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DIE VORKAMMER DES TODES Im April 1944 wurde das Durchgangslager Bozen errichtet, 9.500 Personen waren darin inhaftiert, 3.802 wurden aus dieser "Vorkammer des Todes" in die KZs Mauthausen, Dachau, Flossenbürg, Ravensbrück und Auschwitz deportiert, wo der Großteil starb. Der Blick auf das Wachpersonal zeigt, wie skrupellos gefoltert wurde, wie man sich nach der "Arbeit" vergnügte und u. a. eine satirische Bierzeitung herausgab. •Biografien der Täter*innen, u. a. von Mischa Seifert, der "Bestie von Bozen", oder der Deutschen Hilde Lärchert, "Tigerin" genannt •zahlreiche Fotos und unveröffentlichte Dokumente, u. a. einzigartige Drucksorten der Lagerdruckerei
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Costantino Di Sante
Verbrechen, Gräueltaten und Vergnügungen des Wachpersonals im Durchgangslager Bozen
Costantino Di Sante
Verbrechen, Gräueltaten und Vergnügungen des Wachpersonals im Durchgangslager Bozen
Übersetzt von Michaela Oberhuber
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol.
Originaltitel: Costantino Di Sante. Criminali del campo di concentramento di Bolzano.
Deposizioni, disegni, foto e documenti inediti. Bozen: Edition Raetia 2019
Die Übersetzung basiert auf einer überarbeiteten Textversion, ergänzt um das Kapitel „Täter und Verantwortliche der jüdischen Verfolgung in Meran“
© Edition Raetia, Bozen 2024
Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it
Umschlagbild: Die einzige Aufnahme aus dem Lager, als es noch in Betrieb war. NARA, „War crimes. Bolzano“, Box 2059, folder 1.
Übersetzung: Michaela Oberhuber
Korrektur: Gertrud Matzneller, Katharina Preindl
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Printed in Europe
ISBN 978–88-7283–916-4
ISBN Ebook 978–88-7283-943-0
Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected].
Über die „normalen“ Männer und Frauen (von Thomas Schlemmer)
Zur deutschen Ausgabe (von Costantino Di Sante)
Endlich Aufklärung (von Dario Venegoni)
Einleitung
Die Geschichte des Lagers
Der NS-Sicherheitsdienst in Südtirol
Die Anfänge als Arbeitserziehungslager
Die Verlegung des Lagers Fossoli nach Bozen
Das Polizei- und Durchgangslager
Zwangsarbeit und die Satellitenlager
Die Hinrichtungen vom 12. September 1945
Gewalt und Verbrechen im Lager
Manlio Longon und die Partisanenbekämpfung
Solidarität mit und Hilfe für die Internierten
Der Lagerarzt Pittschieler und das Verzeichnis der Toten
Die Auflösung des Konzentrationslagers
Unterstützung für ehemalige Internierte, Heimkehrer, Displaced Persons
Die Täter und Täterinnen
Auf Spurensuche
Rudolf Thyrolf: der KdS-Kommandeur
August Schiffer: der Gestapo-Chef
Heinz Andergassen: der Kriminalsekretär
Albert Storz: der ausführende Kriminalfunktionär
Karl Titho: der Lagerkommandant
Hans Haage: der Zuständige für Disziplin und Zucht
Walter Lessner: der Verwalter des Lagers
Paula Plattner: Sekretärin und Geliebte
Joseph König: verantwortlich für die Zwangsarbeit
Karl Gutweniger: der Dolmetscher
Heinz Winkler: an den Schalthebeln des Informationsdienstes
Margarete Hatschock: Sekretärin beim Informationsdienst
Albino Cologna: der SS-Wächter
Otto Sain und Michael Seifert: die Peiniger
Hilde Lächert: die Tigerin
Renata Longo: die Zensurbeauftragte
Gianna Zucchetti: Denunziantin im Lager von Meran
Täter und Verantwortliche der jüdischen Verfolgung in Meran
Die Freizeit der Täter und Täterinnen
Fotos der Vergnügungen
Die „Bierzeitung des Polizei- und Durchgangslagers“
Die Druckerei des Lagers
Die Geschichte der Druckerei „Francinetti“ (von Dario Venegoni)
Die wiedergefundenen Dokumente
Von Fossoli nach Bozen
Verhaftungen, zivile Angestellte, Arbeitseinsatz, Deportationen
Krankenstation im Lager und Aufnahme ins Krankenhaus
Bekanntmachungen, Hinweise, Verbote
Danksagung
Personenverzeichnis
Bildverzeichnis
Anmerkungen
Täterforschung hat erst spät Einzug in die historische Forschung gehalten – das gilt für Italien ebenso wie für Deutschland, ganz gleich, ob es sich um die Bundesrepublik oder die Deutsche Demokratische Republik (DDR) handelt. In Italien hatte lange Zeit die Erforschung des antifaschistischen Widerstands und des Befreiungskriegs gegen die „nazifaschistischen Besatzer“ Priorität; die Strukturen der Besatzung in einem Land, das gespalten war und der 1939 geschlossenen faschistischen Kriegsallianz zumindest noch teilweise die Treue hielt, die Verantwortlichen für Massaker und Kriegsverbrechen, die fanatischen Gefolgsleute, die Mussolini bis zum bitteren Ende folgten – all das war in Italien bis 1990 von nachgeordnetem Interesse. In der DDR stellten sich die Fragen nach der Verantwortung für den Krieg in Italien zwischen 1943 und 1945 nicht, denn als Volksdemokratie realsozialistischen Typs stellte sie sich auf den Standpunkt, keine Verantwortung für die Verbrechen aus den Jahren zwischen 1939 und 1945 zu tragen; schließlich habe man ja mit der kapitalistischen Eigentumsordnung auch die Wurzeln des Faschismus ausgerissen. In der Bundesrepublik wurde dagegen der Schild der „sauberen“ Wehrmacht hochgehalten; in Italien hätten die deutschen Truppen einen Krieg nach den Regeln des Völkerrechts geführt – die Kunstschätze des Klosters Montecassino seien schließlich von den Deutschen gerettet worden, während die Alliierten das Kloster sinnlos zerstört hätten. Die Zonen der Vernichtung, die Wehrmacht und Waffen-SS in Italien schufen, Marzabotto oder Sant’Anna di Stazzema, hatten in dieser Meistererzählung keinen Platz. Das änderte sich erst im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, nach dem Ende des Kalten Kriegs, nach der Öffnung oder Wiederentdeckung von Archiven – erinnert sei nur an den sogenannten Schrank der Schande in Rom. Nun gerieten die Opfer einer terroristischen Besatzungspolitik (und in Italien die Opfer eines grausamen Bürgerkriegs), die Strukturen dieses Terrors und die Täter selbst zunächst in den Blick der Strafverfolgung und der Forschung und dann in den Fokus der Erinnerungskultur.
Über das (Polizei-)Durchgangslager oder Konzentrationslager Bozen wusste man lange Zeit nur wenig, und man wollte davon auch nichts wissen. In Deutschland kennt man es bis heute kaum; ist von Konzentrationslagern die Rede, denkt man an Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen, Bergen-Belsen oder Ravensbrück. Orte des Schreckens wie die Risiera di San Sabba bei Triest, Fossoli oder eben das Lager in Bozen kannten nur Eingeweihte, obwohl etwa in Bozen ein grausames Lagerregime herrschte und Tausende von dort nach Dachau, Mauthausen, Flossenbürg, Ravensbrück oder auch Auschwitz deportiert wurden.
Es ist Costantino Di Sante zu verdanken, dieses heiße Eisen angefasst zu haben, das unbequem für die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland, aber auch für die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Südtirol ist. Er deckt nicht nur die terroristischen Strukturen des nationalsozialistischen Lagersystems im letzten Kriegsjahr mit seinen tödlichen Konsequenzen auf, sondern gibt auch den Tätern – und den Täterinnen – in Südtirol eine Biografie und ein Gesicht. Mit Christopher Browning waren sie eben keine monströsen Existenzen, sondern „normale“ Männer und Frauen. Costantino Di Sante versucht zu erklären, warum sich diese „normalen“ Männer und Frauen zur Herrschaft über Leben und Tod aufschwangen und trotzdem versuchten, ein „normales“ Leben zu führen. Das Kapitel über die Freizeitgestaltung der Täter und der – wenigen – Täterinnen gehört zu den verstörendsten Abschnitten in Costantino Di Santes Buch, dem ich zahlreiche Leserinnen und Leser wünschen möchte – vor allem in Deutschland, aber auch in Südtirol und in ganz Italien. Die Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus im 20. Jahrhundert möge uns im 21. Jahrhundert eine Warnung sein.
Thomas Schlemmer
München im Januar 2024
Thomas Schlemmer ist Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Chefredakteur der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ und ehemaliges Mitglied der Deutsch-Italienischen Historikerkommission.
Die Übersetzung des Buches „Criminali del campo di concentramento di Bolzano. Deposizioni, disegni, foto e documenti inediti“ ins Deutsche öffnet ein einzigartiges Fenster zur historischen Erinnerung für die deutschsprachige Leserschaft. Dank neuer Archivfunde beleuchtet es das Konzentrationslager von Bozen aus der Perspektive des Lageralltags und bringt bislang unbekannte Fakten über das Lager wie auch über die Täter und Täterinnen ans Licht. Die von amerikanischen Ermittlern unmittelbar nach dem Kriegsende gesammelten Zeugenberichte, Verhörprotokolle und Fotografien erzählen und zeigen die Lagerverantwortlichen bei geselligen Freizeitbeschäftigungen mit ihren Sekretärinnen – und eröffnen einen verstörenden Blick auf ihr Doppelleben. Sie werfen Fragen über die menschliche Natur auf und über die Fähigkeit, sich derart von der Wirklichkeit zu distanzieren.
Die vorliegende deutsche Ausgabe wurde um ein Kapitel über die Verantwortlichen für die Deportation der Juden und Jüdinnen von Meran erweitert. Damit sollen auch diese Gräuel klar angesprochen und eine kritische Auseinandersetzung mit den dahinterliegenden soziokulturellen Mechanismen, die zur Gewalteskalation führten, angeregt werden. Zudem wurden für die deutsche Ausgabe Ungenauigkeiten präzisiert und Druckfehler des italienischen Originals korrigiert. Die Übersetzung griff, soweit möglich, auf deutsche Originaltexte zurück, manchmal ließ sich eine Rückübersetzung aus dem Italienischen jedoch nicht vermeiden.
Über viele Jahre hinweg waren die Ereignisse innerhalb der Lagermauern weitgehend vergessen. Dies steht zum einen im Zusammenhang mit den Auswirkungen der erzwungenen Italianisierung und Unterdrückung durch das faschistische Regime und zum anderen mit der Optionsfrage und der Kollaboration während der NS-Besatzung. Nach dem Krieg erschwerte die Neugestaltung des Geländes, auf dem das Lager stand, die Erinnerung an die begangenen Gräueltaten zusätzlich.
Doch wurde das Interesse an der Geschichte des Lagers von Bozen neu entfacht, wofür unter anderem der Prozess gegen den ehemaligen Wächter Michael „Mischa“ Seifert im Jahr 2000 ausschlaggebend war. Die Bemühungen, die Erinnerung zu bewahren, wurden intensiviert, etwa durch Informationstafeln, die 2004 von der Gemeinde Bozen aufgestellt wurden, oder durch die Errichtung der „Passage der Erinnerung“ anlässlich des Tages der Erinnerung 2012: Eine Gedenkinstallation erinnert an die Frauen, Männer und Kinder, die das Lager durchlebten. Einen bedeutenden Moment institutioneller Anerkennung stellte der Besuch des italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella und des österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen im Jahr 2019 dar. Zu diesem Anlass wurde eine Dauerinstallation in der Nähe der erhaltenen Lagermauer eröffnet, die an die 8.000 bis heute identifizierten Internierten erinnert und ein bedeutendes Mahnmal darstellt, um künftige Generationen über die Gefahren von Hass und Diskriminierung aufzuklären.
Mit der Veröffentlichung dieser deutschen Ausgabe möchten wir das Wissen über die tragischen Ereignisse auch außerhalb des italienischen Sprachraums verbreiten und die Erinnerung daran wachhalten. Zugleich möchten wir einen Dialog zwischen den deutsch- und italienischsprachigen Bevölkerungsgruppen anregen. Dieser Dialog soll dazu beitragen, das Verständnis für die gemeinsame Vergangenheit zu vergrößern, deren Auswirkungen bis in die heutigen Beziehungen reichen.
Costantino Di Sante
Campli im Februar 2024
Das Konzentrationslager von Bozen wurde im Sommer 1944 von der SS eingerichtet und war bis Frühjahr 1945 in Betrieb. Es erfuhr ein eigentümliches Schicksal: Obwohl es für knapp ein Jahr neben dem Triestiner Lager Risiera di San Sabba einer der zentralsten Inhaftierungs- und Folterorte im nationalsozialistisch besetzten Italien war, fiel es schon wenige Monate nach der Befreiung einem kollektiven Vergessen anheim.
Bereits unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 wurden seine von Lagermauern umgrenzten Gebäude von zahlreichen Flüchtlingen, Obdachlosen, Vertriebenen und aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten benutzt, bald von ganzen Vertriebenenfamilien dauerhaft besetzt, bis gegen Ende der 1950er-Jahre die Bozner Gemeindeverwaltung eingriff und für dieses Areal ein Wohnbauprogramm ausschrieb, um für die vielen Menschen, die in Bozen keine Wohnmöglichkeiten hatten, eine würdige Unterkunft zu schaffen. So wichen in den frühen 1960er-Jahren die Baracken und Zellen des ehemaligen Lagers neuen Wohnhäusern. Und über die Geschichte des Lagers legte sich ein Mantel des Schweigens.
Zwar teilten einige Überlebende ihre Erfahrungen im Lager Bozen und in einigen lokalhistorischen Publikationen wurden Texte und Zeitzeugenberichte veröffentlicht, doch schienen die beiden Sprachgruppen der Stadt – die deutsche und die italienische – de facto übereingekommen zu sein, dieser belastenden Vergangenheit den Rücken zuzukehren. Die italienische Sprachgruppe war darauf bedacht, sich das 20 Jahre währende faschistische Regime samt der gewaltsamen Italianisierung in dieser Provinz vergeben zu lassen. Dabei hatte der Faschismus zum Ziel, die deutsche Kultur vollständig zu untergraben. Und die deutschsprachigen Südtiroler und Südtirolerinnen zogen es vor, nicht an ihre Begeisterung für die nationalsozialistische Besetzung zu erinnern, die von Gewalt, Folter und Mord innerhalb wie außerhalb der Lagermauern geprägt gewesen war.
Erst 1975 – seit Kriegsende waren nunmehr 30 Jahre verstrichen – organisierte die Gemeinde Bozen gemeinsam mit dem lokalen Ableger des italienischen antifaschistischen Partisanenvereins (ANPI, Associazione Nazionale Partigiani d’Italia) und mit der Nationalen Vereinigung italienischer Ex-Deportierter (ANED, Associazione Nazionale Ex Deportati) eine Tagung, die einschneidende Wirkung zeigen sollte: Die in diesem Rahmen vorgebrachten Vorträge und Zeitzeugenberichte von Rednerinnen wie Franca Turra, Ada Buffulini oder Nella Lilli Mascagni blieben für die folgenden Jahrzehnte die maßgebliche Informationsquelle für jene, die mehr über das Leben im Lager Bozen wissen wollten.
Vier Jahre später, 1979, erschien anlässlich des 30. Jahrestages des Widerstands und der Befreiung das Buch Il Lager di Bolzano von Luciano Happacher, das die bis dahin bekannten Informationen zum Bozner Lager erstmals zusammenführte. Dies änderte aber nichts daran, dass die Geschichte dieses Lagers in den darauffolgenden Jahrzehnten nicht weiter erforscht wurde und die Lebensschicksale von Zehntausenden Deportierten weitestgehend in Vergessenheit gerieten. Als ich selbst in den 1980er-Jahren (vergeblich) versuchte, Spuren des Lagers in der Bozner Reschenstraße zu finden, konnte mir niemand (auch nicht ein Stadtpolizist) Auskunft geben, als ich nach dem Weg zur ehemaligen Lagermauer fragte.
Erst gegen Ende des letzten Jahrtausends kamen die Forschungen zum Bozner Lager in Schwung, die Licht auf einige Teilaspekte werfen konnten und vor allem auf die Initiative von Historikern und Historikerinnen im Umkreis des lokalen ANPI und des Bozner Stadtarchivs zurückgingen. Der Prozess gegen den SS-Wachmann Michael „Mischa“ Seifert vor dem Militärgericht von Verona im Jahr 2000 entfachte dann eine breitere Aufmerksamkeit für das Lager Bozen als Folter- und Todesort, dem Untersuchungen und Publikationen folgten.
Das Verdienst des vorliegenden Buches von Costantino Di Sante liegt vor allem darin, dass es einen bislang zu wenig beachteten Aspekt behandelt und den Fokus auf die Täter und Täterinnen des Bozner Lagers legt, die es zwischen 1944 und 1945 zu einem Ort des Schreckens machten. Von einigen kennen wir das Gesicht, wie auch jenes ihrer Freundinnen und Gefährten, da sie sich bei ihren Freizeitbeschäftigungen zwischen einer Gewalttat und der nächsten ablichten ließen. Wir können anhand der zitierten Verhörprotokolle ihre Worte und ihre Version der Ereignisse lesen. Endgültig können wir auch jenes Kapitel abschließen, das 75 Jahre lang ungeklärt blieb, nämlich das des vorgetäuschten „Selbstmords“ von Manlio Longon, einem der Anführer der Widerstandsbewegung in Bozen, in jenen dramatischen Stunden, als er Gefangener der Gestapo war.
Überraschend ist, dass einige der wichtigsten Offenbarungen dieses Buches eigentlich auf das Jahr 1945 zurückgehen, als die Alliierten in den Monaten nach der Befreiung diese Personen verhörten, Protokolle anfertigten und Fotografien beilegten – Dokumente, die jahrzehntelang in öffentlich zugänglichen Archiven lagen und nur darauf warteten, endlich eingesehen zu werden.
Die hier zum ersten Mal gezeigten Druckerzeugnisse aus der Druckerei des Lagers Fossoli und des Lagers Bozen wiegen das Fehlen aller offiziellen Lagerverwaltungsdokumentationen, die im Zuge der Flucht der SS verbrannten, zumindest in Teilen auf.
Dieses Buch erweitert unser Wissen über eine der wichtigsten NS-Haftanstalten in Italien maßgeblich. Costantino Di Sante gebührt großer Dank für seine verdienstvolle Forschungsarbeit, die es uns ermöglicht, der Tausenden Opfer der Bozner Schläger- und Foltertruppe zu gedenken. Die überwiegende Mehrheit dieser Frauen und Männer ist vergessen, doch dieses Buch lässt ihren Ängsten und Leiden Gerechtigkeit widerfahren.
Dario Venegoni
Mailand im Januar 2019
Dario Venegoni ist ein italienischer Schriftsteller und Journalist, bekannt für seine Studien über Internierungslager. Er ist der Sohn von Carlo Venegoni und Ada Buffulini, die aus politischen Gründen im Polizei-Durchgangslager Bozen interniert waren. Venegoni ist Präsident von ANED, der Associazione nazionale Ex Deportati nei campi nazisti (Nationale Vereinigung der ehemaligen Deportierten in NS-Konzentrationslager).
Dieses Buch ist der Auffindung mehrerer umfangreicher Sammlungen von bislang unveröffentlichten Dokumenten zu verdanken. Ihre Analyse erlaubt es, die Befehlskette im Bozner Lager und in der NS-Kommandozentrale, welche aus dem ehemaligen Gebäude des Armeekorps agierte, zu rekonstruieren und einige der Verbrechen, derer sich die SS und die Gestapo schuldig machten, aufzuklären.
Der Arbeit liegen als Quellenmaterial unter anderem die im Militärarchiv in Rom liegenden Akten1 zugrunde, die das italienische Militär, genauer das Ufficio I dello Stato Maggiore dell’Esercito italiano, 1945 zu den im Konzentrationslager Bozen begangenen Verbrechen anlegte. Das Ufficio I (Büro I) des Generalstabs des italienischen Heeres ist eine Einrichtung, die die Auflösung des Militärischen Nachrichtendienstes (Servizio Informazioni Militari) überdauert hatte.2 Bei den dortigen Archivunterlagen handelt es sich um Verhöre und Aussagen von Wach- und Verwaltungspersonal des Lagers gegenüber alliierten und italienischen Ermittlungsbehörden. Sie geben Aufschluss über verschiedene Gewalttaten, wie etwa die Hinrichtungen vom 12. September 1944, und nennen die Namen der Verantwortlichen.
Unter den etwa 300 Dokumenten befinden sich auch einige von den Wärtern selbst verfasste handschriftliche Anmerkungen. Die Lektüre dieser Unterlagen war für die damaligen Ermittler gewiss keine leichte, doch waren sie wertvoll, um die Schuldigen an den im Lager begangenen Verbrechen und Misshandlungen ausmachen zu können. Zu den wichtigsten Erinnerungen und Vernehmungsprotokollen gehören jene des SS-Wachmanns Albino Cologna und der Sekretärin des stellvertretenden Lagerkommandanten Hans Haage, Paula Plattner, denn beide hatten von Anfang an im Lager im Dienst gestanden. Auf Grundlage ihrer Aussagen konnte mit Gewissheit das Datum der Eröffnung des Arbeitserziehungslagers von Bozen bestimmt werden: der 15. Mai 1944. Später sollte es dann in ein polizeiliches Durchgangslager umfunktioniert werden. Des Weiteren konnten durch ihre Aussagen auch Informationen zur Geschichte des Lagers sowie zur Funktionsweise seines Verwaltungsapparats samt den Namen des Führungspersonals in Erfahrung gebracht werden.
Nicht weniger wichtig sind die Zeugenaussagen einiger Internierter und die von den Alliierten an das italienische Militär übergebenen Dokumente. In etlichen dieser Quellen tauchen die Namen jener Südtiroler und Südtirolerinnen auf, die nach ihrer Option für das nationalsozialistische Deutschland im Lager Wach-, Verwaltungs- oder Organisationsdienste tätigten. Unter diesen Dokumenten befindet sich auch eine vom Lagerarzt Karl Pittschieler angefertigte Liste jener Menschen, die im berüchtigten Zellenblock, dem Gefängnis des Lagers, zu Tode kamen. Pittschieler behauptete auch nach Kriegsende, dass viele eines natürlichen Todes gestorben seien, und machte sich in gewisser Weise wohl auch mitschuldig an der Verschleierung der wahren Todesursachen.
In den Akten finden sich Druckerzeugnisse, welche die von den Nationalsozialisten bei der Auflösung des Lagers eifrig betriebene Zerstörung überlebt haben. Diese konnten unmittelbar nach der Befreiung aus der Druckerei des Lagers geborgen werden. Ebenso wurden Entwürfe von Zeichnungen gefunden, die in der satirischen „Bierzeitung des Polizei- und Durchgangslagers Bozen“ abgedruckt worden waren. Es handelt sich um insgesamt an die 30 Aquarellzeichnungen, die einige Personen aus der Lagerleitung, ihre Laster und Verfehlungen in ironischer Manier darstellen.
Von besonderer Bedeutung aber sind die wiedergefundenen Fotografien, die einige Mitglieder der Kommandogruppe, vor allem Hans Haage und Joseph König, bei ihren Freizeitbeschäftigungen in Südtirol zeigen, etwa bei Ausflügen aufs Land oder bei Trinkgelagen in Begleitung ihrer Sekretärinnen. Das wichtigste Foto in der Akte ist jenes, das Albino Cologna in SS-Uniform auf einem Motorrad zusammen mit drei anderen Kameraden zeigt. Es handelt sich um das einzige bislang bekannte Foto, das im Inneren des Lagers aufgenommen wurde, als dieses noch aktiv war (8. August 1944). Auch deshalb wurde es für das Cover dieses Buches ausgewählt.
Schließlich wird auch unser Wissen über die Organisation des Widerstands im Inneren des Lagers bereichert dank der Protokolle, die zwischen Februar und Mai 1945 von den Internierten aus dem Umfeld des Partito Democratico Cristiano abgefasst wurden. Diese Protokolle geben uns nicht nur Aufschluss über die Funktionsweise des „internen Komitees“ (Comitato interno), sondern auch über die Beziehungen zwischen den im Lager inhaftierten Parteivertretern (Kommunisten, Sozialisten, Christdemokraten oder jene der Partei Partito d’Azione), die dann dem Nationalen Befreiungskomitee CLN (Comitato di Liberazione Nazionale) beitraten.
Eine zweite Sammlung unveröffentlichter Dokumente stammt aus den National Archives von Washington. Sie wurden von Roberta Cairoli, Forscherin am Istituto di storia contemporanea Pier Amato Perretta in Como, gefunden und mir großzügigerweise zur Einsichtnahme und Auswertung für dieses Buch zur Verfügung gestellt.
Die in den National Archives aufbewahrten Akten des War Crimes Branch3 beinhalten unter anderem einen mehr als 500 Seiten starken Faszikel zum Konzentrationslager von Bozen. Er bezieht sich auf die erste, gegen Ende Mai 1945 eingeleitete Untersuchung zu den Vorfällen im Lager und beinhaltet auch etwa 30 unveröffentlichte Fotografien. Im Zuge dieser Ermittlungen konnte eine immense Fülle an Informationen gesammelt werden, etwa auf der Grundlage der Fragebögen und Verhöre der Täter und Täterinnen (Karl Titho, Albino Cologna, „die Tigerin“ Hildegard Lächer), des Verwaltungspersonals (Paula Plattner, Renata Longo), des Arztes (Karl Pittschieler), der Führungsspitzen der Gestapo und des Sicherheitsdienstes (SD) Bozen (Rudolf Thyrolf, August Schiffer, Heinz Winkler, Karl Brunner) und natürlich mittels Zeugenaussagen ehemaliger Internierter wie Luigi Pirelli. Sie erlauben einen erschütternden Einblick in die Schrecken und Verbrechen, die im Konzentrationslager Bozen begangen wurden, von der systematischen Anwendung von Gewalt und Folter bis hin zu Morden und Massenerschießungen.
So geht etwa aus einem Bericht von Artur Schoster4, Kommissar der amerikanischen Kriminalpolizei, vom 5. Juni 1945 hervor, dass das Durchgangslager auch von der Gestapo und dem SD für die Inhaftierung von politischen Gefangenen genutzt wurde. Diese wurden im Zellenblock inhaftiert, dem Lagergefängnis, das einer geradezu rechtsfreien Zone gleichkam und wo die Häftlinge wiederholt misshandelt wurden.
Häufig wurden die politischen Häftlinge, Männer wie Frauen, abgeholt und in das Gestapo-Hauptquartier im ehemaligen Gebäude des 4. italienischen Armeekorps (das Gebäude wird in den Quellen oft kurz „Armeekorps“ genannt) in Bozen gebracht, wo sie nach langen und zermürbenden Verhören in den Keller gebracht und gefoltert wurden. So erging es zum Beispiel Isabella Selvi, Lebensgefährtin eines Partisanen, die als Geisel festgehalten und am 19. Dezember 1944 von der deutschen Polizei verhaftet worden war. Der Bericht von Schoster gibt auch Aufschluss über den Tod von 19 Häftlingen, die alle identifiziert werden konnten. In den meisten Fällen waren Folterungen die Ursache für den Tod, in anderen die unmenschliche Behandlung. Die ärztlichen Totenscheine aber führen allesamt natürliche Todesursachen oder Suizide an, wie etwa im Fall von Manlio Longon, herausragende Figur der lokalen Widerstandsbewegung. Insbesondere aus dem Verhör von Christa Roy, Schiffers Sekretärin, geht hervor, dass Longon am 31. Dezember 1944 zum Gestapo-Sitz gebracht, dort im Keller auf Befehl von Schiffer gefoltert, erdrosselt und schließlich aufgehängt wurde, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Seine Leiche wurde ins Lager zurückgebracht, wo der Arzt den Tod feststellte. In der Liste der 19 Personen steht auch der Name von Giulia Bianchini Fano, einer 78-jährigen Jüdin.
Ein Bericht vom 6. Juni 1945 dokumentiert den verdächtigen Tod des US-Agenten Roderick G. S. Hall und von sechs weiteren amerikanischen und britischen Luftwaffenoffizieren, die im Lager inhaftiert waren. Auf der Grundlage der Verhöre, insbesondere des Arztes Karl Pittschieler und des Dolmetschers Karl Gutweniger, erhielten die Alliierten bereits 1945 erste Informationen zu den Hinrichtungen vom 12. September 1944. Auch stießen sie auf Hinweise auf die Erschießungen im Konzentrationslager von Fossoli vom 12. Juli 1944.
Die Vernehmungsprotokolle ermöglichen es uns nicht nur, die Verbrechen im Lager, sondern ebenso die Profile der Täter, ihr familiäres und soziales Umfeld, ihre politischen Tätigkeiten vor und nach ihrer Ankunft in Bozen sowie die Organisations- und Funktionsweise der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes zu rekonstruieren. In diesem Kontext kommt den Aussagen der Sekretärinnen der NS-Leitung große Bedeutung zu, aus denen auch ihre Rolle bzw. Beteiligung an den Misshandlungen der Häftlinge hervorgeht. So etwa im Fall von Christa Roy, Sekretärin und Geliebte des SS-Sturmbannführers August Schiffer, die vergnügt den Folterungen beiwohnte. Sie erhielt den Beinamen „die Königin“ gerade wegen ihrer Machtposition und ihrer Verbindung zu Schiffer, die ihr unbestreitbare materielle Vorteile verschaffte.
Die vom War Crime Branch durchgeführten Ermittlungen sind eine wertvolle Quelle, und gemeinsam mit weiteren in diesem Buch vorgelegten Dokumenten erlauben sie es endlich, ein umfassendes Bild von der Geschichte des Bozner Lagers, seiner Funktionsweise und den darin begangenen Verbrechen sowie den beteiligten Personen zu zeichnen. Doch es gibt noch weitere bislang unveröffentlichte Dokumente, die einem Zufallsfund zu verdanken sind: Im Jahr 2000 kamen sie in Mailand inmitten alter Unterlagen aus der Druckerei des katholischen Antifaschisten Sady Francinetti, in der für den Widerstand Untergrundmaterial gedruckt worden war, zum Vorschein. Alle für den Druck notwendigen Maschinen und Materialien waren im April 1944 von den deutschen Nationalsozialisten eingezogen und zunächst im Lager von Fossoli, dann in jenem von Bozen eingesetzt worden. In den 1960er-Jahren waren sie zum Teil an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben worden, gemeinsam mit einer Mustersammlung von den in den beiden Lagern angefertigten Drucken. Diese Blätter liefern uns zum ersten Mal einen detaillierten Einblick in die Bürokratie, den Alltag und die Zeitpläne des Lagers.
Auf Grundlage all dieser neuen Quellen ist dieses Buch entstanden, unterteilt in fünf Kapitel:
Das erste setzt mit der Darstellung der Organisation der NS-Polizei in der Operationszone Alpenvorland ein, um dann chronologisch die Geschichte des Lagers und der dort begangenen Verbrechen darzulegen.
Das zweite Kapitel widmet sich den Biografien der wichtigsten Täter und Täterinnen, es greift dafür beinahe ausschließlich auf Verhörprotokolle zurück und liefert somit den Blick der Beteiligten, also die nationalsozialistische Innensicht auf das Lager.
Das dritte Kapitel widmet sich der Judenverfolgung in Meran.
Das vierte Kapitel rekonstruiert auf Grundlage von Fotografien die Freizeitbeschäftigungen des Führungs- und Wachpersonals, das sich bei Ausflügen aufs Südtiroler Land mit Freundinnen amüsierte, dann aber im Lager folterte und tötete. Dieses Kapitel zeigt auch Aquarellzeichnungen, die aus der pseudosatirischen Zeitschrift des Lagers stammen, deren Lektüre ebenso zur Freizeitbeschäftigung der Täter und Täterinnen zählte. In dieser sogenannten Bierzeitung wurde vor allem über Kollegen und Kolleginnen hergezogen. Die Zeichnungen sind von vortrefflicher Qualität, aber es ist nicht klar, wer sie angefertigt hat.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Geschichte der Lagerdruckerei und mit den Originaldokumenten, die in der bereits erwähnten Druckerei „Francinetti“ aufgefunden wurden. Die getroffene Auswahl der Abbildungen soll ein Bild der deutschen Bürokratie und ihres Räderwerks vermitteln, das Tausende Menschenleben zermalmte.
Einige der Originaldokumente, wie die Erinnerungen von Paula Plattner, Albino Cologna und Karl Pittschieler, wurden von ihnen selbst auf Italienisch voller Fehler niedergeschrieben, während einige Verhörprotokolle, wie jene von August Schiffer und Karl Titho, vom Deutschen ins Englische und danach ins Italienische übersetzt wurden, sodass einige Textstellen verunklärt wurden. Wo es das Sinnverständnis oder das Abgleichen mit dem englischen Original ermöglichte, wurden Korrekturen vorgenommen; wo es möglich war, wurde der in den Archiven erhaltene Text beibehalten.
Bereits vor dem 8. September 1943 waren deutsche Truppen und Polizeiverbände in Italien präsent, etwa in der Institution des Polizeiattachés. Unmittelbar nach dem 8. September gab der Reichsführer SS und Reichsminister des Inneren, Heinrich Himmler, den Befehl, Leute der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes (SD) in das gesamte besetzte Gebiet in Italien einzuschleusen.1
SS-Obergruppenführer Karl Wolff2 wurde zum Höchsten SS- und Polizeiführer in Italien und Wilhelm Harster3 zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Italien mit Sitz in Verona ernannt. Letztgenannter hatte die gleiche Position bereits in den Niederlanden innegehabt, wo er ein dichtes Unterdrückungsnetz gesponnen hatte und für die Deportation von Hunderttausenden Juden und Jüdinnen, vorwiegend nach Auschwitz, verantwortlich gewesen war. In Italien ging er nach dem zuvor in den Niederlanden erprobten Schema vor und richtete dem BdS unterstellte „Außenkommandos“ (AK) und „Außenposten“ (AP) ein.4 Ihm unterstanden auch das Konzentrationslager Fossoli bei Carpi in der Nähe von Modena und später jenes von Bozen. Harster gehörte zu den Hauptverantwortlichen für die Deportationen und Massaker, die in Italien während der deutschen Besatzung verübt wurden. Er nahm Einfluss auf die Ernennungen von SD-Funktionären, um mit den von ihm gewünschten Leuten eine schlagkräftige und ihm gegenüber loyale Polizeistruktur aufbauen zu können. So hatte er auch die Peripherien effizient unter Kontrolle.5 Einer dieser loyalen Männer Harsters war sein ehemaliger Chauffeur Karl Titho: Am 15. März 1944 wurde ihm die Leitung des Lagers Fossoli übergeben.6
Die beiden eingerichteten Operationszonen Adriatisches Küstenland und Alpenvorland fielen nicht in den Zuständigkeitsbereich des in Verona sitzenden Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Italien, sie waren relativ unabhängig.7 Die Leitung der Operationszone Alpenvorland, zu der die Provinzen Bozen, Trient und Belluno gehörten, wurde SS-Sturmbannführer Rudolf Thyrolf als stellvertretendem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) übertragen. Die Verwaltung und exekutive Gewalt der drei Provinzen, die faktisch vom Dritten Reich annektiert worden waren, wurden dem Gauleiter in Tirol-Vorarlberg, Franz Hofer8, unterstellt, der von Hitler persönlich zum Obersten Kommissar der Operationszone Alpenvorland ernannt wurde. Für die Polizeiaufgaben wurde die Abteilung I des SD eingesetzt, an deren Spitze als oberster Vertreter der SS- und Polizeigewalt der SS-Brigadeführer Karl Brunner9 stand. Dieser war neben seiner Tätigkeit als Inspektor der Sicherheitspolizei und des SD in Salzburg auch Sonderbeauftragter des Reichsführers SS Heinrich Himmler und als solcher für alle polizeilichen Angelegenheiten rund um die Umsiedlung der Optanten und Optantinnen nach Deutschland zuständig. Um beiden Aufgaben nachkommen zu können, hielt er sich abwechselnd eine Woche in Südtirol und eine Woche in Salzburg auf.
Karl Wolff, Höchster SS- und Polizei führer und General bevollmächtigter in Italien.
Wilhelm Harster, SS-Gruppenführer und Befehlshaber der SiPo und des SD in Italien.
Die von den Alliierten nach Kriegsende gesammelten Informationen über die deutsche Polizei in Italien zeichnen ein konfliktreiches Verhältnis zwischen Harster und Brunner, das von zahlreichen Unstimmigkeiten hinsichtlich der Machtausübung in der Operationszone Alpenvorland geprägt war. Dies trat offen bei der Frage zutage, wer zum Bozner Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD ernannt werden sollte: Brunner und Hofer hatten auf SS-Sturmbannführer Thyrolf gesetzt – gegen den großen Widerstand von Harster, der aber schließlich nachgeben musste.10
Tatsächlich kam es neben „regulären“ Kompetenzkonflikten zwischen SS und Gestapo auch zu Konkurrenzkämpfen zwischen Wolff/Harster und Brunner/Thyrolf, in die sich ab und an auch noch die Gestapo von Schiffer einmischte, und zu Auseinandersetzungen zwischen SS und Sondergericht. Vor diesem Hintergrund muss das Bozner Lager betrachtet werden, das hierarchisch dem BdS in Verona unterstellt war, für Personalfragen aber auf die Bozner SS zurückgriff und seine Zellen auch der Gestapo zur Verfügung stellte.
Thyrolf hatte bereits beim SD in Dresden Erfahrungen gesammelt, wo er als Gestapo-Mann für Personalangelegenheiten zuständig gewesen war. Nun baute er in Bozen das Netz des Sicherheitsdienstes auf: Unter ihm arbeiteten an die 80 Personen im Außenkommando von Bozen sowie in verschiedenen Außenposten.11 Die über ganz Südtirol verteilten Einrichtungen bestanden beinahe durchgängig aus der Abteilung I und II (Organisation und Verwaltung), der Abteilung III (SD),12 der Abteilung IV (Gestapo) und der Abteilung V (Kriminalpolizei). Den Abteilungen III und IV ließ Thyrolf besondere Aufmerksamkeit zukommen.
In seinem Zuständigkeitsgebiet waren sechs Außenposten sowie eine Reihe kleinerer Sitze aktiv, die folgendermaßen beschrieben wurden:
„… Außenposten in Trient, jenen in Belluno, Meran und später jene von Cortina d’Ampezzo, Rovereto, Roncegno und in anderen Ortschaften der Provinzen Trient und Belluno und auch einen SD-Außenposten in Bruneck.“13
In allen Außenstellen – eine Ausnahme stellte Belluno dar14 – waren ausschließlich Gestapo- und SD-Leute beschäftigt. Thyrolf schätzte insbesondere jene Mitarbeiter, „die mit Brutalität und ohne jegliche Rücksicht oder Skrupel“15 seine Befehle ausführten. Es lag an ihm zu bestimmen, ob die Verhafteten Zwangsverhören mit Misshandlungen, Schlägen und Folterungen unterzogen werden sollten. Dazu dienten ab Juli 1944 die eigens eingerichteten Zellen in den Kellerräumen des Armeekorps, des Gestapo-Hauptquartiers in Bozen.
Die Gestapo von Bozen benutzte für die Inhaftierung der Gefangenen nicht nur die Zellen im Hauptquartier, sondern auch jene im Konzentrationslager in der Reschenstraße, die im Frühjahr und Sommer 1944 errichtet worden waren. Das Bozner Lager und sein Zellenblock dienten auch dem KdS und dem BdS Verona, um politische Gegner, Partisanen und Partisaninnen, Juden und Jüdinnen, Angehörige von Roma- und Sintifamilien, sozial marginalisierte Personen, Deserteure, Geiseln und Wehrdienstverweigerer zu internieren, die aus anderen Gefängnissen im besetzten Italien überstellt worden waren. Etliche der Inhaftierten wurden misshandelt und gefoltert, viele zur Zwangsarbeit eingesetzt und der Willkür der Gefängniswärter ausgesetzt, zahlreiche dann vom Polizei- und Durchgangslager Bozen ins Reich deportiert.
An die Spitze der Abteilung IV (Gestapo) der Bozner Sicherheitspolizei wurde im Oktober 1944 SS-Sturmbannführer August Schiffer von der gleichen Position in Triest abberufen. Mit ihm wurden die Foltermethoden noch brutaler. Zusätzlich zu den bereits angewandten Methoden erlaubte Schiffer auch den Einsatz eines elektrischen Geräts, das an den Ohrläppchen und an den Genitalien der Verhafteten angebracht wurde. Seine voreilige und willkürliche Handlungsweise führte bald zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Sicherheitspolizei und dem Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland in Bozen.16 Lagen nämlich gegen Verhaftete nur geringe Anschuldigungen vor, entschied Schiffer, sie gar nicht erst dem Richter vorzuführen, sondern direkt ins Konzentrationslager von Bozen zu bringen. Einmischungen in die Zuständigkeit der Verurteilung der Gefangenen führten zu Differenzen zwischen Schiffer und den Staatsanwälten am Sondergericht, Konrad Seiler und Erich Hölzl.
Schiffer griff auch auf die Sippenhaft zurück,17 die nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 als repressive Maßnahme gegen Eltern und Familienangehörige von Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern eingesetzt wurde. Es gelang Brunner und dem Leiter der Abteilung II, Egon Denz, Oberbürgermeister von Innsbruck, Hofer davon zu überzeugen, die Sippenhaft auch für die Operationszone Alpenvorland anzuwenden, um so das Phänomen der Fahnenflucht einzudämmen. Schiffer setzte sie insbesondere bei Bauernfamilien aus dem Passeiertal, dem Ultental, aus Kastelruth und dem Trentino ein: Die Familienmitglieder der Deserteure wurden verhaftet und im Konzentrationslager von Bozen interniert, ihre Bauernhöfe beschlagnahmt und unter kommissarische Verwaltung gestellt. Diese Bauernfamilien wurden auch oft ihrer materiellen Güter beraubt. Der Großteil der von Schiffer „beschlagnahmten“ Güter wurde nicht dort untergebracht, wo der SD normalerweise offizielle Beweisstücke aufbewahrte, sondern in ein separates Depot gebracht, von wo sie dann heimlich über den Brenner verschickt wurden.
Die Sicherheitspolizei in Bozen war durch und durch korrupt. In vielen Fällen nahm sie den Gefangenen Geld ab, das dann direkt in die Taschen der Vorgesetzten floss. An der Spitze der Abteilungen für Organisation und Verwaltung (I und II) stand SS-Hauptsturmführer Fritz Rosmanek18, der von der Gestapo Innsbruck abkommandiert worden war. Er war verantwortlich für etliche Diebstähle. In Bozen wohnte er in der Villa, die dem dem jüdischen Arzt Ezio Polacco19 enteignet worden war. Rosmanek beteiligte sich vor allem in den letzten Monaten vor der Befreiung aktiv am Schmuggel und Schwarzmarkthandel nach Österreich. Neben der Villa Polacco beschlagnahmten die deutschen Behörden noch weitere Villen in ganz Südtirol, mehrere davon in Meran. Einige der für das Bozner Lager Verantwortlichen wohnten in drei solcher Villen20, denen die Bezeichnungen „eins“, „zwei“ und „drei“ gegeben wurden.21
(Unvollständige) Liste des KdS-Personals in Bozen.
Gebäude des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD am 4.-November-Platz in Bozen, heute Sitz des Alpini-Generalkommandos.
Der Lagerkommandant Titho, der für Disziplin und Züchtigung zuständige stellvertretende Lagerkommandant Hans Haage und der für die Arbeitskommandos verantwortliche SS-Unterscharführer Joseph König wohnten hingegen in einem Bauernhaus unweit des Lagers, in dem zuvor auch der SS-Obersturmführer Georg Mott22 gewohnt hatte.
Alle enteigneten Villen und Häuser wurden ihres Mobiliars und der wertvollsten Gegenstände beraubt. An diesen Plünderungen beteiligten sich neben Rosmanek auch seine Untergebenen: Thyrolfs Sekretärin Emma Kröll23 aus Innsbruck, der Leiter der Abteilung III des SD in Bozen, SS-Hauptsturmführer Helmuth Bunte aus Köln, Hilda Ölz aus Innsbruck, SS-Untersturmführer Prinoth aus Meran, SS-Untersturmführer Heinz Andergassen aus Innsbruck, die SS-Männer Stötter aus Sterzing und Seebacher (der nach dem Krieg im Krankenhaus in Meran lag), die Köchin der Villa Polacco namens Elisabetta (sic!). Thyrolf wusste von diesen Plünderungen und profitierte selbst davon.24
An den Diebstählen in der Operationszone Alpenvorland beteiligte sich auch SS-Obersturmführer Georg Karl, Leiter des SD von Belluno, der zuvor bei der Kriminalpolizei Nürnberg tätig gewesen war. Dieser war vom Sekretär der Kriminalpolizei Belluno, Karl Bölkow, bei den Vorgesetzten wegen illegitimer Razzien angezeigt worden, worauf er aber nicht etwa abgesetzt, sondern sogar mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet wurde.25
Bei den Plünderungen hatte auch die undurchsichtige Gruppe „Wendig“ die Hand im Spiel. Dazu gehörten Personen unterschiedlicher Herkunft, einfache Bürger wie auch Angehörige der Sicherheitspolizei, die vom Fälscher und SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend26 angeführt wurden.
Die Gruppe „Wendig“ unterstand direkt dem Reichsführer SS Heinrich Himmler. Im Rahmen des streng geheimen Unternehmens „Bernhard“ kaufte sie in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten jegliche Art von Waren (Kunstwerke, Edelmetalle, Immobilien etc.) mittels gefälschter Pfundnoten an, um damit unter anderem deutsche Geheimdienstaktivitäten zu finanzieren. Unter dem Tarnnamen „Sonderstab – Generalkommando III. Germanisches Dienstkorps“ operierte sie vom Parkhotel Meran und vom nahe gelegenen Schloss Labers aus.27
Bevor das Bozner Lager im August 1944 zu einem Polizei- und Durchgangslager wurde, fungierte es für einige Monate als Arbeitserziehungslager (AEL). Die Entscheidung, ein AEL einzurichten, hatte der stellvertretende Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Sturmbannführer Rudolf Thyrolf, getroffen, um mit dieser Maßnahme die überfüllten Stadtgefängnisse zu entlasten. Mit der Umsetzung dieses Plans wurde SS-Obersturmführer Georg Mott28 beauftragt, der bereits dem Lager Reichenau in Innsbruck vorstand.29
Mott sagte später aus, dass ihm die Staatspolizeileitstelle Innsbruck im Januar 1944 den Befehl erteilt habe, in Bozen ein Lager zu errichten.30 Über den tatsächlichen Beginn der Arbeiten am Lager hatte dann, so scheint es, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Italien, SS-Brigadeführer Wilhelm Harster, entschieden. Es sollte in der Reschenstraße auf dem Areal von zwei großen Militärlagerhallen, die zu einer mittlerweile aufgelösten Abteilung des italienischen Heeres gehörten, errichtet werden.31 Anfangs plante man das Lager für mindestens 1.000 Personen.32
Gedenkstein zur Erinnerung an das Lager Reichenau.
Mit dem Bau der ersten beiden Blocks (A und B) wurde in der zweiten Aprilhälfte 1944 begonnen.33 Die Arbeiten wurden von SS-Obersturmführer Brünot geleitet und von 35 bis 40 Häftlingen unter der Aufsicht des Wächters Albino Cologna ausgeführt.34 Kaum waren die ersten Blocks fertiggestellt, wurde das Arbeitserziehungslager sogleich am 15. Mai offiziell eröffnet.35
Die Bauarbeiten am Lager waren noch nicht abgeschlossen, als bereits die ersten Gefangenen eintrafen. Im Mai/Juni waren dort um die 70 Personen interniert, Mitte Juli bereits 120. Es waren vor allem Personen aus dem Südtiroler Widerstand oder Familienangehörige von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die im Rahmen der Sippenhaft als Geiseln gehalten wurden, wie auch wegen Allgemeindelikten zu Haft Verurteilte. Unter den Internierten befanden sich auch Faschisten, die sich des Ungehorsams schuldig gemacht oder der deutschen Armee Schaden zugefügt hatten, so etwa „der Folterer“ Benito Pollastrini, Sohn von Guglielmo Pollastrini, dem Führer einer paramilitärischen faschistischen Einheit.36 Diese „umzuerziehenden“ Faschisten wurden im Lager der Kategorie der Arbeiter zugeordnet, zwischen ihnen und den anderen Internierten wurde also durchgehend differenziert, ihnen wurden keine Registrierungsnummern zugeteilt und nur leichte Arbeiten zugewiesen. Sie saßen eine „Präventivstrafe“ von sechs Monaten ab, die im Falle schlechter Führung verlängert werden konnte, doch wurden sie nach und nach bald entlassen.37
Für den Wachdienst im Lager Bozen hatte Mott den für die Disziplin zuständigen SS-Oberscharführer Punge sowie ein weiteres Dutzend Wärter aus dem Lager Reichenau mitgenommen. Einige Wochen später traf auch SS-Oberscharführer Josef Papek aus Sexten im Pustertal ein, der zuvor bei den mobilen Tötungseinheiten der Einsatzgruppen an der Ostfront aktiv gewesen war, wo er „wahrscheinlich Tausende Juden“ getötet hatte.38
Unter den ersten Gefangenen, die am 26. Mai ins Lager Bozen gebracht wurden, befanden sich auch 26 Häftlinge aus den Gefängnissen des Bozner Gerichts. Einer von ihnen war der Medizinstudent Karl Pittschieler, der später zum Arzt der Internierten berufen werden sollte. In seinem Verhör vor den Alliierten am 15. Juni 1945 zeichnete er ein Bild der Gewalt, die die Wächter die Ankömmlinge sogleich spüren ließen:
„Als wir das Lagertor überschritten, wurden wir von SS-Oberscharführer Punge, einem Hamburger, der zuvor im Lager Reichenau in Tirol gedient hatte, grundlos geschlagen. Zweifelsohne sollte uns so gezeigt werden, dass wir von nun an einer überlegenen, brutalen Macht unterworfen waren. Ich versichere, dass keiner von uns 26 Häftlingen auch nur den geringsten Anlass für diese Misshandlung gegeben hatte, denn wir waren niedergeschlagen, als wir feststellen mussten, dass wir nun in ein Konzentrationslager gebracht worden waren.“39
Das Lager Bozen und seine Umgebung, aufgenommen von einem alliierten Aufklärungsflugzeug wahrscheinlich im Frühjahr 1945. Rechts im Bild erkennt man den Eisack, in der Mitte die Baracken des Durchgangslagers mit der Reschenstraße, die sich durchs Bild zieht. Im oberen Teil des Bildes sieht man einen Teil des neu errichteten Stadtviertels „Semirurali“.
Der nebenstehende Bildausschnitt zeigt das Gelände des Konzentrationslagers. Links unten im Bild sieht man die Villa, in der Kommandant Karl Titho wohnte.
Alle von den Alliierten gesammelten Aussagen stimmen darin überein, dass die Bedingungen im Bozner Arbeitserziehungslager als „in jeder Hinsicht sehr schlecht“ beschrieben werden. Organisationsstruktur und Disziplin wurden vom Lager Reichenau in Innsbruck übernommen, von wo auch fast alle Wächter kamen. Kontakte der Internierten mit Externen („Zivilisten“) waren verboten. Im Lager hatte die Peitsche das Sagen. In den ersten dreieinhalb Monaten mussten die Häftlinge nachts auf einer „blanken Pritsche schlafen und tagsüber schwere Bauarbeiten im Lager verrichten“. Einige wurden auch als Arbeitskräfte in einer Kiesgrube eingesetzt. Abends aber galt es, Übungen und Gymnastik zu machen. Das Essen reichte nicht, auch deshalb, weil Mott und seine Leute die von Familienangehörigen geschickten Lebensmittelpakete stahlen und dem Lagerkoch Max Tscharf befahlen, das beste Essen nur ihnen und ihren Gästen angedeihen zu lassen. Einen Teil der Waren, die Mott erbeuten konnte, brachte er selbst nach Innsbruck, wohin er regelmäßig fuhr.40
Die Häftlinge waren oft Peitschenhieben und weiteren körperlichen Schikanen ausgesetzt. So wurden sie etwa gezwungen, sich nackt mitten auf den Lagerplatz zu stellen, wo die Wärter dann einen harten Wasserstrahl auf ihre Körper, vor allem auf ihre Genitalien, richteten. Die Getroffenen erlitten große Schmerzen, trugen Schwellungen und Blutergüsse davon.41 Weder ihnen noch den kranken oder verletzten Internierten stand eine medizinische Behandlung zu; in der Zeit, als Mott dem Lager Bozen vorstand, gab es dort keine Krankenstation und auch keine Medikamente.42
Die Bauarbeiten liefen weiter, der Kommandant war oft abwesend, Anhänger Mussolinis trafen auf antifaschistische Widerstandskämpfer – all diese Faktoren trugen dazu bei, dass im Lager ein großes Durcheinander herrschte. Davon profitierten Motts Mitarbeiter Punge und Papek, sie hatten freie Hand und misshandelten die Internierten – grundlos. Besonders brutal gingen der SS-Oberscharführer Punge und SS-Sturmmann Josef Mittermair aus Deutschnofen gegen die jüdischen Internierten vor.43 Speziell auf den über 70-jährigen jüdischen Bozner Rechtsanwalt Alexander Löw44 hatten sie es abgesehen, sie quälten ihn täglich. Eine besonders grausame Folter, die Löw erleiden musste, bestand darin, dass er von Punges Wolfshund in die Füße und Beine gebissen wurde.45 Der Häftling Tullio Bettiol46 erinnerte in seiner Zeugenaussage daran, wie Löw behandelt wurde:47
„Er war ein Skelett. Die Wachen machten sich einen Spaß daraus, ihn vor einen Schubkarren zu stellen, den sie mit einem Gewicht beluden. Sobald der alte Häftling den Schubkarren anhob, kippte dieser nach vorn, sodass der Unglückliche stürzte. An diesem Punkt hetzten die Wachen die Wolfshunde auf ihn, um ihn zum Aufstehen zu zwingen. Wir mussten machtlos zusehen.“48
Bettiol war am 8. Juli 1944 ins Lager Bozen gebracht worden, sein Zeugnis gibt uns also auch darüber Aufschluss, welche Behandlung die Internierten bei ihrer Ankunft im Arbeitserziehungslager in der Reschenstraße erfuhren:
„Ich bekam die Nr. 81, Sommavilla49 die Nr. 82. Wir wurden kahl geschoren, sie nahmen uns die Kleider weg, ließen uns nur die Schuhe und gaben uns eine Art blauen Arbeitsanzug (Hose und Jacke). Am linken Arm war das rote Dreieck aufgenäht. Die Hose war auf Kniehöhe und die Jacke an der Rückseite mit einem roten Streifen gekennzeichnet.“50
Von der Eröffnung bis Mitte Juli 1944 waren im Bozner Arbeitserziehungslager nicht mehr als 150 Personen interniert, unter ihnen waren keine Frauen. Es sind nur wenige Zeugenberichte überliefert, die sich auf diese Phase des Lagers beziehen, daher wissen wir wenig über dessen Alltag und Organisation. Gewiss ist aber, dass sich aus dieser Struktur das spätere Polizei- und Durchgangslager entwickelte.
In den ersten Juliwochen 1944 beschloss Wilhelm Harster, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Verona, das Polizei- und Durchgangslager Fossoli bei Carpi aus Sicherheitsgründen zu schließen und nach Bozen zu überführen. Fossoli war eines der wichtigsten Konzentrationslager in Italien, in dem politische Häftlinge sowie Juden und Jüdinnen interniert und von wo aus sie in die deutschen Vernichtungslager deportiert wurden.51
Die erste Gruppe von Internierten wurde am 22. Juli, eine zweite und dritte am 26. bzw. 31. Juli in das Arbeitserziehungslager von Bozen verlegt. Sie fanden im Lager von Bozen härtere Bedingungen vor als im Lager Fossoli. Georg Mott, der anfänglich alles drangesetzt hatte, diese Häftlinge nicht zugewiesen zu bekommen, unterwarf sie nun den strengen Vorschriften, die im Arbeitserziehungslager herrschten. Der schlechte Zustand des sich noch im Bau befindlichen Lagers, die strengen Vorschriften und die knochenharten Wärter führten, so Paula Plattner, dazu, dass eine Massenflucht der von Fossoli gekommenen Internierten gedroht hätte, wenn nicht Titho mit den Wächtern von Fossoli rechtzeitig nachgekommen wäre.52
Das Konzentrationslager Fossoli-Carpi in den 1950er-Jahren.
Mott, Punge und Papek hatten bis dahin, auch in den letzten Tagen ihrer Anwesenheit im Lager Bozen, alles ihnen Mögliche geplündert, um dann vollbeladen nach Innsbruck zurückzukehren. Gut möglich, dass einer der Gründe für ihre Suspendierung in diesen Diebstählen lag; denn Mott wurde tatsächlich Anfang August 1944 „wegen disziplinarischer Verfehlungen nach Padua zur Bandenbekämpfung abkommandiert“,53 während Punge und Papek in das Lager Reichenau zurückgeschickt wurden.54
Die Strafversetzung bewog Mott dazu, das Lager Bozen noch zwei Tage vor der Ankunft des neuen Kommandanten zu verlassen; damit war eine reguläre Übergabe nicht möglich.55 Am 5. August 1944 übernahm SS-Untersturmführer Karl Friedrich Titho formell die Führung des Lagers Bozen, zuvor hatte er das Lager Fossoli geleitet. Mit ihm übersiedelte ein Großteil des Personals vom Lager bei Carpi nach Bozen. Titho war enger Vertrauter des KdS in Verona, Wilhelm Harster. Bald nach seiner Ankunft in Bozen begann er damit, das Arbeitserziehungslager in ein Polizei- und Durchgangslager umzuformen.
Der Wächter Albino Cologna schilderte diese Tage des Übergangs:
„Mitte Juli war die Zahl der Gefangenen auf etwa 350 gestiegen und um den 10. August herum wurde das Lagerkommando von Tito56 übernommen. Er kam aus dem Konzentrationslager Fossoli (Carpi di Modena) und brachte seine Leute mit, unter ihnen einige Ukrainer, Spezialisten für Massaker. […] Die Zahl der Gefangenen nahm täglich zu und das Lager änderte seinen Namen von ‚Erziehungslager‘ in ‚Durchgangslager‘.“57
Über die Verlegung des Lagers Fossoli nach Bozen und die Neuorganisation des Lagers Bozen sprach der Kommandant Titho auch im Verhör vor den Alliierten im August 1945, das hier auszugsweise wiedergegeben wird:58
„Das kontinuierliche Heranrücken der Front, die ungünstigen Verkehrsverbindungen wie auch die Tatsache, dass das Lager rund 40 Kilometer südlich des Po lag, schließlich die ständige Gefahr von Bombenangriffen veranlassten den BdS dazu, das Lager Fossoli-Carpi aufzulösen und nach Bozen zu verlegen.59
In Bozen war bereits ein Arbeitserziehungslager errichtet worden und ein Zellenblock wurde gebaut, der dem KdS als Polizeigefängnis dienen sollte.
Am 5. August 1944 übersiedelte ich mit dem Personal von Fossoli und einer Gruppe von etwa 350–400 Gefangenen nach Bozen. Diese Gefangenen wurden kurz darauf, beinahe alle bis auf 78 Mann, zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Bei meiner Ankunft in Bozen fand ich etwa 120 Gefangene vor. Bis dahin waren in Bozen keine Frauen interniert. In Fossoli hatte ich insgesamt etwa 200 Frauen, die für sich selbst sorgten, das heißt, sich selbst beaufsichtigten. In Bozen sollten keine Frauen interniert werden. Doch es kam anders.
Vor mir war der SS-Obersturmführer Mott Lagerkommandant in Bozen. Mit ihm befand sich hier ein kleines Kontingent von Lagerpersonal. […]
Die (unvollständige) Personalliste des Konzentrationslagers Bozen.
Auch in Bozen wurden die Gefangenen wie in Fossoli in einer Kartei erfasst. Die Karteikarten der Gefangenen, die ich in Fossoli hatte, brachte ich mit nach Bozen, wo ich diese Praxis weiterführte. Die Häftlinge wurden in einer sogenannten Eingangskartei erfasst, in der alle ins Lager gebrachten Gefangenen rigoros in alphabetischer Reihenfolge ihrer Nachnamen eingeordnet wurden. Wenn Häftlinge entlassen oder deportiert wurden oder starben, wurde die Karteikarte aus der Eingangskartei herausgenommen und in streng alphabetischer Reihenfolge in eine Ausgangskartei eingeordnet. Darauf wurde der Grund für den Austritt kurz vermerkt. Darüber hinaus wurde eine numerische Kartei geführt. Jedem Häftling wurde eine fortlaufende Nummer zugeteilt. Wenn einer der Internierten das Lager verließ, wurde seine Nummer nicht an einen anderen vergeben. Auf diese Weise konnte ich immer sofort feststellen, wie viele Häftlinge das Lager im Laufe der Zeit durchlaufen hatten.
Wie in Fossoli-Carpi habe ich auch in Bozen versucht, die Gefangenen entsprechend ihren Fähigkeiten und Stärken zu beschäftigen. Es wurden Werkstätten aller Art errichtet, deren Maschinen ich größtenteils von Fossoli-Carpi nach Bozen brachte. Außerdem richtete ich in Bozen neue Werkstätten ein und vergrößerte bereits bestehende.
Ich sorgte dafür, dass die Häftlinge in sauberen Räumen untergebracht wurden, ließ eine Krankenstation und eine Apotheke einrichten, bemühte mich allgemein darum, in jeglicher Hinsicht Ordnung im Lager von Bozen zu schaffen. Die medizinische Versorgung der Häftlinge wurde dem Medizinstudenten Karl Pittschieler anvertraut, der bereits in Bozen war und dort anfänglich sogar selbst interniert gewesen war. Ihm standen auch Arztspezialisten aus den Reihen der Internierten zur Verfügung. Ich habe den Lagerarzt von Fossoli, Dr. Reinhard Wagner, nicht mit nach Bozen genommen, denn er war zu oberflächlich und immer schwer erreichbar.“
Titho fand in Bozen also eine andere Situation vor als in Fossoli. Am Lager wurde noch gebaut, es fehlte Wasser, die sanitären Einrichtungen waren mangelhaft und die Anzahl der Internierten stieg in kürzester Zeit von einigen Dutzend auf mehrere Hundert an.60
Aus den Vernehmungsprotokollen des „Lagerarztes“ Karl Pittschieler und der Sekretärin und Dolmetscherin Paula Plattner – beide waren durchgängig im Lager Bozen beschäftigt – geht hervor, dass sich die Bedingungen im Lager mit Tithos Ankunft verbesserten. Pittschieler hielt fest:
„Das Essen wurde besser und reichlicher, die Arbeit wurde regelmäßiger organisiert und war nicht mehr so anstrengend wie zuvor. Tito kümmerte sich auch darum, dass die Gefangenen Obst kaufen konnten, er willigte ein, dass sie Pakete von ihren Familien erhalten konnten, dafür richtete er eine eigene Organisationsstelle ein. Die sanitären Bedingungen verbesserten sich sichtlich. Jeder Block erhielt eine Toilette und eine Wasserversorgungsanlage, die Gefangenen durften ihre eigene Kleidung tragen und diejenigen, die keine Unterwäsche hatten, bekamen welche ausgeteilt, ebenso Zahnbürsten, Seife usw.
Erst unter Tito wurde die medizinische Versorgung eingerichtet. Ich hatte als Lagerarzt große Bewegungsfreiheit. Eine Krankenstation wurde eingerichtet, ich erhielt ein Untersuchungszimmer mit den dafür notwendigen Instrumenten, sogar ein Mikroskop und eine Schreibmaschine. Ich konnte Medikamente und medizinisches Material kaufen, wofür mir Tito die notwendigen Summen zur Verfügung stellte. Ich konnte eine Lagerapotheke und eine Zahnarztpraxis61 einrichten. Zwei Häftlinge, ein Apotheker und ein Zahnarzt, wurden diesen zugeteilt. Mir standen weitere drei bis vier Ärzte zur Seite, auch sie Lagerinternierte. […]
Tito hat Schläge verboten und, soweit ich weiß, hat er sie weder angeordnet noch gebilligt.“62
Paula Plattner sprach von einer wesentlichen und „spürbaren“ Verbesserung der „Bedingungen der Lagerführung“. Auch sie bestätigte, dass nun „reichlich“ Essen zur Verfügung stand und der „Arbeitseinsatz nun geregelt wurde“. Sie fügte hinzu, dass „Tito den Lagerbetrieb neu aufstellte“ und Verwaltungsbereiche einführte, die es vorher nicht gegeben hatte.
Titho kam im Verhör vor den Alliierten mehrmals auf die Themen der Hygiene und Gesundheitsversorgung zu sprechen und betonte, dass während seiner Zeit als Leiter im Lager „keine nennenswerten Epidemien aufgetreten“ seien, wenngleich es einige Fälle von Typhus und Diphtherie gegeben habe. Als weiteren Beleg für die guten hygienischen Bedingungen im Lager führte er an, dass im Jahr 1944 nur vier Todesfälle, von denen drei im städtischen Krankenhaus und nur einer im Lager selbst eingetreten seien, und 1945 17 Todesfälle zu verzeichnen gewesen seien.63
Um seine „gute“ Führung des Lagers zu unterstreichen, führte der Kommandant vor den Alliierten aus, was er alles zur Verbesserung des Alltags der Internierten unternommen habe:
„Ich gab enorme Summen für die Instandhaltung der Hygiene im Lager und für die medizinische Versorgung der Inhaftierten aus. Die dem Lager zugewiesenen Lebensmittel wurden allesamt tatsächlich an die Küche geliefert; zusätzlich wollte ich noch weitere Waren auf dem freien Markt kaufen, so ließ ich 1.400 Doppelzentner an Obst beschaffen und an die Gefangenen verkaufen.“64
Wenngleich die Verpflegung im Lager knapp und unzulänglich war, beschrieben einige Internierte die Kost tatsächlich als „nicht scheußlich, aber fad“. Die zum Arbeitsdienst bestimmten Internierten hatten Anrecht auf zwei Mahlzeiten am Tag. Trotz allem blieb die Verpflegung jedoch stets hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück und wurde in der letzten Phase immer prekärer. Ebenso war die hygienisch-gesundheitliche Situation angesichts des vorherrschenden Medikamentenmangels und Läusebefalls problematisch.65
Es kam hingegen beinahe täglich zu Gewaltakten, und wohl nur in wenigen Fällen wusste der Kommandant tatsächlich nichts davon. Wenngleich es durchaus zu einer Verbesserung der Situation kam, entsprach sie aber gewiss nicht den idyllisch anmutenden Beschreibungen von Pittschieler und Plattner. Am 5. August 1944 wurde die erste Massendeportation von 307 Personen von Bozen nach Mauthausen organisiert. Somit hatte das Bozner Lager nun eine neue Funktion inne, nämlich die eines Polizei- und Durchgangslagers.66
Das Lager von Bozen wurde auch in verwaltungsorganisatorischer Hinsicht nach dem Vorbild des Lagers von Carpi umstrukturiert.67 Die Neuordnung wurde vom Kommandanten folgendermaßen zusammengefasst:
„Ich habe in Bozen dieselbe Lageraufteilung in Arbeitsbereiche vorgenommen, wie ich es bereits in Fossoli gemacht hatte. Ich unterteilte das Lager in:
Abt. I und II: Lagerkommandantur samt Personalangelegenheiten und Postbüro;
Abt. III: Schutzhaftlager;
Abt. IV: Verwaltung.
Die Leitung des Schutzhaftlagers wurde SS-Oberscharführer Hans Haage übertragen. Ihm oblag es, die Häftlinge in Empfang zu nehmen, im Karteisystem einzutragen, in Wohnblocks unterzubringen und ihnen die Arbeiten zuzuweisen, sich um die Häftlinge im Inneren des Lagers zu kümmern und ebenso einfache Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen.“68
Zusätzlich zu den vier bereits erwähnten Abteilungen gab es noch „Sanitätswesen“ (V) und „Arbeitseinsatz“ (VI).69
Im November 1944 waren mit der Fertigstellung des Zellenblocks, der als Gefängnis diente, die Bauarbeiten am Lager fast abgeschlossen. Wie das Polizei- und Durchgangslager Bozen zu jenem Zeitpunkt aussah, wurde in einem am 23. Dezember 1944 in der Schweizer Zeitung „Libera Stampa“ von Lugano veröffentlichten Artikel eindrücklich beschrieben.70
Der Bericht war von der Widerstandsgruppe innerhalb des Lagers verfasst und der externen Gruppe der Resistenza71
