Der andere ist nicht die Hölle - Barbara Kiesling - E-Book

Der andere ist nicht die Hölle E-Book

Barbara Kiesling

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Beschreibung

Warum scheitern so viele Beziehungen trotz bester Vorsätze und größter Bemühungen? Und warum leben auch Paare, die sich nicht trennen, langfristig oft nur nebeneinander statt miteinander? Warum erscheinen viele Partnerschaftskonflikte so unauflöslich, dass scheinbar nur Trennung oder Resignation als Ausweg bleiben, obwohl doch die Beziehung zu Beginn so wunderschön war? Dieses Buch erklärt umfassend, fundiert und verständlich die komplexe Dynamik von Paarbeziehungen und ihrer Konflikte. Wesentlich ist dabei die Erkenntnis, dass niemals nur einer an den Konflikten „schuld“ ist, sondern stets beide Partner ihren Anteil dazu beitragen. Sie erhalten mit diesem Buch einen verlässlichen Führer, der Sie dorthin bringt, wo alle Paare gerne wären: auf den Weg zu einer echten „Himmelsbeziehung“. Dr. Barbara Kiesling ist Diplom-Paarberaterin und promovierte Psychologin. Sie ist Autorin von vier Büchern über das unbewusste Zusammenspiel in Paarbeziehungen und hat zahlreiche Fachbeiträge und Artikel veröffentlicht, unter anderem in Psychologie Heute. Mehr Informationen unter www.paar-beratung-online.de.

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Barbara Kiesling

Der andere ist nicht die Hölle

Wie Paare dem Himmel näherkommen

Copyright © 2018 Barbara Kiesling

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf – auch auszugsweise – nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin und des Verlegers vervielfältigt oder kommerziell genutzt werden. Ausgenommen sind kurze Zitate mit Quellenangabe.

Überarbeitete, erweiterte Neuausgabe

Originalausgabe erschienen 2007 bei Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Dieses E-Book basiert auf der 2. Auflage, 2018

Starkmuth Publishing, Hennef – www.starkmuth.de

ISBN 978-3-947132-04-1

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vorbemerkungen

Die holistische Perspektive

Das Schuldprinzip ist schuld

Die Projektion von Schuldgefühlen

Eine kleine Revolution mit großen Folgen

Der Partner als Spiegel

Die fiktive Kontaktanzeige

Partnerwahl ist keine Partner-Wahl

Partnerwahl und Selbstgefühl

Gründe für das Verlieben

Die Wahrnehmung des Partners

Himmel, Hölle, Zwischenreich: Drei wesentliche Beziehungsgruppen

Der Himmel – reife, befriedigende Beziehungen

Von der Verliebtheit zur Liebe

Die reife Paarbeziehung

Merkmale der reifen Partnerschaft

Wertschätzung des Partners

Fähigkeit zur Ambivalenz

Ebenbürtigkeit im Selbstwertgefühl

Wechselseitige Spiegelung

Offene Kommunikation

Freiheit

Klare Grenzziehungen

Periodisches Stark- und Schwachsein

Das Gesetz des Ausgleichs

Erfüllte Sexualität

Treue

Paarkonflikte

Normale Paarkonflikte

Untreue

Trennung als scheinbar letzter Ausweg

Reife Beziehungen in der Krise: Falldarstellungen

Voraussetzungen für reife Beziehungen

Loslösung

Individuation

Autonomie

Selbstachtung

Liebesfähigkeit

Die Bewältigung des Ödipuskomplexes

Das Zwischenreich – unbefriedigende Beziehungen

Die Dynamik unbefriedigender Paarbeziehungen

Narzisstische Störungen und Partnerschaft

Kollusionen

Symbiotische Beziehungen

Neurotische Paarkonflikte

Eifersucht

Neurotische Untreue

Die Ursachen unbefriedigender Beziehungen

Misslungener Loslösungs- und Individuationsprozess

Die Blockierung autonomer Strebungen

Fehlende Selbstachtung

Fehlende Liebesfähigkeit

Unbewältigter Ödipuskomplex

Unbefriedigende Beziehungen in der Krise: Falldarstellungen

Die Hölle – unreife, destruktive Beziehungen

Die Dynamik von Misshandlungsbeziehungen

Ich liebe dich – ich töte dich

Aufstieg gen Himmel – wie geht das?

Der Wunsch nach lebenslangem Liebesglück

All we need is love

Begehren und Leidenschaft

Plädoyer für die Entwicklung unseres Liebespotenzials

Dem Himmel näherkommen

Vorwärts in die Vergangenheit

Der Mensch im Stadium der Menschwerdung

Die Evolution der Eltern-Kind-Beziehungen

Paarbeziehungen im Wandel

Resümee

Anhang

Kleiner Fragebogen: Zu welcher Beziehungsgruppe gehört meine Partnerschaft?

Anmerkungen

Literatur

Empfehlungen aus unserem Verlagsprogramm

Die Hölle, das sind die anderen.

Jean-Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft

Vorwort

Gibt man das Suchwort „Partnerschaft“ in die Suchmaschine eines großen E-Buchhändlers ein, so erhält man rund 10 000 Treffer.

Obwohl hierunter auch Themen wie „Partnerschaft mit Pferden“ oder „Mensch und Hund“ zu finden sind, so lässt sich doch unschwer erkennen, dass es bereits eine Fülle von Büchern gibt, die sich mit diesem nahezu wichtigsten Bereich unseres Lebens beschäftigen. Doch weder die bahnbrechenden Erkenntnisse auf diesem Gebiet noch das ernsthafte Bemühen, alle Ratschläge zu beherzigen, die von Fachleuten empfohlen werden, konnten bisher bewirken, dass die Scheidungszahlen wesentlich sinken.

Und die Zahl derer, die sich mit ernsthaften Partnerschwierigkeiten durchs Leben quälen, ist nach wie vor sehr groß. Andere wiederum haben schon längst resigniert und finden sich – mehr oder weniger – mit den scheinbar unabänderlichen Gegebenheiten ab.

Natürlich hoffen sie alle insgeheim, der Partner* möge sich endlich ändern; oder sie warten darauf, dass sich die Konflikte irgendwann irgendwie von allein auflösen. Doch diese – in die Zukunft verlegten – Hoffnungen erfüllen sich kaum. Denn Hoffnungen können sich nicht erfüllen, wenn ihnen irrtümliche Vorstellungen zugrunde liegen.

* Ich verwende in der Regel das Wort „Partner“, auch wenn ich damit die Partnerin meine. Damit sollen so umständliche Schreibformen wie: „Partner/in“, „Partner und Partnerin“ oder „er beziehungsweise sie“ vermieden werden.

Eine dieser irrtümlichen Vorstellungen hat Sartre auf die – herausfordernde – Formel gebracht: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Obwohl es sich auf dem Höhepunkt einer Krise absolut richtig anfühlt, den anderen als verantwortlich für die Eskalation anzusehen, befindet man sich diesbezüglich oft in einem folgenreichen Irrtum. Nicht selten liegt hierin die Ursache für das Scheitern einer Beziehung.

In dem vorliegenden Buch soll es deshalb darum gehen, jene verborgenen Zusammenhänge zu beleuchten, die maßgeblichen Einfluss auf das Gelingen oder Scheitern von Beziehungen haben. Ich habe mich dabei bemüht, die maßgeblichen tiefenpsychologischen Konzepte so darzulegen, dass sie auch von Leserinnen und Lesern verstanden und nachvollzogen werden können, die sich bisher nicht damit vertraut machen konnten.

Darüber hinaus habe ich eine Differenzierung von Partnerschaften in drei wesentliche Gruppen vorgenommen, die ich „Himmel“, „Hölle“ und „Zwischenreich“ nenne. Die Einteilung in diese drei Seinszustände soll den Partnern dazu verhelfen, den Zustand der eigenen Partnerschaft bestimmen zu können und infolgedessen eine Ahnung davon zu bekommen, weshalb die eigene Partnerschaft nicht so verläuft, wie es den eigentlichen Wünschen entspricht.

Ausführlich beschäftige ich mich mit den Voraussetzungen für eine glückliche Partnerschaft. Denn alle diejenigen, denen diese Voraussetzungen bekannt sind, können auch dazu ermutigt werden, die notwendigen Schritte in Angriff zu nehmen, um solche Grundlagen in ihrem eigenen Leben zu schaffen. Diejenigen, deren Zusammenleben bereits durch heftige Krisen erschüttert wird, finden Anhaltspunkte, die ihnen die Einschätzung ermöglichen, inwieweit die Partnerschaft noch ausreichendes Potenzial besitzt, das heißt, ob es sich lohnt, zu kämpfen oder ob die Hürden schon so hoch sind, dass jede Anstrengung vergebliche „Liebesmüh“ wäre.

Vorbemerkungen

Vor einigen Jahren kamen Herr und Frau Weisnich* in die Paarberatung. Sie saßen vor mir und hörten sich – scheinbar geduldig – meine einführenden Worte an. Als ich sie anschließend darum bat, selbst zu entscheiden, wer mir als Erster den Grund ihres Kommens schildern wollte, gaben sie sich zunächst wechselseitig den Vorrang. Jeder von ihnen wollte sich offenbar in einer Weise präsentieren, die mir sofort signalisierte, dass die Krise keineswegs von ihm ausging.

* Alle im Buch genannten Namen von Klienten wurden geändert, um deren Anonymität zu wahren.

Als sie sich geeinigt hatten, begann Frau Weisnich zu berichten. Zu Beginn war ihr Bemühen um Sachlichkeit noch groß. Doch zunehmend mischten sich immer heftiger werdende Emotionen in ihre Worte, die sie im Verlauf ihrer Rede immer weniger unterdrücken konnte. Mithilfe ihrer Körperhaltung, ihrer Stimmlage und ihres Gesichtsausdrucks suchte sie zuletzt geradezu flehentlich nach Akzeptanz ihrer Darstellung. Sowohl Haltung als auch Worte drängten danach, mich auf ihre Seite zu ziehen. Es war offenkundig, dass sie in mir eine Verbündete suchte, damit wir hernach dem Herrn Weisnich gemeinsam die Meinung sagen und ihn endlich zur Annahme von Vernunft auffordern könnten.

Dann war Herr Weisnich an der Reihe. Mit seiner Darstellung verhielt es sich nicht anders als bei seiner Frau. Auch er wollte mich von seiner Sicht überzeugen, der zufolge der Ehekonflikt allein dem Verschulden von Frau Weisnich zuzuschreiben war.

Nachdem beide Partner den Sachverhalt aus ihrer jeweiligen Perspektive mitgeteilt hatten, schauten sie erwartungsvoll in meine Richtung. Jeder von ihnen erwartete, ich möge doch nun – ganz so, wie ein Richter es täte – darüber befinden, wer im Recht war und wer dem anderen Unrecht tat. Jeder glaubte fest daran, dass seine Position die überzeugendere sei und auch ich dies einsehen müsste.

Wie es in der Sitzung mit dem Ehepaar Weisnich weitergegangen ist, werde ich im Abschnitt „Eine kleine Revolution mit großen Folgen“ berichten. An dieser Stelle möchte ich zunächst erläutern, dass ich mich im Folgenden einerseits immer auf die Beziehung als „Gesamtorganismus“ beziehen werde. Denn von dieser Betrachtungsweise ausgehend lassen sich Paarkonflikte am besten lösen.

Andererseits werde ich immer die einzelnen Partner in den Mittelpunkt stellen. Das mag zunächst wie ein Widerspruch erscheinen. Wenn man sich jedoch eine Paarbeziehung bildlich wie einen zweischenkligen Triumphbogen vorstellt, dann erkennt man, dass zwei voneinander getrennte – eigenständige – Säulen durch eine – wie auch immer gestaltete – Dachkonstruktion miteinander verbunden sind. Die Beschaffenheit der Bausubstanz entscheidet darüber, ob das Bauwerk insgesamt beständig oder vom Einsturz bedroht ist. Denn der Triumphbogen bildet eine eigene Einheit. Doch das Gesamtbauwerk besteht nun einmal vornehmlich aus seinen beiden Säulen. Und so, wie es beim Triumphbogen immer zwei gleiche Säulen sind, die ein Ganzes bilden, finden auch in der Paarbeziehung immer zwei Partner mit gleichartigen Strukturen zu einer Gesamtheit zusammen. Auf diesen noch wenig berücksichtigten Umstand werde ich später ausführlich eingehen. Denn in diesem Umstand liegt die Ursache für viele Paarkonflikte.

Eigentlich ist es keineswegs etwas Neues, Partnerschaften als eine in sich geschlossene Einheit zu betrachten. Sämtliche systemischen Ansätze, das heißt Ansätze, die die Partnerschaft als ein geschlossenes System begreifen, beziehen sich bereits darauf. Doch das damit verbundene Wissen konnte bei den meisten Menschen bisher noch nicht in deren Beziehungsalltag integriert werden.

In dem vorliegenden Buch wird der Blick deshalb in erster Linie auf die „einzelne Säule“ gerichtet, weil diese stets auch Rückschlüsse auf die „andere Säule“ – und damit auf das Gesamte – zulässt. So überzeugend eine solche Sichtweise auch sein mag, so schwierig ist es jedoch, diese im alltäglichen Leben konsequent durchzuhalten. Es ist ein gewisses Maß an Bewusstheit erforderlich, um in einer Konfliktsituation dem Reflex zu widerstehen, dem anderen die Schuld dafür anzulasten. Doch je mehr wir in der Lage sind, uns selbst als Verursacher unserer Konflikte zu erkennen, desto eher können wir das damit verbundene Leid aus unserem Leben verbannen.

In keinem Bereich unterliegen wir so großen Irrtümern wie in der Partnerschaft. Das beginnt schon mit den Vorstellungen hinsichtlich der Partnerwahl. Beispielsweise, wenn diejenigen, die in einer unbefriedigenden Partnerschaft leben, beklagen, „einfach nur an den Falschen geraten“ zu sein. Denn man kann gar nicht an „den Falschen“ geraten, weil es diesen „Falschen“ schlichtweg gar nicht gibt. Vielmehr ist jeder Partner, so abträglich manche auch – in Konfliktsituationen oder nach einer Trennung – über ihn urteilen mögen, lediglich ein Spiegel für die eigene Person. Das ist eine bedeutsame Erkenntnis.

Schließlich brauchen wir immer einen Spiegel, da wir uns selbst ja nicht sehen können. Denn so, wie wir uns nicht selbst in die Augen schauen können, sind wir auch nicht in der Lage, uns ohne den anderen wirklich zu erkennen. Deshalb ist der Umstand, dass wir in der Person des Partners unsere verborgenen Anteile entdecken können, von so großer Tragweite. In einer Partnerschaft wird das sichtbar, was ansonsten unsichtbar bleiben würde. Denn anhand der Qualität des Zusammenseins lassen sich wichtige Informationen über den Einzelnen gewinnen. Das heißt, der Zustand einer Zweierbeziehung gibt Auskunft darüber, wie es im Inneren jedes Partners aussieht und wo dieser in seiner Entwicklung steht. Es ist jedoch gar nicht so leicht, aus seiner Paarbeziehung Rückschlüsse auf das eigene Innere zu ziehen. Man braucht dafür Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren kann.

Aus diesem Grund habe ich Partnerschaften in drei wesentliche Beziehungsgruppen eingeteilt, die ich aufgrund ihrer Merkmale als Gruppe der reifen, befriedigenden Beziehungen („Himmel“), der unbefriedigenden Beziehungen („Zwischenreich“) und der unreifen Beziehungen („Hölle“) bezeichne.

Natürlich sind solche Klassifizierungen immer stark vereinfacht. Dennoch erlauben diese Zuordnungen verlässliche Aussagen. Zumindest kann man sich einen Überblick verschaffen, wie es um die eigene Partnerschaft wirklich steht und ob eine unbefriedigende Partnerschaft wieder glücklich werden kann oder womöglich gänzlich scheitern wird.

Als Orientierungshilfe sollen Falldarstellungen dienen, die jeweils einer wesentlichen Beziehungsgruppe zugeordnet sind. Für die ersten beiden Gruppen habe ich Paarkonflikte aus meiner Beratungspraxis herangezogen. Die Gruppe der unreifen Beziehungen werde ich an einem Beispiel aus einer eigenen Studie (Kiesling, 2002) vorstellen.

Womöglich müssen sich manche Leserinnen und Leser im Verlauf der Lektüre eingestehen, dass ihre Beziehung nicht so ist, wie sie es sich eigentlich wünschen. Auf einer unterschwelligen Ebene haben sie dies sicher vorher schon gewusst. Jetzt aber besteht die Chance zur Veränderung. Denn wir können uns oft erst dann, wenn wir uns einer abträglichen Situation voll bewusst geworden sind, daranmachen, etwas zu verändern. Und das ist in jedem Fall ein lohnender Weg.

Im Abschnitt „Zurück in die Vergangenheit“ beschreibe ich ein von mir entwickeltes Verfahren, das maßgeblich zur Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung, vor allem aber zur Entwicklung der Liebesfähigkeit beitragen könnte. Und das scheint mir eine der entscheidenden Aufgaben für uns Menschen zu sein: die Entwicklung unseres Bewusstseins und unserer Liebesfähigkeit.

Die holistische Perspektive

Wie bereits angedeutet, lassen sich Partnerschaftskonflikte am besten durch die Einnahme eines holistischen Standpunktes lösen. Der Begriff „holistisch“ leitet sich von dem altgriechischen Wort „holon“ ab, welches „das Ganze“ bedeutet. Unter Holismus (zum Hologramm siehe Anmerkung 1 am Ende des Buches) versteht man demnach eine Sichtweise, in der jeweils das Ganze in den Blick genommen wird. Jedes Detail, so die Auffassung, trage nämlich das Ganze in sich.

Die holistische Betrachtungsweise tendiert demnach dazu, alle Erscheinungen von einem übergeordneten Standpunkt aus zu betrachten. Diese Totalitätsperspektive ist oft notwendig, um überhaupt ein echtes Verständnis von bestimmten Prozessen oder Strukturen zu erlangen. Das wird bereits von Wissenschaftlern zahlreicher Disziplinen berücksichtigt. Holistisches Denken ist beispielsweise für Biologen zur Selbstverständlichkeit geworden. Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass jede unserer Zellen den Bauplan für den gesamten Organismus enthält.

Das gilt für viele andere Phänomene gleichermaßen: In jedem Teil ist immer das gesamte Muster enthalten. So bildet jede Gesellschaft einen besonderen sozialen Organismus, der sich nicht auf die Summe der darin lebenden Individuen reduzieren lässt. Vielmehr unterliegt er seinen eigenen, ganz spezifischen Gesetzmäßigkeiten. Selbst das gesamte Universum verfügt über die Eigenschaften eines Hologramms. Im Bereich der Partnerschaft verhält es sich nicht anders: Gemäß der holistischen Sicht ist jede Partnerschaft ein ganzheitlicher Organismus, der – ebenso wie der einer Gesellschaft – mehr ist als die Summe der darin zusammengekommenen einzelnen Individuen. Beide Partner agieren in einer gemeinsamen Dynamik, sodass ihre Beziehung als eine übergeordnete Einheit mit eigenen Regeln und Strukturen angesehen werden muss. Und auch hier gelten ganz spezifische Gesetzmäßigkeiten.

Anschaulich lässt sich dies anhand eines Mobiles machen: Alle Elemente sind hierbei genau ausbalanciert. Wenn man nun an einem Element etwas verändert, indem man beispielsweise etwas daranhängt, reagieren alle anderen Elemente sofort. Das heißt, wenn sich ein Element in einem System verändert, müssen auch die übrigen Elemente reagieren, sonst geht das Gleichgewicht verloren. Das gilt für eine Partnerschaft gleichermaßen. Mehr noch: Die Verhaltensweisen der Partner in ihrem Beziehungssystem sind regelkreisartig aufeinander bezogen, das heißt, das Verhalten eines Partners wird immer durch das Verhalten des anderen beeinflusst. Es gibt – genau wie bei einem Kreis – weder einen Anfang noch ein Ende. Daher lassen sich Aktionen und Reaktionen nicht voneinander trennen.

Diese wichtige Erkenntnis findet im praktischen Beziehungsalltag bisher so gut wie keine Berücksichtigung. Das entsprechende Wissen scheint weitgehend auf die Gruppe der Therapeuten und Paarberater beschränkt zu sein. Daher stellt sich die Frage, weshalb es für Menschen so schwierig ist, einzusehen, dass alles, was in einer Paarbeziehung geschieht, immer durch beide bedingt ist. Warum können die meisten Menschen nicht erkennen, dass jedes Geschehen immer aus der gemeinsamen Beziehung der Partner heraus verstanden werden muss? Und vor allem: Warum schiebt jeder im Konfliktfall die Schuld auf den Partner?

Das Schuldprinzip ist schuld

Bis 1975 wurde bei Scheidungen das Schuldprinzip angewendet. Beide Partner traten vor einen Richter und versuchten – ganz genau so, wie es die Weisnichs getan haben – den anderen ins Unrecht zu setzen, damit der Richter diesen als schuldig am Scheitern der Ehe ansehe und ein entsprechendes Schuldurteil über ihn verhänge. Um den Partner ordentlich verunglimpfen zu können, wurden von beiden Seiten schwere Geschütze aufgefahren. Schließlich wollte sich niemand „böswilliges Verlassen“ oder „seelische Grausamkeit“ vorwerfen lassen. Jeder wollte vielmehr das Prädikat „unschuldig“ erlangen.

Allein die Vorstellung regt zum Schmunzeln an. Dabei ist dies völlig unberechtigt. Das Schuldprinzip ist zwar offiziell abgeschafft, doch in unseren Köpfen ist es nach wie vor fest verankert. Mir ist im Praxisalltag zumindest selten jemand begegnet, der auch die eigene Person gleichermaßen für das Scheitern seiner Beziehung verantwortlich gemacht hat.

Das Schuldprinzip lebt also noch. Obwohl es viel Unheil anrichtet, ist es offenbar nicht auszuräumen. Dafür muss es „gute Gründe“ geben. Oberflächlich betrachtet könnte man annehmen, der Grund dafür liege in dem mangelnden Wissen über das Wesen von Partnerschaften und deren innere Dynamik. Doch das wäre zu einfach. Denn für das mangelnde Wissen müsste es wiederum einen nachvollziehbaren Grund geben. Schließlich sind Menschen sehr klug. Sie nehmen neue Entwicklungen in anderen Lebensbereichen sehr schnell auf und richten sich danach. Wir haben es hier also mit einem zunächst nicht nachvollziehbaren Phänomen zu tun. Und immer, wenn hinsichtlich des menschlichen Zusammenlebens etwas „merkwürdig“, wenn etwas nicht verstehbar ist, dann kann angenommen werden, dass hier tiefer liegende Ursachen eine Rolle spielen.

Schauen wir uns also zunächst einmal an, was in demjenigen vorgeht, der sich vor einem – ob nun im Inneren oder im Äußeren befindlichen – „Richter“ zu verantworten hätte und eine Schuld zugeben müsste. Schuldig zu sein, sich schuldig zu fühlen, ist ein sehr unangenehmes Gefühl. Als ich selbst einmal das Gefühl der Schuld voll zuließ, schien es mir, als liefe durch meine Adern Zitronensaft: Jede meiner Zellen schien sich zusammenzuziehen. Ein dermaßen quälendes Gefühl möchte niemand lange aushalten müssen. Deshalb treten verschiedene Abwehrmaßnahmen auf den Plan. Ein in diesem Zusammenhang häufig auftretender Abwehrmechanismus wird als Projektion bezeichnet.

Die Projektion von Schuldgefühlen

Es gibt viele Menschen, die unter Schuldgefühlen leiden. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie tatsächlich etwas „Unrechtes“ getan haben oder nicht. Meist können sie nicht einmal den Ursprung dieser Gefühle benennen; oft genug sind sie sich dieser Gefühle nicht einmal bewusst.

Den Ausgangspunkt haben Schuldgefühle meist in der Kindheit, denn kleine Kinder glauben, dass vieles, was in ihrer familiären Umgebung geschieht, durch sie verursacht wird. Mit solchen „Allmachtsfantasien“ können Kinder ihre Hilflosigkeit kompensieren. Die Kehrseite dieser Kompensationsmöglichkeit ist, dass auch viele nachteilige Ereignisse auf die eigene Person bezogen werden. Aus Angst vor Bestrafung trauen sich viele nicht, sich mit ihrem Schuldgefühl jemandem mitzuteilen.

Inzwischen wissen allerdings viele Erwachsene, wie ihre Kinder denken, sodass sie ihnen von sich aus erklären, dass sie nicht das Geringste mit beispielsweise der Scheidung der Eltern, deren Depressionen oder Alkoholmissbrauch zu tun haben. Geschieht dies nicht, so glauben Kinder, sie seien die Ursache dafür, weil sie nicht gut genug oder gar schlecht seien. Dieser Glaube – so unberechtigt dieser auch immer sein mag – weckt unweigerlich Scham- und Schuldgefühle. Und jedes Schuldgefühl wiederum zieht die Angst vor Bestrafung nach sich.

Da sich sowohl Scham- und Schuldgefühle als auch die damit einhergehenden Ängste äußerst belastend auswirken können, werden Abwehrmechanismen aktiviert. Diese bewirken, dass jene kaum erträglichen Gefühle aus dem bewussten Erleben gleichsam „gelöscht“ werden. Das Kind fühlt sich vorübergehend entlastet. In dieser Entlastungsfunktion liegt der eigentliche Sinn der Abwehrmechanismen.

Doch Gefühle, die verdrängt werden, sind nicht wirklich weg. Sie wollen gefühlt werden. Und so rütteln sie unaufhörlich – auch noch nach Jahrzehnten – an den Gitterstäben ihres Kerkers, um auf sich aufmerksam zu machen. Die unterschiedlichsten – auch körperlichen – Symptome können hierin ihren Ursprung haben. Das heißt, verdrängte Gefühle führen eine Art Partisanenleben. Sie setzen sich jeweils aus dem Hinterhalt durch.

Das geschieht häufig durch die sogenannte Projektion: Die verdrängten Gefühle werden hierbei nach außen projiziert – genauso, wie ein Bild mit einem Beamer. Als „Leinwand“ dienen die Mitmenschen, wobei sich in einer Paarbeziehung natürlich der Partner am ehesten anbietet. Er ist ja ständig verfügbar.

Aber auch Außenstehende müssen oft als Projektionsfläche herhalten. Ob es die Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen oder nur Einzelner ist, jeweils spielen Projektionen eine zentrale Rolle in diesem Geschehen: Aufgrund der bei sich selbst nicht wahrgenommenen Schuldgefühle wird ein anderer als derjenige angesehen, der sich schuldig gemacht hat. Das heißt, man sieht im anderen den Schuldigen und erklärt ihn somit zum Feind. (Das gilt für Aggressionen gleichermaßen: Die eigenen verdrängten Aggressionen werden auf Personen im Außen projiziert.) Dieses Phänomen lässt sich in der Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden beobachten.

Eine Partnerschaft begünstigt den Mechanismus der Projektion unter anderem deshalb, weil die Partner von vornherein „gewittert“ haben, dass es auch beim anderen eine Entsprechung hinsichtlich der eigenen abgeschobenen Gefühle gibt. Die Beziehungspartner werden entweder von vornherein (unbewusst) so gewählt, dass sie der Funktion als Projektionsfläche tatsächlich gerecht werden können, oder sie werden durch Manipulation dazu gebracht. Durch entsprechende Projektionen kommt es den Partnern wechselseitig so vor, als sei der jeweils andere der allein Schuldige. Und solange der andere allein für schuldig gehalten wird, gilt dies als Beweis der eigenen Unschuld.

Da nach außen projizierte Gefühle nicht als bedrohlich erlebt werden, geht mit der Projektion der Schuld nicht nur eine enorme Entlastung einher, sondern es kann auch der Versuch unternommen werden, die unwillkommenen Gefühle in der Außenwelt zu bekämpfen. Diese wichtigen Effekte machen den freiwilligen Verzicht auf die Projektion so schwierig. Es regen sich Widerstände, wenn jemand für mehr Bewusstheit und neue Überzeugungen plädiert. Und genau das ist der Grund für die Hartnäckigkeit, mit der das Schuldprinzip aufrechterhalten wird.

Befragt man einzelne Partner in einer Krise, so wird man immer wieder feststellen, dass der Befragte davon überzeugt ist, sein Leiden werde durch den anderen verursacht. Allenfalls werden noch die äußeren Umstände verantwortlich gemacht. Solange die Betroffenen ihren Irrtum nicht durchschauen können, ist es ihnen auch nicht möglich, etwas Grundsätzliches in ihrem Leben zu verändern. Diese Menschen bleiben so lange auf die Außenwelt fixiert, bis sie sich ihrer – nach außen projizierten – eigenen Gefühle wieder bewusst werden.

Anhand der Auswirkungen von Projektionen lässt sich erkennen, welches komplexe und vor allem unbewusste Zusammenspiel in Beziehungen – aber auch in größeren Zusammenhängen – wirksam werden kann. Die Dynamik dient jeweils dem Ziel, die seelische Balance des Einzelnen herzustellen beziehungsweise aufrechtzuerhalten. Natürlich geschieht dies nicht bewusst und daher nicht willentlich. Es ist die unwillkürliche Reaktion, die immer eintritt, wenn sich der Organismus schützen will. Es ist vergleichbar mit dem abrupten Rückzug der Hand, die zu nahe an die heiße Herdplatte gekommen ist.

Sich im Irrtum zu befinden, ist eine Grunderfahrungmenschlicher Existenz. Allerdings können wir unsere Irrtümer – wenn überhaupt – immer erstim Nachhinein erkennen.

Eine kleine Revolution mit großen Folgen

Kommen wir zunächst auf die Sitzung mit den Weisnichs zurück: Als ich ihnen sagte, dass sie beide „im Recht“* seien, war ihre Überraschung groß. Schließlich hatten sie beide völlig unterschiedliche Positionen vertreten, in denen jeweils der andere ins Unrecht gesetzt werden sollte. Hätte ich mich – vielleicht in der Rolle einer Freundin – an die Seite von Frau Weisnich gesetzt, so wäre mir der Paarkonflikt aus dieser Position als eindeutig von Herrn Weisnich ausgehend erschienen. Hätte ich mich demgegenüber – als Freund – an die Seite von Herrn Weisnich gesetzt, so wäre auch für mich die Urheberschaft von Frau Weisnich offensichtlich geworden.

* Es gibt in (Paar-)Konflikten natürlich niemanden, der „im Recht“ sein könnte.

Hier zeigt sich die Ursache, deretwegen auch andere Paare bei der Lösung ihrer Konflikte scheitern: weil sie unaufhörlich versuchen zu beweisen, dass sie selbst im Recht sind und der andere die Schuld an den Zerwürfnissen trägt. Freunde und Familienangehörige werden dabei auf die jeweils eigene Seite rekrutiert. Diese übernehmen meist gern die Aufgabe der Schützenhilfe. Da beide Parteien jedoch von völlig falschen Vorstellungen über die Konfliktlage ausgehen und damit einem fundamentalen Irrtum unterliegen, kann der Kampf nie wirklich entschieden werden. Irgendwann sind die sich bekämpfenden Partner so erschöpft, dass sie nur noch den Wunsch nach einer Beendigung des „Rosenkriegs“ haben.

Aber selbst dann ist die Trennung mit großen Schmerzen verbunden. Nicht nur, weil die Hoffnung – vielleicht zum wiederholten Mal – aufgegeben werden muss, mit dem einst geliebten Partner den Rest seines Lebens verbringen zu können. Sondern vor allem auch deshalb, weil emotionale Bindungen wie lebende Organismen sind und sich – trotz aller Zwietracht – nicht ohne Weiteres auseinanderreißen lassen. Von dem Leid, welches vorhandenen Kindern zugefügt wird, einmal ganz abgesehen.

Die Lösung wäre, im Paarleben gänzlich auf das Schuldprinzip zu verzichten. Würden wir Menschen in unseren Partnerschaften künftig von vornherein davon ausgehen, dass auch der andere von seinem Standpunkt her im Recht ist und eine Lösung nur vom Beziehungsganzen her möglich ist, dann würden Auseinandersetzungen ganz anders verlaufen. Die Frage, wer einen Konflikt ausgelöst hat, würde sich dann gar nicht erst stellen. Jeder wüsste, dass das Verhalten des einen immer eine Reaktion auf das Verhalten des anderen ist. Beide Partner wären überzeugt davon, dass es in einer Partnerschaftskrise gar keinen Schuldigen gibt.

Wenn alle Betrogenen zu der Überzeugung gelangen könnten, dass der Seitensprung ihres Partners sehr wohl mit ihrer Person und dem eigenen Verhalten zu tun hat, dann müssten sie nicht in einem Zustand der Empörung gefangen bleiben. Sie würden ihrem Partner nicht unentwegt seine Untreue vorwerfen. Denn Untreue ist oft nur ein Symptom für ein dahinter verborgenes Prozessgeschehen – genauso, wie Fieber ein Symptom dafür ist, dass sich der Organismus mit Krankheitserregern auseinanderzusetzen hat. Wenn jedoch nur der Symptomträger allein verantwortlich gemacht wird, dann gerät sofort die für die Partnerschaft notwendige Balance aus dem Gleichgewicht. Allein dadurch entstehen weitere Komplikationen, die dann von den Beteiligten kaum mehr in den Griff zu bekommen sind.

Auch bei Herrn und Frau Weisnich musste als Erstes allmählich ein Verständnis für die jeweils andere Position geschaffen werden. Die einst wechselseitige Zuweisung der Schuld wich in dem Maße, in dem jeder befähigt wurde, die Sicht des anderen einzunehmen.

Das Aha-Erlebnis gleich in der ersten Sitzung, nämlich die Erkenntnis, im gleichen Boot zu sitzen, schuf nach langer Zeit erstmals wieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Von diesem Moment an setzte ein Prozess ein, der das Paar wieder zu einer harmonischen Beziehung führen konnte.

Wie die Chancen für eine wirklich erfolgreiche Paartherapie jeweils stehen, hängt in erster Linie davon ab, ob eine Beziehung vor dem Auftreten der ernsthaften Konflikte über einen längeren Zeitraum harmonisch verlaufen ist.

Das Beispiel des Ehepaars Weisnich sollte demonstrieren, wie die meisten Erstgespräche in der Beratungspraxis verlaufen. Es zeigt anschaulich, in welcher Weise Menschen in Konfliktsituationen von falschen Überzeugungen ausgehen können. Wenn es künftig jedoch immer mehr Menschen gelingen sollte, sich der Tatsache voll bewusst zu werden, dass durch den Verzicht auf das Schuldprinzip viel Leid erspart werden kann, dann könnte das tatsächlich eine Revolution im Bereich der Partnerschaften auslösen.

Es gäbe im Konfliktfall plötzlich keine Schuldzuweisungen mehr. Kein Partner würde dem anderen dann noch Vorwürfe machen, sondern beide würden jede auftauchende Krise als ein Symptom begreifen und zusammen nach der Ursache forschen. Jeder würde von vornherein davon ausgehen, dass auch der Partner angesichts der Zwietracht gleichermaßen hilflos ist. Mit einer solchen Haltung könnte vermutlich in vielen Fällen eine Trennung vermieden werden.

Das hört sich vielleicht illusorisch an. Doch diese Vision könnte sich verwirklichen, wenn bei auftretenden Paarkonflikten die folgenden beiden Sätze beherzigt würden: Nicht einer gegen den anderen, sondern immer beide gemeinsam. Statt den anderen allein verantwortlich zu machen, nimmt jeder den Blick zurück und richtet ihn sowohl auf das Beziehungsganze als auch auf die eigene Person.

Der Partner als Spiegel

Viele Menschen haben in ihrer Kindheit irgendein Drama erlebt. Damit sie sich dennoch zu reifen und bewussten Menschen entwickeln können, bleibt oft nichts anderes übrig, als sich mit diesen abträglichen Erfahrungen zu konfrontieren. Dazu wäre es nötig, in die eigenen verborgenen Abgründe zu schauen und die Zusammenhänge aufzuspüren. In der Regel hindern uns jedoch heftige Widerstände daran, uns den schrecklichen Erinnerungen auszusetzen. Diese Widerstände sind gut und wichtig, und sie sollten deshalb auch nicht gewaltsam durchbrochen werden.

Es kann nämlich sehr schmerzhaft sein, wenn man sich ungeschützt diesen überwältigenden Erfahrungen aussetzt. Meist ist für diesen Fall nicht genug Verarbeitungskapazität vorhanden, das heißt, wir wären außerstande, die beängstigenden und schmerzvollen Eindrücke, die da ungefiltert auf uns einströmen würden, auszuhalten. Die Psyche würde entgleiten; Halluzinationen oder Verfolgungsängste könnten die Folge sein.

Um dies zu vermeiden, ist es ratsamer, sich den eigenen Schreckensbildern nicht unmittelbar, sondern erst einmal indirekt zu nähern. Perseus, der Held der griechischen Mythologie, hat es uns vorgemacht: Um nicht durch den direkten Anblick der Medusa mit ihrem Schlangenhaupt vor Schreck zu erstarren, schaute er sie nicht direkt an, sondern betrachtete sie lediglich im Spiegel. Auch wir können in einen Spiegel schauen, um möglichen Schaden von uns abzuwenden. Diesen Spiegel finden wir in der Person unseres Partners.

Denn nur beim Partner können wir wahrnehmen, welchen Ballast dieser aus der Vergangenheit in die Beziehung eingebracht hat. Für die eigenen mitgeführten Altlasten ist man meistens nahezu blind. Diese blinden Flecken lassen sich trotz besten Willens nicht ohne Weiteres beseitigen. Deshalb kann uns nur der Partner in seiner Spiegelfunktion all das offenbaren, was wir bei uns selbst nicht wahrzunehmen vermögen. Das heißt aber auch: Das, was wir im anderen beklagen, finden wir immer auch in uns selbst.

Die fiktive Kontaktanzeige

Mit einer einfachen Übung lassen sich wichtige Informationen über die eigene Person gewinnen: Hierzu müssen als Erstes all die Eigenarten aufgelistet werden, die beim Partner am meisten stören. Man kann diese Liste auch mit den als abträglich erlebten Eigenschaften früherer Partner ergänzen. Hat man auf diese Weise eine ausreichende Anzahl missliebiger Eigenschaften zusammengetragen, so kann man damit nun eine fiktive Kontaktanzeige formulieren. Hier ein extremes Beispiel:

Ich suche einen Partner, der unreif und unzuverlässig ist. Er sollte möglichst oft aggressiv sein und wenig Interesse für mich zeigen. Vor allem sollte er liebesunfähig sein.

Die betrübliche Erkenntnis dieser Übung ist, dass man genau die Anzeige, die durch die Übung entstanden ist, ursprünglich einmal tatsächlich aufgegeben hat. Nicht mit Tinte auf Papier und natürlich auch nicht bei einem Zeitungsverlag. Vielmehr hat man unbewusst nach einem Partner Ausschau gehalten, dessen spezifisches Verhalten einen Reifungsgrad widerspiegelt, der ungefähr dem eigenen entspricht. Denn eine Beziehung kommt nur mit Partnern zustande, die sich auf einem weitgehend ähnlichen Entwicklungsniveau befinden. Anderenfalls würde sich die Beziehung schnell wieder auflösen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Partner in einer Partnerschaft hinsichtlich ihrer psychischen Reife immer „ebenbürtig“ sind, auch wenn sich dies ganz unterschiedlich äußern mag.

So unerfreulich das Ergebnis dieser Übung für manche auch immer ausgefallen sein mag, so ist die damit einhergehende Erkenntnis doch sehr förderlich: Denn sobald sich jemand dieser Zusammenhänge bewusst wird, beginnt bei ihm bereits ein Veränderungsprozess. Solange diese Bewusstwerdung noch nicht möglich ist, wird er – trotz aufrichtig gemeinter gegenteiliger Beteuerungen – immer wieder entsprechende Partner anziehen. Der Mensch kann es nämlich keineswegs kontrollieren, in wen er sich verliebt und wen er sich als Partner „auserwählt“.

Sage mir, mit wem du gehst,und ich sage dir, wer du bist.

Volksweisheit

Partnerwahl ist keine Partner-Wahl

Die Bezeichnung „Partnerwahl“ ist grundsätzlich irreführend, denn nach den derzeitigen Erkenntnissen gründet sich diese „Wahl“ nicht auf eine freie, bewusste Entscheidung. Vielmehr sind an der „Wahl“ eines Partners im Wesentlichen unbewusste Mechanismen beteiligt. Im Kindesalter werden wir auf das Bild der uns nahestehenden Menschen geprägt. Dadurch reagieren wir unser ganzes Leben lang auf Menschen, die diesem Bild ähnlich sind. Sie geben uns ein Gefühl inniger Vertrautheit.

Spätestens seit Konrad Lorenz aufgrund seiner bekannten Studien mit Graugänsen und Enten die Auswirkungen früher Prägung bei Lebewesen nachweisen konnte, wissen wir, dass bestimmte Merkmale von Menschen, auf die wir unser erstes Interesse richten, auch später mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Anziehung auf uns ausüben werden. Das bedeutet, dass meist nach einem Partner Ausschau gehalten wird, der in struktureller Hinsicht, also von der psychischen Struktur her, den Eltern gleicht.

Auch die eigenen psychischen Strukturen – sowie die damit verbundenen unbewussten Konflikte – spielen eine zentrale Rolle. In erster Linie fühlen wir uns immer dann zu einem fremden Menschen hingezogen, wenn er uns in irgendeiner Hinsicht gleicht. Wenn der andere in uns etwas berührt und somit eine Resonanz auslöst, entsteht das Gefühl der Gewissheit: Das ist er! Das ist die Person, auf die ich immer gewartet habe.

Da hierbei wiederum unbewusste Komponenten den Ausschlag geben, entzieht sich dieses wechselseitige Hingezogensein unserer bewussten Steuerung. Das bedeutet, wir orientieren uns bei der Suche nach einem Partner unbewusst sowohl an den eigenen inneren Strukturen als auch an denen der frühen Vorbilder. Dadurch wird uns gewissermaßen eine Fortsetzung des uns aus der Herkunftsfamilie bekannten und vertraut gewordenen Verhaltens ermöglicht. Ausgangsbasis ist vor allem die Qualität der emotionalen Bindungen, die ein Mensch bisher erleben und verinnerlichten konnte. Hierdurch wird das Niveau festgelegt, von dem aus die unbewusste „Wahl“ erfolgt.

Häufig wird auch ein Partner „gewählt“, der in Bereichen, in denen eigene Tendenzen zur Entfaltung drängen, bereits entwickelter ist. Denn sobald ein Partner die eigenen Ideale bereits verwirklicht hat, übt er damit eine Vorbildfunktion aus. Bislang noch latente Eigenschaften können durch die Verbindung mit ihm müheloser an die Oberfläche gelangen. In diesem Fall hat der Partner die Funktion eines „Entwicklungshelfers“. Und selbst wenn sich die noch unentwickelten Teile der eigenen Persönlichkeit nicht entwickeln sollten, kann man immerhin durch Identifikation mit dem Partner an diesen Eigenschaften teilhaben.

Äußere Merkmale der Partner spielen meist eine untergeordnete Rolle. Wir haben zwar ein eingespeichertes Raster, nach dem wir beispielsweise Gesichter beurteilen. Doch im Wesentlichen reagieren wir auf psychische Komponenten. Diese nehmen wir unbewusst durch die Signale auf, die andere aussenden. Hierbei wird eine untrügliche Intuition wirksam. Mit unserem sensiblen Wahrnehmungsapparat können wir fast augenblicklich alles von unserem Gegenüber wahrnehmen. Bereits beim ersten Zusammentreffen werden in kürzester Zeit alle relevanten Informationen in Erfahrung gebracht. Der erste Eindruck erweist sich deshalb oft als erstaunlich treffsicher. Wir sind uns gar nicht darüber im Klaren, dass es uns tatsächlich möglich ist, in den ersten Minuten nicht nur Vordergründiges, sondern den ganzen Menschen zu erfassen. Sein Sprechverhalten, seine Körpersprache und seine Reaktionen bilden insgesamt eine Melodie, auf die wir schneller reagieren, als wir sie gedanklich erleben und in Worte fassen könnten. Der Beweis dafür sind Partnerschaften, die aufgrund von „Liebe auf den ersten Blick“ entstanden sind. Sie unterscheiden sich – etwa in Bezug auf Qualität und Dauerhaftigkeit – statistisch in keiner Weise von jenen, die aus einer allmählich entstandenen Verliebtheit hervorgegangen sind.

Während die jeweiligen Unterschiede für die notwendige Faszination sorgen, bilden die grundlegenden Ähnlichkeiten zwischen den Partnern auch später das Fundament ihrer Beziehung. Hierauf bauen sich beide eine eigene, gemeinsame Welt. Das neu entstandene Universum ihrer Beziehung ist nicht das gleiche wie das, das jeder von ihnen für sich allein besaß. Es ist genauso einzigartig wie die beiden Persönlichkeiten, die sich darin zusammengefunden haben. Die Qualität dieses Universums ist in hohem Maße abhängig von der psychischen Verfassung der darin befindlichen Partner. Insbesondere spielt das jeweilige Selbstgefühl eine entscheidende Rolle.

Partnerwahl und Selbstgefühl

Die breiteste Ausgangsbasis für die „Wahl“ des Partners ist das Verhältnis, das ein Mensch zu sich selbst hat. Denn es ist vor allem das Niveau des Selbstgefühls, das die Vorgabe dazu bereitstellt, in welchen Menschen sich jemand verliebt und wie er sich in der Beziehung zu ihm verhält. Wer sich wertschätzt und in Übereinstimmung und Harmonie mit sich selbst ist, wird automatisch Personen anziehen, die sich ebenso wertschätzen und mit sich im Reinen sind. In erster Linie geht es hierbei um den Wunsch nach Gesehenwerden. Je mehr jemand den Wert seiner eigenen Person empfindet, desto mehr will er auch von anderen gesehen werden. Und andererseits ist auch nur ein solcher Mensch in der Lage, den anderen wirklich zu sehen.

So wie sich ein Mensch mit hoher Bildung nicht unbedingt von einem Menschen mit geringer Bildung angezogen fühlen wird, nicht etwa aus Überheblichkeit, sondern weil er sich nicht befriedigend mit ihm austauschen kann, so wird sich ein Mensch mit hoher Selbstachtung kaum von einem Menschen mit niedriger Selbstachtung angezogen fühlen. Mit einem Menschen, der sich aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen in seinem Sosein versteckt, sich dann aber trotzdem immer in den Vordergrund rücken möchte, ist der beglückende Austausch von Sehen und Gesehenwerden nämlich auch nicht möglich.