Der allerletzte Samurai - Gaby Strittmatter - E-Book

Der allerletzte Samurai E-Book

Gaby Strittmatter

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Beschreibung

Der kleine Sammy flüchtet vor seinem gewalttätigen Vater aus seinem Zuhause und trifft auf einen Obdachlosen, den sie den 'Samurai' nennen. In ihm und seinen Freunden findet er unerwartet eine liebevolle Familie. Sie verstecken und beschützen ihn, bis sie eines Tages brutal auseinander gerissen werden. Außerdem findet Sammy bald heraus, dass auch der Samurai von seiner Vergangenheit gequält wird. Deshalb beschließt er, nun den zu retten, der ihn gerettet hat, und der ihm inzwischen weit mehr bedeutet als sein eigener Vater. Doch weder ahnt er, was er damit lostritt, noch in welcher Gefahr er sich nach wie vor selbst befindet... Ein mißhandeltes Kind findet eine emotionale Heimat bei sogenannten Pennern. Dieser Roman ist eine zu Herzen gehende Geschichte über Reue, Würde und Anstand, Gewalt und vor allem: Liebe.

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Warriors, willing to give their lives

for what seems to be a forgotten word: Honor

(Zitat aus dem Film: Last Samurai)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

1

Krachend zersplitterte ein Glas an der Wand. Dem Knall folgte ein weinerlicher Aufschrei seiner Mutter. Müde drehte er den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Wie oft hatte er dieses oder ein ähnliches Geräusch in den letzten Monaten gehört, seit der Krieg in ihr Leben Einzug gehalten hatte. Denn nichts anderes war es, ein Krieg, der schleichend ihr Leben verwüstete, sich in ihre Seelen schlich und das Wenige, das in ihrer Familie an Zusammenhalt vorhanden gewesen war, in giftige Gase auflöste. Seine beiden älteren Geschwister hatten sich bereits Gott weiß wo ein Schlupfloch geschaffen und ließen sich nur selten blicken, hauptsächlich, um nach ihm und dem Baby zu sehen. Aber seitdem seine Schwester vom Vater brutal geohrfeigt worden war, weil sie ihn gefragt hatte, warum man ein Kind nach dem anderen zeugen musste, obwohl man keine Ahnung hatte, wie man sie ernähren sollte, hatten auch diese Besuche aufgehört.

Das Baby schrie, seine Mutter weinte und überschüttete den Vater mit Vorwürfen. Durch die dünnen Wände konnte er jedes Wort hören. Er härte synchron mitreden können, denn es waren immer dieselben Worte, ein Monolog in Endlosschleife. Kein Geld, kein Job, kein Job, kein Geld. Und seitdem er nicht mehr zur Schule gehen durfte, brauchte er diverse Elektronik zum Lernen, die er nicht besaß. Kein Job, kein Geld, kein Computer. Wobei der Computer erst gegen Ende der langen Liste von Gegenständen, die sein Vater für notwendig erachtete, auftauchte. Somit bekam er nur ab und an einen Brief seiner Lehrerin, in dem sie ihm Aufgaben schickte, die er nicht lösen konnte. Er hätte mit ihr oder seinen Freunden telefonieren können, aber er schämte sich, weil es dazu Ruhe gebraucht hätte, die es in seinem Zuhause niemals gab. Und seine Eltern wollte er nicht fragen, denn damit hätte er sie unnötig auf sich aufmerksam gemacht.

Das Weinen seiner kleinen Schwester tat ihm in der Seele weh, aber er konnte nichts für sie tun. Manchmal holte er sie unter seine Decke, aber er konnte sie weder füttern noch wickeln. Am Ende nahm die Mutter sie mit einem Seufzer hoch und trug sie hinaus. Vor ihr fürchtete er sich nicht, aber er spürte, dass sie ausgelaugt war und ihre Kraft nur noch wenig Spielraum hatte.

Glücklicherweise besaß er einige Bücher, die er bereits in- und auswendig kannte, die aber immerhin einen imaginären Fluchtweg boten, den er nutzte, wann immer es möglich war. Er verstopfte sich die Ohren und zog die Decke über die Schultern. Seine Welt, kein Geschrei, keine Wutausbrüche, kein Weinen.

Diesmal funktionierte es nicht.

Vergeblich stopfte er seine Finger tiefer in die Ohren, die Stimme seines Vaters bohrte sich gewaltsam in sein Gehirn. Er kannte die Färbung, normalerweise wurden damit Handgreiflichkeiten eingeleitet, aber diesmal kam noch ein Unterton dazu, der sein Blut gefrieren ließ. Zitternd legte er den Kopf auf das aufgeschlagene Buch und betete, die Geschichte möge ihn irgendwie hineinziehen. Weg aus diesem Elend, das der Krieg über ihn gebracht hatte.

Etwas war geschehen, vermutlich in Form eines weiteren Briefes, wie sie in immer kürzer werdenden Abständen in ihrem Briefkasten lagen und die Mutter zum Monolog veranlassten. Sein Vater reagierte meistens erst nach dem Schnaps, dann aber nachdrücklich.

Er hatte in den letzten Monaten versucht, möglichst unsichtbar zu bleiben, denn sein Erscheinen im falschen Moment zog schmerzhafte Konsequenzen nach sich. Ihm war schon lange, als lebte er am Rande eines Vulkanes, der ihn jederzeit unter sich begraben konnte. Ein einziges Mal hatte er gewagt, seinen Vater darauf aufmerksam zu machen, dass er nicht die Ursache seiner Probleme war. Leider hatte er dazu den falschen Zeitpunkt gewählt, wobei es einen richtigen vermutlich nicht gab.

Dieser neue Brief war wohl besonders hässlich, denn die Geräusche, die ihn überfluteten, waren selbst ihm bislang unbekannt. Sie bewirkten, dass sich sein Magen umstülpte und er das Wenige, das er gegessen hatte, in sein Bett würgen musste.

Schon wieder waschen. Kein Job, kein Geld. Und diese Geräusche....

Die Flut nahm ihm den Atem. Er warf die Decke über den verschmutzten Bezug, schnappte seine Schuhe, wickelte sich einen Pullover über Augen und Ohren und tastete sich blind hinaus, vorbei an dem Krieg, der im Wohnzimmer tobte, und rannte die Treppen hinunter.

Die schwere Glastüre schloss sich schwerfällig hinter ihm. Zitternd lehnte er sich gegen die Wand und rang verzweifelt nach Luft, versuchte, das tonnenschwere Monster, das auf seiner Brust saß, zu vertreiben.

„Sammy!“

Luft. Der Krieg tobte noch immer in seinen Ohren.

„Komm! Wir gehen nach Hause!“

Langsam öffnete er die Augen und sah einen kleinen gescheckten Hund, der mit fliegenden Ohren auf sein Frauchen zu rannte.

„Da bist du ja, Sammy. Bald beginnt es zu regnen. Wir wollen doch nicht nass werden“, liebevoll strich das Frauchen über seine Schnauze, als er fröhlich an ihr empor sprang und zog dann lachend die schwere Türe auf.

Er sah ihnen nach, bis die Aufzugstüren das Bild zuklappten. Hunde wurden geliebt.

Er hatte keine Ahnung wohin, aber zurück konnte er auf keinen Fall. Der Vulkan war ausgebrochen. Langsam setzte er sich in Bewegung, machte einen Schritt nach dem anderen, fort von seinem Zuhause, fort von diesem Bild, das ihn seltsamerweise noch mehr schmerzte als der Krieg.

2

„Verpiss dich!“

Drohend bauten sich drei Jugendliche vor dem abgerissenen Mann auf, der knurrend seine Hand zurücknahm. Er kniff seine Augen zusammen.

„Was ist bloß heutzutage mit euch los? Was ist mit dieser ganzen verdammten Gesellschaft los?“ Ächzend ließ er sich auf sein Lager fallen, das er in einer Ecke neben dem Eingang zum Supermarkt aufgebaut hatte, um Schutz vor dem prasselnden Regen zu suchen.

„Der beschwert sich auch noch, der dreckige Penner!“ Einer trat provozierend auf die löchrige Decke, die er mit seinem Hund teilte, der aufsprang und in den weißen Sneaker biss.

Der Jugendliche jaulte auf und versetzte dem Hund einen Fußtritt. Der begann wütend zu bellen und an der Leine zu zerren, die am Geländer des Einkaufswagenparks befestigt war.

„Fucking Köter! Fucking dreckiger Penner!“

Schäumend vor Wut tanzten die drei auf der Stelle, wollten angreifen, aber der Hund verschaffte ihm einen Bannkreis. Der krause rotbraune Bart verhüllte nur die Hälfte seines höhnischen Grinsens.

„Was würde die fucking Jugend bloß ohne dieses Wort machen? Sie würde schweigen! Sie wäre ganz fucking still, haha!“ Abwartend fixierte er die drei, die ihn mit ihren Blicken aufspießten.

„Was ist hier los?“ Ein entschlossener Mensch im grauen Arbeitskittel stürmte aus dem Laden.

„Verzieht euch!“ Herrisch unterstrich er seine Aufforderung mit einer entsprechenden Geste.

„Der verfickte Penner hat uns..."

„Interessiert mich nicht. Pöbelt woanders herum, nicht vor meinem Laden! Klar?“

„Aber...“

„Wenn ihr nicht augenblicklich verschwindet, ruf ich die Bullen.“

„Fucking Arschloch! Hältst du etwa zu dem?“

Der Mensch zog ein Handy aus seiner Kitteltasche und begann zu tippen. Murrend traten die drei den Rückzug an. Der, nach dessen Schuh der Hund geschnappt hatte, drehte sich noch einmal um und rotzte in hohem Bogen auf die Decke.

„Drecksau, verfluchte!“

„General, beruhige deinen Hund, der verstört mir alle Kunden mit seinem Gebell. Versteh nicht, warum du ihn mit dir herumschleppst, du musst ihn doch auch ernähren.“

Der Mann griff in den Nacken des Hundes und schüttelte ihn sanft. Dann kraulte er ihm beruhigend die Ohren.

„Du siehst doch, wozu er gut ist. Ohne ihn hätten sie mich schon lange bestohlen oder erschlagen.“

Ein ironischer Blick traf den Hund und dann das Gepäck, an dem der Mann lehnte.

„Was kann man dir schon groß klauen?“

„Nichts mehr als mein Leben“, müde tippte er auf den Rucksack. „Ich brauche nicht viel, aber das tatsächlich.“ Stöhnend kam er auf die Beine.

„Ich werde gehen. Für heute...“, er salutierte grinsend. „Euer Gnaden!“

Der Angestellte lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Spinner. Warte!“

Er verschwand ins Ladeninnere und kehrte nach einer Weile mit einer großen Papiertüte zurück.

„Da. Heute ist noch nicht Verhungern angesagt."

Schnüffelnd drängte sich der Hund an die Tüte, die verführerisch duftete.

„Meins", knurrte der Mann. Der Hund fiepte leise.

„Okay, unseres. Nun gut, folge mir unauffällig." Er packte sich den schweren Rucksack auf die Schultern, streifte die Kapuze über und schlurfte langsam los, vorbei an gestikulierenden Spaziergängern, an fröhlichen Damengrüppchen unter bunten Regenschirmen, an Versammlungen von schweigsamen Jugendlichen, die unter den Arkaden Schutz gesucht hatten und ihr Handy bearbeiteten, vorbei an Menschen, die krampfhaft versuchten, ihn zu übersehen. Er war daran gewöhnt, es störte ihn schon lange nicht mehr. Im Gegenteil, er war froh, wenn sie ihn Ruhe ließen. Denn Aufmerksamkeit von Menschen bedeutete im Normalfall nichts Gutes.

Er stapfte die Einkaufsstraße hinunter und bog in einen betonierten Hof ein, der zu einem leerstehenden hohen Gebäude führte. Ein halbfertiger Neubau, wie so vieles dem derzeitigen Rohstoff- und Handwerkermangel zum Opfer gefallen.

Eine dicke dunkle Plastikplane ersetzte die Eingangstür. Er hob eine Seite an und ließ zuerst den Hund durch, der freudig zu bellen begann.

„Schnauze, Roderich", ein gutmütiges Brummen folgte dieser Begrüßung.

„Tachchen Jeneral. Haste wat zu futtern dabei?"

Fast hätte man die Szenerie gemütlich nennen können, wären da nicht die kahlen Wände gewesen und die Kälte, die purer Beton selbst im Sommer ausstrahlt. Zwei weitere Männer hockten auf ausgefransten Rattanstühlen an einem wackligen Tisch und spielten Karten. Eine Kommode lehnte auf drei Beinen an einer Wand, notdürftig gehalten durch einen mit Kleidern und Schuhen gefüllten Einkaufswagen. Auf dem Boden lag ein welliger, verschlissener Teppich, vermutlich durchaus edlen Ursprungs, aber wie alles andere durch das Leben lädiert.

Der Hund schüttelte das Wasser aus seinem Fell, begrüßte jeden und rollte sich anschließend auf einer Matratze zusammen, ließ dabei die Tüte nicht aus den Augen.

„Jetze mach schon hinne. Siehste nich, det det Vieh am Verhungern is?"

„Ungeduldig wie immer, Monsieur le Clochard. Was kannst du zum Mahle beitragen?"

Der Angesprochene grinste und prustete eine blonde Strähne von seiner lila verfärbten Nase. Triumphierend fischte er eine Flasche Wein aus den Tiefen seiner Jacke.

„Der hier! Puret Gold!" Er schmatzte genießerisch.

Zufrieden beobachtete er, wie der General die Tüte aufriss und Brötchen verteilte, dazu Tomaten, Käse, Radieschen, ein paar in Plastik verpackte Würstchen und Obstjoghurtpackungen, deren MHD bereits überschritten war.

„Welch Festmahl!" Der dritte Mann klappte ein Taschenmesser auf und säbelte ein großes Stück vom Käse ab.

„Nicht so habgierig, Hoheit", der General riss ihm das restliche Stück aus der Hand und warf es in hohem Bogen zu dem Hund hinüber, der es geschickt auffing und in einem Happs hinunterschlang.

„Wir teilen mit allen! Apropos... wo ist unser Krieger?"

„Hier!" Ein weiterer Mann schlüpfte durch die Plane und stellte seinen Rucksack neben den Tisch.

„Ich habe heute meinen Wochenlohn abgeholt", er grinste schief und lud ebenfalls Brot und verpackte Würstchen auf den Tisch, sogar eine Dose mit Hundefutter.

„Heute war ein guter Tag. Draußen steht noch eine Tüte."

Er lüpfte die Plane und hielt überrascht inne. Da stand ein kleiner Junge, der jetzt erschreckt einen Schritt rückwärts machte.

„Moment! Ich fress dich nicht. Kannst ruhig stehen bleiben."

Zögernd drehte sich der Kleine um. Große dunkle Augen dominierten das schmale Gesicht, Augen, viel zu alt für ein Kindergesicht.

Der Mann musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. Der Kleine war tropfnass und zitterte trotz der relativ milden Temperaturen.

„Bist du allein?"

Keine Antwort. Der Junge sah ihn nur unverwandt an. Vielleicht verstand er ihn nicht.

„Hast du Hunger?"

Zögerndes Nicken. Aha. Es war also kein Sprachproblem.

„Natürlich hast du Hunger. Komm gerne rein in die gute Stube, es ist schon serviert."

Er hielt die Plane hoch, schubste den Jungen sanft hindurch, bugsierte ihn zum Tisch und drückte ihn auf einen Stuhl.

„Wir haben einen Gast!"

Neugierig beäugten die Männer das Kind, das ihre Blicke ruhig, aber oberflächlich erwiderte.

„Ach Jottchen, wat habense mit dir jemacht?" Mitleidig strich der Clochard über den nassen Schopf des Kindes. Der Hund näherte sich und schnüffelte vorsichtig an den dünnen Beinen. Schließlich leckte er über die Hand, die ihm der Kleine hinhielt.

„Siehste, schon haste een Fan. Darf ick vorstellen: Roderich, seenes Zeichens Promenadenmischung aus königlichem Jeblüt mit eenwandfreien Papieren aus der Straßenzucht."

Ein schwaches Lächeln glitt über das Gesichtchen.

„Jut, und die hier stell ick dir och noch vor: Der rote Riese is der Jeneral, der so heeßt, weil er meent, das Soldatentum fördere den Respekt. Und seene Hoheit hier hält sich für Kaiser Wilhelm, der lebt schon lange in eener anderen Welt. Icke bin..."

„... der Clochard, der sich für etwas Besseres hält", warf der General dazwischen.

„Nee, nich wejen dette. Een Obdachloser is een Zustand, aber een Clochard een Lebensjefühl, vastehste? Ick bin een Wanderer, keen Penner."

Der General verdrehte die Augen und schob dem Jungen eine Wasserflasche hin.

„Trink!"

Das Kind nahm einige Schlucke und betrachtete währenddessen das Gesicht des Mannes, der ihn hereingeholt hatte.

„Det is unser Samurai. Er is von hochnobler Jesinnung und faselt immer wat von Ehre."

Nach einer Weile sagte das Kind leise: „Du bist doch kein Japaner!"

„Oh, et spricht!", der Clochard klatschte in die Hände. „Und janz schön schlau für seen Alter is et och. Kennste den Film ,Der letzte Samurai'?"

Der Junge schüttelte den Kopf. Wo hätte er Filme schauen sollen? Zwar gab es in seinem Zuhause ein TV-Gerät, doch dazu hätte er die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen müssen. Aber er hatte von den Kriegern gelesen.

„Der sind seene jroßen Vorbilder. Sie sind ausjestorben worden, aber er hier is der Erbe. Er is der wirklich letzte Samurai.“

„Der allerletzte“, der General salutierte anerkennend.

Die Männer verneigten sich in gespieltem gegenseitigem Respekt. Dann lachten sie und schoben dem Kind Brötchen, Wurst und eine Gurke hin.

„Iss nur“, sagte der Samurai und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Essen wirkt manchmal Wunder in der Seele.“

Roderich platzierte seine Vorderpfoten auf den Schenkeln des Generals und blickte begehrlich auf die Würstchen. Der schob ihn weg, häufte das Hundefutter auf einen Plastikteller und stellte es auf den Boden.

„Willst du nicht dein nasses Shirt ausziehen? Wir haben hier eine exklusive Auswahl“, sagte er zu dem Jungen und kramte in dem Einkaufswagen, der die Kommode aufrecht hielt.

„Das ist ein bisschen groß für dich, aber zumindest trocken“, er legte ein graugestreiftes Hemd vor ihn hin.

Der Junge sah das Shirt an, dann die Männer. Der Clochard lächelte ihm aufmunternd zu.

„Nu mach schon, sonst holste dir womöglich noch wat."

Nach einer langen Pause zog sich der Junge schließlich den nassen Pullover über den Kopf.

„Deen Hemd och, et is ja klatschenass!“

Der Clochard stopfte sich ein Stück Gurke in den Mund. Im nächsten Moment fiel es wieder heraus, gleichzeitig keuchten die anderen auf. Entsetzt starrten sie auf die mageren Rippen des Jungen, die übersät waren mit blauen und violetten Flecken.

Rasch zog sich der Kleine das trockene Shirt über den Kopf und blickte beschämt auf die Tischplatte.

Einen Augenblick lang schwiegen sie wie gelähmt, dann wollte der Clochard etwas sagen, doch der Samurai schüttelte warnend den Kopf.

„Willst du heute Nacht hierbleiben? Roderich passt auf, es kommt keiner herein, der nicht hierher gehört.“

Stille, dann ein zögerliches Nicken.

„Gut. Somit hätten wir das geklärt“, sagte der Samurai leichthin. „Wir haben uns dir alle vorgestellt, verrätst du uns auch deinen Namen?“

Erwartungsvoll blickten ihn die Männer an. Freundliche, besorgte Gesichter. Der General fuhr liebevoll über Roderichs Schnauze.

Hunde wurden geliebt.

„Sammy“, sagte er schließlich leise. „Mein Name ist Sammy.“

3

Alex hämmerte auf seine Tastatur. Die Figuren im Monitor explodierten in rasender Folge in tausend Farben; ohrenbetäubendes Rattern, Knallen und Schießen begleitete das Stakkato von Bildern und Tönen.

Er schwitzte. Seit dem frühen Morgen saß er vor der Konsole, nachdem er seinen Laptop, den er für die Schule benutzte, geöffnet und wie jeden Morgen ewig auf das Erscheinen eines Lehrers auf dem Bildschirm gewartet hatte. Er hatte den Geschichtslehrer begrüßt und danach ein Standbild von sich geladen und den Ton abgestellt. Die meisten Lehrkräfte seiner Schule waren mit dem digitalen Unterricht völlig überfordert; am Anfang war es belustigend gewesen, wurde dann aber schnell langweilig. Schließlich kam er auf die Idee, ein Bild von sich zu produzieren, auf dem er voll konzentriert in die Kamera schaute. Bislang war dies außer seinen Kumpeln in der Klasse, die seine Idee begeistert aufgegriffen hatten, noch niemandem aufgefallen, die Lehrer waren viel zu sehr mit der Technik beschäftigt, die sie zum großen Teil nicht einmal ansatzweise beherrschten. Außerdem hatte er noch drei Jahre bis zum Abitur, befand sich also seiner Meinung nach in keiner prekären Phase. Im übrigen handelte es sich um eine teure Privatschule, die ihre goldenen Schäfchen sicher nicht mit mangelnder Vorbereitung brüskieren würde. Sobald der Spuk, der die Welt derzeit überzog, vorbei wäre, würde alles wieder seinen geregelten Gang gehen. Er machte sich keine Sorgen.

Paam! Triumphierend lehnte er sich zurück und holte Luft. Unwillig registrierte er das energische Klopfen an der Türe.

„Nun hör endlich mit dem Geballer auf, Schatz! Das Essen ist fertig!“

Er warf einen Blick auf den Laptop. Offensichtlich hatte auch Madame Moreau ein Standbild geladen, denn es hatte sich in der letzten Stunde nichts verändert. Er grinste. Die plötzliche Konfrontation mit dem 21. Jahrhundert kam einem Tsunami gleich, der die meisten seiner Lehrer in ihrer technischen Unzulänglichkeit ertrinken ließ.

„Alex! Kommst du nun endlich?“

Seufzend erhob er sich, wusch sich in seinem angrenzenden Badezimmer die Hände und stapfte pfeifend die geschwungene Treppe zum Esszimmer hinunter.

Seine Mutter bedachte ihn mit einem rügenden Blick.

„Du könntest mal wieder duschen.“

„Wozu? Ich geh ja sowieso nirgends hin.“

Unbekümmert ließ er sich auf einen Stuhl fallen und schaufelte Salat auf seinen Teller.

„Wo ist Paps?“

„Er führt noch ein Kundengespräch, kommt heute später“, unter der Oberfläche ihres leichten Tonfalles schwang eine gewisse Anstrengung mit, die ihn den Kopf heben ließ.

„Alles okay?“

„Natürlich. Wir haben schwierige Zeiten, die an niemandem spurlos vorübergehen.“

Seufzend reichte sie ihm die Kartoffeln.

„Wenn du zwischendurch mal Nachrichten schauen würdest anstatt dich immer nur mit diesen schrecklichen Spielen zu beschäftigen, wüsstest du, wie es derzeit in der Welt zugeht.“

Selbstverständlich wusste er, was derzeit los war. Entgegen ihrer Annahme war er gut informiert, ging jeden Morgen die News auf seinem Handy durch. Die Leute verloren reihenweise ihre Jobs, Betriebe wurden insolvent, die Stimmung täglich gereizter. Aber das war die Außenwelt, nichts, das ihn persönlich tangierte. Seine Familie war gut situiert, sein Vater besaß ein gefragtes Architekturbüro, das ihnen ein komfortables Leben ermöglichte. Seine Mutter war Innenarchitektin, aber in letzter Zeit etwas weniger beschäftigt, wie ihm schien, denn seit neuestem bekam er die Mahlzeiten von ihr serviert und nicht von Mayari, ihrer philippinischen Haushaltshilfe.

„Brechen dir eigentlich auch Aufträge weg?“, fragte er kauend. „In letzter Zeit bist du sehr oft zuhause.“

„Genau wie du. Stört dich das?“, sie lächelte amüsiert. „Du hast dir doch immer mehr Zeit mit mit gewünscht.“

„Das war vor zehn Jahren, Mam. Inzwischen bin ich erwachsen."

„Gewachsen vielleicht. Möchtest du ein Dessert? Es gibt Vanillequark mit Erdbeeren."

Draußen näherte sich ein röhrender Motor, der noch einmal aufheulte und dann erstarb. Kurz darauf stürmte sein Vater zur Tür herein.

„Hallo Simone", er begrüßte seine Frau mit einem Küsschen, was Alex mit einem herablassenden Lippenkräuseln zur Kenntnis nahm, ihn innerlich aber freute. Die Mehrheit seiner Mitschüler lebte in Patchworkfamilien, kaum einer, dessen Eltern nicht geschieden waren. Bei seinen war alles in Ordnung.

„Entschuldigt bitte, das Gespräch hat etwas länger gedauert. Habt ihr mir etwas übriggelassen?"

Er sah ein bisschen müde aus, befand Alex. Vielleicht hatte er schlecht geschlafen. Auch Männer kamen in die Wechseljahre, wie seine Mutter manchmal unkte.

„Darf ich aufstehen?"

„Geh nur. Ich unterhalte mich gerne eine Weile mit meiner Frau. Ansonsten hat man es derzeit ja nur mit Verrückten zu tun", er seufzte. „Was macht die Schule?"

„Alles gut", antwortete Alex obenhin. Allzu sehr vertiefen wollte er das Thema nicht. Aber sein Vater nickte nur flüchtig.

„Das freut mich. Kann ich noch eins dieser köstlichen Medaillons haben? Sie schmecken hervorragend, wie immer."

Auf der Biegung der Treppe streifte Alex wie immer eine Ecke des gerahmten Bildes, das dort hing. Es war ein Filmposter, eine Szene aus ,Last Samurai'. Wie jedes Mal schüttelte er innerlich den Kopf über die alberne Schwärmerei seiner Mutter für Tom Cruise und rückte es nachlässig gerade.

Er blieb noch einen Moment stehen, betrachtete die friedliche Szene unten am Tisch. Ihm war durchaus bewusst, welches Glück er hatte. Schließlich ging er nicht mit Scheuklappen durch die Welt. Über das Warum und Wieso machte er sich keine großen Gedanken, die Gesellschaft war sich in ihren Gefügen immer ähnlich, ganz egal, in welchem Jahrhundert und in welcher Kultur. Es gab ein Oben und ein Unten, das war ganz normal. Und er hatte nun mal das Glück, in ein Oben hineingeboren worden zu sein. Zumindest relativ weit oben. Aber das reichte bei weitem aus.

Mit sich und der Welt im Reinen widmete er sich wieder seinem Game.

4

Melanie Lorenz versuchte schon seit Stunden verzweifelt, sich einen Überblick über die liegengebliebenen Fälle zu verschaffen. Das Jugendamt wurde derzeit mit Anfragen, polizeilichen Berichten und Aufforderungen geradezu überschwemmt. Anscheinend waren die Kinder die großen Verlierer der derzeitigen Lage, wie immer wurden Frust und Druck bei denen abgelassen, die sich am wenigsten wehren konnten.

Manchmal fand sie ihren Beruf zum Kotzen. Akten voller widerwärtiger Fotos, die sie in ihren Träumen verfolgten, Stapel von Akten. Und täglich kamen weitere dazu. Meldungen von Nachbarn, die nebenan Geschrei gehört hatten, damit gern aber auch von eigenen Verhältnissen ablenkten, wie sich später herausstellte. Meldungen von besorgten Erzieherinnen, deren Schützlinge immer wieder neue blaue Flecken aufwiesen. Meldungen anderer Behörden, die im Zuge ihrer Ermittlungen auf verwahrloste und misshandelte Kinder gestoßen waren. Meldungen über Meldungen, Fälle über Fälle, Akten ohne Ende.

Sie und ihr Team waren zuständig für die Wohnbausiedlung am östlichen Rand der Stadt, eigentlich eine Trabantenstadt, Wohnungsgeber für die vielen Arbeiter und Angestellten des benachbarten Industriegebietes. Schon in den Jahren vor der Katastrophe schlingerten einige Betriebe am Rand der Insolvenz entlang, aber jetzt platzten sie wie die Luftballons, der Stachel der Pandemie erstach unbarmherzig einen nach dem anderen. Es folgte die Kurzarbeit und das bange Warten auf staatliche Hilfe, die jedoch auf sich warten ließ, teilweise auch gar nicht kam. Denn die Betriebe, die vorher schon gefährdet waren, durften keine Unterstützung beantragen, obwohl erst die politisch verordneten Schließungen ihnen den finalen Todesstoß versetzt hatten. Das führte zu vielen Kündigungen und die Leute wurden zurückgeschickt. Zurück in ihre Wohnungen, die selten genug Platz für die vielen gleichzeitig anwesenden Familienmitglieder boten, zurück in ein Leben ohne Arbeit, ohne Respekt, ohne Selbstbestätigung, ohne ausreichende finanzielle Mittel. Das Einzige, das sie jetzt im Überfluss besaßen, war Zeit. Zeit, die wie ein prachtvolles Grabgesteck eine Weile in Duft und Farben schwelgte, um dann in fauligen Moder überzugehen, der einem den Magen umdrehte.

Lorenz hatte exakt das gegenteilige Problem. Ein Drittel ihres Teams kämpfte mit der Krankheit, das zweite arbeitete im Homeoffice und der rudimentäre Rest, der noch bereit war, vor Ort zu gehen, wechselte sich in Schichten ab.

Momentan saß sie allein in ihrem Büro; missmutig glitt ihr Blick durch das Zimmer und blieb an einem Stapel neu hinzugekommener Schnellhefter hängen. Sie schlug den obersten auf und musterte das schmale Gesicht eines Jungen. Neun- vielleicht zehnjährig. Wie ernst seine Augen dreinblickten. Kinder sollten nicht so schauen. Genervt schlug sie den Deckel wieder zu und schlug mit der Faust obenauf. Erschreckend schnell wuchernder Auswuchs einer im wahrsten Sinne des Wortes kranken Gesellschaft, der die Kinder davonliefen. Schon Jahrzehnte im Amt, konnte sie sich an kaum ein Jahr erinnern, in dem so viele Jugendliche vermisst wurden. Sie stierte den Stapel an wie eine giftige Kröte und erschauerte, weil plötzlich ein kalter Windstoß herein fegte und einzelne Blätter aufwirbelte. Sie knallte das Fenster zu und schaute hinunter in die leeren Straßen, drang wie ein imaginärer Röntgenstrahl durch die Fassaden in die Fenster der Stadt. Was sie dort sah, machte ihr Angst.

5

Sie hatten eine Matratze für ihn aufgetrieben, auf der er jetzt in eine alte Decke gehüllt saß und die Männer beobachtete, die am Tisch Karten spielten. Sie hatten ihm gezeigt, wo er sich ein wenig waschen konnte, denn die Wasserleitung im unteren Teil des Neubaus war noch nicht abgestellt oder vergessen worden. Der, den sie Samurai nannten, hatte ihn herumgeführt und ihm erklärt, dass hier erst vor kurzem ein Baustopp verhängt worden war, weshalb sie jetzt über solch eine feudale Unterkunft verfügten.

Sammy hörte ihm schweigend zu, er ließ die Erklärungen wie Regen an sich herabrieseln, warmer Regen, aber Regen. Noch war er nicht soweit, sich zu öffnen, sein Inneres fühlte sich an wie eingefroren. Er konnte nichts daran ändern. Er war den Männern nach anfänglicher Skepsis dankbar, sie kümmerten sich um ihn, ließen ihn aber ansonsten in Ruhe.

Sie saßen an diesem Tisch und redeten leise miteinander, lachten manchmal, bis auf den, den der Clochard ihm als Kaiser Wilhelm vorgestellt hatte. Der sprach nur selten, vermutlich war auch er eingefroren. Der Clochard war der Lebhafteste; obwohl er äußerlich am ehesten nach Straße aussah, war er fröhlich, dieses Leben machte ihm offensichtlich nichts aus, vielleicht genoss er es sogar. Sammy fand das erstaunlich. Während er das ramponierte Gesicht betrachtete, fragte er sich, weshalb ein Erwachsener, dem im Gegensatz zu ihm alle Wege offenstanden, sich dafür entscheiden mochte, auf einer alten Matratze zu wohnen.

Der Hund näherte sich, wedelte schwach mit seinem Schwanz. Sammy streckte einladend die Hand aus, worauf er sich ächzend neben ihm fallen ließ.

„Da ham sich zwee jefunden, kiek mal“, grinsend stupfte der Clochard seinen Nachbarn. Der Samurai blickte nachdenklich herüber. Der Junge war nun schon seit einigen Tagen bei ihnen, hatte aber kaum gesprochen, sie hatten noch immer keine Ahnung, wohin er gehörte.

Nach der schockierenden Entdeckung hatten sie nachts leise beraten, was sie tun sollten. Einerseits wollten sie unbedingt herausfinden, woher er diese fürchterlichen Hämatome hatte, auf der anderen Seite ihn keinesfalls unter Druck setzen. Nach eingehender Diskussion waren sie zum Schluss gekommen, ihm zunächst nur einfach einen sicheren Rückzugsort anzubieten, ihn ansonsten in Ruhe zu lassen und zu warten, bis er einigermaßen Vertrauen gefasst haben würde. Wobei nicht gesagt war, dass er sich überhaupt öffnen könnte, denn war er traumatisiert, würde er professionelle Hilfe brauchen.

Bei dem Wort ,Therapie' begann Kaiser Wilhelm, der dem Gespräch wortlos beigewohnt hatte, zu zittern. Fahrig stand er auf und schlurfte ziellos im Raum umher. Der Clochard führte ihn unter beruhigendem Gemurmel wieder an den Tisch zurück. Sie kannten das schon, ihm war übel mitgespielt worden und davon hatte er sich nie erholt. In der Zeit, die sie nun schon zusammen auf der Straße überlebten, hatte er in ihrer Gemeinschaft trotz vieler Angriffe von außen Schutz gefunden und sich etwas entspannt, aber eine Heilung war nicht in Sicht. Ohne ihre Unterstützung würde er untergehen.

Er war ein erschreckendes Beispiel dafür, wie man einen Menschen fürs Leben zeichnen konnte, deshalb kochte ihre Wut umso höher. Was hatte man diesem Kind bloß angetan? Ihre Vermutung, dass er von seinem Zuhause geflüchtet war, wurde bestätigt, als er auf die Frage, ob sie ihn dorthin zurückbringen sollten, heftig den Kopf geschüttelt hatte. Verfluchte Schweinerei. Konnte gut sein, dass er gesucht wurde, aber hier würden sie ihn nicht finden.

Sammy spürte, dass die Männer es gut mit ihm meinten. Er fühlte sich irgendwie abgeschnitten vom Leben, alles, was er kannte, lag unter der Asche des Vulkans begraben. Nachts hatte er Albträume, glaubte zu ersticken. Einmal war der Samurai zu ihm gekommen und hatte ihn aufgeweckt und getröstet. ,Du bist ein tapferer Kerl, hatte er gesagt und der Satz schwirrte seitdem in seinem Kopf herum. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal jemand versucht hatte, ihm beizustehen. Er wollte nicht weinerlich sein, keine Schwäche zeigen, aber über seine Träume hatte er keine Kontrolle.

Hier, zwischen diesen nackten Betonwänden, in der Gesellschaft von abgerissenen Obdachlosen, Außenseitern wie auch er einer war, konnte er atmen, seit langem wieder atmen. Sie gaben ihm zu essen, obwohl sie selbst nicht viel hatten, und wenn sie mit ihm sprachen, schwangen Wärme und Mitgefühl mit. Roderich, der ungestüme Straßenzottel, spürte wohl ganz genau, was mit ihm los war, denn jeden Morgen erwachte Sammy mit dessen schnarchendem Kopf an seiner Brust, eine Pfote beschützend über seinen Bauch gelegt. Beglückt schloss er die Augen wieder, döste noch eine Weile weiter, genoss das ungewohnte Gefühl, geliebt zu werden. Und war es auch nur von einem Hund.

Der Samurai lächelte. Vielleicht fanden sie einen Weg.

„Hast du Lust auf einen Spaziergang? Roderich braucht etwas Bewegung. Sein Herrchen drückt den ganzen Tag nur seinen fetten Hintern platt."

Ein kurzes Lächeln huschte über Sammys Gesicht, als der General den Samurai gutmütig in die Seite boxte.

„Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf. Es hat den ganzen Morgen geregnet, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Bei solchem Wetter jagst du keinen Hund vor die Türe, geschweige denn meine alten Knochen. Aber, in der Tat, wir könnten etwas zu futtern gebrauchen."

Der Samurai erhob sich. Fragend sah er Sammy an, der nach einer Weile nickte und nach seinen Schuhen griff, an denen der Hund heimlich herumnagte.

„Lass das“, sagte der General streng, worauf das Tier schuldbewusst den Kopf senkte.

Sammy lächelte wieder. Er verknotete die Bändel und strich Roderich zart über die Ohren.

„Verwöhne ihn nicht. Er muss die Regeln lernen. Wo kämen wir hin, wenn hier jeder machte, was er wollte?“

„Direktemeng in de Anarchie“, der Clochard grinste. „Ick dachte, da sind wir schon.“

Er warf Sammy eine Leine zu. „Pass schön uff ihn uff!“

Der Samurai hob die Plane. Er hatte Sammy einen Hoodie gegeben, der ihn vor neugierigen Blicken bewahren sollte. Außerdem wollte er ihm nicht das Gefühl geben, eingesperrt zu sein. Die Stadt war relativ groß, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn ihn hier jemand erkennen würde, sofern er denn überhaupt gesucht wurde.

„Na, dann auf ins bürgerliche Leben“, er ließ Kind und Hund durch und dirigierte sie durch die Fußgängerzone in einen nahegelegenen Park. Dort spielten ein paar Kinder Fußball, brüllten sich energische Befehle zu.

Der Samurai ließ sich auf einer Bank nieder und beobachtete sie eine Weile.

„Willst du mitspielen?“

Mitspielen? Sammy konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal mit Freunden auf einer Wiese herumgetobt war. Das war lange her. Außerdem kannten die Kinder ihn nicht, sie würden ihn sowieso nicht akzeptieren. Er schürzte die Lippen. Was für eine blöde Frage.

Der Samurai blickte weiter geradeaus.

„Gibt es einen Kumpel? Einen, mit dem du gerne abhängst?“

Benni. Ihn gab es, aber wie sollte er mit ihm abhängen, wenn er niemanden treffen durfte? Davor war er einige Mal bei ihm gewesen, aber auf die Dauer war das nicht gut gegangen. Irgendwann war es Benni komisch vorgekommen, dass er ihn nie zu sich mitgenommen hatte, aber wie hätte das gehen sollen? In seinem Zuhause herrschte Krieg, da konnte er doch niemanden einladen. Auch das eine blöde Frage. Aber dann fiel ihm auf, dass der Samurai das alles gar nicht wissen konnte, deshalb antwortete er.

„Nein. Das heißt ja. Aber den gibt es schon lange nicht mehr.“

„Aha“, sagte der Samurai nach einer Weile. „Erzählst du mir, warum das so ist?“

Sammy schaute in den Himmel. Er sollte vom Krieg erzählen? Dafür gab es keine Worte und schon gar keine Erklärungen. Er hatte keine Ahnung, wie das gekommen war. Oder doch?

„Ich glaube, es liegt daran, dass die Leute ihre Arbeit verlieren“, sagte er zögernd. Denn damit hatte es doch angefangen, kurz danach begannen die Untertöne in der Stimme seines Vaters, die zu Monologen und Handgreiflichkeiten führten.

„Weil die Leute ihre Arbeit verlieren, hast du keine Freunde?“, verdutzt wandte sich der Samurai ihm zu.

Kein Geld, kein Job, kein Job, kein Geld. Sammy nickte.

„Ja.”

Der Samurai machte „hm“ und zog die Augenbrauen hoch. Forschend blickte er ihm ins Gesicht.

„Dein Vater hat also seine Arbeit verloren?“

Sammy nickte und scharrte verlegen mit den Füßen. Merkwürdig, irgendwie schämte er sich, dabei konnte er doch gar nichts dafür.

„Ich verstehe. Das ist ein großes Problem, passiert im Moment vielen."

Der Hund zerrte winselnd an der Leine. Sammy griff nach seinem Halsband.

„Darf ich ihn loslassen?“

„Ja, lass ihn rennen, hier sind noch andere unterwegs, vermutlich dürfen sie das nicht, aber wo kein Richter, da kein Kläger.“

Irritiert wandte Sammy den Kopf.

„Ist das nicht umgekehrt?“

Der Samurai lachte.

„Du bist nicht auf den Kopf gefallen, Kleiner. Aus dir wird mal ein Großer.“

Sammy grinste. „Du willst mich bloß vergackeiern.“

Er ließ Roderich von der Leine und beobachtete kichernd, wie der Hund wie ein Wilder zu hüpfen begann, sich im Kreis drehte und vor Freude jaulte. Dann jagte er über die Wiese davon.

„Der kommt schon wieder, wenn er sich ausgetobt hat“, zufrieden lehnte sich der Samurai zurück. Der Junge lachte, schönes Bild.

So war das also. Er konnte sich dessen häusliche Situation gut vorstellen, die Abwärtsspirale war ihm schließlich nur zu bekannt. Es musste allerdings wirklich schlimm sein, wenn das Kind davonlief. Vielleicht war es aber auch nur aus einem Moment heraus geschehen, Kinder waren sensibel, Worte konnten tiefer verletzen als Speere und einmal ausgesprochen, blieben sie lange im Raum. Zu lange für ein Zurück auf Los, zu lange für eine Heilung. Aber wenn sein Vater für die Flecken verantwortlich war, dann wunderte ihn nichts mehr. Der Färbung nach zu urteilen, waren sie unterschiedlichen Ursprungs, sprich, er wurde regelmäßig misshandelt. Wieder kochte die Wut in ihm hoch. Verlorener Job hin oder her, wie konnte man sowas seinem eigenen Kind antun?

„Hast du auch deine Arbeit verloren?“, fragte Sammy plötzlich, als hätte er seine Gedanken gelesen.

Der Hund kam bellend zurück und warf sich hechelnd vor ihre Füße.

„Da bist du ja wieder“, der Samurai beugte sich vor und zog spielerisch an den langen Ohren. Dann seufzte er.

„Ja, ich habe meine Arbeit auch verloren. Und noch viel mehr..."

Sammy sah ihn scheu von der Seite an. Er klang plötzlich traurig. War das seine Schuld? Um ihn abzulenken, fragte er:

„Wieso nennen sie dich eigentlich Samurai? Das waren Krieger, nicht wahr? Aber du bist doch keiner?“

Längere Zeit fiel kein Wort mehr. Die Sonne erschien hinter sich auflösenden Wolkenfetzen und wärmte sie außen und innen.

„Jeder ist ein Krieger. Jeden Tag“, meinte der Samurai schließlich leichthin. „Das ganze Leben ist ein Kampf, jeden Tag auf's Neue. Und der größte Kampf ist der, wie wir aus ihm hervorgehen, ihn bestehen oder auch nicht. Wir können verlieren, aber mit Anstand. Und wir können gewinnen, aber würdelos. Oder jeweils umgekehrt.“

Nach einer Weile nickte Sammy.

„Die Umkehrung macht also den Unterschied.“

„Richtig, einen großen Unterschied. Die Samurai kämpften für eine bestehende Ordnung, die durch den Fortschritt in Frage gestellt und gefährdet wurde. Vor allem aber kämpften sie für ihre Haltung, die völlig zu Unrecht aus der Mode kam.“

Fragend blickte Sammy hoch.

„Sie hatten einen Ehrenkodex, wie viele Gruppierungen auch heute noch, allerdings ohne einen Schimmer davon zu haben, was Ehre eigentlich bedeutet.“

„Und was bedeutet sie?“

„Verantwortung zu übernehmen, hauptsächlich. Verantwortung für andere Menschen, für deren Wohlergehen, aber vor allem auch Verantwortung für sich selbst. Für eigene Fehler, eigene Verhaltensweisen, Verletzungen, die du denen, die dir nahestehen, beibringst. - Und damit dir selber... “, fügte er nach einer Pause hinzu. Warum sagte er das eigentlich? Noch nie hatte er seit damals darüber gesprochen. Schon gar nicht zu einem Kind.

Sammy kraulte nachdenklich Roderichs weiche Ohren. Der Hund stemmte die Vorderpfoten gegen die Bank und kuschelte seinen großen Kopf in Sammys Schoß.

„Man könnte sagen, sie hatten edle Motive. Der Mensch kann nämlich durchaus edel handeln, wenn er denn will. Man denke nur an Winnetou, haha. Immer im Dienste der Gerechtigkeit und der Wahrheit unterwegs. Doch was ist das eigentlich? Das sieht jeder anders“, er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und hob sein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. „Und da beginnt das Problem. Wie kämpfst du für deine Ehre und gleichzeitig die der anderen, wenn jeder eine unterschiedliche Auffassung davon hat, was Anstand ist? Blöderweise gibt es dafür keine allgemeingültigen Regeln, wenn man mal von unserer Verfassung absieht. Aber die spielt im familiären Zusammenleben keine große Rolle...“, murmelte er und setzte sich plötzlich ruckartig auf. „Entschuldige bitte, ich fasle dummes Zeug...“

Wurde er rot? Jedenfalls sah er ziemlich verlegen aus, fand Sammy. Zwar verstand er nicht wirklich, was der Samurai meinte, aber eines war klar und dafür musste er sich absolut nicht schämen, deshalb sagte er tröstend:

„Ich verstehe dich schon. Du warst auch im Krieg.“

Der Samurai verstummte. Langsam brach die Dämmerung herein, ihre langen Schatten züngelten über die Wiese, deckten zuerst die Kinder zu und krochen dann über die Wege bis zu ihren Füßen.

Verflucht. Da musste erst ein Kind kommen, das ihn überhaupt nicht kannte und einen einfachen Satz formulieren. Ja, er war im Krieg gewesen, nur im Unterschied zu Sammy war er kein Opfer, sondern Täter. Er hatte ihn verloren, hatte alles verloren, das man nur verlieren konnte. Allein seine Knochen waren noch am Leben; er war ein Geist, Kälte, Hunger und die Feindseligkeit der Straße schmerzten ihn im Grunde nicht mehr. Nichts und niemand focht ihn mehr an, nicht einmal mehr die Gewissensbisse, die ihn in den ersten Jahren verfolgt hatten, selbst sie waren verstummt.

Freundlich und oberflächlich begegnete er der Welt, aber ohne jedes echte Interesse. Und nun kam dieses Kind und bohrte mit einem Satz ein Loch in seine Rüstung. Es tat weh. Konnte es sein, dass unter dem Eisen, das seit langen Jahren seine Brust umklammerte, doch noch ein Puls schlug?

6

Simone lehnte am Fenster ihrer stählern blinkenden Küche und starrte in den ausgedehnten Garten, der das Haus wie ein U umrahmte. Frisch gestutzte Büsche grenzten das Grundstück zur Straße hin ab, in der sich Häuser an Häuser reihten, alle ähnlich gepflegt, analog der Bauvorschriften in weißen Tönen, mit maximal 35° geneigtem roten Satteldach, anderthalb Meter vom Gehsteig entfernt. Wie brave Soldaten in Reih und Glied, zeugend vom Wohlstand der Bewohner, der selbstredend nur in eine Richtung zeigen durfte. Denn bröckelte etwas davon ab, dann bekam die Vorstadtidylle Risse, die das Bild hässlich machten, was dem Wiederverkaufswert äußerst abträglich war und somit tunlichst zu vermeiden.

Sie lachte auf und nahm einen weiteren Schluck. Rotwein eignete sich hervorragend als Tröster, immer verfügbar, niemals vorwurfsvoll. Dies besorgte schon der Blick in den Spiegel, den sie deshalb ebenfalls zunehmend vermied. Oder der Blick auf ihr Glas in Relation zur Uhrzeit. Aber was besagten schon Spiegel oder Uhren? Völlig irrelevant, wenn man über den Sinn des Lebens nachdachte.

In letzter Zeit dachte sie öfter darüber nach, viel öfter, als der Umzug in die Idylle ihr versprochen hatte. Beziehungsweise, was sie sich davon versprochen hatte. Die kleine Wohnung in der Innenstadt... damals war ihr nicht bewusst, dass Zufriedenheit nichts mit Quadratmetern zu tun hatte. Jedenfalls nicht dauerhaft. Wenn sie allerdings die erbarmungslosen Statistiken las, die die Vorstadtbürger seit neuestem erschreckten, empfand sie sich als überheblich und ihre sentimentale Einschätzung als Jammern auf zu hohem Niveau. ,Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brühühüder....' Wieso fielen ihr seit neuestem ständig die Schmuddelkinder ein?

Der Sinn des Lebens bestand jedenfalls nicht im Anhäufen von Geld, obwohl es äußerst unangenehm war, keins zu haben. Sie erinnerte sich an Zeiten, in denen sie jeden Cent umdrehen musste, damals vor der großen Katastrophe. Nicht dass sie dabei ausgesprochen glücklich war, jedenfalls nicht bewusst, aber danach war von Glück jedenfalls eine sehr lange Zeit nicht mehr die Rede. Erst der Umzug in die Idylle machte den Begriff wieder salonfähig und einige Jahre gab ihr die damalige Entscheidung recht. Alex konnte in Ruhe aufwachsen und genoss alle Annehmlichkeiten eines gutsituierten Elternhauses. Paul war ein fürsorglicher Vater, es fehlte ihm an nichts. Und das war ihre Hauptantriebsfeder, wie die jeder durchschnittlichen Mutter. Zuerst das Wohl der Kinder, dann das eigene.

Und nun stand es schon wieder auf der Kippe. Sie nahm einen weiteren Schluck. Seit damals hatte sie sich nur auf sich selbst verlassen, vor allem finanziell. Von einem Mann abhängig zu sein war ihr ein Gräuel und überdies gefährlich, deshalb kam ihr das lukrative Angebot des Architekturbüros gerade recht. Es gehörte nicht Paul alleine, sondern war eine Gesellschaft, deren Angestellte sie wurde, insofern kein Problem. Der aktuelle Einbruch war global und konnte dem Geschäftsführer nicht angelastet werden. Als die ersten Aufträge storniert wurden, dachte sie sich noch nichts dabei, das war eben der Unsicherheit geschuldet, aber anstatt nachzulassen, wurde das Problem immer größer und neue Aufträge wurden erst gar nicht vergeben. Es mangelte an materiellem Nachschub jedweder Art, der Bau neuer Projekte kam ins Stocken und die Renovierung alter wurde zwangsläufig aufgeschoben.

Die Vollbremsung wirbelte ihr Leben gehörig durcheinander, ein Teil der noch erheblichen Ratenzahlungen für die Idylle wurde der Parität halber von ihr erbracht, ebenso die Rechnungen für Alex' Privatschule, ganz abgesehen von den Ausgaben für ihr elegantes Coupé und die sonstigen essentiellen Artikel des Vorstadtlebens, wie beispielsweise ihre Designerkleider. Da sie lediglich in zugegebenermaßen hohen Provisionen bezahlt wurde, was ihr damals attraktiv erschien, weil sie ihr Gehalt damit selbst steuern konnte, fielen die Zahlungen nun von einem auf den anderen Tag zur Gänze weg und sie musste ihre Ersparnisse angreifen, die aufgrund ihres Lebensstiles leider nicht üppig waren.

Sie ließ ihren Blick über die herrlichen Rosenstöcke wandern. Wie verschwenderisch sie blühten! Einmal im Jahr entfesselten sie ein Feuerwerk für Auge und Nase, alle Knospen brachen gleichzeitig auf und bezauberten mit immer neuen Farbharmonien den verzückten Betrachter. Jedes Jahr fragte sie sich halb im Ernst, ob es sich mit ihrem Leben wohl so ähnlich verhielt, aber erst jetzt dachte sie ernsthaft über den Rhythmus der Natur nach und wie ungesund ihre nonchalante Annahme, sie könnte sich über deren Regeln hinwegsetzen, im Grunde war.

Ein weiterer Schluck. Sie wollte nachgießen, stellte verblüfft fest, dass die Flasche bereits leer war und wurde durch das Dröhnen von Pauls Wagen vollends aus dem Konzept gebracht.

Fuck! Schon so spät?! Sie hatte nichts gekocht, dafür eine Flasche Wein getrunken. Sie suchte in ihrem Handy nach dem Pizzaservice und orderte drei ihrer Lieblingspizzen, schnappte sich ein Messer und rannte in den Gemüsegarten, um einen der Salatköpfe zu ernten, die Mayari hier liebevoll hegte. Aber nachdem sie ihre Haushaltshilfe auf unbestimmte Zeit beurlaubt hatte, oblag ihr dessen Pflege nun selbst und die Köpfe waren ungehindert ins Kraut geschossen. Das erste Zeichen der Vernachlässigung? Wenn sie es genau nahm, ganz sicher nicht das erste, bald würde der erste Riss im Gebälk sichtbar und die Nachbarn zu Recht empört.

Empörte Nachbarn! Anständig empörte, aufrechte Nachbarn!

„Haha! Hahaa!“

Paul starrte irritiert zu ihr hinüber. Seine Frau kniete über den Salatköpfen und schrie vor Lachen.

„Simone?“

„Ich komme, Schatz!“

Er schüttelte den Kopf, diesen kieksigen Tonfall hatte er noch nie gehört.

Vor dem Tor hielt ein Wagen und gleich darauf klingelte jemand.

„Gehst du bitte hin? Das ist der Pizzabote, ich hatte heute solchen Appetit auf Pizza!“

Sie huschte mit einem pyramidenförmigen Salat und erdigen Händen an ihm vorbei.

In der Küche entsorgte sie als erstes die Flasche und schnitt dann flink den Riesenkopf in Stücke, befreite ihn von der Erde und mischte eine Vinaigrette mit Knoblauch, Frühlingszwiebeln und viel Petersilie. Nur hinein, noch ein Stück Knoblauch, das würde den Weingeruch überdecken. Sie hatte sich schon wieder im Griff, keiner würde etwas merken, schließlich war sie keine Anfängerin.

Im Wohnzimmer, dessen gesamte Fensterfront zum Garten hinauszeigte, ließ sich Paul in einen Sessel fallen. Er rutschte eine Weile herum, denn Bequemlichkeit und Designermöbel gingen seiner Meinung nach selten konform, dann gab er es auf. Sein Rücken schmerzte, aber das war noch das kleinste Problem. Diese verdammte Pandemie!

Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angezündet oder noch besser einen Joint, aber Rauchen im Haus war strengstens verboten. Simone würde ihn köpfen, wenn er es wagte, ihre edlen Seidenvorhänge einzunebeln. Und eine Diskussion mit seiner Frau war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte und wäre es auch nur wegen seiner Qualmerei.

Sie kam ihm seltsam fremd vor dieser Tage, der harmonische Fluss ihrer Beziehung wurde durch unverhofft auftretende Katarakte behindert und das, obwohl Simone bislang nur ihr eigenes Problem kannte.

Er vergrub das Gesicht in den Händen. Die Situation war bereits prekär, die der Firma und in der Folge auch ihre private. Nun rächte sich, dass sie beide aus demselben Topf aßen. Simone hatte es als erste getroffen, er wusste, wie sehr sie es nach dem Zusammenbruch ihrer heilen Welt damals hasste, von ihm oder überhaupt irgendjemandem abhängig zu sein, aber er konnte ihr leider nicht helfen. Er wäre schon Gott dankbar, wenn er sich selbst helfen könnte, doch die ausbleibenden Aufträge, gepaart mit den ebenfalls ausbleibenden Ausständen, gruben seiner ursprünglich solide aufgestellten Firma langsam aber sicher das Wasser ab.

Er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, jedenfalls solange nicht, wie es unbedingt nötig war. Vielleicht geschah bald ein Wunder, die ganze Welt ließe sich impfen und die Wirtschaft erholte sich im Schnellgang. Zwar waren Wunder seiner Erfahrung nach nicht gerade an der Tagesordnung und die Grundvoraussetzung dafür, der Impfstoff, war auch nicht gegeben, denn der war derzeit genauso rar wie das Holz, das nun mal zum Bauen benötigt wurde. Beides ein Hinweis darauf, dass sich die Situation nicht so bald entschärfen würde. Er musste sich um eine Lösung kümmern, sonst ginge bald alles den Bach hinunter.

Und das war nur eins seiner Probleme. Das andere hatte nichts mit Geld zu tun, jedenfalls nicht primär, aber das musste warten. Er schlief schlecht, hatte Herzrhythmusstörungen und ständig Kopfschmerzen. Angst. Wie ein Damoklesschwert hing die Angst über ihm, Angst zu versagen, Angst, sein Heim zu gefährden, ihre heile Welt, ihr gesamtes Leben. Angst, seinem Sohn, der eben in der Tür auftauchte, das Ende ihres Lebensstiles ankündigen zu müssen. Davor fürchtete er sich am meisten. Alex, der so unbeschwert in den Tag hineinlebte, unbelastet von jeglichem Zweifel, so jung, so naiv und so vertrauensvoll. Ihn würde es am schwersten treffen, denn für ihn war es bisher immer nur geradeaus gegangen. Damals war er noch klein gewesen, viel zu jung, um sich zu erinnern und er hatte sich geschworen, den Jungen zukünftig vor allem Ungemach zu bewahren, auch wenn dies vermutlich ein hoffnungsloses Unterfangen war.

Er stemmte sich hoch und schenkte sich ein Glas Portwein ein, nachdem er festgestellt hatte, dass der leichte Trollinger, den er am Abend zuvor aus dem Keller geholt hatte, bereits getrunken war.

„Wer säuft denn hier wie ein Bürstenbinder?“, grummelte er, um Alex zum Lachen zu bringen. Es funktionierte.

„Wer säuft?“

„Das frag ich dich“, er fuhr durch die verwuschelten Locken seines Sohnes. „Du wirst täglich länger, kann das sein?“

„Das haben Fünfzehnjährige so an sich, Paps. Was gibt’s zu essen?“

„Deine Mutter hat Pizza bestellt.“

„Nice. Aber Pizza? Wir ernähren uns gesund!“, piepste Alex und feixte.

Paul schlurfte auf die Terrasse hinaus und genoss für einen Moment die Wärme der massiven Holzdielen. Er liebte Holz, es fing die Sonne ein und fühlte sich lebendig an. Das gesamte Haus bestand aus Holz, es atmete verlässlichen Bestand und verhaltenen Luxus. Wie lange noch?

Plötzlich kamen ihm die Römer in den Sinn. Die Dekadenz war ihnen zum Verhängnis geworden. Fasziniert betrachtete er die Lichtreflexionen in dem dunklen süßen Wein, der viel zu teuer war, um wie ordinäres Bier im Stehen hinuntergekippt zu werden. Geschweige denn zur Pizza.

Der Niedergang hatte begonnen.

Alex fand, sein Vater sähe schon wieder aus, als hätte er zu wenig geschlafen. Aber dessen Erklärung, er wäre angestrengt, weil er sehr viel zu organisieren hätte, fand er plausibel. Logisch, man bekam ja kaum Baustoff derzeit. Sicher musste er die halbe Welt abtelefonieren, um an Holz zu kommen. Da die Firma nicht nur plante, sondern manche Projekte bis zur Fertigstellung begleitete, oblag es ihm, Material und Handwerker zu generieren. Nun ja, es war schließlich sein Job. Er würde schon wissen, was zu tun war.

Nach dem Essen ließ er sich auf sein Bett fallen und rief Noah, seinen besten Kumpel, an.

„Was geht?“

„Langsam geht mir diese Kacke auf die Eier, Mann. Ich will mal wieder Tennis spielen.“

„Jau. Und im Club waren wir auch schon hundert Jahre nicht mehr.“

„Die können uns nicht ewig einsperren.“

„Doch können sie. Liest du das Gelabere der Politiker nicht? Noch mindestens vier Wochen!“

„Alter! Wir werden graue Haare haben, wenn sie uns rauslassen, Spinnweben am Bart und fett wie die Schweine sein!"

Alex lachte. „Stimmt. Und stinken wie Pest. Duschen überflüssig.“

„Meine Alten kloppen sich schon fast, weil wir dauernd aufeinander hocken und meine Schwester so ein Nervteil ist. Immer Liebkind mit Papi und Mami kann sich nicht durchsetzen. Ständig diskutieren sie über Erziehungsmaßnahmen, langsam nimmt das Ausmaße an, ey.“

„Echt? Bei meinen ist alles easy. Zocken wir?“

Alex ließ das Handy fallen und widmete sich wieder der Playstation. Die Leute fingen an zu spinnen, selbst vor seiner Haustüre. Zum Glück war die fest verschlossen.

Ein wohlig distanzierter Gruselschauer rieselte seinen Rücken hinab, als schaute er sich gemütlich mit einem Bier auf dem Sofa eine Naturkatastrophe im Fernsehen an, die in einem entfernten Land das Leben seiner Bewohner verwüstete.

7

Die Schlange in dem engen Gang erschien endlos. Überall saßen Menschen auf Stühlen oder lehnten an der kahlen Wand.

„Hier geht’s zu wie im Jobcenter“, maulte Mike, der Praktikant, der sich, beladen mit einem Aktenstapel, durch die Leute zwängte. „Haben wir nicht ein Anmeldesystem? Ich dachte, zur Zeit dürften gar nicht so viele Besucher auf einmal kommen?“

Prustend ließ er den Stapel auf einen Tisch fallen, der bereits zur Hälfte mit ähnlichen Stapeln bedeckt war. Am Schreibtisch saß niemand, deshalb streckte er seinen Kopf ins angrenzende Vorzimmer.

„Nicole? Wieso haben wir so viele Klienten?“

Die hübsche Blondine, die im Eiltempo auf einer Tastatur herumhackte und dabei unbeirrt auf ihren Monitor starrte, antwortete nicht.

Er kam näher und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Nickiiii, warum stehen da draußen...?“

„Pfoten weg!“

Er gehorchte grinsend. „Wo ist sie?“

„IT.“

Aha. Frage beantwortet. Vermutlich spann das System mal wieder.

„Der Herr Gesundheitsminister kriegt einen Anfall, wenn er hier hereinplatzt“, konstatierte er süffisant und lehnte sich gemütlich aufs Fensterbrett.

„ICH kriege gleich einen Anfall!“, hastig bemühte er sich um eine geschäftige Haltung, als seine Chefin herein rauschte.

„Frau Lorenz, draußen stehen zu viele Leute!“

„Tatsächlich? Vielen Dank für den Hinweis, das habe ich noch gar nicht bemerkt. Sie können gleich Abhilfe schaffen, indem Sie die Nummern von Hand verteilen und den Rest auf morgen vertrösten. Für heute höchstens noch zehn. Und immer schön Abstand halten!“

Seufzend griff sie zur obersten Akte und schlug sie auf.

„Was ist? Festgewachsen?“

Er hasste ihren Sarkasmus, aber die Aussicht, sich mit aufgebrachten Bürgern auseinandersetzen zu müssen, hasste er noch viel mehr.

„Die warten alle schon eine Ewigkeit.“

„Na und? Ich kann nichts für das dämliche System, das alle fünf Minuten ausfällt. Sie hätten Informatik studieren sollen, damit wäre uns beiden mehr geholfen.“

Der Geräuschpegel vor der Tür schwoll abrupt an und mündete in wütendes Geschrei.

„Scheiße. Mike, gehen Sie hinaus und entschärfen Sie diesen Tsunami.“

Der Praktikant wich einen Schritt zurück und schnob wie ein verängstigtes Ross. Lorenz warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und riss die Tür auf.

„Wo ist das Problem?“

Die Leute brüllten wild durcheinander.

„Wir warten hier schon viel länger!“

„Der Typ hält sich für Cäsar! Kommt und siegt!“

„Mein Sohn ist verschwunden, du Idiot!“

„Wen wundert’s?“

„Halt die Fresse, sonst...!“

„Hier ist er sicher nicht, also nerv nicht herum.“

„Warum gehst du nicht zur Polizei?“

„Ruhe!“ Lorenz klopfte energisch gegen die Wand. „Es tut mir leid, wir hatten einen Systemausfall, deshalb konnten Sie sich nicht regulär anmelden. Das heißt aber nicht, dass wir die Besucher nicht kanalisieren müssen, Sie wissen das. Sie können heute nicht alle hierbleiben, unser Praktikant wird Ihnen die Nummern austeilen, in deren Reihenfolge wir Sie aufrufen. Leider sind auch viele Kollegen derzeit nicht verfügbar, wir haben einen ziemlichen Engpass, ich muss Sie wirklich um Verständnis bitten...“

„Ich kann nicht warten, mein Sohn ist verschwunden!“

„... und um Geduld. Mike?“ Sie warf einen Blick über die Schulter und dirigierte den widerstrebenden Praktikanten mit einem energischen Kopfrucken in Richtung der Besucher. Nachdem der zögernd damit begonnen hatte, Zettel auszuteilen, wandte sie sich an den schmächtigen Mann, der mit hochrotem Kopf und rollenden Augen versuchte, sich gegen ein aufgebrachtes Paar durchzusetzen, das ihn mit massiver physischer Präsenz abdrängen wollte. Die Frau beschwerte sich:

„Mir sin schon viel länger do. Der Typ maant, weil er am lautesten schreit, käm er als erschtes dran!“

„Okay. Sondieren wir die Lage. Ihr Kind ist verschwunden, sagen Sie? Haben Sie dies der Polizei gemeldet?“

Lorenz versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen, um die Wogen zu glätten. Die hektischen Flecken im Gesicht ihres Gegenübers erinnerten sie an die Bengalflammen der Polenböller kurz vor der Explosion. Im Übrigen kam er ihr vage bekannt vor, vermutlich hatte sie schon einmal das Vergnügen gehabt.

„Ja, natürlich. Dort komm ich ja grad her. Ich hab nicht den Eindruck, dass die sofort losziehen und ihn suchen."