Der Anfang am Ende der Welt - Patrick Bauer - E-Book

Der Anfang am Ende der Welt E-Book

Patrick Bauer

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte einer unwahrscheinlichen Liebe. Und es ist die Geschichte meiner Großeltern, Wilhelm und Louise. Aber bis es so weit war, musste viel passieren. Helene ist gerade Mitte 40, da blickt sie bereits auf drei Städte, zwei gescheiterte Ehen und zwei Kriege zurück. Ihr ganzer Stolz ist ihr Sohn, Wilhelm, der in Berlin zur Welt kam und mit dem sie, ohne ihren Mann, vor den ersten Bomben in den deutschen Süden geflohen ist. Wilhelm entzieht sich dem eng gewordenen Nachkriegsdeutschland zuerst durch viele Frauengeschichten und schließlich, indem er in den Wirtschaftswunderjahren für Bosch nach Trinidad und Tobago reist, um dort Kühlschränke zu verkaufen. Für den ehrgeizigen jungen Mann öffnet sich damit die Tür zur Welt: raus aus der Umklammerung seiner Mutter Helene, fort von irrlichternden Liebschaften. Es ist an der Zeit, zu leben. Endlich! Helene bleibt mit ihrem Bosch-Kühlschrank, ihren Sorgen und den Erinnerungen an ihren großen Traum zurück. Wilhelm verliebt sich in der Karibik in Louise – und verlängert seinen Aufenthalt Jahr um Jahr. Irgendwann zitiert Bosch den jungen Mann nach Deutschland zurück, wo Louise die drei Kinder fortan in einer spießigen Kleinstadt erzieht, in der man besser keine Unterwäsche im Garten aufhängt. Diese Rückkehr aber stellt ihre Liebe auf die Probe und lässt längst vergessene Familientraumata wieder aufbrechen. Patrick Bauers Opa war Kühlschrankvertreter in der Karibik. Was klingt wie ein Witz, ist der Beginn einer unglaublichen, anrührenden und vor allem wahren Liebesgeschichte.

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Patrick Bauer

Der Anfang am Ende der Welt

Geschichte einer wahren Liebe

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dies ist die Geschichte einer unwahrscheinlichen Liebe. Und es ist die Geschichte meiner Großeltern, Wilhelm und Louise. Aber bis es so weit war, musste viel passieren. Helene ist gerade Mitte 40, da blickt sie bereits auf drei Städte, zwei gescheiterte Ehen und zwei Kriege zurück. Ihr ganzer Stolz ist ihr Sohn, Wilhelm, der in Berlin zur Welt kam und mit dem sie, ohne ihren Mann, vor den ersten Bomben in den deutschen Süden geflohen ist. Wilhelm entzieht sich dem eng gewordenen Nachkriegsdeutschland zuerst durch viele Frauengeschichten und schließlich, indem er in den Wirtschaftswunderjahren für Bosch nach Trinidad und Tobago reist, um dort Kühlschränke zu verkaufen. Für den ehrgeizigen jungen Mann öffnet sich damit die Tür zur Welt: raus aus der Umklammerung seiner Mutter Helene, fort von irrlichternden Liebschaften. Es ist an der Zeit, zu leben. Endlich! Helene bleibt mit ihrem Bosch-Kühlschrank, ihren Sorgen und den Erinnerungen an ihren großen Traum zurück. Wilhelm verliebt sich in der Karibik in Louise – und verlängert seinen Aufenthalt Jahr um Jahr. Irgendwann zitiert Bosch den jungen Mann nach Deutschland zurück, wo Louise die drei Kinder fortan in einer spießigen Kleinstadt erzieht, in der man besser keine Unterwäsche im Garten aufhängt. Diese Rückkehr aber stellt ihre Liebe auf die Probe und lässt längst vergessene Familientraumata wieder aufbrechen.

Über Patrick Bauer

Inhaltsübersicht

WidmungHelene1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelWilhelm1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelLouise1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelDank

Für Oma

Helene

Jede Frau hat irgendeine Sehnsucht

und einen Wunsch im Herzen ganz geheim,

jede sucht das Glück in ihren Träumen

und auf das Wörtchen «Liebe» einen Reim.

Fritzi Massary

1

Seit einigen Tagen fiel ihr häufiger auf, dass Bertie seinen Vater imitierte. Es hatte mit Kleinigkeiten begonnen. Als Gerhard am Samstag mit seiner Zeitung im Sessel Platz genommen hatte, hatte Bertie sein Lieblingsbilderbuch Freund Purzel geholt und darin zu Füßen seines Vaters ebenso geschäftig geblättert wie dieser in den Wirtschaftsnachrichten. Als sein Vater am Montag dann wie immer morgens um kurz nach sechs das Haus verlassen hatte, war Bertie in den Flur gestapft, hatte sich selbst sein Mäntelchen angezogen, zwei Bauklötze in ihre Handtasche getan, sich diese wie einen Aktenkoffer unter das Ärmchen geklemmt und gerufen: «Abeit, ich auch Abeit!» Immer schon hatte Bertie seinen Vater bei allem, was er tat, sehr genau gemustert. Aber erst in diesen Tagen wurde ihr bewusst, wie sehr sich Bertie an seinem Vater orientierte. Er schüttelte seinen Kopf, wenn Gerhard den kahlen Kopf schüttelte, er blickte ebenso misstrauisch aus dem Wohnzimmerfenster, wenn Spaziergänger vorbeiliefen, er tippte sich wie Gerhard mit dem Zeigefinger an die Stirn, wenn ihm eine Idee kam. Sie sah nun Gerhard in Bertie.

 

Am Freitagabend deckte sie den Tisch für das Abendbrot. Marga, das Dienstmädchen, war früher gegangen. Sie selbst hatte es ihr vorgeschlagen. Wenigstens den Tisch wollte sie alleine decken, alleine das Abendbrot vorbereiten, sie konnte das auch ohne Marga. Prompt ließ sie eine Tasse Tee fallen. Hagebuttentee. Gerhards abendlichen Hagebuttentee, der erst auf den Tisch getragen werden durfte, wenn er bereits lauwarm war, und den er stets aus seiner Tasse trank. Seine Tasse war ein für einen so großen Mann lächerlich kleiner Porzellanbecher, der sicherlich mal ein Geschenk irgendeines Kunden oder Lieferanten zur Weihnachtszeit gewesen war. Porzellanmalerei Ophir Bethel stand auf dem Boden des Bechers, sie hatte den Schriftzug oft gelesen. Morgens, wenn sie mal wieder trotz Margas leisem Protest ihre Kaffeetasse selbst abspülte und in den Geschirrschrank stellte. Oder mittags, wenn sie ziellos durch das Haus lief und am Ende bei Marga in der Küche landete. «Erzähl mir was, Marga», sagte sie oft, aber die arme Marga konnte nun wirklich nicht gut erzählen und redete ganz verlegen von irgendwelchen Belanglosigkeiten, dem Schwindelgefühl ihrer Mutter oder dem neuen Fahrrad ihres Bruders, nie aber von ihrem eigenen Leben. Und während Marga stockend sprach, öffnete sie selbst die Schranktür, nahm die Tasse in die Hand, stellte sie wieder hin, schloss den Schrank, inspizierte alles. Ophir Bethel. Wie oft sah und griff sie nach dieser Tasse in den lang werdenden Stunden. In diesen Stunden, in denen sie überlegte, ob sie rausgehen sollte in die Stadt, die sie nicht kannte. Sie dachte darüber nach, bis es wieder zu spät war und Gerhard nach Hause kam. Es waren Stunden, in denen sie alles las und alles zählte, was ihre Augen sahen. Es war ja nicht nur die Tasse. Zwei, vier, sechs, acht, zehn Kacheln hoch, zwei, vier, sechs, acht Kacheln quer über dem Spülbecken. Schaffen und Streben fürs häusliche Leben stand auf dem Löffelblech neben dem Herd, sie wollte diesen Spruch gar nicht lesen, aber sie konnte nicht anders, manchmal hörte sie sich diesen stupiden Satz sogar laut aufsagen. Sie hätte in diesen Stunden seine Zeitung lesen können, ein Buch mal wieder, eines seiner Bücher. Aber sie war wie gelähmt, sie hatte keine Kontrolle darüber, was sie las und was sie sah. Sie wollte allein sein, aber das Haus mit seinen Möbeln und seinen Mänteln und Krawatten und Dokumenten und seinen gerahmten Gemälden irgendwelcher Seeschlachten ließ sie nicht in Frieden. Überall stand etwas, überall lag etwas, das sie immer und immer wieder betrachtete, ohne es sehen zu wollen. Sie konnte sich ihrer Umgebung nicht erwehren, sie wurde mehr vom Haus betrachtet, als dass sie es betrachtete.

Marga entging ihre Entrücktheit sicher nicht. Sie war nur drei Jahre jünger, zweiundzwanzig. Sie hätten Dinge besprechen können, die junge Frauen so miteinander besprechen. Aber welche Dinge? Sie schämte sich vor Marga. Sie schämte sich ihres Mannes. Ihrer Lage. Ihrer Haare, die weniger gepflegt aussahen als die des Dienstmädchens. Sie schämte sich ihrer Sprachlosigkeit. «Darf ich Ihnen etwas bringen?», fragte Marga oft hilflos. Und wie gerne hätte sie gesagt: «Komm, setz dich zu mir!» Es war doch bloß Zufall, dass sie die Frau und Marga das Dienstmädchen dieses Mannes war. Sie hätte das Gespräch gerne damit begonnen, dass sie selbst nie ein Dienstmädchen gehabt hatten daheim. Wie gerne hätte sie Marga alles erzählt. Wie gerne hätte sie von Marga alles erfahren. Aber sie wusste nicht einmal, was das sein sollte; alles. Bertie saß in diesen Stunden so geduldig auf dem Boden und lächelte sie mild und neugierig an, als wollte er sagen: Ich warte, bis es dir bessergeht, bis du weißt, was du eigentlich willst. Er war so artig. Er aß seinen Brei. Er schlief seinen Schlaf. Er war für sie da. War sie für ihn da? Er war ein Kind von fast drei Jahren. Und sie war auch noch ein Kind, jedenfalls behandelte Gerhard sie so. Sie dachte an früher und warum alles so gekommen war, und sie dachte an ein Morgen, von dem sie ahnte, dass es nie kommen würde. Sie war nie wirklich da, immer woanders. Bertie war so ein wunderbares Kind, und sie sah ihn an und spürte nichts.

Ophir Bethel, welch ein Name! Sie stellte sich vor, eine Tochter zu gebären, die den Namen Ophir Bethel Sagers tragen und später langes, glattes blondes Haar haben würde, kein struppiges wie ihre Mutter und Großmutter und Urgroßmutter. Ophir Bethel Sagers wäre anders. Sie wäre ein einnehmendes, geliebtes Geschöpf, ihre geliebte Tochter, vom ersten Tag an geliebte Tochter. Sagers war Gerhards Name. Wäre er Bethelchens Vater? Wer sonst? Wollte sie einen anderen Mann? In solchen, sie selbst quälenden, nicht zu unterbrechenden Gedanken war sie wohl auch am Freitagabend gewesen, bevor die Tasse zu Boden gefallen war. Seine Tasse. Oben, fast am Rand, schauten zwei Engelsgesichter aus einem Adventskranz. Und darunter stand in großen goldenen Lettern: Zur Erinnerung an Weihnachten. Aus dieser Tasse trank er jeden Abend Hagebuttentee, die einzige Flüssigkeit, die er außer Wasser tagein, tagaus zu sich nahm. Aus einer viel zu kleinen, kindlichen Weihnachtstasse, die für ihn keinen sentimentalen Wert haben konnte, da seine Familie viel zu arm gewesen war, um Weihnachten zu begehen. Vor ihr war er Junggeselle gewesen und hatte niemanden gehabt, mit dem er Weihnachten hätte feiern können. Und die drei Heiligabende, die sie mit ihm verbracht hatte, waren es auch nicht wert, erinnert zu werden. Im ersten Jahr, sie hatte Bertie noch gestillt, hatte sie von der wunden Brust Fieber bekommen. Das Kind hatte immer weiter saugen wollen. Man konnte es nicht weglegen, keine Sekunde. Sie hatte es nicht geschafft, den Baum zu schmücken. Gerhard war wie jeden Tag spät nach Hause gekommen. Jedes Weihnachten hatte er Kartoffelsalat und Schinkenknacker verlangt. Nach dem kurzen Essen hatte er ihr stets Schmuck in einer Schachtel überreicht, auf der sein Name stand. Gerhard H. Sagers, Juwelier. Einmal waren es Ohrringe, einmal eine dünne bronzene Kette, einmal eine Brosche. Bertie hatte letztes Jahr einen Kreisel bekommen, mit Clownsgesichtern darauf. Und die Bauklötze. «Ich besorge alles für Bertie», hatte er vorher gesagt, als könne nur er ihrem Sohn etwas schenken, als sei sie nicht einmal dafür zu gebrauchen. Und er hatte ja recht, sie hätte nicht gewusst, wo man hier Spielzeug kauft.

Ihm hatte sie noch nie etwas geschenkt. Nicht zu Weihnachten. Allein zu seinem Geburtstag schenkte sie ihm jedes Jahr Socken. Er wollte nichts. Mach dir keine Mühe, sagte er. Und ihr würde im Leben nicht einfallen, was sie diesem Mann schenken sollte. An Heiligabend ging er so rasch ins Bett, dass sie ihm gar nichts schenken konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihm war der Heiligabend egal. Und trotzdem trank er jeden Abend Hagebuttentee aus einer Weihnachtstasse, als würde er sich an etwas erinnern wollen, das er nicht kannte. Zu dem er nicht fähig war. Oder er wollte sie mit dieser Tasse daran erinnern, was sie ihm nicht geben konnte, was sie gemeinsam nicht hatten: Wärme, Liebe, schöne Weihnachten. Er wollte doch kein Weihnachtsfest feiern, ließ sie aber dennoch mit Bertie nicht zu ihrer Familie fahren zwischen den Jahren. Er hielt sie hier fest, nur um sie anzuschweigen. Und anschließend versuchte er noch wortlos, ihr die Schuld für die Trostlosigkeit zu geben. Mach dir keine Mühe, sagte er, und dann bestrafte er sie dafür, dass sie sich keine Mühe gab. Tu dir doch mal etwas Gutes, sagte er, und dann schimpfte er, sie sei wohl von Sinnen, dass sie so viele Blumen in die Wohnung gestellt habe. Zeig deinem Mann doch einmal Leidenschaft, sagte er, und dann schob er sie weg im Bett und mahnte sie, sich nicht lächerlich zu machen. So war er.

 

Die Tasse zersprang. Blassroter Tee floss in kleinen Bahnen langsam über den Boden und füllte die Ritzen zwischen den Küchendielen. Sie stand nur da. Bertie, der so schreckhaft war, sah sie mit großen nassen Augen an. Aber anstatt zu weinen, begann er plötzlich zu schnaufen wie sein Vater. Mit seiner kleinen Nase versuchte er dieses leise Lachen, das sein Vater lachte. Gerhard lachte nur, wenn ihr etwas misslang, wenn sie scheiterte, am Braten oder am Leben, wenn sie etwas falsch machte in seinen Augen. Es war kein schönes Lachen, es war eigentlich gar keins, sondern nur ein heftiges Ausatmen. In kurzen Stößen kam dann Luft aus seiner Nase, er zuckte dabei mit den Schultern. Und so machte es nun auch ihr unschuldiger Bertie, es hätte rührend ausgesehen, wäre es nicht sein Lachen gewesen. Sein Schnaufen, wenn sie ihn fragte, wie sein Tag gewesen war, sein Schnaufen, wenn sie fragte, ob er ihr den Hafen zeigen würde, sein Schnaufen, wenn sie die Zeitung nahm, sein Schnaufen, wenn sie neben ihm im Bett lag und weinte, nachdem er doch mal in ihr gewesen war. Wenn er sie wenigstens prügeln würde, wenn er sie zum Beischlaf zwingen würde, wenn er grob wäre dabei, wenn er Bertie züchtigen würde, wenn er ein Tyrann wäre. Nichts davon. Er war nichts. Er war ein abwesender Tyrann. Er schnaufte nur, als hätte er mit allem hier nichts zu tun, als kenne er das Leben, im Gegensatz zu ihr. Als sei er fertig damit. Er war fast fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Sein Ziel schien es zu sein, der Welt keine Unannehmlichkeiten mehr zu machen. Er hatte sein Geschäft, sein Gold und Silber, er hatte seine Reisen nach Amsterdam und seine Skatabende. Auch seinen Erben hatte er nun endlich. Und leider hatte er auch noch sie. Nichts hatte er von ihr gewollt als diesen Sohn. Ungesehen und lautlos wollte er bleiben, jetzt, da alles an seinem Platz war und seinen Lauf nahm. Sie war nicht an ihrem Platz. Sie war in Hamburg. Gewöhn dir dein Schwäbisch ab, hatte er gesagt, das versteht hier niemand. Auch sie verschwand, je länger sie an seiner Seite war. Sie hatte noch gar nicht gelebt. Sie wollte rausgehen und schreien. Der Hagebuttentee durchtränkte ihre Filzpantoffeln. Sie hatte sich noch immer nicht gerührt. «Helene, bitte, mein Tee!» Er sprach leise. Er drehte sich nicht einmal um zu ihr. Wieso schrie nicht wenigstens er? Wieso schrie er nicht um seine Lieblingstasse? Wieso tat er, als sei nichts geschehen? Bertie beobachtete seine Eltern scheinbar belustigt. Seinen Vater, der ihm gegenüber am Tisch saß und ein Stück Schwarzbrot mit Butter bestrich, und seine Mutter, die dahinter an der Küchenzeile stand und darauf wartete, dass Gerhard sich zu ihr umdrehte. Er drehte sich nicht um. Sie war sich sicher, dass Bertie viel mehr verstand, als man dachte, er redete wenig, aber er hörte alles. «Verzeihung», sagte sie und suchte nach dem Kehrwisch.

Jetzt sah Bertie nicht nur aus wie sein Vater mit den tiefen Augenhöhlen, in denen sich diese aufmerksamen Augen versteckten, und mit dem pechschwarzen Haar, das auch Gerhard gehabt haben musste, bevor er erst ergraut und dann kahl geworden war. Nein, Bertie wurde mit jedem Tag mehr wie sein Vater. Sie hatte es immer ertragen, wenn die Leute sagten, ihr Kind sehe ganz aus wie der Vater. Sie hatte ertragen, wenn Bertie am Morgen nach dem Vater weinte, der ins Geschäft gegangen war, aber wenn sie am Wochenende ausnahmsweise mal alleine etwas besorgen ging oder einfach nur um den Block lief, wenn sie es endlich schaffte, das Haus zu verlassen, dann weinte er ihr nie nach. Sie wusste, dass sie das Wichtigste für ihren Bertie war. Aber sie war für ihn das Gewohnte. Der Vater, der Bertie zwar über alles liebte, ihn aber nie mit solcher Zärtlichkeit in den Arm nahm, wie sie es tat, war für Bertie hingegen das Ungewohnte, das Ferne, das Besondere. Das schmerzte. Es war ein unvergleichlicher Schmerz, einer, der sich so tief und grundsätzlich anfühlte, dass sie ihn nicht ignorieren und nie ganz vergessen konnte. Sie nahm Bertie diesen Schmerz nicht übel. Sie nahm diesen Schmerz nur der Natur und der Welt übel, und sie nahm es sich selbst übel, dass sie diesen Schmerz überhaupt spürte. Sie hatte Bertie unter Schmerzen in ihrem Bauch getragen, unter Schmerzen hatte sie das, was dieser Mann in sie gepflanzt hatte, herausgeschafft, sie hatte Bertie danach an ihre brennenden Brustwarzen gelassen. Durch ihn hatte sie sich ganz anders gespürt, erst durch ihn gemerkt, was für ein Wunder auch sie war. Sie war Bertie dankbar. Aber Bertie war ihr nicht dankbar. Wieso sollte er ihr auch dankbar dafür sein, dass sie seine Mutter war? Sie verstand das alles. Aber es änderte nichts.

 

An diesem Abend, an dem sie sich mehr denn je als ungebetener Gast fühlte, als die unbeholfene Dienerin eines Mannes und seines Thronfolgers, die am Tisch warteten, wurde ihr klar, dass der Schmerz noch eine anderen Ursprung hatte: Bertie imitierte einen fast regungslosen Mann. Denn das war sein Vater: ein fast regungsloser Mann. Von ihr hatte Bertie dagegen gar nichts übernommen. Weil sie tot war. Weil es nichts gab an ihr, das man imitieren konnte. Weil er nichts lernte von ihr. Weil er noch weniger von ihr sah als von seinem Vater. Weil sie noch regungsloser war als Gerhard. Sie war toter als der Mann, der sie in sein totes Reich geholt hatte. Neben ihm war sie gestorben. Gerhard hatte sie umgebracht. Sie war eine Leiche. Es war nicht mehr zu ertragen. Sie wischte mit dem Bodentuch den Hagebuttentee auf, die vielen kleinen Splitter stachen ihr beim Auswringen in die Handflächen. Sie kehrte die Reste der Weihnachtstasse zusammen und schüttete sie schweigend in den Müllbottich. Sie stand im Rücken ihres Mannes und sah nur Bertie in die Augen, als sie, ohne zu weinen, sagte: «Ich will nach Hause.»

2

Unter dem Dach wohnten Gerhards Tanten. Tante Eugenie und Tante Sieglinde. Zwei fahle, zierliche Frauen mit strengen schwarzen Kleidern, die zu Hause Haarnetze über ihren erblassten Duttfrisuren trugen und blütenweiße Hauben, wenn sie das Haus verließen. Sie sah die beiden nur selten. Es kam nicht oft vor, dass sie vom Dachgeschoss hinunterstiegen. Zuverlässig hörte sie die Tanten nur sonntags, im Morgengrauen, wenn sie sich auf den Weg zum Frühgottesdienst machten. Die Holzstufen, die vom Dach in den ersten Stock führten, wo Gerhard und sie ihr Schlafzimmer hatten, knarzten dann. Aber sie knarzten so sanft, als würden die alten Damen, Gott weiß, wie alt sie waren, Gott weiß, welche von beiden die ältere war, auf Zehenspitzen schleichen.

Die Tanten hatten das Dach schon bewohnt, als sie vor über drei Jahren zu Gerhard gezogen war. Es war ein schmuckloses, gekalktes Einfamilienhaus mit einem sehr rechtwinkligen Garten am Ende einer Kopfsteinpflasterstraße. Im Erdgeschoss gab es die große Wohnstube, Gerhards Arbeitskammer, ein Speisezimmer und die Küche. Im ersten Stock die Schlafzimmer. Und unter dem Dach die Zimmer der Tanten mit einem Badezimmer und einer kleinen Küche. Marga ging einmal am Tag nach oben, um den beiden behilflich zu sein, aber wie es schien, kamen sie gut zurecht. Es stand oft ein großer Topf Suppe auf dem kleinen Herd, die Tanten kochten wohl selbst, aber wenn sie nach oben kam, saßen sie immer schweigend und klappernd in ihrem Strickzimmer. Bertie hatte schon einige Mützen und Decken von ihnen bekommen. Das andere Kämmerchen teilten sich die Tanten als Schlafzimmer, dort standen zwei schmale Kinderbetten, nur getrennt von einem Nachttisch, auf dem eine Bibel lag.

Die Tanten waren die jüngsten Schwestern von Gerhards Vater. Beide hatten nie geheiratet. Sie hatten sich zeit ihres Lebens ein Zimmer geteilt. Sie waren zur Familie ihres Bruders gezogen, nicht lange nachdem Gerhards Vater geheiratet hatte, obgleich der als Bootslackierer nur gerade so über die Runden gekommen war und man in der Erdgeschosswohnung in einer der neuen Arbeitersiedlungen in Nienstedten wenig Platz gehabt hatte. Gerhards Mutter musste eine sehr kranke, sehr schwächliche, sehr leidende Frau gewesen sein, die Tanten hatten ihr mit den Kindern geholfen, sechs waren es am Ende. Gerhard war das zweitjüngste, und seine Mutter war gestorben, als er fünf gewesen war. Die Tanten waren in den Jahren danach umso wichtiger geworden, so hatte es Gerhard ihr in einem ihrer seltenen tiefsinnigeren Gespräche erzählt. Gerhards Vater war gestorben, als Gerhard von Nienstedten nach Hamburg gezogen war, wo er Juwelier gelernt hatte. Nach dem Tod ihres Bruders hatten die Tanten in Nienstedten eine winzige Anliegerwohnung bezogen und sich als Kindermädchen und Küchenhilfen verdingt, in fremder Leute Haushalte im nahen und doch so fernen Blankenese. Als sich Gerhard ebendort, in Blankenese, das er nicht ohne Bewunderung «den Herd der hanseatischen Bürgerlichkeit» nannte, das Haus gekauft hatte, damit auch jeder sehen konnte, dass sein Leben ein einziger Umzug nach oben war, hatte er die Tanten zu sich geholt. Er war ein gemachter Mann – ein Geschäftsinhaber, ein Aufsteiger, und doch ein Junggeselle. Vielleicht hatte er das Bedürfnis gehabt, etwas zurückzugeben. Ja sicher, er war ein Mann, der Verantwortung übernahm, wenn es sich gehörte, wenn es nicht anders ging. Er hatte den Tanten ein Dach über dem Kopf gegeben. Und doch gab es Momente, in denen sie Mitleid hatte mit diesen Damen, die zu ihr ebenso höflich wie kühl waren. Denn natürlich hatte Gerhard die beiden Frauen, die, seitdem er denken konnte, seine Kindermädchen gewesen waren, genauso gebraucht wie diese einen Platz, an dem ihr Leben zu Ende gehen konnte. Bis Marga kam, hatten die Tanten für Gerhard geputzt und gekocht. Man konnte es also auch so sehen: Er hatte sie wie Bedienstete unter das Dach gesperrt. Weggesperrt. Weil er sich mit all seinen Geschwistern überworfen hatte, waren die Tanten seine einzige Familie. Und doch war da keine Herzlichkeit zwischen den dreien. Nur Notwendigkeit. Er hatte einsam und alleine – ob er während dieser Jahre wohl mal Damenbesuch gehabt hatte? – ein Familienhaus bewohnt und oben im Dachgeschoss zwei gebrechliche Frauen versteckt wie ein unangenehmes Geheimnis. Die Tanten, die nie etwas gehabt hatten in ihrem Leben außer ihren nützlichen Händen, waren für Gerhard die letzte Erinnerung an eine mittellose Vergangenheit. Er hatte für sie sorgen müssen, vielleicht hatte er das dem Vater sogar versprochen. Aber vor allem hatten sie für ihn sorgen müssen.

Warum Gerhard wohl Marga ins Haus geholt hatte, als sie hergezogen war? Vielleicht hatte er ein Einsehen gehabt, dass die Tanten genug geschafft hatten. Vielleicht sollte sein Sohn von anderen Frauen erzogen werden. Vielleicht hatte er nicht gewollt, dass sie allzu viel mit den Tanten zu tun hatte, weil er dann weniger Kontrolle darüber gehabt hätte, was sie über ihn wusste. Sie wusste gar nichts über ihn. Vielleicht aber hatte er ihr mit Marga auch einfach eine noch jüngere Frau an die Seite stellen wollen, einfach so, damit sie sich nicht unersetzlich fühlen konnte, damit sie noch mehr hadern musste. Nein. Sie dachte zu viel nach. Marga war gut, sie ging sehr lieb mit Bertie um, sie konnte nichts dafür. Sie durfte nicht auch noch Marga in ihre schweren Gedanken holen.

Gerhard ging nie nach oben zu den Tanten. Sie selbst setzte Bertie alle paar Tage auf ihre Hüfte und stieg hinauf, und der Kleine begann immer gleich, leise zu protestieren: «Nein, Mama, nein!» Vielleicht hatten die Tanten schon zu viele Kinder groß werden sehen, jedenfalls schenkten sie Bertie nie mehr als ein gequältes Lächeln und die Mützchen, gaben sich aber sonst keine Mühe, ihm die kurzen Aufenthalte unter dem Dach angenehm zu bereiten. Es gab für ihn keinen Grund, dort gerne zu sein. Für sie auch nicht. Und doch sah sie die Besuche als ihre Pflicht an. Die Tanten gehörten nun auch zu ihrer Familie. Und sie wollte eine Familie haben, um jeden Preis. Es konnte doch nicht sein, dass die Familie, die sie mit Gerhard gegründet hatte, bereits verwest war, noch ehe sie hatte wachsen können.

Die Tanten besprachen nur das Nötigste mit ihr, das Wetter war grau, der Pfarrer war krank. Ob sie bereits frische Spargelsuppe gemacht habe, es sei ja nun Saison, ob sie wisse, dass sich auch grüner Spargel für Suppe wunderbar eigne. Und doch war in den müden Blicken stets auch etwas Gerührtes, eine tiefe Traurigkeit oder auch Mitleid. Es war manchmal, als wüssten die Tanten alles über ihre Gefühle. Als sei da eine gemeinsame Last, die sie verband. Als verstünden die Tanten sie und könnten ihr doch in keiner Weise helfen. Mag sein, dass sie sich das einbildete. Aber es tat gut, daran zu glauben. Und die Tanten wussten wahrscheinlich wirklich viel mehr über sie und ihre Ehe, als es sie anging. Das Haus war nicht sonderlich weitläufig. Es war ziemlich hellhörig. Es gab keine Tür zum Dachgeschoss. Die Tanten saßen dort oben und wurden stumme Zeugen des Lebens unter ihnen. Sie mussten Berties Weinen in der Nacht hören und ihre Schritte und ihr Summen, wenn sie ihn holte. Sie mussten hören, wie das Ehebett gegen die Wand stieß, wenn Gerhard sie widerwillig nahm, und sein Seufzen, wenn er sich in ihr ergoss. Sie mussten sogar hören, wenn Gerhard wieder Durchfall hatte. Sie mussten ihr Weinen hören. Und vor allem die Stille am Tage. Sie mussten wissen, dass sie das Haus kaum verließ und dass sie umherschlich. Sie mussten wissen, dass das Kind nur lachte, wenn Marga dabei war. Die Tanten hörten dieses beschämende Nichts von unten. Ihr beschämendes Nichts. Sie hörten von unten das Echo ihres eigenen Lebens. Wobei, das stimmte gar nicht, das Leben der Tanten war ja laut gewesen, es waren zwar immer die anderen, die laut gewesen waren, aber da war nie Stille. Das Leben der Tanten war alles andere als nutzlos gewesen, nur ihr eigenes Leben war nutzlos. Und sie machte es jeden Tag nutzloser. Die Leben der Tanten, ihr eigenes und das von Marga waren so unterschiedlich und ähnelten sich doch so sehr, das ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Tanten waren immer arm gewesen und darauf angewiesen, dass sie jemand zu sich holte. Sie war auch arm gewesen, bis er sie zu sich geholt hatte. Und Marga war von ihm geholt worden und noch immer arm, und es war nicht abzusehen, dass sich daran je etwas ändern würde. Vier Frauen verbrachten jeden Tag unter einem Dach und doch nicht zusammen. Vier Frauen, die sich hätten kennenlernen können. Ja, die Tanten waren viel älter, sie hatten in anderen Zeiten gelebt, aber begann nicht die Welt gerade erst, eine andere zu werden? Die alten Damen hätten Marga und ihr viel erzählen können. Aber nein, da oben saßen die Tanten, und hier unten saß sie, die Frau des Hauses neben dem Dienstmädchen. Es standen so viele Regeln zwischen ihnen. Es waren seine Regeln. Die Sprachlosigkeit, die in diesem Haus herrschte, war seine Sprachlosigkeit. Seit dem Abend, an dem ihr seine Tasse heruntergefallen war, waren nun fast zwei Wochen vergangen. Endlich hatte sie einen klaren Gedanken, einen Wunsch, gehabt und ihn ausgesprochen, ohne Zweifel, ohne Entschuldigung. Der Satz war gefallen, und er war nicht mehr rückgängig zu machen. Er hatte nicht geantwortet. Sie war ins Schlafzimmer gerannt und hatte sich unter der Bettdecke versteckt. Er hatte Bertie zu Bett gebracht und sich wenig später wortlos neben sie gelegt. Es ging einfach weiter. Dieser Mann führte ein Leben, in dem sie nicht vorkam.

 

Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, trug er einen roten Schal. Nichts an ihm war auffällig gewesen, nur dieser Schal. Er war in den Laden gekommen, in dem sie gearbeitet hatte. Es war eine gute Arbeit gewesen. Juwelier Schuster, Calwer Straße 81. Der alte Herr Schuster hatte ihr viel beigebracht. Sie war im Verkauf tätig gewesen, aber sie hatte rasch sehr viel gewusst über das, was sie verkaufen sollte. Eine Uhr mit einem Goldgehalt von vierzehn Karat hat einen Goldanteil von 58,5 Prozent. Sie hatte jeden Morgen um 7 Uhr 15 die Gäubahn von Heslach genommen und war nach Stuttgart Centralbahnhof gefahren. Pünktlich um 8 Uhr 30 war sie bei Herrn Schuster angekommen. Es war ein Zufall gewesen, dass sie bei ihm angefangen hatte. Ihre Familie hatte sich aus Schmuck nichts gemacht, sich daraus nichts machen können. Ihre Mutter besaß ein Paar Ohrringe, ihr Vater trug in seiner Westentasche eine Uhr, ein Erbstück. Sie selbst hatte damals einen Armreif ihrer Oma besessen, einen goldenen. Sie hatte ihn jeden Tag getragen. Er hatte ihr viel bedeutet, weil ihr die Oma viel bedeutet hatte, weil die Oma sie immer zum Lachen gebracht hatte. Herr Schuster war der Nachbar des Vorgesetzten ihres Vaters gewesen. Ihr Vater war Monteur bei Dinckelacker, in der Brauerei. Seinen Werksleiter hatte er – sicherlich so beschämt, als suche er einen Käufer für etwas Fehlerhaftes – gefragt, ob dieser von einer Tätigkeit für ein junges Mädel gehört habe. Für seine Tochter. Und der Werksleiter hatte da just von seinem Nachbarn erzählt bekommen, dass die Dame im Verkauf gekündigt hatte. Schmuck war von da an alles für sie, die Arbeit mit den Uhren und den Ringen, den Diamanten, die der alte Schuster noch so filigran einsetzen konnte. Mit der Arbeit besaß sie zum ersten Mal etwas Eigenes. Niemand aus ihrer Familie kannte sich mit dem aus, was sie nun tat. Sie war alleine in die Gäubahn gestiegen. Am Abend, wenn sie wieder in den ersten Stock des Fachwerkhauses in Heslach kam, Böcklerstraße, neben der Weinstube, war die Welt wieder eng. Aber am Tag, in der Gäubahn, hinter dem Verkaufstresen, und mittags, wenn sie zum Schlossplatz spazierte, da war die Welt weit.

Er war an einem Montag in den Laden gekommen, kurz vor Feierabend, und hatte sich wortlos umgesehen. Und dann sie angesehen. Herr Schuster war hinten in der Werkstatt gewesen. Gerhard war ein großer, hagerer Mann mit einem regennassen braunen Mantel und einem roten Schal und, was sie erst nach einigen Blicken erkannte, mit Augen, die funkelten. Anders konnte man es nicht sagen, sie funkelten aus seinem blassen Gesicht. Entweder, das Gesicht wirkte so blass, weil die Augen derart funkelten, oder die Augen fielen ihr nur auf, weil das Gesicht so blass war. Der Mann hatte sie angelacht mit diesen Augen, aber nichts an ihm hatte freundlich gewirkt. Kann ich Ihnen behilflich sein?, hatte sie gefragt. «Das wird sich noch herausstellen», hatte er erwidert. Was sollte das heißen? Es war eine Unverschämtheit. Ihr Herz hatte wild geschlagen. Der Mann war alt. Sie war zweiundzwanzig. Sie hatte sich die Haare von ihrer jüngeren Schwester Ottilie abschneiden lassen und trug die Locken sehr kurz. Es stand ihr. Sie trug ein schwarzes, enges Kleid im Geschäft. Ihrem Vater gefiel das nicht, aber er war hörig, wenn ein wichtigerer Mann zu ihm sprach. Als Herr Schuster ihm versichert hatte, dass alles züchtig sei, wie es war, schwieg er dazu. Der Mann, der später ihr Ehemann werden sollte, hatte sich mit den Worten vorgestellt: «Sagers, ich bin mit Herrn Schuster verabredet.» Es hatte eine Messe stattgefunden in Stuttgart, und die Herren hatten gemeinsam zu Abend essen wollen. Herr Schuster sei im Hinterraum, hatte sie gesagt. «Ich mag ihr Schwäbisch», hatte er geantwortet. Dabei hatte es in ihrem Bauch gekitzelt. Dann hatten sie beide geschwiegen. Sie hatte sich besonnen und gefragt, wie es sich für eine gute Mitarbeiterin gehört: Woher stammen Sie denn, wenn ich fragen darf? Wo kommet Sie denn her? «Hansestadt Hamburg.» Er sprach ohne jeden Dialekt, er sprach so, wie sie sich Hochdeutsch vorstellte. «Also, wollen Sie Herrn Schuster Bescheid geben?», hatte er ungeduldig gefragt. Aber Herr Schuster musste das merkwürdige Gespräch bereits mitgehört haben. «Mein lieber Gerhard, ich komme gleich», hatte er von hinten gerufen.

«Verkaufen Sie mir etwas», hatte der Mann schroff gefordert. Sie hatte nicht verstanden. «Ich bin vom Fach», hatte er gesagt, «verkaufen Sie mir eine von Schusters Uhren.» Er hatte nach hinten in die Werkstatt gerufen: «Schuster, bleib bei deinen Uhren! Mein lieber Josef, du weißt, dass du einen bemerkenswerten Namen für einen Juwelier hast!» Er hatte nicht gelacht. «Die da!» Der Mann hatte energisch auf eine in der Vitrine liegende Taschenuhr gezeigt. Eine goldene Uhr aus dem Glashütter Uhrenwerk. «Erzählen Sie mir etwas über diese Uhr», hatte er gesagt. Eine Präzisionstaschenuhr. 14 Karat. Handaufzug. 150 Mark. Ihre Hände waren schweißnass gewesen. «Warum», hatte der Mann gefragt, «sollte ich für diese Uhr so viel Geld ausgeben?» Es ist eine gute Uhr, sagte sie. «Fräulein, geben Sie sich Mühe, werben Sie dafür!» Es ist mehr als eine Uhr, sagte sie. Glashütte-Uhren sind eine Wissenschaft für sich. Ein Schatz. Haben Sie einmal eine Unruh gesehen? Wissen Sie, was eine Unruh ist? Ein kleines Schwungrad aus Metall, das zusammen mit einer winzigen Spiralfeder ein schwingungsfähiges System bildet. Je genauer die Unruhschwingung, desto genauer die Uhr. Die Kompensationsunruh schützt die Uhr vor Störungen. Es ist das Herz einer Uhr. Diese Uhr hat ein sehr gesundes Herz. Diese Uhr ist eine besonders kunstvolle, gut lesbare Savonette. Sie ist ein kleines Kunstwerk. Und vor allem ist es eine schöne Uhr. Nicht mehr, nicht weniger. Der Mann hatte sie schweigend angesehen. Sein blasses Gesicht war gerötet gewesen, gefleckt, er hatte genickt. Ihr war ganz warm gewesen. Ihr hatte gefallen, wie er sie behandelte, wie er sie ansah. Er war sehr streng. Sie hatte an ihren Vater gedacht, der nicht weniger streng und fordernd war. Nur hatte sie diesem Mann gerade die Stirn geboten, sie hatte ihm etwas zeigen können, sie hatte sich zeigen können. Der Mann hatte sie dazu gezwungen, etwas zu tun. Er hatte sie nicht dazu gezwungen, etwas zu lassen. Und seine Welt war auch ihre Welt. Ihre geheime, neue Welt. Es hatte sich intim angefühlt, verboten fast, wie sie über diese Uhr geredet hatten. Es hatte sie erregt. Natürlich hatten Männer ihr vorher schon nachgestellt. Mit Ottilie war sie sonntags ab und an tanzen gegangen, die war ja nur zwei Jahre jünger. Meist gingen sie in das Lokal am Bihlplatz, der Vater ahnte nichts. Einmal war es spät geworden, da waren sie über den Schuppen geklettert und durchs Schlafzimmerfenster gestiegen, das Erich, der Jüngste, offen gelassen hatte. An diesem Abend hatte sie Rudi geküsst. Viele sagten ihr, sie sei hübsch, aber sie glaubte es nicht. Sie hatte Pausbacken. Nicht zu bändigendes Haar. Und sowieso: Die Heslacher Jungs wären irgendwann Heslacher Männer. Manchmal hatte sie überlegt, zum Tanzen noch weiter rein nach Stuttgart zu fahren, aber sie hatte sich nicht getraut. Vielleicht war das noch immer nicht weit genug. Vielleicht musste sie viel weiter weg aus Heslach, um Heslach hinter sich zu lassen. Dieser Sagers, der Hochdeutsch sprach, war der erste Mann gewesen, der sie in Verlegenheit gebracht hatte. «Und, wie findest du Fräulein Heck?», hatte Herr Schuster gefragt und fuhr, ohne auf die Antwort des Besuchers zu warten, fort: «Sie ist eine ausgezeichnete Verkäuferin. Hast wohl gedacht, du könntest sie aus der Fassung bringen, was?» – «Sie scheint ein Interesse an Uhren zu haben, durchaus», hatte der Mann gesagt und wieder ganz ungerührt gewirkt. Die beiden Männer waren gegangen. Augenblicke danach war der Besucher noch einmal zurückgekehrt mit den Worten: «Wenn Sie unser Gespräch interessant fanden, kommen Sie doch morgen in der Mittagspause auf einen Kaffee zum Bahnhofshotel.»

 

Er hatte nicht im Foyer gewartet. Sie hatte an der Rezeption nach Sagers gefragt. Zimmer 216. Sie hatten nicht viel gesprochen. Es war leise gewesen, es hatte nicht lange gedauert. Er war nicht zärtlich gewesen, aber er hatte aufgepasst. Er hatte Haare auf dem Rücken. Sie hatte nicht viel gespürt, das ganze Treffen hatte sie erlebt wie einen nebligen Traum. Wie fremdgesteuert hatte sie Dinge getan, die sie zuvor noch nie getan hatte. «Wollten wir nicht unser Gespräch fortführen?», hatte sie gefragt, als er sich für seinen Geschäftstermin wieder anzog. «Wir werden noch viel Zeit haben zu reden», hatte er geantwortet. In der Mittagspause des folgenden Tages hatte es sich wiederholt. Es war alles weniger bedeutend, aber auch weniger beängstigend gewesen, als sie es sich immer vorgestellt hatte. Vielleicht war sie verliebt. Am Nachmittag hatte er den Zug nach Hamburg nehmen müssen. Er würde bald wiederkommen, hatte er sie beruhigt. Er müsste in die Schweiz reisen in zwei Wochen, er würde einen Halt in Stuttgart einplanen. Sie hatte gedacht, sie würde ihn nie wiedersehen. Aber nach zwei Wochen war er wieder ins Geschäft gekommen. Bei seinem nächsten Besuch, fast zwei Monate danach, hatte er im Hotel gewartet, sein erneutes Auftauchen wäre dem Schuster verdächtig vorgekommen. Die Treffen waren anders geworden. Wohin führte das bloß? Sie hatte geahnt, dass etwas geschehen war mit ihr. Sie war schwanger.

Er hatte sich um alles gekümmert. Ihre Mutter hatte geweint. Ihr Vater war einverstanden gewesen. Es waren schwere Jahre, das Land ging zugrunde. Herr Schuster hatte ihr gestanden, er wisse nicht, wie lange er das Geschäft noch halten könne, er werde sie vermissen, aber für sie sei es so viel sicherer. Gerhard war ein Mann, dem die Leute vertrauten. Es war gar keine Frage, dass sie ihn heiraten würde. Am 28. August 1920 war es so weit gewesen. Das Kind trat ihr gegen die Bauchdecke. Sie hatte so viele Fragen im Kopf gehabt. Aber es war keine Zeit gewesen für Fragen. Alle waren in Eile gewesen, als könnten sie es nicht erwarten, sie loszuwerden. Und Gerhard wollte so schnell wie möglich nach Hamburg. Sie wusste nichts über Hamburg. Es roch nicht gut im Standesamt. Es war so trostlos. Sie hatte immer gedacht, sie würde vor Rührung weinen auf ihrer Hochzeit, aber dann hatte sie geweint, weil es sich jetzt schon anfühlte wie Heimweh. Dabei war sie ja noch zu Hause.

Die Zeit war schnell vergangen. Zwei Wochen waren es nun, seit die Tasse zersprungen war. Als er sich an diesem Abend neben sie legte, drehte sie sich auf die Seite und blickte ihm in die Augen. Es war ungewohnt. Da war nichts Vertrautes in seinem Blick. Nur etwas, das sie schon einmal gesehen hatte, aber das war lange her.

«Was sagst du denn nun, Gerhard?», fragte sie.

«Wozu?»

«Zu dem, was ich neulich gesagt habe. Ich will nach Hause! Ich will noch immer nach Hause!»

Sie wurde lauter als gewollt. Sie merkte, dass sie gleich zu weinen beginnen würde, wie immer. Sie wollte das nicht.

«Du bist doch zu Hause», sagte er, «hier ist dein Zuhause. Das ist dein Haus. Ich bin dein Mann.»

«Liebst du mich?», fragte sie.

«Natürlich liebt ein Mann seine Frau.»

«Du sollst mich nicht lieben wie irgendein Mann, sondern wie mein Mann!»

«Ich liebe dich wie dein Mann. Ich bin dein Mann, und ich erwarte von meiner Frau, dass sie sich ebenso um unsere Familie bemüht, wie ich mich jeden Tag um meine Familie bemühe.»

Sie weinte jetzt. Immer schon hatte sie mehr geweint, als sie eigentlich traurig war. So viele Tränen hatte sie in ihrem Leben schon geweint. Das Kissen war ganz nass. Sie war nicht traurig. Sie war wütend. Aber sie war auch so klar auf einmal. Sie wollte reden, nicht weinen.

«Ich verstehe dich nicht», sagte er, «ich verstehe nicht, was du willst. Was ist mit dir los? Was soll denn Berthold von seiner Mutter denken, wenn sie solches Zeug redet beim Abendbrot. Dummes Zeug! Sei doch einfach meine Frau, um Himmels willen! Benimm dich!»

Sie musste plötzlich lachen. Ein kurzes, helles, entsetztes Lachen, das ihr entwich, während ihr die Tränen weiter über das Gesicht liefen. Er war so weit weg von ihr. Benimm dich. Wo sollte sie bloß anfangen? Und doch mochte sie den Ton seiner Stimme. Er flüsterte. Aber er flüsterte in Wut. Verzweifelt. Es hatte sich etwas angestaut in ihm. Es fühlte sich echt an. Endlich einmal war da was.

«Ich benehme mich jeden Tag für dich», sagte sie, «ich will mich auch mal so benehmen, wie ich es für richtig halte.»

Sie drehte ihm den Rücken zu und zog sich unter ihrem Nachthemd die Unterhose aus.

«Was tust du da?», fragte er.

Sie presste ihren Hintern an ihn, griff hinter sich, und sie kannte diesen Mann vielleicht nicht, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er Gefallen daran hatte.

«Sei mein Mann», sagte sie.

«Ich bitte dich, Helene», sagte er.

Aber er konnte sie nicht aufhalten. Sie zog ihn aus. Sie legte sich auf den Bauch, und er folgte ihr und stieß sie so heftig, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie dachte an alles, nur nicht an ihn, aber sie spürte ihn, und sie schrie auf, und als sie schrie, dachte sie an die Tanten, die sie hören würden, und immer wieder dachte sie daran, dass sie sich so hingelegt hatte, dass sie ihn dazu gebracht hatte, das mit ihr zu tun. Sie spürte ihn, aber noch mehr spürte sie sich überall. «Ist es das, was du willst?», keuchte er in ihren Nacken. Aber sie wollte ihm nicht antworten, sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Brust. Er zuckte heftig in ihr. Und er sprach lauter als sonst: «Ist es das, was du willst, Helene?» Nebenan wimmerte Bertie schläfrig. Gerhard rollte sich von ihr. Sie wollte noch nicht aufhören, aber sie konnte ihn nicht festhalten.

Atemlos sagte er: «Hör mir zu, Helene. Wenn du wirklich gehen willst, dann lege ich dir keine Steine in den Weg. Du kannst gehen. Geh zurück nach Stuttgart, wenn du meinst, dass du dort glücklich wirst. Aber Bertie bleibt hier. Mein Sohn bleibt hier! Du kannst ja gar nicht für ihn sorgen!» Es war so unwürdig. Wie er mit ihr sprach. Was er da sagte. Sie lag mit verrutschtem Nachthemd neben ihm, und während er so mit ihr sprach, lief sein Saft aus ihr. Gerade eben noch hatte es in diesem Bett nur den Moment gegeben. Nun war alles wieder da. Sie suchte in den Laken nach ihrer Unterhose, angelte mit einem Fuß danach.

«Was meinst du?», fragte sie.

«Wenn du gehen willst, sorge ich dafür, dass du gehen kannst. Ich werde vor Gericht alles in die Wege leiten, ich kenne Leute, ich werde unseren Sohn und dich schützen. Glaubst du, ich habe nicht nachgedacht?»

«Du musst doch mit mir reden, wenn du über uns nachdenkst, Gerhard!»

«Ich rede jetzt mit dir. Du bist von Sinnen. Seit deinem ersten Tag hier. Du bist mir fremd. Und deinem Sohn machst du oft genug Angst mit deiner Hysterie. Wenn du gehen willst, dann helfe ich dir. Ich werde dafür sorgen, dass die Scheidung vonstattengeht.»

«Gerhard …»

«Hör mir zu, Helene! Die Scheidung wird vonstattengehen, wenn du es willst. Aber der Junge bleibt hier. Berthold bleibt hier! Hörst du mich? Ob du mich hörst, Helene?»

Bertie weinte jetzt. Gerhard löschte die Lampe auf seinem Nachttisch. Im Dunkeln ging sie ins Kinderzimmer. Sie legte sich auf den Teppich neben Berties Gitterbett und legte ihre Hand auf sein Köpfchen. Sie zitterte am ganzen Körper. Am nächsten Tag, den Gerhard begonnen hatte, als sei nichts gewesen, ging sie zu den Tanten hoch. Und sie hätte gelogen, hätte sie behauptet, dass es nicht auch Neugier war, die sie antrieb. Neugier, ob sie den Damen anmerken würde, dass sie etwas gehört hatten in der Nacht. Vielleicht war es sogar Stolz, der sie nach oben gehen ließ, Stolz darauf, die Stille dort unten beendet zu haben in der vergangenen Nacht. Bertie ließ sie bei Marga in der Küche. Die Tanten hatten wie immer nicht viel zu sagen gehabt. Aber nach einigen Nichtigkeiten bemerkte Eugenie, die größer gewachsene:

«Es wird bald wahrhaftig Sommer», sagte Eugenie, «bald kann man die Fenster nachts wieder offen lassen.»

Sie antwortete beiläufig: «Da freue ich mich.»

«Frische Luft tut immer gut», sagte Tante Eugenie.

«Gerhard schläft nicht gern mit offenen Fenstern, er fürchtet, einen Zug zu bekommen», sagte sie.

«Nun, man muss aufpassen», sagte Eugenie, «da hat er recht.»

Die Tante guckte sie mit diesem Tantenblick an.

«Selbst ich habe in meinem Leben gelernt: Man kann einen Mann nicht ändern», sagte Eugenie, «aber unglücklich wird man erst, wenn man es versucht. Man kann das Leben nicht ändern, man kann nicht ändern, dass nun der Sommer kommt und dass er dann wieder vergeht. Man kann damit gut leben, man muss es sogar.»

Sie sagte nichts dazu. Sie hatte verstanden.

«Auf bald, liebe Tanten», sagte sie und ging hinunter in die Küche.

«Bertie und ich werden einen Ausflug machen, Marga», sagte sie.

«Wohin?», fragte Marga.

«Zum Hafen, es ist ja noch früh am Mittag. Ich will Bertie die Schiffe zeigen. Ich will endlich den Hafen sehen. Wir machen einen Ausflug. «

«Wenn Sie meinen», sagte Marga und schaute ängstlich.

Auch sie hatte Angst. Aber sie wollte den Hafen sehen. Also würden sie den Zug in die Stadt nehmen. Und zum Abendbrot wieder hier sein. Sie wusste, was zu tun war. Sie wusste ganz genau, was sie wollte. Und das machte ihr Angst.

3

Sie durfte Bertie nicht verlassen. Sie musste seinetwegen bleiben. Sie hatte für ihn da zu sein. Es durfte nicht noch ein Kind verstoßen werden. Wie hieß das andere Kind noch? Ihr fiel der Name nicht mehr ein. Sie war so zerstreut. Julius’ Sohn, der arme Junge. Eine Halbwaise. Sie dachte viel an ihren Bruder in diesen Tagen. Sie vermisste ihn. Eigentlich war sie wegen Julius hier in Hamburg. Eigentlich hatte erst sein Tod ihr den Mut gegeben, überhaupt fort aus Heslach zu wollen. Jemand musste es doch schaffen. Ihr Fortgehen war Zufall gewesen, ebenso wie Gerhard ein Zufall gewesen war. Aber dass sie nach einem solchen Zufall Ausschau gehalten hatte, dass sie bereit dazu gewesen war, das lag einzig und allein an Julius. Er hatte immer fortgewollt. Und er war davongekommen, viel zu weit. Sie hatte ihren großen Bruder immer dafür bewundert, wie er es geschafft hatte, eine so große Vorfreude auf die Zukunft zu empfinden. Auf das Leben an sich. War doch die Gegenwart, in der sie beide aufgewachsen waren, recht trostlos gewesen. Eigentlich hatte nur Julius sie glücklich gemacht. Er hatte immer so getan, als sei es kein Nachteil, als Sohn eines trinkenden, wütenden Brauereimonteurs mit neun Geschwistern in einer viel zu engen Wohnung groß zu werden. Warum, das hatte Julius immer ausgestrahlt, sollte ihn seine Herkunft von irgendetwas abhalten? Die Welt gehörte ihm. Fast jeden Sonntag hatte er sie entführt. Seine Hellie. Er hatte sie auf sein Fahrrad gesetzt, vor sich auf die Stange. Sie hatte nie gewusst, wohin es gehen würde. Mal hatten sie im Neckar gebadet, mal Erdbeeren auf der Wiese vor dem Stadtschloss gegessen, einmal hatte Julius mit einem selbstgeschnitzten Speer Kaninchen im Forst gejagt. Natürlich hatte er keines gefangen. Es war ein Spaß gewesen. Er hatte sie sehr geliebt. Sie hatten auf der Wiese gelegen und in die Wolken geguckt, und er hatte gesagt: «Bald, Hellie, fliege ich dort oben!» Er hatte damals schon für die Königlich-Preußische Fliegertruppe geschwärmt, von irgendwelchen Generalmajoren und Fliegerbataillonen erzählt. Sie hatte ihm gerne zugehört. Er war ein Spinner gewesen. Nach der mittleren Reife hatte er sich dann gemeldet. Er war groß und gesund und schlau, und sie wollten ihn zum Flieger machen. Es war so schnell gegangen, gerade hatten sie noch auf der Wiese gelegen, jetzt war er schon dort oben. Ein Pilot. Ein Soldat. Nichts hatte ihn aufhalten können.

Auf den zwei Fotografien, die Mutter hatte rahmen lassen, war Julius uniformiert neben einem Doppeldecker zu sehen, er hatte so schüchtern und klein ausgesehen daneben. Aber er hatte lange, stolze Briefe geschrieben, in denen er sein Flugzeug «meine Taube» genannt hatte. Als der Krieg gekommen war, war er voller Begeisterung gewesen. «Endlich, Hellie, endlich», hatte er einige Tage nach der Nachricht geschrieben, «die Kameraden und ich können es nicht erwarten, unsere Maschinen dort oben aufheulen zu lassen. Wir werden dem Vaterland zum raschen Sieg verhelfen. Es grüßt dich dein Bruder Julius». Die Mutter hatte geweint. Der Vater hatte die Mutter mit roten Wangen angebrüllt, sie solle sich gefälligst zusammenreißen, das sei doch, was der Julius gewollt habe, jetzt müsse er seinen Mann stehen. Der Julius sei doch selber schuld, wenn er vom Himmel falle, es habe ihn ja niemand gezwungen hochzusteigen. Auch der Vater hatte Angst, das merkte sie. Die Mutter hatte gefleht, so etwas dürfe er nicht mal denken. Julius werde nicht vom Himmel fallen. Sag so was nicht, bitte nicht, bitte, es darf ihm nichts passieren! Um Karl, der bei der Marine war, hatte die Mutter nie geweint. Karl kam nach dem Vater. Julius hatte die große Nase der Mutter und ihre Ruhe. Karl hatte die Masse des Vaters und seine Wut. Karl war drei Jahre jünger als Julius, aber früher als der Bruder zum Militär gegangen. Er war oben im Norden stationiert, seit 1913 schon. Er war bei den Matrosenaufständen dabei gewesen – «wie ein großes Straßenfest», hatte er ihr erzählt. Der Vater hatte nicht glauben können, dass sein Sohn sich gegen den Kaiser gestellt hatte, und Karl war vor dem Krieg kaum noch zu Hause gewesen. So wie am Tag des Marschbefehls hatte sie die Mutter nie zuvor und nie wieder schreien hören, so schmerzerfüllt. Nicht einmal, als dann alles so kam mit Julius, wie sie es befürchtet hatte.

 

Der Krieg hatte begonnen, und sie hatte sich das Fahrrad von Julius geschnappt, das ihr viel zu groß war, und war stehend über die vereisten Feldwege gefahren. Julius war fortan in Trier stationiert gewesen, 4. Armee Herzog Albrecht, Feldfliegerabteilung 6, Hauptmann von Dewall. Im April war er das erste Mal zu Besuch gekommen. Er hatte ihr ein blau-weißes Halstuch mitgebracht, sie war verlegen gewesen. «Helene wird rot», hatte Reinhold gekräht, bestimmt auch aus Neid. Reinhold war ein Jahr älter als sie, er war schmal und schlau, er war wie ein Fremdkörper in dieser Familie, und sie liebte ihn sehr, sie wusste auch, dass er sie sehr liebte, aber sie verbrachten kaum Zeit miteinander. Reinhold wachte über die schüchterne Ottilie, während sie von Julius, der sieben Jahre älter war, zu Abenteuern mitgenommen wurde. Sie war die Einzige, die bei seinem Heimatbesuch ein Mitbringsel von Julius bekommen hatte. Nur die Kleinen, Oskar und Erna und Erich, hatten auch Süßigkeiten bekommen. Julius war drei Tage geblieben, und erst am dritten Tag hatte er mit den Eltern über Rosa gesprochen. Ihr hatte er es gleich am ersten Morgen gesagt, als sie auf den kalten Stufen vor dem Haus gesessen hatten. Wie früher. Durch die Strumpfhosen waren die Beine ganz eisig geworden. «Rosa und ich werden heiraten», hatte er gesagt, und sie war nicht überrascht gewesen, denn sie hatte immer gewusst, dass Rosa die Richtige war. Natürlich hatte es weh getan, zu wissen, dass er bald nur noch Rosa entführen würde. Aber nur ein bisschen. Es war richtig so. Rosa liebte Julius sehr, das sah jeder. Rosa liebte ihn auf eine völlig ausweglose Art, ergeben und geduldig. Seit sie denken konnte, hatte Rosa bei jeder Gelegenheit, im Sommer am Weiher, im Herbst beim Dorffest, im Winter beim Weihnachtssingen, neben Julius gestanden und ihn heimlich und selig angesehen. Rosa war ein schweigsames, hübsches Mädchen mit fast durchsichtiger Haut. Sie hatte Rosa immer um den Ernst beneidet, den sie ausstrahlte. Sie war sich neben Rosa plump und laut vorgekommen. Auch Julius war ein leiser, junger Mann, einer, der zwar auch viel lachen konnte, aber eben nur, wenn es wirklich lustig war. Einer, der viel in die Ferne sah. Und in die Wolken. Alles an ihm war geheimnisvoll und beruhigend zugleich. Viele Mädchen himmelten ihn an, aber das scherte ihn nicht. Bei ihm war alles immer so klar gewesen. So unerschütterlich. Rosa und Julius hatten wirklich sehr gut zueinander gepasst, sie wirkten beide erwachsen, manchmal fast wie die Eltern ihrer Freunde. Nie aber hatte sie die beiden auch nur Händchen halten sehen. Sie schienen auf etwas zu warten. Rosa hatte wohl auf Julius gewartet. Und Julius wohl auf den Tag, an dem er Heslach endgültig verlassen und Rosa mit sich nehmen würde, wen sonst?

Im April sollte geheiratet werden. Die Mutter hatte ihren Julius oft genug mit Rosa gesehen. Sie hatte seine Blicke bemerkt und ihn geneckt. Sie hatte doch gewusst, wie er war. Und sie hatte Rosa längst in ihr Herz geschlossen. Die Mutter mochte alle Menschen. Aber der Vater, da lag das Problem, hatte keinen blassen Schimmer von den Gefühlen seines Sohnes, für Gefühle interessierte er sich ohnehin nicht. Der Vater mochte weder die Menschen noch sich selbst. «Welche Rosa?», hatte er gefragt. Sie hatte auch mit am Küchentisch gesessen, Julius hatte sie darum gebeten. «Webers Rosa? Willst du mich auf den Arm nehmen? Was willst du von der? Das hagere Mädel willst du heiraten? Ihr Vater ist Hilfsarbeiter. Die haben nichts. Kein Wunder will die dich heiraten! Ich bitte dich! Flieg in deinen Krieg, aber mach doch nicht noch mehr Dummheiten!» Der Krieg, eine Dummheit. Sie hatte den Vater nicht verstanden. Immer war es ihm um die Ehre gegangen, um die eigene und um die des Vaterlandes. Aber dass sein Sohn die Ehre des Vaterlandes verteidigen wollte, das gefiel ihm plötzlich nicht. Er hatte nichts gegen den Krieg gesagt, er hatte ihn einfach ignoriert, soweit es ging. Es musste Angst gewesen sein, die er niemals zugegeben hätte, er war ja kein Vaterlandsverräter, kein Feigling, vielleicht hatte er deshalb die meiste Zeit gar nichts gesagt. Nun hatte er gleich wieder geschrien. Sie war wütend geworden am Küchentisch. Dass er gegen Julius’ Fliegerei war, in Ordnung, aber dass er gegen Rosa war? Wieso musste der Vater es allen so schwermachen, wieso musste er jeden immerzu verletzen, wieso war ihm nichts und niemand gut genug? Als ob er selbst etwas Besseres war. Dieser Mann machte alles kaputt. Tränen waren ihr in die Augen gestiegen. Die Mutter hatte ihr zu verstehen geben, dass sie besser gehen sollte, und war ihr wenig später in die Stube gefolgt. Der Vater hatte weiter vor sich hin gebrodelt, von Julius war nichts zu hören gewesen. Er hatte ganz still dagesessen in seiner blauen Fliegeruniform. Mutter und sie hatten sich angeblickt und gelauscht. Nachdem es eine Weile ganz leise gewesen war, war auf einmal doch Julius’ Stimme zu hören: «Vater, egal was du sagst: Am 24. April nehme ich Rosa zur Frau.»

 

Es war ein Freitag gewesen, beinahe Sommer. Sie hatte unter dem Kleid keine Strumpfhose getragen. Am Morgen war sie ganz aufgeregt aufgewacht. Ihr Bruder würde heiraten, und auch wenn Julius ihr am Abend vorher gesagt hatte, es sei Krieg und gefeiert werde erst, wenn der Sieg unser wäre, war ihr ganz feierlich zumute gewesen. Bei Kriegstrauungen musste kein Aufgebot bestellt werden. Es war eine kleine Hochzeitsgesellschaft gewesen, so klein, wie eine Hochzeitsgesellschaft eben sein kann, wenn der Bräutigam neun Geschwister hat. Julius’ bester Freund Max war außerdem dabei. Rosa hatte ein cremefarbenes, schon etwas abgetragenes Kleid getragen und war von ihren beiden Schwestern begleitet worden. Rosas Vater hatte allein in einer Reihe gesessen, ein müder, kleiner Mann, dem die Frau vor langer Zeit weggestorben war. Rosas neuer Schwiegervater war nicht dabei gewesen, er hatte sich mit Magenkrämpfen entschuldigen lassen. Er war ein feiger Mann. Julius hatte seine Uniform getragen, am Sonntag musste er wieder zum Stützpunkt. Nach der kurzen Zeremonie hatte man noch beisammengestanden, aber es hatte kein Festessen gegeben, und es war auch nicht zum Kaffee geladen worden. Es waren nicht solche Familien. Es waren nicht solche Zeiten. Schon die ganze Woche lang hatte sie einen Kloß im Hals gehabt. Nicht vor Traurigkeit, sondern vor Wut. Ein Gedanke war ihr nicht aus dem Kopf gegangen: Wie ungerecht das alles war! Dass es Julius und seiner Rosa unmöglich gemacht wurde, eine richtige, schöne Hochzeit zu feiern. Dass sie nicht einmal die Hochzeitsnacht miteinander genießen konnten. Julius hatte immerhin bei Rosa daheim geschlafen, in einem Zimmer, das eine der Schwestern für die beiden geräumt hatte. Julius war vom eigenen Vater in das Haus der noch ärmeren Leute vertrieben worden. Sie hatten keine Ruhe. Es war so ungerecht gewesen! Dass die beiden nicht den Segen bekommen hatten vom Vater. Dass sie nicht ein Haus bauen und Kinder kriegen konnten. Dass dieser Krieg sie nicht zusammenbleiben ließ. Sie hatten es nicht verdient, gehetzt zu werden, und sie hatten es auch nicht verdient, Angst haben zu müssen, sie hatten so viel mehr verdient. Es hatte sie ganz krank gemacht. In dieser Welt hatte sie an nichts Gutes mehr von da oben glauben können, als sie am 24. April des ersten Kriegsjahres gesehen hatte, dass dieses Paar nicht einfach leben durfte.

Der Vater, dieses Schwein. Ob er auch manchmal weinte? Nachts, ganz leise, oder so, dass es wenigstens die Mutter hörte, damit sie ihn trösten musste, obwohl er sie nie getröstet hatte? Ob er sich schämte? Ob er wirklich glaubte, so sein zu müssen, nur weil auch sein Vater ein Schwein gewesen war? Der Vater kannte seinen eigenen Vater nicht einmal richtig. Seine Eltern waren verbrannt, da war er erst zehn gewesen. Ein Schuppen war in Flammen aufgegangen, und bei dem Versuch, das Feuer zu löschen, hatten die Flammen sie eingeschlossen. Der Vater und sein jüngerer Bruder, Onkel Helmut, waren ins Waisenhaus nach Stuttgart gekommen. Ein weiterer Bruder, ein Säugling, war zu einer Pflegefamilie gekommen, bald aber gestorben. Die zwei Schwestern hatten als Dienstmädchen in der Stadt angefangen. Die Tante Emmi hatte rasch einen Mann kennengelernt und mit ihm wenig später eine Wäscherei eröffnet. Tante Gerda lebte noch immer bei ihren Dienstherrschaften. Onkel Helmut war Maler geworden, also Künstler, er kam so über die Runden, es waren ganz schöne Bilder. Der Vater lachte darüber. Er hatte ja was Richtiges gelernt. Aber was war das für ein Leben, das er lebte? Dieses verdammte Schwein.

Am 25. April 1917, einen Tag nach dem Hochzeitstag, war Julius über dem Schwarzwald abgestürzt und in den Flammen gestorben. Verbrannt wie die Eltern des Vaters. Nicht in einem Schuppen, sondern in seiner Fokker D. VII. Über dem Elsass war sein Flieger getroffen worden. Ein Wunder, dass er noch so weit gekommen war. Der Kurs, den er genommen hatte, war ein Rätsel, die Soldaten, die zu ihnen nach Hause gekommen waren, hatten gesagt, zum Stützpunkt hätte er viel weiter Richtung Norden fliegen müssen. Und zum nächsten Flugfeld nach Süden. Einer der Soldaten hatte eine goldene Kette um den Hals getragen, sie hatte gedacht, Schmuck sei Soldaten verboten. An der Kette war ein kleines Kreuz gewesen. Über dem Schwarzwald. Der eine Soldat hatte gesagt, es sei, als habe der Julius versucht, nach Hause zu fliegen. Die Mutter hatte nicht geweint, erst sehr viel später. Sie selbst hatte den Vater angestarrt, um zu erkennen, ob ihm Tränen in die Augen stiegen, wenigstens jetzt. Nach Hause hatte der Julius fliegen wollen. Zu Rosa. Zu ihnen. Auch zum Vater. Doch der Vater hatte nur gesagt: «Wir werden nie erfahren, wohin er wollte!» Die Mutter hatte dann einen Satz gesagt, den sie nie vergessen sollte, weil er so unpassend und so schön war. «Der Julius hatte immer hochfliegende Träume. Ganz hochfliegende Träume!» Julius war tot. Es hatte alles noch gar nicht richtig begonnen und war schon zu Ende. Begraben wurde er später oben auf dem Stuttgarter Bergfriedhof. Auf das Grab legten Kameraden ein Stück seines hölzernen Flügels, das wohl an einer Baumkrone abgebrochen und zu Boden gefallen war, ehe der ganze Rest in Flammen aufgegangen war. Sie hatte lange darüber nachgedacht, was wohl von Julius nicht verkohlt war, was man von ihm hier überhaupt unter die Erde gebracht hatte, aber sie traute sich nicht, zu fragen. Julius war tot, und alles, was ihr blieb, war sein Mut, den sie nun brauchte, aber den sie nicht hatte. In den letzten Monaten hatte er ihr keine Briefe mehr geschrieben, es war ihr so vorgekommen, als hätte er auch weniger zu erzählen gehabt. Je länger der Krieg gedauert hatte, je mehr er von dort oben gesehen hatte, desto weniger war ihm dazu eingefallen. Julius war tot, aber zu weinen begonnen hatte die Mutter erst, als die Rosa aufgetaucht war. Als es noch schlimmer geworden war.