Sammy - Gaby Strittmatter - E-Book

Sammy E-Book

Gaby Strittmatter

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Beschreibung

Nachdem Sammy am Ende des ersten Bandes seinem gewalttätigen Vater entkommen konnte und in Simones Familie eine liebevolle Aufnahme fand, beginnt der zweite mit einer Schreckensnachricht: Sammy kommt nicht aus der Schule nach Hause. Hat ER ihn sich zurückgeholt? Simone ist verzweifelt. Ihr Sohn vor Gericht, ihr Ehemann auf Abwegen und nach dem Drama um den Samurai muss sie nun auch noch um Sammys Leben fürchten.

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Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Autorin legt nach ihrem historischen Roman 'Emma - Der Geist der Wälder, der den Aufstand der Salpeterer im 18. Jh. thematisiert, mit dem Zweiteiler zum Samurai nun ein brandaktuelles Familiendrama vor, das zwei Randgruppen der Gesellschaft in den Fokus rückt: Obdachlose und Kinder, beide in ihren Augen sträflich vernachlässigt.

Mit spannenden Geschichten gesellschaftliche Probleme zu thematisieren, ist neben der Musik ihr liebstes Hobby, verbunden mit dem Wunsch, Leser und Zuhörer für eine kleine Weile in eine andere Welt zu entführen. Neue Projekte kann man ihrer Homepage www.milller-ebersbach.de entnehmen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

Warriors, willing to give their lives for what seems to be a forgotten word: Honor

(Zitat aus dem Film: Last Samurai)

„Sie inspirieren uns mit ihrem Geist über Jahrhunderte hinweg, um uns vor dem Abgrund zu bewahren?“

„Ja.“

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Glossar Jugendsprache

1

Fuck. Wann würde der Typ endlich in sein Büro verschwinden? Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie hinter den Ständer mit den schwarzen Daunenjacken schlenderte und so tat, als würde sie sich für Preise interessieren. Sie kannte seine Gewohnheiten; nach seinen Kontrollrunden zog er sich gern für eine Weile in sein Kabuff zurück, wahrscheinlich, um sich Pornos anzuschauen, so, wie sie ihn einschätzte. Sie hatte Erfahrung. Trotzdem war er ein Risiko. Doch die Jacken waren der Hammer, zu groß, aber das war eher ein Vorteil. Der Winter stand vor der Tür, die Nächte wiesen bereits beissend darauf hin. Sie musste eine haben.

Es konnte nur funktionieren, wenn sie schnell war. Die Automatiktüren öffneten sich viel zu langsam, um darauf zu warten, nachdem die Sicherungsantenne den Alarm ausgelöst hatte. Sie musste den Moment abpassen, in dem jemand hindurchging, nur dann hatte sie eine Chance. Draußen war sie dem fetten Typ allemal überlegen.

Doch vermutlich hatte er auch Erfahrung, denn er sah schon das zweite Mal misstrauisch zu ihr herüber. Sie trat ein paar Schritte zur Seite und streifte desinteressiert einen Stapel T-Shirts. Fuck, es wurde kompliziert, er hatte sie bereits auf dem Schirm. Aber sie brauchte die Jacke dringend.

Der Laden war relativ leer, viel zu wenige Kunden unterwegs. Wo waren die verfickten Wohlstandsbürger, wenn man sie schon mal brauchte? Sie hatte sich den frühen Nachmittag ausgesucht, weil zu der Zeit normalerweise viele Mütter mit kleinen Kindern unterwegs waren, die überall herumwuselten, mords das Geschrei veranstalteten und den Typen voll beschäftigten. Heute waren keine da. Unentschlossen näherte sie sich wieder den Jacken. Sie waren sogar gefüttert. Wärme bedeutete Leben.

Sie zog eine vom Bügel, schlüpfte hinein und drehte sich vor einem Spiegel hin und her. Der Typ lehnte sich auf einen Kleiderständer und beobachtete sie jetzt ganz unverhohlen, grinste leicht. Du entkommst mir nicht, sollte das heißen. Vermutlich gewann er das Katz-und-Maus-Spiel viel zu oft. Doch sie war ein ernst zu nehmender Gegner, der Wichser würde sich wundern. Wenn nur endlich jemand hereinkäme!

Sie probierte die nächste Jacke und dann noch eine. Die war es, wie für sie gemacht. Sie reichte bis zu ihren Knien, die spitz und rot aus der löchrigen Jeans hervor traten. Sie sah darin aus wie ein Kind in einem Wanderzelt, aber das spielte keine Rolle. Sie würde ihr helfen, die kommenden Monate zu überleben. Doch ihre Chancen schwanden dahin, denn jetzt setzte er sich in Bewegung, steuerte auf einen weiteren Kleiderständer zu, der wesentlich näher bei den Jacken stand.

Fuck! Fuck!! Hektisch sah sie sich um, konnte niemanden entdecken. Sollte sie es doch riskieren? Aber der Abstand war zu gering, er würde sie einholen, bevor die dämlichen Türen aufgingen. Tränen der Wut schossen in ihre Augen, sollte ihn doch der Schlag treffen!

Eine aufgebrezelte Vorstadtbitch schälte sich hinter ihr aus einer der Umkleidekabinen, stakste an ihr vorbei und nebelte sie ein in Schwaden aufdringlichen, süßlich riechenden Parfüms. Sie stöckelte zu dem Typ hinüber und legte die Kleider, die sie über dem Arm trug, auf den Ständer. Er trat einen Schritt zurück und ihr Wunsch ging in Erfüllung. Zwar traf ihn nicht der Schlag, aber er begann zu niesen, als würde es ihn in Stücke reißen. Einmal, zweimal, er hörte nicht mehr auf. Verblüfft starrte sie zu ihm hinüber, dann warf sie sich herum und rannte auf die Türen zu. Der Alarm piepte wie verrückt und der Typ rannte los, taumelte bei jedem Nieser, näherte sich trotzdem beängstigend schnell. Geh auf, du verfickte Türe! Quälend langsam wurde der Spalt in die Freiheit breiter, sie quetschte sich durch, als er bereits nach ihr griff. Sie spürte seine Faust in ihrem Nacken, er riss sie an der Kapuze zurück.

Quietschend trat sie nach ihm, aber gegen diesen Schrank würde sie nichts ausrichten können, sie sah es kommen. Doch dann wurde sie eingesprüht, er nieste und schrie sich dabei die Seele aus dem Leib, ließ sie einen winzigen Moment lang los. Das reichte aus. Sie machte einen Satz und rannte die Straße hinunter, er folgte ihr brüllend, aber er hatte verloren. Er würde sie nicht einholen, sie hatte jahrelange Übung, könnte vermutlich bei der Olympiade mitlaufen. Bereits drei Straßen weiter war von ihm nichts mehr zu sehen. Grinsend bog sie auf den kleinen Pfad ein, der in den Park führte und ließ sich auf eine versteckte Bank hinter einem ausladenden Haselnussstrauch plumpsen. Der Wichser würde toben vor Wut, sofern er je wieder mit dem Geniese aufhören würde. Haha, der Vorstadtschnepfe schuldete sie echt Dank, war doch wenigstens zu etwas gut. Zufrieden strich sie über die dicken Ärmel. Heute war ein guter Tag.

Am Rand ihres Gesichtsfeldes erschien ein kleiner Junge, der verspielt einen Fußball vor sich hertrieb. Weiter hinten tauchte ein Mann aus einem Busch auf, schaute sich um, fixierte den Jungen und näherte sich ihm geräuschlos wie eine jagende Wildkatze. Der Kleine sah ihn erst, als es zu spät war. Pech für ihn, der Alte war ein Wichser erster Güte, das erkannte sie auf hundert Meter Entfernung. Sie verfügte über einen reichen Erfahrungsschatz.

Gleichgültig sah sie zu, wie der Junge erstarrte. Der Mann packte ihn am Arm und zog ihn mit sich fort. Sie blickte sich um. Keine hilfsbereiten Wohlstandsbürger in Sicht. Typisch. Wenn man mal jemanden brauchen könnte, war keiner da. Uninteressiert zuckte sie mit der Schulter. Der Kleine sah keiner rosigen Zukunft entgegen, aber wer rat das schon? Scheißegal, sie hatte genug mit sich selbst zu tun, konnte sich nicht um andere Leute kümmern.

2

„Alex! Bist du endlich fertig? Wir müssen los!“

Ungeduldig trippelte Simone von einem Fuß auf den anderen, bis ihr Sohn sich gemächlich die Treppe herunter bemühte.

„Du hast vielleicht die Ruhe weg! In einer halben Stunde beginnt die Verhandlung!“

Der Hinweis war überflüssig, seit Wochen fieberte er auf den Termin hin, schlief jeden Tag schlechter. In seinem Magen surrte ein Bienenschwarm, doch keinesfalls wollte er sich die Blöße geben, Schwäche zu zeigen. Sie hatten ihn genug gegrillt, ihm Vorhaltungen gemacht, wollten ihn gar zu einer Therapie schicken. Besser, sie gingen selber dorthin. Obwohl seine Mutter sich gefangen zu haben schien, seit der Rotzbengel bei ihnen wohnte. Aber sie wusste ja vermutlich immer noch nicht, dass ihr Mann seine Sekretärin vögelte. Ihr Mann, der früher sein Vater war. Aber daran durfte er jetzt nicht denken, bei dem Wort Vater’ drehte sich sein Magen endgültig um.

„Wo bleibt denn Sammy? Er hat doch heute keine Nachmittagsschule. Har eigentlich irgendjemand in diesem Haus ein Zeitgefühl?“

Ihre Stimme klang schrill, sie war nervös. Verständlich. Er schluckte und starrte auf den Küchentisch, auf dem der unangetastete Teller mit den Nudeln stand, die sie für den Rotzbengel schon vor einer ganzen Weile aufgewärmt hatte.

„Die werden schon wieder kalt. Aber wir können nicht länger warten, sonst kommen wir zu spät!“

„Er wird schon noch auftauchen“, brummte er und verzog ironisch das Gesicht. Wo sollte der Bengel sonst auch hin?

Simone warf ihm einen scharfen Blick zu. Zum Glück war keine Zeit mehr für Diskussionen. Er folgte ihr zur Garage hinaus, setzte sich neben sie und verstöpselte seine Ohren. Sein Herz schlug einen wilden Rhythmus, es fühlte sich an, als wollte es demnächst aus seinem Brustkorb hüpfen. Seine Mutter öffnete das Gartentor, warf einen besorgten Blick die Straße hinunter und bog dann seufzend in die andere Richtung ab.

„Ich möchte bloß wissen, wo er ist. Ob er noch mit Benni im Park spielt? Eigentlich weiß er, dass er zuerst nach Hause kommen soll.“

Sie murmelte weiter vor sich hin. Alex sah es an ihren Mundbewegungen. Es interessierte ihn nicht, was Sammy trieb. Er hatte seine eigenen Probleme. Einen ganzen Berg von Problemen sogar, er hatte aber festgestellt, dass er verrückt wurde, wenn er alle auf einmal realisierte. Über das größte würde in der nächsten Stunde entschieden werden. Nichts weniger als seine Zukunft hing davon ab. Die Tatsache, dass er nicht wie Noah in U-Haft genommen, sondern nur mit Auflagen belegt worden war, beruhigte ihn wenig, denn wer wusste schon, was der Staatsanwalt heute noch alles auspacken würde. Und die ganze Welt würde nun erfahren, dass er an dem Überfall beteiligt gewesen war. Das war es, was den Leuten im Gedächtnis bleiben würde, nicht, welche Rolle er dabei gespielt hatte. Seinen Kumpel hatte er seit dessen Festnahme nicht mehr gesehen, nur seine Statements gelesen, jedenfalls solange, bis sie ihm das Handy weggenommen hatten.

Vor dem Gerichtsgebäude hielt Simone an, forderte ihn auf, auszusteigen und fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz weiter, während Alex langsam auf den Eingang zuging. Seine Knie fingen plötzlich an zu zittern und gaben bei jedem Schritt nach. Die Bilder jener Nacht stürzten auf ihn ein und begruben ihn in einem wilden, roten Strudel, die Schreie des roten Penners gellten so laut in seinen Ohren, dass er stehenblieb und seine Fäuste darauf presste.

„Alex!“

Verwirrt riss er die Augen auf. Paul stand vor ihm. War er also doch gekommen, obwohl es hieß, er hätte ein Meeting mit einem neuen Kunden, das er nicht ausfallen lassen konnte. Paul, der früher sein Vater war und ihn getröstet hatte, nachdem sich sein richtiger Vater für ihn umgebracht hatte. Aarrrgh! Nur nicht daran denken!

„Schön, dass du es geschafft hast“, Simone näherte sich mit Riesenschritten. Kurz lächelte sie Paul zu. Boshaft dachte Alex, dass ihr das Lachen noch vergehen würde, wenn sie drauf kam, was ihr Mann hinter ihrem Rücken so alles trieb. Bisher war sie ahnungslos, er hätte diesbezügliche Thematisierungen sicher mitbekommen. Auch Paul ahnte nicht, dass er ihn mit der Bitch gesehen hatte. Noch war ihm nicht klar, was er mit diesem Wissen anfangen sollte. Vielleicht könnte er ihn eines Tages sogar damit erpressen, haha.

Sagenhaft, was binnen weniger Monate aus dieser Familie geworden war. Noch am Anfang des Sommers war er wie eine Bienenkönigin von seiner liebevollen Umgebung genährt worden, die Probleme der Welt zogen diffus am Horizont vorbei, zwar sah er sie, aber sie tangierten ihn nicht. Behütet und sicher thronte er in seinem Zimmer, mit keiner schwierigeren Frage als dem Kampf gegen die Langeweile konfrontiert. Und nun? Er schnaubte ironisch. Seine Kindheit war innerhalb weniger Wochen zu Ende gegangen.

„Träumst du?“ Seine Mutter stieß ihn an. „Frau Durlinger ist da.“

„Hallo Herr und Frau Winterstätter! Alex.“

Seine Anwältin steckte in einem eleganten blauen Hosenanzug mit weißer Bluse, die blonden Haare hochgesteckt. Wäre der Anlass ein anderer gewesen, hätte er sie heiß finden können, aber so schweiften seine Gedanken nach flüchtiger Bewunderung sofort wieder ab.

Im Treppenhaus wimmelte es vor Leuten, darunter etliche Fotografen, wie Alex entsetzt feststellte. War seine Verhandlung etwa von nationalem Interesse? Die Durlinger hatte ihm versichert, dass Verhandlungen vor dem Jugendschöffengericht zum Schutz der Angeklagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Was wollten dann all die Leute hier?

Die gleiche Frage stellte sich auch die Richterin, die, nachdem sie herein gerauscht war, stirnrunzelnd den Blick durch ihren Gerichtssaal schweifen ließ, der bis zum letzten Platz besetzt war.

„Was soll denn das? Dies ist ein Jugendstrafverfahren, kein Rummelplatz!“

Sie drehte sich um und wies den Gerichtsdiener an, die Leute umgehend zu entfernen. Nur die Angehörigen durften bleiben.

„Hoch lebe die Demokratie, was?“

Grimmig fixierte sie den Sprecher, der inmitten einer Gruppe junger gutgekleideter Männer stand, deren blautätowierte Hälse sich in seltsamem Gegensatz von den konservativen Krägen abhoben. Die Fraktion hatte sie schon öfter gesehen und die Erinnerung daran schürte ihren Zorn.

„Das Strafgesetzbuch sieht vor, dass Jugendliche vor der Öffentlichkeit geschützt werden müssen. Umgekehrt gilt das natürlich genau so.“

Sie kräuselte den Mund und warf einen strafenden Blick zu Alex hinüber, der inmitten der Clique saß, in die Noah ihn damals zum Zwecke des Pennerkloppens eingeführt hatte. Beschämt senkte er den Kopf. Was für ein idiotischer Schwachsinn! Zu seiner Verteidigung konnte er nur seinen damaligen Zustand anführen, der unter anderem aus dem Anblick Pauls mit der Bitch resultierte. Aber das wollte er hier nicht erzählen, konnte er seiner Mutter nicht antun. Trotz allem, was sie ihm zugemutet hatte. Einschließlich des Rotzbengels, mit dem er jetzt unter einem Dach leben musste.

Noah war schuld, er hatte ihn in den ganzen Schlamassel hineingezogen. Noah, sein Kumpel, mit dem er aufgewachsen war und der sich in den letzten Monaten offenbar zu einem Rechtsextremisten entwickelt hatte, obwohl Alex gewisse Argumente durchaus nachvollziehen konnte. Aber niemals Gewalt. Wütend starrte er zu ihm hinüber, der am Ende der Bank saß und unverständlicherweise einen weit weniger besorgten Eindruck machte. Zur Begrüßung hatte er ihn gar fröhlich angegrinst.

Der Staatsanwalt riss ihn aus seinen Gedanken. Nachdem jeder seine Personalien angegeben hatte, verlas der nun die Anklageschrift, schilderte den Überfall auf die Obdachlosen und die Rolle, die jeder einzelne dabei gespielt hatte, wobei dies von untergeordneter Bedeutung war, denn, wie die Durlinger ihm erklärt hatte, zählte die gemeinschaftliche Absicht. Seine Anwältin hatte ihm auch erklärt, dass dies der Punkt war, der ihr ein wenig Sorgen bereitete, denn die Richterin und die beiden Schöffen konnten durchaus der Meinung sein, dass ihn genauso viel Schuld träfe, auch wenn er selbst nichts getan, nur dabei gestanden hatte. Die Clique war der gemeinschaftlichen Körperverletzung angeklagt und wurde einheitlich nach demselben Paragraphen bestraft.

Der Staatsanwalt erklärte mürrisch, dass die Todesfolge in diesem Fall ungeahndet bleiben musste, weil nicht zugeordnet werden konnte, wessen Tritte oder Schläge letztlich den Tod Strassers verursacht hatten. Zu ihrer Verteidigung hätten die Angeklagten außerdem den vorausgegangenen Angriff Löbaus herangezogen.

Der Samurai gegen alle. Alex fühlte heiße Tränen aufsteigen, warf den Kopf zurück und hustete. Wieder musterte ihn die Richterin.

Nun wurde der erste Zeuge aufgerufen. Alex erstarrte. Das war Mödinger, der Polizist, der den Irren am Wehr verhaftet und im Getümmel wieder verloren hatte. Die Erinnerung überfiel ihn mit solcher Wucht, dass er schwankte. Er hing über den Steinen, einige Meter über den scharfkantigen Felsbrocken, und klammerte sich verzweifelt an den dünnen Ast, der in der nächsten Sekunde brechen würde. Dann wurde er plötzlich emporgerissen und ein Körper fiel neben ihm in die Tiefe. Der Samurai. Er hatte ihn angelächelt. Bis heute fragte er sich, ob dies Einbildung gewesen war. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte er ihn angelächelt, bevor sein Körper auf den Findlingen zerschellte. Denn was sollte sonst mit ihm passiert sein, die roten Blasen, die in kreisenden Strudeln davongetragen wurden, ließen keinen anderen Schluss zu. Sie hatten ihn nie gefunden, den Mann, der sich für ihn geopfert hatte. Seinen Vater.

Er schnappte nach Luft. Sein Herzschlag dröhnte wie die Trommel einer Sträflingsgaleere. Ohne nachzudenken, schrie er zu dem Polizisten hinüber:

„Sie hätten den Freak niemals loslassen dürfen! Sie sind schuld an seinem Tod!“

Völlig unerwartet fing er an zu schluchzen, er kämpfte, schämte sich zu Tode, doch er hatte keine Kontrolle mehr. Simone sprang auf, seine Anwältin ebenfalls, beide versuchten, auf Alex einzureden.

„Äh, hallo?“, die Richterin erhob sich. „Wollen Sie sich bitte alle beruhigen? Setzen Sie sich wieder hin!“

Dies galt Simone, die von Paul auf ihren Stuhl zurückgezogen wurde.

„Erstens, junger Mann, redest du nur, wenn du etwas gefragt wirst und zweitens ist dein... äh, Vorwurf nicht von Relevanz für die heutige Verhandlung. Es geht hier nur um deine Schuld, falls du das vergessen haben solltest. Wollen Sie bitte nach vorne kommen?“

Sie winkte Durlinger zu sich und flüsterte mit ihr, während sich Alex verzweifelt bemühte, seine Fassung wieder zu erlangen. Simone warf ihm ein Päckchen Taschentücher zu. Mit zitternden Fingern zog er eines heraus und schnäuzte sich energisch. Sein Nachbar kicherte laut.

„Ruhe!“, die Richterin schickte einen bösen Blick herüber.

„Wow, der alte Drachen spuckt aber Feuer“, flüsterte Noahs Kumpel nicht übermäßig leise.

Mödinger sprang auf und war mit zwei Schritten bei ihnen.

„Du hältst jetzt den Rand, sonst sitzt du noch länger als ohnehin schon!“, fauchte er den Jungen an, der trotzig den Kopf zurückwarf, aber keinen weiteren Kommentar abgab.

„Alex, ich verstehe dich. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann es nicht ungeschehen machen. Und hier ist nicht der richtige Rahmen, um darüber zu sprechen. Du musst dich zusammennehmen, es geht jetzt um dich!“ Er fasste ihn an beiden Armen und sah ihm eindringlich in die Augen.

Ungläubig schnappte die Richterin nach Luft.

„Ich glaube es ja nicht! Was erlauben Sie sich alle? Dies ist eine Gerichtsverhandlung, keine verdammte Therapiesitzung! Setzen Sie sich sofort wieder hin!“ Sie hieb mit einer Akte auf den Tisch. „Der Nächste, der ungefragt spricht, wird aus dem Saal entfernt!“

Mödinger warf ihr einen finsteren Blick zu und begab sich zurück auf seinen Stuhl. Die Jungs aus der Clique grinsten, wie Alex aus den Augenwinkeln feststellte, zogen es aber vor zu schweigen. Ihm war es egal. Er kannte die Typen nicht und wollte sie auch nie wiedersehen.

Mödingers Kollege führte jetzt das Video vor, mit dessen Hilfe die Polizei zuerst Noah und ihn und später auch die anderen gefunden hatte. Er kniff die Augen zu und presste die Fäuste auf die Ohren, doch abgesehen von den Geräuschen, die dennoch sein Gehirn erreichten, traf ihn das betonschwere schwarze Schweigen, das dem Film folgte, wie ein Felsbrocken.

Schließlich ergriff der Staatsanwalt wieder das Wort.

„Von den drei Männern, die hier verprügelt wurden, ist nur noch einer am Leben“, er zog seine Notizen zu Rate. „Franz Strasser kam durch den Angriff zu Tode und Thomas Löbau verstarb später in einem anderen Zusammenhang, doch auch er wurde von den Jugendlichen schwer verletzt. Die Krankenberichte liegen Ihnen vor, Frau Vorsitzende. Überlebt hat nur Herr Laurentz von Bettin, der hier aber nicht als Nebenkläger auftreten wollte.“

Alex spürte ein Brausen in den Ohren wie damals bei seinem ersten Tauchgang im Sportbecken, als er die letzten Ringe nur noch unter größter Anstrengung heraufholen konnte. Who the fuck war Laurentz von Bettin? Der Clochard??

Durch das Rauschen hindurch hörte er dem gestikulierenden Staatsanwalt zu, der die Schuld jedes Einzelnen anhand des Videos beschrieb, ihnen andererseits ihre Jugend und zumindest einem seine bisherige Unbescholtenheit zugute hielt, was angesichts der Tatsache, dass sie Kaiser Wilhelm durch Tritte und Schläge auf dessen Kopf getötet und den Clochard und den Samurai schwer verletzt hatten, eher lächerlich anmutete.

Dann war er an der Reihe. Durlinger erhob sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie die einzige anwesende Anwältin war. Hatte Noah keinen Verteidiger? Sein Vater konnte sich ganz sicher einen leisten. Durlinger legte mit sanfter, aber eindringlicher Stimme dar, dass Alex keine Ahnung gehabt hätte, worauf das sogenannte Pennerkloppen hinauslaufen würde und sich, wie das Video auch bewies, nicht an der Gewaltorgie beteiligt hatte. Er wäre viel zu schockiert und auch verängstigt gewesen, um irgendwie eingreifen zu können und hätte, da er die Jungen erst an diesem Abend kennengelernt hatte, nachvollziehbar keinerlei Einfluss auf sie gehabt. Zudem hätte er einen Anwohner bemerkt, der sie gesehen und sofort die Polizei gerufen hatte. Das stimmte nicht, aber widerlegen konnte es auch niemand. Alex hatte den alten Mann nicht telefonieren sehen, es nur angenommen. Glücklicherweise hatte er recht behalten.

Die Richterin betrachtete ihn nachdenklich. Die Schöffen flüsterten kurz miteinander. Durlinger setzte sich wieder und schickte einen kurzen, aufmunternden Blick zu Simone hinüber.

Nun war nur noch Noah übrig. Sein Vater, der neben Paul saß, räusperte sich laut und nickte einem Mann zu, der sich erhob und dem Staatsanwalt ein Dokument brachte, das dieser missmutig anstarrte.

„Frau Vorsitzende, Herr Brandt hat der Jugendgerichtshilfe einen Antrag auf Schadensausgleich vorgelegt, der leider erst jetzt zur Einigung kam. Er bittet, dem Strafmaß für Noah seinen bislang einwandfreien Lebenswandel, die Monate des Arrests und diesen Schadensausgleich entgegenzuhalten. Er ist, hrm... erheblich. Sein Sohn bereut die Tat zutiefst und wird seine Strafe akzeptieren. Selbstverständlich wird er sich bei dem Opfer persönlich entschuldigen.“ Er reichte das Dokument der Richterin weiter, die es stirnrunzelnd entgegennahm.

Ein Raunen ging durch den Saal, die verbliebenen Angehörigen schauten sich überrascht an. Man konnte sich freikaufen?

„Noah Brandt. Bitte steh auf.“ Die Richterin musterte ihn von Kopf bis Fuß.

„Du hast das letzte Wort und kannst deine Sicht der Dinge darlegen.“

„Natürlich.“

Noah hatte es immer geliebt, im Mittelpunkt zu stehen, noch nie ein Problem mit einer Präsentation gehabt wie Alex. Auch jetzt kam er ihm vor, als trüge er ein Referat zur Bekämpfung des Klimawandels vor, eloquent und mit dem richtigen Quäntchen angemessener Zerknirschung, nur dass es sich hierbei nicht um das Wetter, sondern ein Vergehen handelte, das laut seiner Darstellung leider im Eifer des Gefechts passiert und selbstverständlich nie so beabsichtigt gewesen war. Er erzählte, dass er einige Zeit zuvor von einem Obdachlosen attackiert worden war. Hier unterbrach ihn die Richterin und fragte, ob er dies bei der Polizei angezeigt hätte. Er verneinte, weil er nicht groß verletzt worden war. Aber der Obdachlose hätte ihn beleidigt und angespuckt und seinen Hund auf ihn gehetzt. Deshalb wäre er sehr wütend geworden, als Herr Löbau auf sie alle losgegangen war, wie man im Video ja gut erkennen könnte und hätte es leider mit seiner Verteidigung übertrieben. Es täte ihm außerordentlich leid, die Vorgänge dieser Nacht würden ihn nun sein Leben lang verfolgen.

Nach seiner Rede schlug er die Augen nieder und wartete demütig. Alex starrte ihn fassungslos an. Sein Kumpel musste Politiker werden, sofern dies hier glimpflich für ihn ausging. Er nahm Noah seine Reue keine Sekunde lang ab, sicher ärgerte er sich nur darüber, dass die Gesellschaft seinen Beitrag für den Steuerzahler, wie er es nannte, nicht nur nicht honorierte, sondern ihn auch noch deswegen verklagte. Aber auf dieses Argument hatte er wohlweislich verzichtet.

Die Richterin räusperte sich.

„Gut. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Bitte warten Sie draußen, Sie werden zur Urteilsverkündung wieder hereingerufen."

Noah und die anderen aus der Clique wurden hinausgeführt. Alex tappte auf steifen Beinen zu der steinernen Brüstung und starrte hinunter in die Eingangshalle.

Die Eltern der anderen Jungen erhitzten sich über das Angebot von Noahs Vater. Der wandte sich angewidert ab und gesellte sich zu Simone und Paul.

„Jeder hat diese Möglichkeit."

Simone betrachtete ihn stumm. Welche Summe wurde wohl als angemessen für den Tod eines Menschen angesehen? Zwar hatte sich Noah nicht an den tödlichen Tritten auf Strasser beteiligt, aber den Tod des Clochard sehr wohl billigend in Kauf genommen. Und jetzt wurde Alex, der nachweislich gar nichts getan hatte, womöglich hatter bestraft als Noah? Sie schnaubte und sah fragend zu der Anwältin.

Durlinger lächelte.

„Ich glaube, Sie müssen sich keine großen Sorgen machen."

Nach einer Stunde, die Alex vorkam wie eine Woche, wurde das Strafmaß verkündet. Drei aus der Clique, die bereits vorbestraft waren, bekamen drei Jahre, einer eins auf Bewährung und Alex wurde mit Sozialstunden belegt, die er im Männerwohnheim ableisten sollte.

Noah wurde mit der Auflage, einen Antiaggressionskurs zu absolvieren, freigesprochen. Triumphierend grinsend marschierte er an der Seite seines Vaters hinaus.

Alex konnte nichts mehr empfinden. Er war leer wie ein ausgegossener Eimer. Nicht einmal, als seine Mutter, nachdem sie die Haustür geöffnet und „Sammy?“ gerufen hatte, in die Küche gestürmt war, den unberührten Teller angestarrt hatte, in das Zimmer des Rotzbengels gerannt und völlig aufgelöst wieder herausgekommen war.

Wo bin ich?

Warum?

Er!

Angst

3

„Vorsicht!"

Ärgerlich riss die Pflegerin den Rollstuhl zurück. Ihr Patient fiel nach vorne, sie packte ihn geistesgegenwärtig an den Schultern und konnte gerade noch verhindern, dass er herausgeschleudert wurde.

„Kannst du nicht aufpassen?"

Wütend schaute sie dem Kind nach, das mit einem riesigen Regenschirm bewaffnet um die Ecke gestürmt war, der sich beinahe in den Rädern verhakt hätte. Verlegen schaute es zurück und rannte weiter.

„Hoppla!"

„Ja, hoppla. Sorry, ich hoffe, ich habe Ihnen nicht weh getan?"

Sie beugte sich vor und schaute ihm besorgt ins Gesicht. Er lächelte sie freundlich an.

„Nein."

„Na, Gott sei Dank. Diese Kinder heutzutage haben keinerlei Benehmen mehr. Nicht einmal mehr eine Entschuldigung bekommen sie über die Lippen."

Sie schob den Rollstuhl unter die verglaste Pergola, auf deren Dach der Regen prasselte. Es hörte sich an, als wollte der Himmel mit Schrotkugeln auf sie schießen.

Ihr Patient schaute nach oben.

„Vor der Strafe kann man sich nur eine Zeitlang schützen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, man bliebe ewig unbehelligt."

Neugierig schaute sie ihn an.

„Wie meinen Sie das? Wurden Sie bestraft?"

Verwirrt fuhr er sich über die Stirn.

„Ich weiß nicht."

Sie lächelte nachsichtig. Er litt unter einer Amnesie, ganz abgesehen von seinen sonstigen Verletzungen, die erheblich gewesen waren, aber bereits abheilten. Er würde sich erholen, auch sein Gedächtnis konnte irgendwann zurückkommen, obwohl die Ärzte sich hier nicht festlegen wollten.

Mitleidig strich sie über seine Schulter.

„Das wird schon alles wieder. Machen Sie sich keine Sorgen. Der Mensch hält viel aus."

„Wirklich?"

„Wirklich. Möchten Sie ein bißchen Gesellschaft? Ich könnte Sie zu den Damen hinüberbringen."

Sie deutete auf das Kaffeekränzchen, das wie immer am größten der blauen Resopaltische abgehalten wurde. Drei Damen und ein Herr saßen dort und unterhielten sich angeregt.

'Kommunikation, sozialer Austausch ist genauso wichtig für die Genesung wie unsere Medizin', war das Mantra ihres leitenden Stationsarztes, das sie hundertprozentig unterstützte. Man konnte zusehen, wie es den Patienten von Tag zu Tag besser ging. Zumindest denen, denen es gelang, sich zu öffnen, was bei ihrem Lieblingspatienten leider nicht der Fall war. Auch jetzt wieder schüttelte er abwehrend den Kopf.

„Nein. Danke."

Sie musterte ihn von der Seite. Trotz der schrägen Narbe, die sich über eine Wange zog, empfand sie ihn als gutaussehend, vor allem wegen seiner nachdenklichen, tiefgründigen Augen. Sie bildete sich ein, eine verhangene Trauer darin zu entdecken, aber das war in seiner Situation nur normal. Er konnte sich an nichts erinnern, sein Leben vor seinem Aufwachen auf ihrer Station lag in völliger Dunkelheit. Sie wussten nicht, wer er war, seine Identität konnte bis heute nicht geklärt werden. Er war der geheimnisvolle Unbekannte, dessen Amnesie die Ärzte und auch die Schwestern faszinierte, vor einigen Monaten von einem Sportpaddler aus dem Fluss gezogen und in ihre Klinik eingeliefert worden. Er hatte keine Papiere bei sich, seine Kleider waren zerfetzt und seine Hüftknochen zerschmettert, außerdem war er schon halb ertrunken, ein Wunder nahezu, dass er überhaupt noch lebte.

Inzwischen hatte er zwei künstliche Hüftgelenke bekommen und die Bemühungen der Physiotherapeuten zahlten sich aus. Er würde wieder laufen können, auch wenn dies im Moment noch schmerzhaft war, denn außer der Hüfte waren einige Wirbel in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber auch dies würde sich laut der Ärzte wieder geben, wenn er regelmäßig seine Übungen machte. Nur die Amnesie bereitete ihnen Sorgen. Nach ihrer Ansicht dauerte sie schon viel zu lange an.

„Zumindest scheibchenweise müsste er sich doch inzwischen wieder an etwas erinnern können“, sagte die Pflegerin zu ihrer Kollegin, nachdem sie ihn auf seinen Wunsch in der Pergola stehen lassen hatte.

„Meinst du, er simuliert?“

„Warum sollte er?“

„Keine Ahnung. Vielleicht wollte er sich umbringen? Er sieht immer so traurig aus.“

„Hm. Spätestens, wenn seine Knochen wieder in Ordnung sind, muss er eh gehen. Dann soll sich die Stadt um ihn kümmern. Mit oder ohne Amnesie.“

Die Pflegerin zuckte nach einem letzten Blick auf ihren Patienten bedauernd mit den Schultern und verließ den Raum.

Er folgte ihr mit den Augen. Nett war sie und auch sehr hübsch, die Schwester Lisa. Immer sah sie ihn so mitleidig an. Wenn er nur wüsste, warum. Abgesehen von den Rückenschmerzen, die ihn manchmal noch heftig plagten, fühlte er sich wohl. Oder besser gesagt, neutral. Manchmal überfiel ihn ein diffuses Empfinden, als wäre dies nicht immer so gewesen. Aber er hatte keine Ahnung, warum. Und, um der Wahrheit die Ehre zugeben, es interessierte ihn auch nicht weiter. Er schwamm in einem warmen Kokon, wohl umsorgt, nichts konnte ihm jetzt noch geschehen. Warum sollte er sich also Sorgen machen? Es musste einen Grund geben, weshalb er sich nicht an seinen Namen und alles, was vor seinem Erwachen lag, erinnern konnte. Seine Seele wusste schon, was sie tat. Er hatte eine zweite Chance bekommen, die Chance auf ein neues Leben. Absolut keine Veranlassung, traurig zu sein.

4

„Weshalb wurdest du eigentlich nicht zu dem Prozess geladen?“, fragte der General. Er trat einen Schritt zurück, um unter den Arkaden Schutz vor dem prasselnden Regen zu suchen. Roderich heulte auf.

„Ach Gott, Hund, Verzeihung! Ich hab doch hinten keine Augen!“

Entschuldigend fuhr er durch den dichten Pelz. Das Tier winselte noch einmal und drängte sich dann schwanzwedelnd an ihn. Der Clochard warf ihm einen rügenden Blick zu.

„War der arme Vieh mit dir aller mitmachen muss. Und liebt dich immer noch. Vasteh der, wer will."

„Naja. Sammy ist ja nicht da. Das ist derjenige, den er liebt. Ich bin nur der traurige Ersatz."

Nachdenklich zwirbelte er seinen rotbraunen Bart, der ihm beinahe bis auf die Brust hinunter reichte.

„Also?"

„War also? War soll ick bei Jericht? Wenn ick die Burschen verklaje und verlier, denn hab ick die Kosten am Hals."

„Die haben doch das Video. Wieso solltest du verlieren?"

„Ach, du weeßt ja, wie et is mit de Jerechtichkeit. Und außerdem hab ick een sehr lukratives Anjebot bekommen."

Überrascht lüpfte der General eine Augenbraue.

„Angebot?"

Der Clochard kicherte in sich hinein.

„Ick bin jetzte een jemachter Mann. Hat sich jelohnt, verprüjelt zu werden."

„Hä?"

„Sie ham mir anjeboten, meene kaputten Knochen zu bezahlen. Schadensausgleich nennt sich der. Der Vater von eenem von de Burschen hat wohl Knete und will mir Schmerzensjeld zahlen."

„Oh?"

Der Clochard grinste.

„Da staunste, wa? Meene Zukunft is jesichert, haha. Falls der tatsächlich wat wird."

„Das wäre ja toll!" Der General schlug seinem Kumpel herzlich auf die Schulter. „Das freut mich sehr für dich!"

„Aua! Nimm mal Rücksicht uff meene alten Knochen! Und du och!" Lachend wehrte er Roderich ab, der sich ebenfalls auf ihn stürzte und ihm mit seiner nassen Zunge quer über's Gesicht fuhr.

„Ick werd mir een Zimmer im Wohnheim nehmen, die Miete reicht für eene Weile. Keene sibirischen Frostbeulen mehr, keene Angst, am Morgen nich mehr uffzuwachen. Vastehste? Und du kommst mit! Et jibt och Zweebettzimmer."

Der General schluckte gerührt. Die ersten Herbststürme hatten bereits die Erinnerung an Verzweiflung und Todesangst zurückgebracht. Bis vor einer Weile konnten sie noch im Berling-Tower bleiben, doch dann war ein Bediensteter der Stadt gekommen und hatte sie hinausgejagt. In dem halbfertigen Rohbau war es inzwischen auch unangenehm kalt, aber immerhin trocken gewesen. Seither nächtigten sie wieder bei den anderen Obdachlosen unten am Fluss, wo die Feuer in den alten Ölfässern sie wenigstens ein bißchen warm hielten. Die überraschende Aussicht auf ein warmes Zimmer überwältigte ihn.

„Das wär, also das ..."

Sein Gönner, der Manager des Supermarkts, vor dem sie standen, enthob ihn einer weiteren Erklärung. Er reichte ihm eine vollgepackte Tüte.

„Hier. Alles abgelaufen. Alles noch gut. Wenn mein Chef in der Zentrale mich sehen könnte, wäre ich meinen Job los. Ist das nicht sagenhaft? Ich darf es wegwerfen, aber nicht euch geben. Damit mache ich mich und ihn strafbar. So ist das in unserer Gesellschaft." Er sah rasch in alle Richtungen und verschwand wieder in seinem Laden.

Der Clochard nickte seufzend und griff nach den verpackten Köstlichkeiten.

„Lass mal kie...ken...", sagte er verblüfft und blinzelte der Türe hinterher, die ihm eine Gestalt in einer riesigen schwarzen Daunenjacke soeben aus den Händen gerissen hatte und damit entschwunden war. Roderich begann zu bellen, aber seine Leine war wie immer um einen Einkaufswagen geschlungen.

„Wat? Is det zu jlooben? Haste det jesehn?"

Der General wollte ihr zuerst nachlaufen, sah aber bald ein, dass es keinen Sinn machte. Die Kleine war pfeilschnell und bereits in einer Seitengasse verschwunden.

„Das war ein Mädchen!" Empört stampfte er auf. „Das ist doch die Höhe!"

„Naja, vermutlich hat se och Hunger. Hätt ja frajen können, wir hätten ihr och wat abjejeben."

„Dieses unverschämte Teil kriegt garantiert nichts! Frechheit, das!"

Der Clochard kicherte.

„Wie jewonnen, so zerronnen. Wat machen wa denn nu?"

„Hm. Am besten laden wir uns bei Sammy zum Essen ein. Was meinst du? Simone sagte doch, wir dürften jederzeit kommen. Es ist sowieso schon wieder viel zu lange her, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben. Was hältst du davon?", fragend sah er Roderich an. „Sollen wir Sammy besuchen?"

Der Hund bellte freudig.

„Det Vieh vasteht jedes Wort. Denn lass uns mal jehn und hoffen, dat se Alex nich bei Jericht behalten haben."

Sie wussten, dass die Verhandlung für den heutigen Tag angesetzt war. Inzwischen hatte Alex dem Clochard gebeichtet, dass er bei dem Angriff zwar nicht beteiligt, aber dabei gewesen war und sich beschämt und verlegen bei ihm entschuldigt. Da das Video, das Mödinger allen gezeigt hatte, seine Aussagen unterstrich, hatte ihm der Clochard großmütig vergeben. Anlässlich seines bislang einzigen Besuchs war der Junge ihm scheu, aber erleichtert gegenübergetreten.

„Das glaube ich nicht. Aber den anderen, seinen feinen Kumpel, den werden sie hoffentlich eine Weile einsperren."

Der General zog die Kapuze seines Anoraks weit in die Stirn und stapfte hinter dem Clochard her, hüpfte in langen Schritten über die Pfützen. Er zerrte Roderich mit, der sich immer wieder umdrehte.

„Was ist denn? Lauf doch mal weiter, es regnet, wie du vielleicht siehst. Du hast ja einen Pelz, aber ich nicht!"

Er schaute sich nicht um, sonst hätte er sie gesehen, die in einem Hauseingang hockte und ihnen grinsend nachsah. Nett von den Pennern, ihr Essen zu besorgen. Solche Köstlichkeiten hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Nahrung hatte sie bitter nötig, aber noch dringender brauchte sie etwas anderes, deshalb musste sie jetzt ein paar Scheine besorgen. Der Regen kam ihr entgegen, denn im nebligen Grau hatten ihre Kunden noch weniger Skrupel.

Sie deponierte die Tüte hinter einer leeren Mülltonne, die im Hausflur stand, dann lief sie zu ihrem Stammplatz am Ende der großen Allee, lehnte sich an einen Baum und wartete. Heute dauerte es länger als sonst. Sie begann zu zittern, der Abstand war schon viel zu groß, bald würde die schreckliche Welle über sie hinweg schwappen.

Ein schwarzer Mercedes hielt abrupt und schleuderte eine Wasserfontäne auf sie. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und musterte sie von oben bis unten.

„Du bist ja klatschnass. Du wirst mir meine Polster versauen.“

Sie antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen?

„Gut, weil du's bist. Aber nur die Hälfte, weil ich das Polster anschließend reinigen lassen muss.“

Sie biss die Zähne zusammen und nickte. Sie würde heute noch viel länger hier stehen müssen, sonst würde er ihr nichts geben.

Nach drei weiteren Kunden hatte sie zwanzig Euro beisammen. Damit würde sie dank ihres Sonderrabatts für Spezialdienste zwanzig Stück bekommen, was drei weitere Wochen Leben bedeutete. Heute war ihr Glückstag, denn sie musste nichts für Nahrung zurück behalten. Sie rannte durch die Stadt zu der Ecke in der Nähe der Schule, an der er normalerweise stand und hoffte, dass ihn das Wetter nicht abgeschreckt hatte. Aber er war da.

Sie stopfte den kleinen Plastikbeutel in ihre Jackentasche und lief zurück zu ihrem Versteck, das ihr bevorzugter Aufenthaltsort war, denn hier hatte sie ihre Ruhe. Mit fliegenden Händen öffnete sie das Päckchen und stopfte sich eine der magischen Pillen in den Mund. Aufatmend lehnte sie sich zurück und wartete auf die beruhigende Wirkung, die die Welle in einen sanften Bach verwandelte und ihre Gedanken in eine konstruktive Richtung lenkte, sprich, ihr Essen, Kleidung und Wärme verschaffte.

Heute wollte sie nur ein wenig ausruhen und dann zu ihrer Tüte zurückkehren. Sie breitete ihre Jacke zum Trocknen aus und setzte sich daneben, als sie plötzlich von irgendwoher ein leises Weinen hörte. Normalerweise kümmerte sie sich nicht um andere Menschen, aber dieses Gejammer, das auf einen Eindringling hindeutete, nervte sie. Dies war ihr Versteck! Sie stand auf und folgte dem Geräusch. Nun gesellte sich eine weitere Stimme dazu, eine tiefere, die zu lamentieren begann. Sie huschte näher und verstand jedes Wort. Der Tonfall drehte ihr den Magen um. Schleimig, falsch, gefährlich. Sie hatte Erfahrung.

„Jetzt hör doch mal mit dem Geheule auf! Du denkst doch nicht, dass dir dein eigener Vater Böses will! Oder glaubst du das etwa? Ich will doch nur mit dir zusammen sein, mit dir, mit deiner Schwester und sogar mit deiner Mutter, obwohl sie mir jetzt diese Typen auf den Hals gehetzt hat, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen. Sie wollen dich mir wegnehmen und dich wieder dieser Schlampe geben, die nur daran interessiert ist, vom Amt Geld für dich zu kassieren. Dabei liebe ich dich doch. Du bist mein Sohn!“

Die Stimme wurde weinerlich und sie konnte sie kaum mehr ertragen. Noch einen Schritt und sie würde ihn sehen...

Sammy wandte den Kopf und schaute an ihm vorbei. Hatte er doch richtig gehört. Es kam jemand. Hoffnung wallte in ihm empor, er würde gerettet werden! Sein Herz pochte so laut, dass er fürchtete, er könnte es hören und aufhören zu reden. Denn dann würde auch er spüren, dass sich jemand näherte. Er starrte den Pfeiler an, hinter dem sich die Person verbarg. Gleich... jetzt!

Im Bruchteil einer Sekunde wurde sein Herzschlag abgebremst, kam beinahe zum Stillstand. Er hatte sie im Park schon gesehen. Ihre Augen gesehen und verstanden. Von ihr würde keine Hilfe kommen.

5

„Nein, das ist nicht normal!“, schrie Simone. Langsam gingen ihr die Beruhigungsversuche auf die Nerven. Sie hatte das ganze Viertel abgesucht, bei Benni angerufen und sogar einen Lehrer erreicht, der ihr versichert hatte, Sammy in der letzten Stunde noch gesehen zu haben. Benni war sofort nach der Schule nach Hause gegangen, wie er behauptete, was allerdings nicht unbedingt stimmen musste. Sie hatte Sammy gebeten, niemals direkt nach der Schule in den Park zu gehen, das konnte er nachmittags tun. Der Grund war, dass sich über Mittag so gut wie niemand darin aufhielt. Erst gegen später füllte er sich, Kinder, Jugendliche, Mütter mit Kinderwagen und viele Hunde bevölkerten das ausgedehnte Areal. Ein Kind zu entführen war dann wesentlich schwieriger. Seit seinem Angriff auf Alex, der Thomas' Tod zur Konsequenz hatte, träumte sie regelmäßig von Cilkowski. In ihren Wachträumen strangulierte, teerte und federte sie ihn, überfuhr ihn mit einem Panzer oder stach auf ihn ein, bis er in einem Blutsee davon schwamm. Manchmal wurde ihr schlecht von ihren eigenen Phantasien. Sie war noch nie ein gewalttätiger Mensch gewesen, aber Sammys Vater hasste sie abgrundtief. Was auch immer mit ihm geschehen war, Kindheitstrauma, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus et cetera, nichts konnte rechtfertigen, was er getan hatte.

Angefangen von Sammys Leiden über die Misshandlungen seiner Frau, seiner größeren Kinder, die bereits vor Sammy aus der Familie geflohen waren, seine Aggressionen ihr gegenüber im Jugendamt inklusive seines unverfrorenen Angebots, ihr Sammy zu verkaufen, bis hin zu seinem Angriff auf Alex am Wehr, der in einer Katastrophe mündete. Und zu guter Letzt ließ ihn Mödinger, der ihn bereits festgenommen hatte, auch noch entkommen! Auf den Polizisten war sie deshalb ebenfalls nicht gut zu sprechen, hätte der seinen Job gemacht, wäre das alles nicht passiert und Thomas noch am Leben.

Eine Minute, nachdem sie ihn endlich! wiedergesehen hatte. Nur eine einzige Minute war ihr vergönnt! Sobald sich die Bilder aufdrängten, lenkte sie sich verzweifelt ab, sie konnte nicht darüber nachdenken, glühende Wut überfiel sie wie ein Tsunami, sie musste in den Garten und Schwerarbeit verrichten oder im Park laufen gehen, bis sie nicht mehr konnte.

Sie versuchte, sich Sammy gegenüber sehr zusammenzunehmen, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen. Das Kind hatte schon so viel ertragen müssen, es sollte wenigstens jetzt ein gewisses Maß an Sicherheit und Geborgenheit verspüren. Nur war das leichter gesagt als getan, weil Sammy... nun ja, eben Sammy war. Ihm konnte man nichts vormachen. Ein kleiner, weiser Buddha. Ihre Sorge um ihn drückte sich in engmaschiger Bemutterung aus, die Sammy sich gerne gefallen ließ, Alex allerdings noch weiter von ihr entfernte. Zwar behauptete er schnoddrig, froh zu sein, dass sich die Glucke jetzt auf ein anderes Küken konzentrierte, aber sie bemerkte wohl, wie er Sammy manchmal ansah. Natürlich hatte er Mitleid mit ihm, er war ja kein Unmensch, aber insgeheim befürchtete sie, dass er Sammy neben seiner Eifersucht auch noch in Sippenhaft nahm. Schließlich war es dessen Vater, der ihn über die Brüstung geworfen und damit den Tod seines Vaters verursacht hatte. Und Sammy hatte lange vor Alex gewusst, wer der Samurai wirklich war, noch ein Punkt, der Alex unterschwellig fürchterlich wurmte. Logisch war das nicht, denn schließlich hatte erst das Kind die beiden wieder zusammen gebracht. Doch davon hatte Alex nichts gehabt, außer Tränen, einem Schock und schrecklichen Träumen. Womöglich gab er nun Sammy die Schuld daran. Auf jeden Fall war er völlig durch den Wind, es war einfach zu viel geschehen in den letzten Monaten. Er kapselte sich immer mehr ein, sie kam überhaupt nicht mehr an ihn heran. Schon seit dem Überfall auf die Obdachlosen, dem Überfall auf seinen eigenen Vater, wie ihm später bewusst wurde, war er nicht mehr das Kind, das sie kannte. Ihr Geständnis, dass Paul nicht sein richtiger Vater war, die diffusen Probleme in der Firma und nicht zuletzt in ihrer Beziehung, die Katastrophe am Wehr, die Verhandlung und Sammys Einzug, das war mehr, als ein Fünfzehnjähriger verkraften konnte. Sie machte sich neben allem anderen quälende Sorgen um ihn, versuchte, mit ihm zu reden, aber er wehrte sie immer ab. Obenhin, scheinbar gelassen. Aber sie kannte ihn. Oder kannte ihn nicht mehr. Sie wusste nicht, was schlimmer war.

Und nun war Sammy verschwunden, ihr Alptraum wurde Realität. Cilkowski hatte ihn gekidnappt. Er hatte es ihr damals am Wehr angedroht und nun das arme Kind in Gott weiß welches Loch verschleppt.

„Dass du immer gleich den Teufel an die Wand malen musst!“

Paul öffnete die Kühlschranktür, zog den Orangensaft heraus und trank aus der Packung, was sie, wie er genau wusste, nicht ausstehen konnte. Er wischte sich den Mund und stellte den Saft zurück.

„Er wird noch irgendwo spielen, hat die Zeit vergessen. Er hat seinen Fußball dabei.“

„Das glaubst du doch selber nicht!“ Simone schnappte einen Lappen und wischte wütend die klebrigen Tropfen vom Boden auf. „Es regnet! Ist dir das schon aufgefallen?“

Früher hätte er sie in den Arm genommen und getröstet. Ihr Vorschläge gemacht, was zu tun war und Argumente geliefert, weshalb es noch keinen Grund gab, auszuflippen. Logische Argumente, nicht solch einen Larifarigrund. Er wird irgendwo spielen. Blödsinn! Sammy war viel zu ernsthaft und verantwortungsbewusst, um sie stundenlang im Unklaren zu lassen. Das wüsste er genauso gut wie sie, würde er sich nur eine Sekunde lang mit ihm beschäftigen. Aber der Junge war ihm völlig egal, Paul war geistig ebenso absent wie Alex. Ihre Familie, noch vor kurzem eine zumindest scheinbare Einheit, hatte sich in Fraktionen aufgespalten, die sich ab und zu einmal über den Weg liefen, aber ansonsten nichts miteinander zu tun hatten.

Sie ließ ihn stehen und rannte aus der Küche, kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Barbara nicht zu beunruhigen, nachdem sie erst vor kurzem mit dem Baby wieder aus dem Frauenhaus ausgezogen und in ihre Wohnung zurückgekehrt war. Aber dieses stundenlange Warten hatte sie zermürbt und ihre Empathie schmelzen lassen. Sie konnte keine Rücksicht mehr nehmen, Sammy war in Gefahr, alles andere war unwichtig.

„Hallo Barbara. Hier ist Simone.“

„Oh? Wie geht es Ihnen?“

Sie hatte Sammys Mutter schon öfters eingeladen, aber sie war erst einmal gekommen, hatte sich alles angesehen und war still wieder gegangen. Simone konnte ihren Schmerz und ihre Scham nachempfinden, sie tat ihr ehrlich leid. Sie an ihrer Stelle allerdings hätte Cilkowski spätestens im Schlaf erwürgt oder erschlagen, wenn er ihren Sohn so misshandelt hätte. Aber Menschen waren verschieden, jeder trug sein Gepäck auf den Schultern, Barbara wurde von ihrem erdrückt.

„Es tut mir leid. Ich komme gleich zur Sache. Haben Sie in letzter Zeit Ihren Mann gesehen?“

Brüchiges Schweigen.

„Ist etwas passiert? Er ist doch... verschwunden?“

„Ja. Verschwunden ist er tatsächlich. Aber nicht allein.“

Barbaras erschrecktes Keuchen verursachte ihr eine Gänsehaut.

„Er hat Julian!“

„Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, bis jetzt nur vermuten. Aber Sammy kam noch nie so spät aus der Schule.“

Barbara hatte es wie alles andere stillschweigend hingenommen, dass Sammy nicht mehr Julian genannt werden wollte. Wenn die Adoption, die Simone anstrebte, durchging, würde er auch seinen Familiennamen ablegen, sich abnabeln von ihr, die ihn entbunden hatte und ihn nicht beschützen konnte.

Simone sah sie vor sich, wie sie den Kopf hob und ruhig geradeaus sah, wie immer, wenn der Schmerz unerwartet über sie herfiel.

„Was kann ich tun?“

„Im Moment nichts außer wachsam zu bleiben und mir bitte sofort Bescheid zu geben, wenn Ihr Mann auftauchen sollte.“

„Selbstverständlich.“

„Barbara?“

„Ja?“

„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sammy zu finden. Und dann bring ich das Arschloch um.“

Sie legte auf. Ihre leise Hoffnung hatte sich zerschlagen. Sammys Vater hatte ihn nicht in die Wohnung der Familie zurück gebracht. So blöd war nicht einmal er, verfluchte Hacke. Wütend trat sie gegen die Kommode. Nach einer Weile suchte sie nach einer weiteren Nummer.

„Winterstätter hier. Könnte ich bitte mit Frau Lorenz sprechen? Worum es geht? Sammy ist verschwunden, sein Vater hat ihn... Sammy! Mein Pflegesohn! Sein Vater hat ihn bestimmt entführt, Sie kennen ihn doch, Cilk... Ich schreie überhaupt nicht, ich frage mich nur, was das soll! Angeblich sucht die ganze Stadt sucht nach ihm und Sie stellen sich doof! Die Polizei ist auch zu blöd, um ihn zu finden. Interessiert sich eigentlich überhaupt jemand wirklich für diesen Psychopathen? Ach, wissen Sie was, Sie können mich mal!“

Sie pfefferte das Handy hinter die Couch, stand eine Weile wie in Blei gegossen, fischte es wieder hervor und rannte hinaus in die Garage, ließ den Motor an, schoss aus der Einfahrt und machte eine Vollbremsung. Beinahe hätte sie einen Hund überfahren, der in den Garten stürmte.

„Roderich!“ Erschrocken sprang sie aus dem Wagen. „Meine Güte, wo kommst du denn her?“

Ein Stück entfernt erkannte sie den General und seinen Freund, die ihr zuwinkten. Das Gehen bereitete dem Clochard noch immer Schmerzen, wie unschwer zu erkennen war. Mitleid wallte in ihr auf. Und noch mehr Wut. Verflucht, was war bloß mit den Menschen los? Gewalttätige Bagage, alle miteinander!

„Hallo Simone! Wir dachten, wir könnten mal wieder Sammy besuchen...?“ Der General musterte sie aufmerksam. „Ist etwas passiert? Du wirkst aufgebracht...?“

Die Hoffnung, die sie den Bruchteil einer Sekunde lang erfüllt hatte, verflog, wie sie gekommen war. Der Junge war nicht bei ihnen.

„Sammy ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Ich habe alles abtelefoniert, niemand hat ihn danach noch gesehen. Im Park ist er auch nicht. Es gibt nur eine Möglichkeit.“

„Ach Jottchen! Du jloobst doch nich, det ...?“

„Doch. Genau das glaube ich. Oder fällt euch eine andere Möglichkeit ein? Ihr kennt ihn so gut wie ich, er würde mir dies niemals absichtlich antun.“

Die beiden nickten stumm. Roderich drängte sich winselnd an Simone. Sie strich über seine Ohren.

„Weißt du vielleicht, wo Sammy ist? Du hast ihn schon einmal gefunden.“

Er legte den Kopf schief und winselte wieder.

„Es tut mir leid, ich muss jetzt los. Ich werde noch verrückt, wenn ich nichts unternehme. Wenn die Behörden schon keinen Finger rühren, muss ich selber etwas tun. Ihr helft mir doch?“

„Selbstverständlich. Wir hören uns zuerst in der Stadt um. Selbst, wenn du recht hast, was der Himmel verhüten möge: Weit kommt man nicht mit einem geklauten Kind im Schlepptau. Der Typ ist ja hoffentlich nicht bei der Mafia.“

„Jetzte hau mal nich gleich den Teufel an de Wand. Vielleicht jibt et doch eene harmlose Erklärung.“

„Fang du nicht auch noch an. Das ist alles andere als harmlos, das weißt du so gut wie ich!“

Simone stieg wieder ein, knallte die Türe zu und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Kalt

Staubig

Er!!

Warum?

Angst

Vielleicht holt sie doch Hilfe? Sagt irgendjemandem, dass sie ihn hier gesehen hat?

Sie würden doch nach ihm suchen??

6

Ziellos kurvte Paul durch die Stadt. Es herrschte Feierabendverkehr, kein guter Zeitpunkt zum Vorwärtskommen. Aber da der einzige Sinn und Zweck seiner Fahrt das Alleinsein im Wagen war, spielte es überhaupt keine Rolle, wie lange er vor Ampeln oder den Kreisverkehren warten musste. Simone hätte ihm einen Vortrag über sinnlos verschwendete Ressourcen und Luftverpestung gehalten und natürlich recht gehabt. Aber die Wahrheit war, dass sein Auto derzeit der einzige Raum war, in dem er sich einigermaßen sicher fühlte. Der Regen trommelte aufs Dach, der Wind streifte das wuchtige Gefährt in merklichen Böen, aber innen war es warm und er war allein. Er konnte nachdenken, was zuhause nicht mehr möglich war. Simone war mit Sammy beschäftigt, ging völlig in ihrer neuen Mutterrolle auf und übersah dabei ihren Sohn, der sich immer weiter zurückzog. Alex war nicht sein biologisches Kind, doch er liebte ihn trotzdem, hatte ihn schließlich aufgezogen. Auch als plötzlich dessen 'richtiger' Vater auftauchte und kurz danach einen theaterreifen Abgang hinlegte, war er es, der den schockierten Jungen in den Arm nahm und tröstete. Simone war offensichtlich von der kurzfristigen Wiederauferstehung ihres Ex so überwältigt, dass ihre Synapsen verrückt spielten. Kein Durchkommen mehr möglich.

Doch all dies bedauerte er nur peripher, als beträfe es einen entfernten Bekannten. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, sein eigenes Problem kurzfristig überlagert. An Problemen mangelte es ihnen derzeit wirklich nicht, als hätte das Leben, das sie jahrelang in Ruhe gelassen hatte, sie gesammelt, im Geheimen genährt und paam! ihnen eines Tages als Gesamtpaket vor die Füße geworfen. Zumindest war seitdem endlich das kindische Poster verschwunden. Der letzte Samurai. In der Tat. Er war genauso ehrenvoll untergegangen wie sein Vorbild im Film. Paul schüttelte den Kopf. Die hanebüchene Story würde ihm kein Mensch glauben.

Er versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Immerhin war Alex für seine Beteiligung an dem Überfall nur zu Sozialstunden verdonnert worden und saß jetzt nicht im Jugendknast. Man wurde bescheiden. Dass Sammy seit neuestem bei ihnen wohnte, war ihm eigentlich egal, er mochte den Kleinen sogar, obwohl er ihm ein bißchen unheimlich war. Er argwöhnte, dass das Kind Gedanken lesen konnte, was natürlich Blödsinn war. Aber er beschäftigte Simone und das war gut. Bis heute hatte sie das Pfeifen des Damoklesschwertes, das den Raum um ihre Ehe immer bedrohlicher beschnitt, noch nicht gehört. Womit er bei seinem persönlichen Hauptproblem angelangt war.

Die Wagen vor ihm kamen zum Stehen, es bildete sich eine lange Schlange vor einer Fußgängerampel, die pausenlos von einzelnen Personen aktiviert wurde. Hier könnte Simone doch einmal ihre mahnenden Worte zum Thema Umweltverpestung anbringen. Es würde sich loh...

Die Beifahrertüre wurde aufgerissen und er fuhr erschreckt zusammen.

„Was zum Henker...?“

Eine Gestalt, die in einer riesigen schwarzen Daunenjacke ertrank, streckte den Kopf herein. Sie roch leicht süßlich, war bleich, beinahe grün im Gesicht und schwitzte oder Regentropfen liefen von ihrer Stirn herunter. Außerdem hatte er den Eindruck, dass sie zitterte. Ein Mädchen, dreizehn oder auch dreiundzwanzig. War sie auf der Flucht und brauchte Hilfe?

„Mit Gummi fünf, ohne zehn und Blowjob auch fünf.“

„Hä?“

„Mit Gummi fünf, ohne zehn und Blowjob auch fünf", wiederholte sie ungeduldig. „Alter, hast du ein Problem mit den Ohren?“

„Was? Ich glaub, ich spinne! Raus hier!“

„Warum hältst du dann? Wichser!“ Sie warf die Türe so heftig zu, dass das Handschuhfach herunterklappte.

Fassungslos schloss er es wieder und fuhr langsam weiter. Dann verstellte er den Rückspiegel so, dass er sie sehen konnte. Sie verhandelte bereits mit dem Nächsten, verschwand in dem Auto.

Der Planet der Affen. Das musste es sein. Eine Welt, in der Kinder Menschen totschlugen, die sie noch nie gesehen hatten und ihm für fünf Euro einen Blowjob anboten. Dabei wusste er nicht einmal mehr, ob die Affen überhaupt aggressiv gewesen waren.

War das die Bestimmung von Jugendlichen, deren Kindheit eine Katastrophe gewesen war? Deren Mutter nie anwesend war, weil sie Geld verdienen musste, weil der Vater bereits eine Familie hatte, die er wegen des neuen Kindes nicht verlassen wollte? Es lohnte nicht, war nur ein Unfall. Das verdorbene Sushi war schuld, weil es die Pille hinaus gespült hatte. Scheißjapaner! Aus allen Ecken krochen sie hervor und bedrohten ihn.

Er bog so abrupt in eine Seitenstraße, dass die Klappe des Handschuhfachs schon wieder herunterfiel. Gleich morgen würde er die Karre in die Werkstatt bringen, das war doch die Höhe. Der Schlitten kostete so viel wie andernorts ein Einfamilienhaus und dann bekamen sie nicht einmal ein verfluchtes Handschuhfach hin, als wäre dies irgendeine Scheißente. Während seiner Studienzeit hatte er eine besessen, die über ähnliche Eigenheiten verfügte, unter anderem, dass sie nur im Sommer bereit gewesen war, ihn irgendwohin zu befördern. Er trat hart auf die Bremse und fischte einen Joint aus dem offenen Fach. Tief sog er den Rauch ein und wartete auf die beruhigende Wirkung.

Nora war im neunten Monat, sprich, jeden Moment konnte seine Tochter geboren werden. Ob sie eines Tages auch Autotüren aufreissen und wildfremden Männern einen Blowjob anbieten würde? Bei dem Gedanken wurde ihm schlecht. Selbstverständlich würde er Nora finanziell unterstützen, sofern seine Firma das Jahr überstehen und nicht in der Pleite landen würde. Dann hatten nämlich weder er noch sie ein Einkommen. Ihre Kündigung hatte sie tatsächlich rückgängig gemacht, war vor Jens Haussmann, seinem erleichterten Finanzchef, eine Woche später zu Kreuze gekrochen. Grimmig lächelnd dachte er daran, wie schwer ihr das gefallen sein musste. Nora, die taffe Ingenieurin, auf die sein Architekturbüro nicht verzichten konnte. Seine Angestellte und Geliebte. Auf letzteren Status hatte sie als Erstes verzichtet, später ihren Vertrag in einem Anfall von geistiger Umnachtung gekündigt, als sie bereits schwanger war. Glücklicherweise hatte sie dies korrigiert, ging ihm aber seitdem aus dem Weg. Es gab einen Moment, der alles geändert hätte. Er war bereit gewesen, seine Familie für sie und seine ungeborene Tochter zu verlassen, war tatsächlich dazu bereit gewesen. Aber sie liebte ihn nicht, es ging ihr nur um Sicherheit oder was auch immer.

Das war ihm zu wenig. Alex brauchte ihn, obwohl er derzeit den einsamen Wolf markierte. Sie hatten immer ein herzliches Verhältnis gehabt, bis... bis wann eigentlich? Er war schon Anfang des Sommers von heute auf morgen sehr distanziert gewesen, wenn er genau darüber nachdachte. Pubertät? Und nun bekam er eine Schwester. Okay, sie wäre nicht mit ihm verwandt, insofern vielleicht gar nicht soo relevant...

Er lachte auf. Simone war noch einmal Mutter geworden und er noch einmal Vater. Jeder für sich. Neben dem Phoenix-aus-der-Asche-Krieger, der sich als Penner entpuppte, war dies das Verrückteste, das ihm jemals zugestoßen war. Außerdem, Korrektur: Er wurde zum ersten Mal Vater.

Von einem Moment auf den anderen überfiel ihn das Bedürfnis, sie zu sehen, er musste sich vergewissern, dass es beiden gut ging. Er hieb auf das Lenkrad. Nun konnte es ihm nicht schnell genug gehen, ungeduldig hupte er einen Ford vor ihm an, dessen Fahrer abrupt bremste. Beinahe wäre er auf ihn aufgefahren.

„Mach hinne, du Blödmann!“

Dann erst erkannte er den Grund. Das Mädchen in der schwarzen Daunenjacke rannte über die Straße ohne auf den Verkehr zu achten. Fast war sie unter dem wehenden Kleidungsstück nicht zu sehen, wie die Flügel einer riesigen Krähe flatterte es um sie herum. Paul starrte ihr hinterher. Eine schwarze Krähe. Symbol für drohendes Unglück, haha. Er hatte sein Leben lang gekifft und jetzt eine Tochter gezeugt. Plötzlich fror er.

So ein Blödsinn. Schwarze Krähen brachten kein Unglück. Sie waren nichts weiter als schwarze Krähen.

7

Es hörte sich an wie ein Schuss. Unwillig fuhr Lorenz zusammen. Wieso zum Teufel musste er den Telefonhörer so laut auf die Gabel knallen? Sie stand auf und stapfte ins Nebenzimmer. Nicole, ihre Assistentin, hatte Urlaub, nur der Herr Praktikant war anwesend.

„Was soll denn der Krach, Mike? Wer war das?“

„Jemand, den ich am Arsch lecken soll.“ Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, dann fuhr er sich hektisch durch die Haare, wobei er seine glatten Strähnen, die er vermutlich allmorgendlich mit dem Glätteisen malträtierte, in ihren Urzustand brachte und aussah, als hätte er in eine Steckdose gegriffen.

„Die Leute werden immer unverschämter!“, klagte er.

Lorenz brummte. Sie versuchte, nicht zu lachen, obwohl er sie fatal an Wilhelm Busch erinnerte.

„Wie man in den Wald hinein schreit und so weiter...“

„Ich bin immer freundlich zu den Kunden.“

„Mhm. Sofern Sie sie nicht gerade auf's Kreuz legen. Naja. Unsere Klientel hat im Gegensatz zu Ihnen viele Probleme, wohingegen Ihre einzige Sorge ist, Ihr Praktikum zu überstehen“, sie grinste anzüglich.

Mike starrte finster vor sich hin, der Arme musste wirklich hart angegangen worden sein.

„Jetzt machen Sie sich mal nichts draus. Gehen Sie lieber Ihre Frisur richten. So können Sie heute nicht in den Club.“

Sie rauschte wieder hinaus. Mike wackelte mit dem Kopf und äffte sie lautlos nach. Der Drachen hatte scharfe Ohren. Aber heute schien sie guter Laune zu sein.

Seine Chefin war tatsächlich milde gestimmt, was vor allem daran lag, dass ein gewisser Herr Kriminalhauptkommissar sie zum Essen eingeladen hatte, wobei sich die Einladung wesentlich eleganter anhörte als sie war. Das Diner fand im Stehen vor ihrer Lieblingsimbissbude statt, wo sie sich regelmäßig mit Mödinger traf, um dienstliche Angelegenheiten zu erörtern. Zumindest offiziell.

„Ich bin dann mal weg! Notieren Sie bitte alle Anrufe“, rief sie Mike zu und schwänzelte hinaus. Er verdrehte die Augen, legte den Hörer neben das Telefon und lehnte sich entspannt zurück. Sendepause, ihr Vollspasten.

Lorenz zog ihren Trenchcoat enger um sich. Gegen Abend wurde es schon empfindlich kalt; erschauernd dachte sie an die Obdachlosen unten am Fluss und die vielen Kinder, die orientierungslos wie junge Wölfe in der Stadt herumirrten, immer auf der Suche nach Futter und ohne Mitleid für alles, das sich ihnen in den Weg stellte. Wobei Kinder für sie der Sammelbegriff für alle Minderjährige war, die ohne Gegensteuerung die Erziehung der Straße genossen, die internalisiert und nie mehr korrigiert würde. Manchmal stellte sie ihren Pessimismus in Frage, aber die Realität belehrte sie regelmäßig eines Besseren. Auf der Straße war ein Happy End so wahrscheinlich wie das Überleben der Menschheit nach dem Austausch von Atombomben.

Wobei... es sah so aus, als hätte es zumindest einer geschafft oder wäre wenigstens auf einem guten Weg. Julian. Der Kleine geisterte noch immer durch ihren Hinterkopf. Unverständlicherweise war es der Polizei auch nach vielen Wochen noch nicht gelungen, seinen Vater zu fassen, der die Kettenreaktion in die Katastrophe ausgelöst hatte.

„Melanie! Sie sehen schrecklich nachdenklich aus, hoffentlich haben Sie keine Sorgen?“

Mit einer galanten Handbewegung stellte Mödinger ein bauchiges Teeglas vor sie hin, aus dem es würzig heraus dampfte.

„Oh, das duftet nach TausendundeinerNacht. Vielen Dank. Ich habe nur darüber nachgedacht, wo sich Herr Cilkowski wohl gerade herumtreibt.“

Sie schnupperte in das Glas hinein und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Köstlich.“

Amüsiert verfolgte sie aus den Augenwinkeln, wie sich sein Blick verfinsterte. Zwar fand sie den Anlass überhaupt nicht lustig, aber manchmal stach sie der Hafer. Dann musste sie ihn ein bißchen aufziehen.

„Charmant, wie es Ihnen immer wieder gelingt, in offenen Wunden zu stochern“, brummte er.