergebnis war, dass Al-Kaida als zusammenhängende Organisation praktisch aufgehört hatte zu existieren und mittlerweile nur noch ein fiktiver Oberbegriff war, der vor allem von den Medien benutzt wurde.

Die Realität dagegen war erheblich komplexer und veränderte sich ständig. Fraktionen und Splittergruppen kamen auf. Sie wurden entweder von rangniedrigen Al-Kaida-Kommandeuren angeführt, zum Beispiel von ehemaligen Mudschaheddin, die zusammen mit dem Westen gegen die Sowjets gekämpft hatten, oder es waren neue Gruppen, die darauf brannten, sich an dem globalen Dschihad zu beteiligen. Ohne irgendein zentrales Kommando und entsprechende Kontrolle und daher in der Lage, selbst ihre wildesten Fantasien umzusetzen, entwickelten sich diese Gruppen sehr schnell zum Albtraum für die westlichen Geheimdienste.

»Wir haben ihn schließlich in der Nähe der pakistanischen Grenze aufgespürt und ein Kommando hingeschickt, um ihn zu erledigen.« Franklin warf einen Blick zu Drake, der dem Gespräch schweigend folgte. »Ryan hat das Team angeführt. Er ist auch der Grund, warum dem Kerl zwei Finger fehlen.«

Endlich blickte Drake hoch. »Und jetzt ist er frei und schießt Hubschrauber ab«, sagte er. Sein Ton klang eine Spur anklagend. »Kannst du mir vielleicht den Grund dafür nennen, Dan?«

Franklin räusperte sich und warf einen Blick auf den Aktenordner vor sich auf dem Tisch. »Anwari wurde in einer unserer … Einrichtungen im Osten des Landes gefangen gehalten.«

Drake wusste, dass er damit auf ein geheimes Gefängnis anspielte. Solche Einrichtungen waren über ganz Afghanistan verstreut und dienten üblicherweise als sichere Orte, an denen man des Terrorismus Verdächtigte ohne Verfahren festhalten, verhören und foltern konnte. Ohne dafür offiziell Rechenschaft ablegen zu müssen. Da niemand wusste, dass diese Gefängnisse existierten, konnte man die Menschenrechte hier sehr effektiv missachten.

»Offensichtlich wurde diese Einrichtung eines Nachts gezielt überfallen. In dem Durcheinander konnten Anwari und etliche andere Gefangene entkommen.«

Drake schüttelte den Kopf. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Er hatte sein Leben riskiert, um diesen Mistkerl ein für alle Mal aus dem Verkehr zu ziehen, und jetzt war er wieder da, so charmant und einnehmend wie immer.

»Das ist letztes Jahr passiert. Anwari hat seitdem seine Miliz wieder aufgebaut und einen Guerillakrieg gegen uns begonnen. Auf das Konto seiner Gruppe gehen mindestens ein Dutzend Bombenanschläge in und um Kabul, außerdem Attentate durch Heckenschützen und mit Panzerfäusten. Wie es jetzt aussieht, sind sie wohl mittlerweile aufgestiegen, und zwar im wörtlichen Sinne. Einen Hubschrauber abzuschießen ist eine ganz andere Liga.«

Luftüberlegenheit war einer der wenigen Vorteile, den die ISAF, die Internationalen Sicherheitskräfte, im Vergleich zu den Aufständischen genossen. Sobald sie ihre Luftüberlegenheit verloren, würde sich der Krieg in Afghanistan sehr schnell in ein zweites Vietnam verwandeln, was viele schon immer befürchtet hatten.

»Mit diesem Abschuss haben sie uns an den Eiern, und wir müssen reagieren. Mitchell ist zu wertvoll, als dass wir es uns leisten könnten, ihn zu verlieren.«

»Warum? Woran hat er da draußen gearbeitet?«

Breckenridge mischte sich ein. »Drake, ich muss Ihnen ja wohl kaum einen Vortrag über die Sicherheit von Operationen halten. Es ist nicht nötig …«

Franklin hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, was für alle Beteiligten ganz gut war. Drake war kurz davor gewesen, ihm etwas wenig Verträgliches nahezulegen.

»Er war an einem Programm beteiligt, dort draußen ein Geheimdienstnetzwerk unter der Zivilbevölkerung einzurichten«, erklärte Franklin. »Die meisten von ihnen wissen irgendetwas über die Aktivitäten der Taliban, aber sie haben zu viel Angst, um es jemandem zu verraten. Und ganz gewiss werden sie sich nicht mit ihren Informationen an die ISAF wenden, weil sie wissen, dass die Taliban sie beobachten. Mitchell war da, um das zu ändern, und den Berichten zufolge machte er auch Fortschritte. Er kennt eine Menge Namen und Adressen, wenn du weißt, was ich meine.«

Drake begriff allmählich die Zusammenhänge. »Wenn sie ihn zum Reden bringen …«

»… könnte das ganze Netzwerk auffliegen«, beendete Franklin für ihn den Satz. »Wie du gesehen hast, sind ihre Methoden nicht besonders raffiniert, aber sie sind wirkungsvoll. Mitchell könnte zusammenbrechen, und in diesem Fall wäre die Geheimdienstarbeit eines ganzen Jahres umsonst gewesen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass wir das auf keinen Fall zulassen dürfen.«

Drake wusste, was jetzt kam, aber er wollte es aus Franklins Mund hören.

»Du weißt, worum ich dich jetzt bitten werde, Ryan. Ich möchte, dass du mit deinem Team dort hingehst, herausfindest, was mit Mitchell passiert ist, und ihn nach Hause holst. Du musst dich beeilen. Wie unser Freund im Video klargemacht hat, ist es ein Wettlauf gegen die Uhr.« Er machte eine kleine Pause, beugte sich ein wenig vor und legte seine Hände auf die glänzende Tischplatte. »Das ist alles, was ich habe. Der Rest liegt bei dir.«

Frost verschwendete keine Zeit, ihre Meinung zu äußern. »Sir, wir haben in den letzten drei Wochen Piraten in Somalia gejagt. Haben Sie kein anderes Shepherd-Team, das diese Sache erledigen könnte?«

»Keines mit Ryans Erfahrung und seinen Kenntnissen über die Zielperson«, gab Franklin zu. »Jeder andere, den ich dort hinschicken würde, wäre von vornherein im Nachteil.«

Es war unmöglich, die Sache aufzuschieben, das war Drake klar. Franklin brauchte sofort eine Entscheidung. Er würde Drake und seinem Team nicht befehlen, dort hinzugehen. Er würde es niemandem befehlen, weil er Gewissheit haben musste, dass jeder, der an dieser Operation beteiligt war, mit aller Kraft für ihren Erfolg arbeiten würde.

Du kannst ablehnen, wenn du willst.

»Also gut. Ich bin dabei.«

Nein, kannst du nicht. Das konntest du noch nie.

Er sah Frost an. »Deine Entscheidung, Keira. Ich setze dich nicht unter Druck.«

Er wusste, was sie sagen würde, aber er musste sie trotzdem fragen, um ihr zumindest die Chance zu geben auszusteigen.

Die junge Spezialistin erwiderte seinen fragenden Blick für einen Moment, bevor sie die Augen verdrehte. »Scheiße, Ryan. Du weißt genau, dass ich dich noch nie habe hängen lassen«, erwiderte sie gereizt. »Obwohl es wahrscheinlich vernünftiger gewesen wäre.«

Er nahm das als ein Ja. Mehr emotionale Solidarität würde er von ihr ohnehin nicht bekommen.

Dann sah er Keegan an. »John, was ist mit dir?«

Mit seinen großen Ebenen, der spärlichen Deckung und den vielen Hügeln war Afghanistan ein Paradies für Heckenschützen. Keegans Fähigkeiten konnten sich als sehr wertvoll erweisen.

Der erfahrene Scharfschütze hob seine buschigen Brauen