Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. - Patrick Bauer - E-Book

Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. E-Book

Patrick Bauer

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Beschreibung

9. Oktober, 9. November, diese Daten des Jahres 1989 haben sich uns eingebrannt. Der 4. November wird oft vergessen. Dabei demonstrierten an diesem Tag 500 000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz. Auf der Rednerliste der Kundgebung stand eine bis dahin völlig undenkbare Mischung: Neben Christa Wolf und Stefan Heym, Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers sprachen auch Gregor Gysi und Lothar Bisky, Ex-Stasi-General Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski. Eine neue DDR schien möglich. Doch nach dem Mauerfall verlief die unwahrscheinliche Versammlung in alle Richtungen. Aus Erinnerungen und Gedanken aller Beteiligten (und ihrer Nachkommen) fügt Patrick Bauer das faszinierende Panorama eines großen Tages in der deutschen Geschichte zusammen.

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Patrick Bauer

Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird.

Der 4. November 1989 und seine Geschichte.

Über dieses Buch

9. Oktober, 9. November, diese Daten des Jahres 1989 haben sich in das kollektive Wende-Gedächtnis eingebrannt. Der 4. November wird oft vergessen. Dabei demonstrierten an diesem Tag 500000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz.

Die Idee dazu war einen Monat zuvor entstanden, als sich Hunderte Kulturschaffende im Deutschen Theater trafen. Die Schauspielerin Jutta Wachowiak rief: Lasst uns zusammen auf die Straße gehen. Frenetischer Jubel brandete auf.

Und so kam es. Auf der Rednerliste der Kundgebung standen 26 Namen. Eine bis dahin völlig undenkbare Mischung aus Oppositionellen, Künstlern, Systemtreuen und Parteikadern. Neben den Schriftstellern Christa Wolf und Stefan Heym, den Schauspielern Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers sprachen auch die SED-Mitglieder Gregor Gysi und Lothar Bisky, Ex-Stasi-General Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski zu den Demonstranten. Die einen versuchten zu retten, was zu retten war. Die anderen forderten, was plötzlich denkbar schien. Und denkbar schien viel.

Es ging um Pressefreiheit, um Reisefreiheit, um freie Wahlen – nur um eines ging es nicht: Um eine Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten. «Alle waren wie verliebt», erzählt Marianne Birthler über den Moment, in dem das Volk seine Sprache wiederfand. Eine neue DDR schien möglich. Doch nach dem Mauerfall und den darauf folgenden anarchischen Monaten verlief sich diese unwahrscheinliche Versammlung von Menschen in alle Richtungen.

 

Aus den Erinnerungen, Reflektionen, Geschichten und Gedanken aller Beteiligten (und ihrer Nachkommen) fügt Patrick Bauer ein faszinierendes Panorama eines zu Unrecht vergessenen großen Tages in der deutsch-deutschen Geschichte zusammen.

Vita

Patrick Bauer, Jahrgang 1983, wuchs in Berlin auf, wo er auch begann, als Reporter zu arbeiten, ehe er 2006 Redakteur und 2012 Chefredakteur beim Magazin NEON wurde. Inzwischen arbeitet er als Autor für das SZ Magazin in München, wo er mit seiner Familie lebt.

Inhaltsübersicht

MottoPrologEinordnungRednerinnen, Redner, MusikerErster Teil: DavorFreitag, 6. OktoberSamstag, 7. OktoberSonntag, 8. OktoberMontag, 9. OktoberDienstag, 10. OktoberSamstag, 14. OktoberSonntag, 15. OktoberDienstag, 17. OktoberMittwoch, 18. OktoberDienstag, 24. OktoberDonnerstag, 26. OktoberSamstag, 28. OktoberMittwoch, 1. NovemberFreitag, 3. NovemberZweiter Teil: Der 4. November 1989Dritter Teil: DanachSonntag, 5. NovemberMontag, 6. NovemberMittwoch, 8. NovemberDonnerstag, 9. NovemberFreitag, 10. NovemberMontag, 13. NovemberFreitag, 1. Dezember 1989Samstag, 2. DezemberSonntag, 3. DezemberSamstag, 9. DezemberMontag, 11. DezemberSonntag, 31. DezemberSamstag, 13. Januar 1990Montag, 15. Januar 1990Mittwoch, 31. Januar 1990Freitag, 2. Februar 1990Sonntag, 18. März 1990Donnerstag, 2. August 1990Donnerstag, 20. September 1990Freitag, 2. November 1990Dienstag, 12. Januar 1993Montag, 23. Mai 1994Freitag, 1. Juli 1994Mittwoch, 9. November 1994Donnerstag, 10. November 1994Dienstag, 8. November 2000Dienstag, 8. November 2005Freitag, 13. Januar 2006Dienstag, 3. Februar 2009Freitag, 3. Oktober 2009Zwischen Januar und Juli 2019, dreißig Jahre nach dem 4. NovemberEpilogNachbemerkung des AutorsLiteraturBildnachweisLiednachweis

«Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken.»

Heiner Müller

Prolog

Thomas Neumann geht voran.

Am Sonnabend, den 4. November 1989, es ist kurz nach zehn Uhr morgens, steht der Schauspieler des Deutschen Theaters und dortige Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe vor dem Haus des Berliner Verlags in der Karl-Liebknecht-Straße und weiß nicht weiter. Über dem Alexanderplatz schwebt die Spitze des Fernsehturms in grauen Schleiern, aber es ist mild, fast frühlingshaft. Neumann ist müde, in den vergangenen Nächten hat dauernd sein Telefon, das er vor zwei Jahren, als er Ensemblevertreter wurde, auf einmal genehmigt bekam, geklingelt, wenn er endlich im Bett lag, doch nie war jemand dran.

 

Neumann trägt Schiebermütze und Jeansjacke, die grün-gelbe Schärpe, auf der «Keine Gewalt» steht, hat er sich zu einem Halstuch gebunden. Früh am Morgen, um acht Uhr, beim Organisationstreffen im Zuschauerraum der Volksbühne, hat jeder eine solche Schärpe ausgehändigt bekommen, der sich als Ordner eingetragen hatte. Allein vom DT sind dreißig Mitarbeiter angemeldet als Aufpasser, denn heute darf nichts schiefgehen. Zu der Schärpe bekam jeder Ordner einen Polizisten zur Seite gestellt, als Verbindungsmann, falls was wäre. Die saßen da in der Volksbühne, in jeder Sitzreihe einer, alle in Zivil, man konnte sich sozusagen einen aussuchen, aber es ergab sich dann auch so. Die Polizisten, vielleicht waren es aber auch welche von der Stasi, trugen keine Waffen, dafür Plastiktüten, echte Raritäten also, in denen Funkgeräte und Megaphone lagen. So war jeder Ordner mit Schärpe samt einem Ordnungshüter mit Plastiktüte losgezogen, und die schweigsamen Duos hatten sich am Rande der geplanten Demonstrationsstrecke verteilt, bis hin zum Palast der Republik und wieder zurück. Warum auch immer, aber Neumann und sein Polizist sind am Startpunkt der Demonstration gelandet, an der Spitze des Zuges, von dem keiner ahnt, wie lang er werden wird. Neben Neumann halten Kollegen von ihm, darunter auch Jutta, seine Freundin, das große, breite Transparent mit der Aufschrift «Protestdemonstration», das sie noch rasch gemalt haben, Schwarz auf Rot, als sie hörten, selbst Egon Krenz wolle mitdemonstrieren. Aber nee, der soll verstehen, dass sie zwar nicht gegen Sozialismus auf die Straße gehen, aber ganz sicher auch nicht für seinen Sozialismus.

 

Thomas Neumann ist 43 Jahre alt. Als er das letzte Mal an einer Demonstration teilgenommen hat, war er 15. Der 1. Mai 1961 in Nehringen, Kreis Rostock. Alle Schüler bekamen diese Papierfähnchen, Wink-Elemente. Es fing an zu regnen, und Neumann hatte kurz zuvor einen alten Regenschirm geschenkt bekommen, so einen mit goldenem Griff, Musspritze nannte man die. Die waren selten, er war stolz darauf, und weil die Prozession zum Arbeiterkampftag an seinem Elternhaus vorbeiführte, rannte er heim und holte diesen Regenschirm, spannte ihn auf und steckte sein Fähnchen, es war nicht mal eines der DDR, sondern ein finnisches oder dänisches oder gar schwedisches, der Völkerverständigung wegen, an die Spitze. Das war alles. Bald jedoch kam der FDJ-Sekretär der Schule und sagte, er solle den Schirm zumachen. Neumann klappte ihn also ein, aber das Fähnchen steckte noch an der Schirmspitze, die er ausgelassen in den Himmel reckte, albern vielleicht, übermütig, es war, so erinnert er, ein schöner Tag, trotz des Regens. Der FDJ-Sekretär kam erneut an und befahl ihm, diesmal strenger im Ton, die Demonstration sofort zu verlassen, und Neumann, er war ja 15 und ausgelassen, verstand nicht. Bis es einige Tage danach zu dieser Anhörung in der Schule kam. Sechs Schüler waren des Aufmarschs verwiesen worden, einer hatte eine Jeans getragen, der andere war statt mit seiner mit der Parallelklasse gelaufen und so weiter, sie mussten nun jeweils ihr angebliches Fehlverhalten erklären. Thomas Neumann wurde zunächst beurlaubt, und im Sommer, während der Ferien, kam die Nachricht vom Ministerium für Volksbildung, dass er, der Pfarrerssohn, von allen Oberschulen der DDR verwiesen sei. Deswegen lernte er zunächst Maurer. Und deswegen durfte er, als ihm klar wurde, dass er Mauern lieber einreißen wollte, im Theater nämlich, nicht den Fortinbras geben in Greifswald, wo der große Adolf Dresen «Hamlet» inszenierte und einen ganz jungen, unerfahrenen Darsteller wollte und Thomas Neumann gefunden hatte über einen gemeinsamen Bekannten. Und deswegen wäre er fast nicht angenommen worden an der staatlichen Schauspielschule in Niederschöneweide, die er später ohnehin gehasst hat, weil ihn vor dem Vorsprechen – Lancelot im «Kaufmann von Venedig» – ein Prüfer fragte, was denn da gewesen sei, am 1. Mai 1961 an diesem schönen, ausgelassenen Regentag, als er 15 war.

 

Am 4. November 1989 spricht sich durch die Menge, dass sogar die Schönhauser Allee, oben im Prenzlauer Berg, schon voll mit Demonstranten sei. Jutta fragt ihn: Tommy, worauf warten wir? Vor einem Monat, als die Ernst machten und begannen, zu prügeln, war Juttas Tochter, aus voriger Beziehung, in der Gethsemanekirche eingeschlossen. Neumann war den ganzen Abend bei seiner Tochter, aus voriger Beziehung, die wohnte am Friedrichshain. Er lief dann durch die Nacht und hörte die Glocken läuten und sah die ersten Kerzen in den Fenstern. Als er bei Jutta ankam, hielten sie sich fest und sagten: Von heute an geht’s nicht mehr! Wenn sie gegen unsere Kinder vorgehen, müssen wir etwas tun! An diesem Morgen nun, am Alexanderplatz, sind die Leute guter Stimmung, aufgekratzt, sie wollen los. Wo kommen die alle her, wundert sich Neumann, wann haben sie all die Plakate gebastelt? «Radikale Wende oder Ende», liest er. Wo ist sein Polizist? Der Mann ist nicht mehr zu sehen. Wenn sie starten wollen, muss Neumann jedoch seinem Polizisten Bescheid geben, damit der die Zentrale anfunkt, die Order geben soll, dass der Verkehr um den Alexanderplatz abgeriegelt wird. So war es verabredet: Damit die Teilnehmer nicht schon vor der Kundgebung, die zum Abschluss der Demonstration dort stattfindet, den Alex verstopfen, werden die Straßen rundherum erst gesperrt, wenn sie sich in Bewegung gesetzt haben. Tommy! Los jetzt! Die schieben schon dahinten! Das kann doch nicht sein, denkt sich Neumann, Wochen saßen sie zusammen und heckten diesen Tag aus, der etwas ändern soll und der sie bereits verändert hat, und jetzt, da es so weit ist, da die gemeinsame Idee Wirklichkeit wird, steht er ganz alleine da.

Vor ihm hat sich eine Wand aus Journalisten und Fotografen und Fernsehteams aufgebaut, viele stehen auf kleinen Trittleitern. Und davor ein Pkw mit Anhänger, auf dem massenhaft Tapetenrollen liegen, weil der olle Hager aus dem Politbüro gesagt hatte, angesprochen auf die Sowjetunion und Gorbatschow und Glasnost und Perestroika: Nur weil der Nachbar seine Wohnung tapeziere, müsse man doch bei sich nicht auch renovieren. Neumann sucht noch mal nach dem Polizisten. Er blickt Jutta in die Augen. Und nach hinten, wo er nur noch Köpfe sieht. Da entscheidet er, dass es so weit ist.

 

So beginnt der 4. November 1989, der eigentlich schon viel früher begonnen hatte. Thomas Neumann ruft «Gehen wir los!» und reiht sich ein hinter das Transparent. Protestdemonstration. Sie laufen auf den Verkehr zu. Sie räumen die Straße einfach selbst. Es ist zu spät, haltzumachen. Niemand ruft, niemand spricht. Es wird geflüstert, als schleiche man durch den Käfig eines Raubtiers, das man lieber nicht aufschrecken will. Thomas Neumann hat den Alexanderplatz, den sie rechter Hand passieren, noch nie so still erlebt. Kein Motor. Kein Rassabumm wie bei den Paraden. Plötzlich hört er doch etwas, ein Dröhnen, das immer näher kommt, und ist sich kurz sicher: Jetzt schicken sie wirklich die Panzer. Aber es ist nur die S-Bahn. Das Leben geht weiter, aber anders als bisher.

 

Thomas Neumann denkt: Jetzt hole ich mir Schritt für Schritt mein Land zurück.

Am Sonnabend, den 4. November 1989 findet in Berlin die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik statt. Dass diese Geschichte auf ein neues Kapitel zusteuert, ahnen, hoffen oder fürchten zu diesem Zeitpunkt alle, die an diesem Tag dabei sind. Dass diese Geschichte bald darauf beendet sein wird, ahnt dagegen niemand.

 

Im Revolutionsherbst 1989 verändert sich die Welt jeden Tag, nicht nur, aber vor allem für DDR-Bürger. Und manch ein Tag in diesen Wochen verändert die Welt. Der 4. November ist so ein Tag. Und doch wird er in der Rückschau oft vergessen; überdeckt von jenem Tag fünf Tage später, dem 9. November, als in der Nacht die Mauer fiel und die Welt schon wieder eine vollkommen andere war.

 

Angemeldet wurde die Demonstration für die Paragraphen 27 und 28 der Verfassung der DDR – das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit – von Schauspielerinnen und Schauspielern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Berliner Bühnen. Die Idee war kurzfristig entstanden, erst am 15. Oktober, bei einem Treffen von 800 Theaterschaffenden im Großen Saal des Deutschen Theaters. Auslöser war nicht zuletzt der Hinweis eines jungen Anwalts namens Gregor Gysi, der in der Diskussion um die vorangegangene Gewalt gegen Protestierende auf die «Veranstaltungsverordnung» verwies, laut der man solche Demonstrationen auch genehmigen lassen könne, und der sagte: «Ich verstehe eigentlich nicht, dass sich keiner bemüht, mal diesen Rechtsweg zu gehen!» In den zwei Wochen, die darauf folgten, wurde mit Behörden und Mitstreitern um den Ablauf dieses für alle Seiten so ungewohnten Ereignisses gerungen und nicht zuletzt darüber diskutiert, wer auf der Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz sprechen soll und darf. 26 Rednerinnen und Redner sind es schließlich; Künstlerinnen und Künstler, sehr und weniger bekannte, junge und alte, Oppositionelle, Studenten, Kirchenleute, aber auch Parteikader wie Günter Schabowski.

 

Noch am Morgen des 4. November weiß niemand, in was für einem Land man am Abend leben wird. Wird es zu Ausschreitungen kommen? Zu Übergriffen der Stasi, zu Provokationen aus der Menge? Wird es überhaupt eine Menge geben? Wie viele Demonstranten werden dem Aufruf folgen, der sich vor allem an den Theatern, bei Konzerten und auf vielen Diskussionsveranstaltungen, die in diesen Tagen stattfinden, verbreitet hat?

Es wird ein ungeahnter historischer Erfolg. Für viele, die in Berlin dabei sind, fühlt sich der 4. November an wie der Höhepunkt dieser bewegten Monate im Jahr 1989. Vom Gefühl, dass sich auf dem Alexanderplatz einstellt, schwärmen sie noch heute, so unterschiedlich sich auch ihre Leben seither entwickelt haben. Im Spiegel steht damals, die Kundgebung sei «die größte in der deutschen Geschichte» gewesen. In den Nachrichten, im Osten wie im Westen, wird bald nach der Demonstration verkündet, 500000 Menschen hätten sich auf dem Alexanderplatz versammelt. Manche sprechen gar von einer Million. Der Kampf um die Freiheit ist auch ein Kampf mit Zahlen, nicht nur gegen die Mächtigen. Auch zwischen den Aktivistinnen und Aktivisten des Herbstes 1989 – ihre Biographien sind so verschieden wie die Ziele der zahlreichen Gruppen, die sich formiert haben – gibt es Konkurrenz. Aus Leipzig, aus Dresden, aus Plauen waren im vorangegangenen Monat große, immer größere Protestmärsche gemeldet worden, keiner genehmigt, aber zum Teil angeblich von Hunderttausenden besucht.

 

«Sicherlich spielte eine Rolle, dass Ost-Berlin Leipzig, der Hauptstadt der Demonstrationen, wenigstens die größte Veranstaltung streitig machen wollte», schreibt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch «Endspiel – Die Revolution von 1989 in der DDR» über die Teilnehmerzahlen und rechnet vor, warum seiner Ansicht nach am 4. November nicht mehr als 200000 Menschen auf dem Alexanderplatz gewesen sein können. Klären lassen wird sich das nie. Fest steht wohl nur, dass es darauf nicht ankommt. Am 4. November 1989 sind viele auf dem Alexanderplatz, viel mehr als erwartet, und die Wirkung, die diese Veranstaltung erzielt, ist groß, viel größer als erhofft. Die Massen unter dem Fernsehturm sind atemberaubend, für die Organisatoren der Demonstration ebenso wie für die Staatsmacht. Der Witz und die Frechheit auf den unzähligen Transparenten waren an diesem symbolträchtigen Ort unvorstellbar gewesen – bis sie einfach in die Höhe gereckt und von allen gelesen werden können.

Hinzu kommt, dass die Kundgebung kurzfristig im DDR-Fernsehen live gesendet wird – nach allem, was man weiß, ohne dass dies mit den politisch Verantwortlichen abgesprochen wäre. Ein weiterer Akt des Ungehorsams in einem System, das nach vier Jahrzehnten einfach nicht mehr in der Lage ist, den Gehorsam wie gewohnt zu verordnen. In dieser Übertragung massiver Kritik an Staat und Staatsführung im Staatsfernsehen liegt vielleicht die größte Sensation am 4. November 1989. So wirken die Bilder vom Alexanderplatz, so hallen die Reden von der improvisierten Bühne vor dem Haus des Reisens in das ganze Land und auch in das benachbarte, und in die ganze Welt. Prominente, in manchen Fällen lange von der SED zensierte Redner wie Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Ulrich Mühe, Christoph Hein oder Steffie Spira können eine demokratischere Gesellschaft fordern oder die Aufarbeitung von geschehenem Unrecht. Und die Zuhörer können auf ihren Schildern Krenz und Honecker und die Stasi schmähen, niemand schreitet ein, selbst dann nicht, als sie Regierende während ihrer Reden niederpfeifen. Die Folge dieses Ereignisses besteht auch in der Offensichtlichkeit dessen, dass es in der DDR nun einerseits folgenlos bleibt, seine abweichende Meinung öffentlich kundzutun – und dass diese abweichenden Meinungen andererseits eben endlich Wirkung zeigen. Weil sich, nach Wochen der Zusammenkünfte und Verlautbarungen, bereits etwas getan hat. Dafür ist das Zustandekommen dieses Tags der beste Beweis.

 

Doch so richtig es ist, dass die Genehmigung der Demonstration am 4. November zeigt, wie sehr dieser restriktive Staat unter Druck steht, so falsch wäre es zu glauben, er habe an diesem Tag bereits nachgegeben. Ja, die DDR ist im Herbst 1989 nicht nur politisch, sondern auch finanziell bankrott, die Natur ebenso kaputt wie viele Städte, die Rituale ebenso leer wie viele Kaufhallen. Ja, für die Mehrheit der Bürger ist Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika, von Offenheit und Umgestaltung, ein Hoffnungsträger und die Tatsache, dass die DDR-Führung sich dem großen Bruder plötzlich widersetzt und den Reformen in der Sowjetunion gegenüber taub stellt, ist für viele unerträglich. Ja, allein am Vortag der Alexanderplatz-Demonstration, am Freitag, den 3. November, sind weitere 3000 Flüchtlinge aus der DDR in Prag angekommen, das Land, jeder spürt es, blutet aus. Ja, Erich Honecker ist nach achtzehn Jahren am 18. Oktober als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED zurückgetreten. Doch die meisten langjährigen Politbüro-Mitglieder sind an diesem 4. November 1989 noch im Amt, und Honeckers Nachfolger Egon Krenz hat in seiner Antrittsrede zwar von «Wende» geredet, aber seither überhaupt keine Aufbruchsstimmung verbreitet.

 

Niemand hat an diesem Tag außerdem vergessen, dass Krenz nach dem Massaker am 4. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Spätsommer bei einem China-Besuch Verständnis für das blutige Vorgehen dort geäußert hat. Nur knapp einen Monat vor dem 4. November hat sich bei den Protesten rund um den 40. Nationalfeiertag auch in der DDR gezeigt, in Berlin, Leipzig, Dresden und anderswo, zu welchen Gewaltexzessen gegen seine Leute dieser Staat fähig ist. Allein in Berlin werden am 7. und 8. Oktober mehr als tausend Menschen festgenommen, viele misshandelt und verletzt. Am 9. Oktober, als in Leipzig die Straßen voll wie nie waren und die Sorge im ganzen Land größer denn je, dass es zu einer «chinesischen Lösung» kommt, war zwar kein Schuss gefallen. Und doch, das zeigen aus heutiger Sicht Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit und das zeigen auch Repressalien gegen Regimegegner, die noch auf diesen Sonnabend folgen sollen, ist es alles andere als selbstverständlich, dass der 4. November gewaltfrei verläuft. An der Berliner Mauer, um deren Fall es fünf Tage vor dem Mauerfall gar nicht geht, stehen die Truppen bereit. Dass während der Demonstration und Kundgebung auf dem Alexanderplatz und auch in den Stunden danach nichts passiert, ist vielmehr ein weiteres Wunder aus dieser Zeit, in der so oft von Wundern die Rede ist.

 

Ein Jahr zuvor, am 1. und 2. Oktober 1988, trat Rio Reiser auf Einladung der FDJ, die von SED-Chefideologe Kurt Hager angewiesen worden war, der entnervten Jugend mehr attraktive Rock-Konzerte zu bieten, zwei Abende vor jeweils 6000 Besuchern in der Berliner Seelenbinder-Halle auf. «Keine Macht für Niemand» durfte Reiser auf Weisung der Bezirksleitung nicht spielen. Aber vielleicht hatte die Partei die Lage und das Lebensgefühl der Leute wieder mal nicht richtig eingeschätzt. Denn am lautesten mitgesungen und am längsten gefeiert wurde Reisers Hymne «Der Traum ist aus»:

Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?

Ich weiß es wirklich nicht

Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher

Dieses Land ist es nicht

Dieses Land ist es nicht

Dieses Land ist es nicht

Dieses Land ist es nicht

 

Der Traum ist aus, zu dieser Zeit

Doch nicht mehr lange – mach dich bereit

Für den Kampf ums Paradies

Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst

Es ist uns’re Zukunft, unser Land

Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand

 

Der Traum ist aus

Der Traum ist aus

Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird

Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird

Dass er Wirklichkeit wird

Ilko-Sascha Kowalczuk, der wie niemand sonst die letzten Monate der DDR erforscht hat, weist neben der umstrittenen Teilnehmerzahl in Berlin auf eine andere, deutlich relevantere Zahl zum 4. November 1989 hin: In über fünfzig weiteren Städten kommt es an diesem Tag zu Demonstrationen und Kundgebungen. In Jena, Magdeburg, Potsdam oder Wernigerode. Das darf man nicht vergessen: Nicht eine Demonstration stürzt das Regime. Nicht an einem Tag findet diese friedliche Revolution statt, die sich nun zum dreißigsten Mal jährt. Es sind viele Tage und viele Demonstrationen, die zum Ende der DDR führen. Und vor allem: Viele Menschen, die den Mut aufbringen, gegen die Zustände zu rebellieren, die zu ertragen sie nicht länger bereit sind.

Trotzdem soll es in diesem Buch allein um diese eine Demonstration an diesem einen Tag gehen. Um die Rednerinnen und Redner vom Alexanderplatz. Und auch um ein paar Frauen und Männer, die damals zwar nicht sprachen, ohne die aber keiner gesprochen hätte. Um ihre Tage vor diesem Tag. Und um ihre Jahre danach. Der 4. November ist ein Datum, das klein erscheint angesichts der Daten, die folgten und die wir groß begehen, 9. November, 3. Oktober. Der 4. November ist ein Tag zwischen den Zeiten. Das Alte ist am Ende. Das Neue hat noch nicht begonnen. Die Macht liegt auf der Straße. Die Freiheit in der Luft. Die Menschen auf dem Alexanderplatz träumen unterschiedliche Träume, aber sie alle träumen, und weil die Weltgeschichte gerade Wochenende macht, weckt sie niemand. Alles scheint möglich.

 

Heute wissen wir, wie es weiterging. Damals ahnt es niemand. Und die Eindrücke aus dieser Vergangenheit erzählen etwas über die Gegenwart und wie sie empfunden wird von den Menschen, die vor dreißig Jahren dabei waren, als die Zukunft entstand.

Geschichte wird nicht an einem Tag gemacht. Aber es gibt Tage, da verbinden sich viele einzelne Geschichten zu einer Geschichte von allen. Für einen kurzen Moment, der lange bleibt.

Die Rednerinnen und Redner sowie die Musiker der Abschlusskundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, in der Reihenfolge ihrer Auftritte am 4. November 1989:

 

Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching, im Herbst 1989 34 und 30 Jahre alt, Liedermacher und Schriftsteller, touren als Clown-Duo «Wenzel & Mensching» durch die DDR und auch nach Westdeutschland und verlesen vor ihren provokanten Kabarett-Auftritten die am 18. September von ihnen mitverfasste und unterzeichnete «Resolution von Rockmusikern und Liedermachern zur inneren Situation und zum Aufruf des Neuen Forums».

 

Gerhard Schöne, geboren am 10. Januar 1952 im sächsischen Coswig, wuchs in einer Pfarrerfamilie auf und wollte Schauspieler werden, wurde aber nicht zum Studium zugelassen, weil er den Wehrdienst verweigert hatte. Schon als Kind hatte Schöne Lieder geschrieben – bekannt machten ihn später seine Kinderlieder, die sehr frech und anarchisch klangen. «Kinderland» oder «Jule wäscht sich nie» wurden zum Soundtrack vieler Generationen.

 

Jürgen Eger, Jahrgang 1954, schloss in Dresden den Diplomstudiengang Elektronik/Technologie ab, war aber nach dem Gesangsunterricht an der Musikschule Friedrichshain und dem Gewinn des Sängerpreises bei den Chansontagen in Frankfurt/Oder als staatlich anerkannter freischaffender Musiker tätig.

 

Henning Schaller ist 45 Jahre alt, als er am 4. November die Kundgebung auf dem Alexanderplatz moderiert. Schaller, Meisterschüler der Akademie der Künste der DDR, arbeitet seit 1977 als Bühnenbildner am Berliner Maxim-Gorki-Theater.

 

Thomas Heise, 1955 in Berlin geboren, arbeitete nach einer Lehre als Facharbeiter für Drucktechnik und seinem Wehrdienst als Regieassistent im DEFA-Studio für Spielfilme und studierte dann an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Er brach das Studium 1982 ab, nachdem ihn die Stasi massiv unter Druck gesetzt hatte und seine dort entstandenen Filme nicht aufgeführt werden durften. Danach war Heise als Autor und Regisseur tätig. Auf Initiative von Heiner Müller wurde er 1987 Meisterschüler der Akademie der Künste. Auf der Bühne am Alexanderplatz tritt Heise zwar nicht auf, filmt aber die ganze Zeit von dort.

 

Marion van de Kamp, aus Wuppertal, ist 1989 64 Jahre alt und an der Volksbühne Berlin engagiert. Nach der Schauspielschule wurde sie 1953 Teil des ersten Fernsehensembles – und als Ansagerin die Stimme der DDR-Abendunterhaltung.

 

Johanna Schall, damals 31 und seit fünf Jahren Ensemblemitglied des Deutschen Theaters in Berlin, ist eine Enkelin von Bertolt Brecht, Tochter der Schauspieler Barbara Brecht-Schall und Ekkehard Schall.

 

Ulrich Mühe († 2007), Sohn eines Kürschnermeisters aus Grimma, ist zu der Zeit 36 Jahre alt und der Star am Deutschen Theater, wo er gerade mit Heiner Müller den achtstündigen Inszenierungsmarathon «Hamlet/Hamletmaschine» probt. In zweiter Ehe ist Mühe 1989 mit der Schauspielerin Jenny Gröllmann verheiratet, ihre vierjährige Tochter heißt Anna Maria.

 

Jan Josef Liefers, am 8. August 1964 in Dresden in eine Theaterfamilie geboren, absolvierte eine Tischlerlehre, bevor er von 1983 bis 1987 an der Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch» in Berlin ausgebildet wurde. Mit seinem Mitschüler und Freund Tobias Langhoff kommt Liefers direkt im Anschluss ans Deutsche Theater. Früh wird er auch Vater: Seine Frau Alexandra Tabakowa, ebenfalls Schauspielerin, bringt 1988 eine Tochter zur Welt.

 

Gregor Gysi ist zum Zeitpunkt seiner Rede auf dem Alexanderplatz 41 Jahre alt und alleinerziehender Vater eines Sohnes. Gysi wuchs in Berlin-Johannisthal auf, seine Mutter Irene war im Kulturministerium der DDR für den Austausch mit dem Ausland zuständig, sein Vater Klaus Geschäftsleiter des Aufbau Verlags und später Botschafter in Italien. Mit 23 wurde Gysi, gelernter Facharbeiter für Rinderzucht, jüngster Rechtsanwalt der DDR-Geschichte und ist seit April 1988 Vorsitzender der fünfzehn Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. Gysi, SED-Mitglied, hat Verbindungen ins Zentralkomitee der Partei, sich aber auch einen Namen als Verteidiger systemkritischer Mandanten gemacht. Am 12. September 1989 reiste er mit einem Anwaltskollegen nach Prag, um die aus der DDR Geflüchteten in der deutschen Botschaft zur Rückkehr aufzufordern.

 

Marianne Birthler, damals ebenfalls 41 und geschieden, Mutter von drei Töchtern, stammt aus Berlin-Friedrichshain. Birthler konnte ihr Abitur machen, obwohl sie aus der FDJ ausgetreten war. Sie arbeitete im DDR-Außenhandel, ließ sich aber nach der Familienpause zur Katechetin ausbilden und arbeitet seit 1987 als Jugendreferentin im Stadtjugendpfarramt von Berlin. Birthler hat den Arbeitskreis «Solidarische Kirche» mitgegründet, der für die Demokratisierung der Gesellschaft eintritt.

 

Kurt Demmler († 2009), geboren am 12. September 1943 als Kurt Abramowitsch, war Liedermacher und einer der erfolgreichsten Songtexter der DDR. Er schrieb die großen Schlager dieses Landes, zum Beispiel «Du hast den Farbfilm vergessen» für Nina Hagen, dazu viele Hits für Renft, Karat, die Puhdys oder Silly. Auch Demmler ist Mitunterzeichner der «Resolution von Rockmusikern und Liedermachern».

 

Markus Wolf († 2006), in den Monaten, von denen dieses Buch erzählt, 66 Jahre alt, entstammte einer legendären kommunistischen Familie, sein Vater Friedrich, jüdischer Herkunft, war Arzt und Schriftsteller, Bruder Konrad wurde ein berühmter Filmregisseur. Die Wolfs emigrierten 1934 in die Sowjetunion und wohnten wie viele deutsche Exilanten im Moskauer Hotel Lux – wo sie wie nur wenige die Zeit des «Großen Terrors» überlebten, die «politische Säuberung» durch Stalin zwischen 1936 und 1938. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Wolf für den Berliner Rundfunk und war bei den Nürnberger Prozessen akkreditiert. 1949 entsandte die DDR ihn in die Botschaft nach Moskau. Ab 1951 beteiligte er sich am Aufbau des Auslandsgeheimdienstes ANP und wurde 1952, mit 29 Jahren, dessen Leiter. Wolf war Spionagechef eines weltweiten Agentennetzes – und 1. Stellvertreter des Ministeriums für Staatssicherheit. Seit den 1950er Jahren gab es kein Foto von ihm. Im Westen hieß er «Mann ohne Gesicht», bis der BND ihn 1979 auf einem Bild beim Einkauf in Stockholm erkannte und die Aufnahme im Spiegel abgedruckt wurde. 1986 heiratete Wolf zum dritten Mal, seine Frau Andrea hatte wegen versuchter Republikflucht in Stasi-Haft gesessen. Im selben Jahr ließ Wolf sich beurlauben. Anfang 1989 erschien sein Buch «Die Troika» über die Jugendfreundschaft seines Bruders Konrad zu zwei weiteren Emigrantensöhnen in Moskau, das überraschend kritisch war, sich selbst und den Entwicklungen in der DDR gegenüber. Das Buch ist im Herbst 1989 ein Erfolg. Wolf tritt öffentlich in Erscheinung. In der westdeutschen Presse heißt es, Wolf bringe sich in Stellung, um bald ein hohes Amt an der Spitze des Staates zu übernehmen.

 

Jens Reich, damals 50-jährig, Mediziner und Molekularbiologe, war 1980 Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch geworden, hatte die Position aber vier Jahre später verloren, weil er sich weigerte, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Bereits 1970 hatte Reich einen «Freitagskreis» gegründet, bei dem – oft zu Hause bei seiner Frau und ihm – kritisch über die politische Situation in der DDR diskutiert wurde. Im September 1989 gehört er, unter anderem mit Bärbel Bohley, zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs «Aufbruch 89 – Neues Forum».

 

Manfred Gerlach († 2011), geboren am 8. Mai 1928 in Leipzig, war Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, die zu den Blockparteien gehörte und der SED-Linie folgte. Seit 1960 war Gerlach stellvertretender Staatsratsvorsitzender der DDR, zumindest laut Verfassung Erich Honeckers Stellvertreter. Am 20. September 1989 stellte Gerlach öffentlich den Führungsanspruch der SED in Frage und forderte Reformen.

 

Ekkehard Schall († 2005), 59 im Herbst 1989, Schauspieler und Regisseur, Vater von Johanna Schall, war das Gesicht des Berliner Ensembles. Allein als Arturo Ui in «Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui» von Bertolt Brecht, seinem Schwiegervater, stand er dort mehr als 500 Mal auf der Bühne. 1973 erhielt Schall den Vaterländischen Verdienstorden in Silber.

 

Günter Schabowski († 2015), 1989 60 geworden, war von 1978 bis 1985 Chefredakteur des Neuen Deutschland und danach Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. 1981 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der SED und gehörte ab 1984 dem Politbüro an, dem höchsten Parteiorgan. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen wohnt er seither in der abgeriegelten Führungs-Waldsiedlung in Wandlitz bei Berlin.

 

Stefan Heym († 2001) wurde als Helmut Flieg am 10. April 1913 in Leipzig in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren. 1931 wurde er wegen eines antimilitaristischen Gedichts in der Volksstimme auf Druck von Nationalsozialisten des Gymnasiums verwiesen und ging nach Berlin, wo er nach dem Abitur Journalistik studierte. 1933 floh er in die Tschechoslowakei und gab sich seinen neuen Namen. Mit dem Stipendium einer jüdischen Studentenverbindung wanderte Heym 1935 in die USA aus und wurde 1937 in New York Chefredakteur der deutschsprachigen linken Wochenzeitung Deutsches Volksecho. Heym nahm 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und 1944 als Soldat an der Invasion der Normandie teil, er verfasste an der Front Texte und Rundfunksendungen zur Demoralisierung der Wehrmacht. Nach Kriegsende leitete Heym die Ruhr Zeitung in Essen und war Redakteur der Neuen Zeitung in München, wurde aber wegen seiner prosowjetischen Haltung zurück in die USA beordert. 1948 erschien dort sein erster Roman. In der McCarthy-Ära verließ Heym das Land und kam 1953 in die DDR. 1959 wurde er mit dem Nationalpreis für Kunst und Literatur ausgezeichnet, stand jedoch ab 1956, als sein Buch «Der Tag X» über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht veröffentlicht werden durfte, immer wieder in Auseinandersetzung zur SED. Auf dem 11. Plenum des ZK der SED griff Erich Honecker während der sogenannten «Kahlschlag-Diskussion», in der es um das Versagen der Zensurgremien ging, Heym massiv an. Seitdem galt für ihn erstmals ein Veröffentlichungsverbot. Nach einer kurzen Phase, in der Heyms Werke in kleinen DDR-Verlagen erschienen, wurden seine Bücher ab 1974 nur im Westen verlegt. Heym unterzeichnete 1976 die Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1982 sprach er sich für eine Wiedervereinigung aus – unter sozialistischen Vorzeichen.

 

Friedrich Schorlemmer, Pfarrersohn, evangelischer Theologe, 45 Jahre alt, als der Herbst 1989 anbricht, wurde international bekannt, als er auf dem Kirchentag 1983 in Wittenberg auf dem Lutherhof in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin Richard von Weizsäcker ein Schwert zu einer Pflugschar schmiedete – obwohl die DDR-Behörden die Verwendung des Bibelzitats «Schwerter zu Pflugscharen», das zum Motto der DDR-Friedensbewegung geworden war, für illegal erklärt hatten. Schorlemmer ist Mitbegründer der oppositionellen Gruppierung «Demokratischer Aufbruch».

 

Christa Wolf († 2011) ist damals 60 Jahre alt und die bedeutendste Schriftstellerin der DDR. Ihr Debüt «Moskauer Novelle», das von der Liebe zwischen einer Berliner Ärztin und einem russischen Dolmetscher erzählte, wurde 1961 mit dem Kunstpreis ihrer Heimatstadt Halle ausgezeichnet. Wolf zog mit ihrem Mann Gerhard und den beiden Töchtern nach Kleinmachnow, später nach Berlin. Von 1963 bis 1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED. Auf dem «Kahlschlag-Plenum» des ZK 1965 sprach sich Wolf als einzige Rednerin gegen eine restriktivere Kulturpolitik aus. 1974 wurde Wolf, die regelmäßig ins westliche Ausland, oft in die USA, reiste, Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Im Jahr 1980 wurde sie in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt, als erste in der DDR lebende Autorin. Auch Wolf unterzeichnete den offenen Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und wurde 1977 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und von der Partei gerügt.

 

Tobias Langhoff ist 1989 26 Jahre alt und Mitglied des Ensembles des Deutschen Theaters. Er und sein bester Freund Jan Josef Liefers gelten dort als die jungen Wilden, als Bühnen-Hoffnungen. Langhoff kommt aus einer der großen Theater-Familien der DDR, sein Vater Thomas war ein erfolgreicher Regisseur, sein Großvater Wolfgang war von 1946 bis 1963 Intendant des Deutschen Theaters.

 

Annekathrin Bürger, geboren am 3. April 1937 in Berlin, spielte in über achtzig Filmen der DEFA und des DDR-Fernsehens und war seit 1965 Mitglied des Ensembles der Volksbühne. Unter den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann hatte sie, auf Initiative ihres Freundes Jurek Becker, 1976 bereits ihre Unterschrift gesetzt, diese aber wieder zurückgezogen, in der Hoffnung, sie könne mit einem Termin beim Kulturminister mehr erreichen. Ihr Mann Rolf Römer, ein erfolgreicher Regisseur, mit dem Bürger viele Filme gemacht hat, gehörte dagegen zu den Unterzeichnern. Und erhielt fortan kaum Aufträge.

 

Joachim Tschirner, noch ein Redner, der am 4. November 41 Jahre alt ist, war seit 1980 Autor und Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Auf dem letzten Kongress der Film- und Fernsehschaffenden der DDR ein Jahr vor der Demonstration auf dem Alexanderplatz hatte er vor dem Plenum Gorbatschows Ideen von Perestroika und Glasnost vertreten.

 

Klaus Baschleben († 2005) ist im November 1989 43 Jahre alt und schreibt als Kritiker für die Nationalzeitung und die Zeitschrift Film und Fernsehen.

 

Heiner Müller († 1995), zur Wendezeit 60, war der wichtigste deutschsprachige Dramatiker des 20. Jahrhunderts, ein Analytiker und Dichter, dem die eigenen Zitate schon zu Lebzeiten vorauseilten – und der wie sein Werk in der BRD bekannter war als in der DDR, wo seine Stücke oft abgesetzt und seine Texte selten gedruckt wurden. Müllers Eltern hatten die DDR mit seinem jüngeren Bruder 1951 im Protest verlassen. Er selbst blieb und kam doch nie an, musste unter Pseudonym publizieren und wäre ohne namhafte Unterstützer nie Dramaturg am Berliner Ensemble und an der Volksbühne geworden. 1984, seine Stücke hatten im Ausland Erfolge gefeiert, wurde er Mitglied der Akademie der Künste der DDR und 1988 wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen. Im Herbst 1989 verbindet er in den Proben sein Stück «Die Hamletmaschine», das 1979 in Paris uraufgeführt worden war, mit einer Hamlet-Inszenierung am Deutschen Theater mit Ulrich Mühe, den er früh entdeckt hatte, in der Hauptrolle.

 

Lothar Bisky († 2013), am 17. August 1941 geboren, war 1959 als 18-Jähriger aus ärmlichen Verhältnissen in Schleswig-Holstein allein in die DDR gegangen, weil er nicht glaubte, dass es ihm finanziell möglich wäre, in der BRD sein Abitur abzulegen. Er studierte Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität und Kulturwissenschaft an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er auch promovierte. 1979 wurde Bisky Honorarprofessor an der Humboldt-Universität, von 1980 bis 1986 war er Dozent an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, der wichtigsten Forschungs- und Ausbildungsinstitution der Partei. Anschließend wurde er Professor und Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam.

 

Ronald Freytag, gerade 30 geworden, studiert 1989 an der Humboldt-Universität Psychologie. Für dieses Studium war Freytag, der aus Thüringen stammt, zuvor abgelehnt worden und war nach der Armeezeit zunächst auf DDR-Handelsschiffen zur See gefahren, um etwas von der Welt zu sehen. An der Humboldt-Universität ist er gerade an der Gründung eines von der FDJ unabhängigen Studentenrates beteiligt.

 

Christoph Hein, am 8. April 1944 geboren, hatte, um das Gymnasium besuchen zu können, den entgegengesetzten Weg zu Lothar Bisky eingeschlagen: Da ihm als Pfarrersohn nicht erlaubt war, eine Oberschule zu besuchen, war er alleine nach West-Berlin gegangen. Als die Mauer gebaut wurde, kam er zurück in die DDR. Hein wollte Dramaturg am Theater werden. Der legendäre Regisseur Benno Besson stellte ihn als Assistenten am Deutschen Theater ein. Hein holte an einer Abendschule das Abitur nach und studierte in Berlin und Leipzig Philosophie und Logik. Er war Dramaturg und Autor an der Volksbühne und ab 1979 als Schriftsteller tätig, die Novelle «Der fremde Freund» war 1982 sein Durchbruch. Heins Bühnendrama «Die Ritter der Tafelrunde», die darin alt und grau und von ihren Idealen entfremdet sind, wurde am 12. April 1989 am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt. Dass es an der Zensur vorbeikam, war für viele eine Überraschung, da die Analogien zur Führungsriege der DDR nicht zu übersehen waren.

 

Róbert Juharos, ist 22, als er am 4. November 1989 in Berlin spricht. Er studiert Jura in Budapest und ist dort Teil der Oppositionsgruppe «Fidesz», dem «Bund Junger Demokraten», der am 30. März 1988 von 37 jungen Intellektuellen gegründet wurde und durch Auftritte von Mitgliedern auf Demonstrationen in Ungarn und anderen Ostblock-Staaten bekannt wurde. Juharos spricht deutsch, sein Vater arbeitet als Musiklehrer in der BRD, er selbst hat zwischenzeitlich in Deutschland studiert, deswegen hält er Kontakt zu Aktivisten in der DDR, aber auch zu Exilanten in Westdeutschland, Juharos verkehrt oft in beiden Staaten.

 

Konrad Elmer, 40 Jahre alt im Herbst 1989, war seit 1982 Studentenpfarrer in Berlin und wurde 1989 Dozent für Philosophie und Theologie am Paulinum, einer Ausbildungsstätte für evangelische Pfarrer.

 

Steffie Spira († 1995) wurde am 2. Juni 1908 in Wien geboren, in eine Theaterfamilie. Ihre Eltern Lotte und Fritz, eine deutsche Protestantin und ein österreichischer Jude, waren Schauspieler, ihre zwei Jahre ältere Schwester Camilla wurde auch eine. Steffie Spira besuchte in Berlin die Schauspielschule und spielte ab 1928 an der Volksbühne. 1931 heiratete sie den Regisseur und Dramaturg Günter Ruschin – und trat der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Das Ehepaar lebte in der «Künstlerkolonie Berlin» und war Teil des Theaters «Truppe 31», das am 15. März 1933, nach Machtergreifung der Nationalsozialisten, infolge einer Großrazzia aufgelöst wurde. Günter Ruschin kam in «Schutzhaft». Mit Glück gelang es beiden, nach Paris zu fliehen, wo im selben Jahr Sohn Thomas zur Welt kam und Spira das Exil-Kabarett «Die Laterne» mitgründete, das mit Brecht-Aufführungen bekannt wurde. Spiras Vater Fritz war bereits nach Polen geflüchtet; zu Hause zwangen die Nazis ihre Mutter Lotte, sich von ihm scheiden zu lassen. Schwester Camilla, mit ihrem Mann und den zwei Kindern in den Niederlanden, wartete im Durchgangslager Westerbork bereits auf den Transport in ein Vernichtungslager, als Lotte Spira den Behörden weismachte, die älteste Tochter stamme aus der Verbindung mit einem Christen. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden Steffie Spira und Günter Ruschin in Paris als «unerwünschte Ausländer» verhaftet und von ihrem Sohn getrennt. Spira war zwei Jahre im Frauenlager Rieucros interniert. Über das Rote Kreuz machte sie schließlich ihren Sohn ausfindig. Günter Ruschin entkam dem Lager Le Vernet, die Familie war wieder vereint und floh im Dezember 1941 über die Pyrenäen und von Lissabon per Schiff nach Mexiko. Dass ihr Vater 1943 im KZ Ruma in Jugoslawien ermordet wurde und ihre Mutter kurz darauf in Berlin gestorben war, erfuhr Spira erst viel später. Sie beteiligte sich in der deutschen Exilantengemeinde in Mexiko an Theaterabenden, freundete sich mit Anna Seghers und Egon-Erwin Kisch an. 1947 zog die Familie zurück nach Berlin, in die DDR. Im ersten Ernst-Thälmann-Film spielte sie 1954 Clara Zetkin und wurde wieder Ensemblemitglied der Volksbühne, ab 1975 deren «Ehrenmitglied». Spiras Schwester Camilla kehrte nach dem Krieg ebenfalls nach Berlin zurück, jedoch in den Westen, wo sie ein glamouröser Leinwandstar wurde. Steffie Spiras Mann Günter Ruschin litt als Regisseur unter der Zensur der DDR-Behörden, er starb bereits 1963.

Erster Teil: Davor

Aus einem Bericht der «Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe» (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit über «Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage der DDR» an Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, Oktober 1989:

«Nach vorliegenden Hinweisen aus der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR schätzen viele progressive Kräfte, insbesondere Mitglieder der SED ein, dass die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR ernsthaft in Gefahr ist. (…) Sie treffen die Feststellung, dass sich die Stimmungslage der Bevölkerung weiter rapide verschlechtert hat. Ihren Darstellungen zufolge werde in vielen Meinungsäußerungen sowie in zahlreichen Eingaben und Stellungnahmen von Werktätigen zum Ausdruck gebracht, dass das System der Führung und Leitung politischer, ideologischer und volkswirtschaftlicher Prozesse in der DDR erstarrt sei. Die spürbare Zuspitzung vorhandener innenpolitischer Probleme und Schwierigkeiten sowie die Massenflucht deuteten auf eine umfassende gesellschaftliche Krise in der DDR. Die Folge davon sei eine erhebliche Zunahme von Erscheinungen der Verunsicherung, der Ratlosigkeit und Resignation unter Parteimitgliedern, Mitarbeitern des Staatsapparates und weiteren aktiv gesellschaftlich tätigen Personen. Unter den Werktätigen wachsen Zweifel an der Perspektive des Sozialismus in der DDR. Zahlreiche progressive Kräfte, darunter viele Werktätige vor allem älterer Jahrgänge, befürchten, dass es zu großen Erschütterungen in der Gesellschaft komme, die von der Partei nicht mehr beherrschbar seien. Bereits jetzt – so argumentieren sie – befände sich die DDR in einer Situation wie kurz vor den konterrevolutionären Ereignissen am 17. Juni 1953. (…) Viele Werktätige, einschließlich zahlreicher Mitglieder und Funktionäre der Partei, sprechen ganz offen darüber, dass die Partei- und Staatsführung nicht mehr in der Lage und fähig sei, die Situation real einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen für dringend erforderliche Veränderungen durchzusetzen.»

Freitag, 6. Oktober

Der Tag nach der Straßenschlacht am Dresdner Hauptbahnhof, wo 10000 Demonstranten versucht hatten, auf die verriegelten Züge zu springen, mit denen gut 7000 DDR-Bürger, die in die Prager Botschaft geflohen waren, in die BRD ausreisen dürfen. In der Leipziger Volkszeitung gibt Günter Lutz, Kommandeur der Kampfgruppenhundertschaft, bekannt, «konterrevolutionäre Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand». Gorbatschow ist zu Besuch in Berlin. Am nächsten Tag feiert die DDR 40. Geburtstag. Honecker will seinem Gast vorher einen Fackelzug vom Brandenburger Tor zum Marx-Engels-Platz präsentieren.

Steffie Spira hängt am Vorabend des Tags der Republik die alte rote Fahne aus ihrem Küchenfenster. An die Fahne hat sie einen langen Trauerflor gebunden. Dieses Land, das weiß Spira, die dabei war, als es zum Leben erweckt wurde, und den Tag nie vergessen wird, weil sie damals selbst mit zurückfand ins Leben, ist tot. Heute und morgen werden sie wieder auf ihrer Tribüne stehen, nicht weit von hier, die Apparatschiks. Die Blauhemden werden an ihnen vorbeimarschieren, und sie werden zurückwinken, die alten Herren, als fühlten sie sich gemeint. Die Raketen werden an ihnen vorbeiruckeln, als Ersatz ihrer Potenz. Woran glauben die noch? Im Januar, als an Rosa und Karl erinnert wurde, wie jedes Jahr, stand in der Zeitung: «Wir ehren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch hohe Leistungen zur Stärkung des Sozialismus und des Friedens – Vorwärts zum 40. Jahrestag der DDR!» Diese Phrasen. Diese Phantasielosigkeit. Und dass die Parteioberen den Mann zuerst nannten und nicht Rosa, sagt auch alles. Was ist bloß passiert? Steffie Spiras Arme und Beine jucken, als sei sie dabei, sich zu häuten, aber in der Klinik finden sie nichts, und einen Termin bei einem fähigen Arzt zu bekommen, ist noch schwieriger, als einen fähigen Arzt zu finden.

 

Wie leicht es sich anfühlte am 7. Oktober 1949, und weltbewegend. Ein absoluter Neubeginn. Ein normales Deutschland, wer hätte das gedacht. Günter und Thomas und sie waren erst zwei Jahre zurück in Berlin. Die Stadt war kaputt und die Leute auch. Schlimm hatten sie es sich schon vorgestellt, als sie in Mexiko den Dampfer bestiegen hatten, aber nicht so schlimm. Ihre Schwester verstand nicht, warum sie nicht in den West-Teil zogen, zu ihr, die bereits über den roten Teppich stolzierte, als wären die, die ihr nun applaudierten, nicht dieselben, die sie gerade noch auf die Rampe geschubst hatten. Doch Steffie Spira interessierte nicht das Blitzlichtgewitter, sondern der Traum, der im grauen Ost-Teil der Stadt unter diesen Trümmern gewachsen war, einer, den so viele so lange geträumt hatten in ihren Verstecken. Aus diesen einsamen Träumen machten sie eine gemeinsame Realität. Sie schrieben plötzlich die Geschichte, deren Opfer sie immer hatten sein sollen. Ein antifaschistischer Staat, endlich, zwar kein vereinigter, aber das würde noch werden, diesmal würden sie nicht weichen. «Dieser Staat muss zertrümmert werden», hatte Wilhelm dem Reichstag entgegengebrüllt, 1932, kurz vor dem Sturm, der schon am Himmel stand. Er hatte es anders gemeint, als es gekommen war, er wollte diesen Staat zertrümmern, bevor dieser einen ganzen Kontinent zertrümmern konnte. Ihr Freund Wilhelm war auch nach Paris geflohen, schließlich nach Moskau. Vergangenheit! Wilhelm war jetzt der Herr Präsident Wilhelm Pieck.

 

Steffie Spiras Heimat war immer ihre Überzeugung gewesen. Am 7. Oktober 1949 wurde es die Deutsche Demokratische Republik. Viele Genossen von damals hat sie wiedergesehen vor drei Tagen, am 3. Oktober. Honecker hatte 400 Veteranen der Arbeiterbewegung in den Festsaal des Zentralkomitees geladen, am Nachmittag, vor seiner dienstäglichen Politbüro-Sitzung. «Die DDR wird weitere vierzig Jahre und noch darüber hinaus bestehen», hat Honecker gehoneckert und alle aufgefordert, ihr Glas zu erheben. Aber die meisten konnten sich selbst kaum noch erheben und standen erst, als die Internationale schon fast gesungen war. Auf zum letzten Gefecht! 35000 hatten das Land in den Wochen zuvor verlassen, die Jungen und Fähigen. Spiras lange Flucht war 1949 vorbei gewesen, als dieser Staat gegründet wurde. Nun flüchteten die Leute aus diesem Staat. Da standen sie, die Alten und Verdienstvollen, und prosteten dem Anfang einer Idee zu, deren Ende erreicht war. Steffie Spira schrieb danach in ihr Tagebuch: «Wir leben in der DDR wie Ameisen. Die Königin stirbt gerade, ihre Soldaten umlagern sie, die Kraft, kaum dass sie je in ihren Genuss gekommen wären, ist verpufft. Aber: Beteiligt waren sie doch. Wie lange noch? Es ist ekelhaft. Ein bereits dem Tod geweihter Kreis gibt sich den starrköpfigen Gedanken seiner Erfolge hin, ohne die neue Zeit auch nur zu begreifen.»

Im Festsaal des Zentralkomitees war es ihr gekommen: Das ist eine Beerdigung! Wir wohnen unserer eigenen Beerdigung bei, und Honecker da vorne hält die Trauerrede! Sie ist 81 Jahre alt, aber gerade erst umgezogen in diese Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Mitte, nach vierzig Jahren Adlershof. Sie sang die Internationale aus voller Kehle, denn eine Kehle hatte sie. Das war nicht deren Lied, das war ihr Lied. «Das Lied der Partei» dagegen hatte sie nie mitgesungen. Die Partei, die Partei, die hat immer recht! Dieses schreckliche Lied. Wie kann eine Partei, die den dialektischen Materialismus von Marx zur Maxime ihres Denkens gemacht hat, ihre Mitglieder so einen undialektischen Quatsch singen lassen?

Die Sache hatte von Anfang an gestunken. Ulbricht war genauso einer gewesen wie Honecker, es machte für die keinen Unterschied, ob sie einen Konsum oder einen sozialistischen Bruderstaat verwalteten. Nur dass der Leiter eines Konsums keinen roten Teppich vor seinem Büro ausrollen lässt. 1960, irgendein Staatsbesuch stand an, hatte sie zum Zug gemusst. Vor dem Haupteingang am Ostbahnhof lag der rote Teppich, und sie war darüber geeilt und einer im Anzug hatte sie zur Schnecke gemacht und verwarnt. Arbeiterführer empfingen einander wie Könige, geht es absurder? Günter und sie konnten es nicht fassen. Aber sie machten den Mund zunächst nur zu Hause auf, und auf der Bühne. Später äußerte sie ihre Sorgen auch in ihrer Parteizelle, sehr zum Ärger des Parteisekretärs. Spira hatte protestiert gegen die Absetzung von Wolfgang Langhoff. Der Mann hatte das KZ überlebt, der hatte das Moorsoldaten-Lied geschrieben, und nun musste er sich als Intendant des Deutschen Theaters vorwerfen lassen, seine Spielpläne unterstützten nicht den sozialistischen Realismus. Langhoff war sozialistischer und realistischer als jene Realität, welche die Zensoren schützten. Sie hatte protestiert. Es änderte nichts. Als Spira 1968 von der Reise zu den Olympischen Spielen in Mexiko zurückkehrte, fragte der Parteisekretär, wie sie zur Niederschlagung der Aufstände in der ČSSR stünde, an der wohl auch NVA-Soldaten beteiligt waren. Prager Frühling nannte der das nicht. Und sie hatte gesagt, es sei ihr unbegreiflich, wie man so instinktlos sein könne, Soldaten in alten Naziuniformen wieder dort einmarschieren zu lassen, denn damals trug die Truppe aus Mangel an neuer die alte Kluft mit veränderten Abzeichen. Ihre Meinung hatte ihr nicht geschadet. Aber sie hatte auch keinen Unterschied gemacht. Alle waren erstarrt.

 

Die vorbeilaufenden Polizisten, die an diesem Oktoberabend von der gegenüberliegenden Straßenseite hochschauen zu ihrer roten Fahne mit Trauerflor, die aus dem Küchenfenster weht, klingeln nicht. Die Nachbarn im Aufzug lächeln freundlich. Alle machen weiter, als sei nichts. Du musst dabeibleiben, hatte Günter ihr gesagt, bevor er gestorben war – obwohl sie ihn auch nicht mehr hatten inszenieren lassen. Sie hatte hinschmeißen wollen, aber Günter hatte beharrt: Es geht nicht um uns! Dabei hatte sie am Anfang gedacht, nun gehe es endlich mal um sie. Um jeden, um alle. Du musst diesem Staat treu bleiben, hatte Günter gesagt, bis zum Ende. Vielleicht ist es jetzt so weit. Der Wartburg ist kaputt. Der neue. Den ersten hatten Günter und sie 1957 gekauft, für 14700 Mark. Nach zwei Jahren war die Kupplung kaputt. Aber dann fuhr er und fuhr und fuhr. Den neuen hat sich Steffie Spira zu Weihnachten geschenkt, am 20. Dezember 1988, für 30950 Mark. Nach 120 Kilometern war die Kupplung hin. Werkstatt! Nach weiteren 360 Kilometern war die Kupplung wieder hin. Pfusch! Aber in der Zeitung drucken sie Loblieder auf unsere Pläne. Jetzt stand der Wartburg in West-Berlin, an der Grenze zwischen Schöneberg und Wilmersdorf, weil sie die Schwester besuchen wollte, vor deren Garage ein Mercedes parkt. Wer sollte ihren Wagen wieder flottmachen? Er war liegengeblieben, und da war keiner, der wusste, wie man ein Ost-Auto wieder zum Laufen bringt.

***

Annekathrin Bürger und Marion van de Kamp stehen an diesem Abend auf der Bühne. «Zeit der Wölfe» von Ulrich Plenzdorf nach Tschingis Aitmatow ist eine Abrechnung mit dem Stalinismus. Es schreit derart nach Perestroika, dass man kaum hoffen konnte, dass es aufgeführt werden darf. Die Wölfe kämpfen um ihren Lebensraum in der Savanne und suchen nach einem Erlöser. Analog zweifeln der Gläubige Awdi Kallistratow und der Kommunist Boston Ürküntschijew am Sinn ihres Daseins. Einer der beiden wird schließlich gekreuzigt. Das Bühnenbild: Eine Steppe, von Bergen begrenzt, Schienen führen hindurch, ein Leninbildnis, eine Bahnhofsuhr. Vor der Premiere hatten sie im Foyer eine Resolution zur Erneuerung des Sozialismus ausgehängt. 175 Volksbühnenmitarbeiter hatten dafür gestimmt, bei einer Enthaltung. Die heutige Vorstellung ist wieder ausverkauft. Als auf der Bühne gesagt wird, dass nicht die bestraft werden müssten, die etwas Neues wollen, sondern die, die etwas tun könnten und es aus Feigheit oder Trägheit nicht täten, gibt es Szenenapplaus.

 

Auf einer Gewerkschaftsversammlung der Volksbühne einige Tage zuvor hatten Bürger und van de Kamp, die Versammlungsleiterin, verkündet, keine Lust zu haben, die offiziellen Feierlichkeiten zum morgigen Republikgeburtstag zu besuchen. Aber bloß zu Hause bleiben geht in diesen Zeiten doch auch nicht. Warum feiern wir nicht im Theater? Der Intendant Rödel war einverstanden. Sie gaben einigen Kollegen von anderen Häusern Bescheid. Bald meldeten sich sogar Theaterleute aus anderen Städten und kündigten sich an; sie hätten gehört, Marion van de Kamp wolle auf dem Rosa-Luxemburg-Platz eine Rede halten?

 

Nach der Vorstellung hört Annekathrin Bürger im Radio, dass der Genosse Generalsekretär Honecker an diesem Herbstabend mit seinem Besuch aus Moskau einem Fackelzug zuschaut. Wie die Zeit vergeht. Über zehn Jahre ist es schon her, dass Rolf und sie mit Honecker Kaffee tranken. Das war nach der Biermann-Sache und auch nachdem Manfred Krug ausgereist war. Beides Freunde von ihnen. Solch große Verluste. Rolf durfte keine Filme mehr machen, seitdem er die Petition für Biermann unterschrieben hatte. Es hatte sie überrascht, dass das Büro von Honecker ihnen so schnell einen Termin gewährte: Kommen Sie morgen, am 29. April! Sie hatten nichts zu verlieren, aber aufgeregt waren sie trotzdem. Sie nahmen auf einer großen Eckcouch Platz und warteten auf den Generalsekretär. Das schöne Meißner Porzellan, das die Sekretärin gebracht hatte, stand auf einem hässlichen Eloxaltablett. Später hatte sie dem Büro des Generalsekretärs ein hübsches Tablett aus Messing geschickt. Per Post.

 

«Du bist nun die Annekathrin», hatte Honecker sie begrüßt. Sie fragte, ob sie rauchen dürfe. Rolf sagte, er habe aufgeschrieben, was sie aktuell störe im Land und ob er den Brief vorlesen dürfe. Es war ein langer Brief, ein brillanter, Rolf hatte ihn nun mal geschrieben, ihr Rolf, den Honeckers Leute nicht mehr schreiben ließen: «Wir sind es müde, in den Vorzimmern freundlich empfangen und geduldig angehört zu werden, um anschließend in frommem Selbstbetrug und mit neuem Glauben an die Sache zurückzukehren an die Stätten unseres Wirkens.»

Honecker hörte zu; wie aufmerksam, ließ sich schwer sagen, er wirkte an manchen Stellen irritiert, aber insgesamt ungerührt. Er sprach danach allgemein von Fehlern und Fehlentwicklungen und großen Projekten, die er angehe; bis 1990 solle jeder DDR-Bürger eine bezahlbare Wohnung haben. Dann erzählte er von Thomas Brasch, dem Sohn des Ministers Brasch, der Schriftsteller geworden und gerade mit Bürgers Kollegin Katharina Thalbach in den Westen abgehauen war. Der kleine Thomas, sagte Honecker, habe mal auf seinem Schoß gesessen und «Ami, go home!» gebrüllt, als sie vor langer Zeit durch West-Berlin gefahren seien. Sie solle Thalbach, «die Kathi», herzlich grüßen, wenn sie mal wieder drüben auftrete, sagte Honecker zu Annekathrin Bürger. Und zum Abschied, nach einer Dreiviertelstunde: «Mädchen, du rauchst zu viel!»

 

Annekathrin Bürger steckt sich an diesem 6. Oktober noch eine an und kann das, was kommt, kaum erwarten.

***

Günter Schabowski will am späten Abend schnell runter von der Tribüne, von der das Politbüro dem Fackelzug zugeschaut hat. Es ist nur noch peinlich. Was für ein Tag. Hört ihm eigentlich irgendwer zu? Am Morgen hatte er bei Honecker vorsprechen dürfen. Wegen der Begrüßungsrede vor Gorbatschow. Ob der Genosse Generalsekretär nicht eventuell erwägen wolle, in seiner Ansprache auf die Stimmung in der Bevölkerung zu reagieren, ein wenig nur, vielleicht eine gewisse Bereitschaft zum Dialog zeigen? Keine Regung. Dann fragte Honecker: «Wie ist die Meinung zu dem ADN-Kommentar im ND?» Die Frage allein! Wie ist die Meinung? Die allgemeine? Oder seine, Schabowskis, Meinung? Ja, nun, eine Katastrophe, beschissen, unklug!

 

Am 29. September war in der Linden-Oper Freundschaftsmeeting zwischen der DDR und der Volksrepublik China. Nach dem offiziellen Teil bekam jedes Politbüro-Mitglied die Order: Noch mal in den Apollo-Saal! Da saß Honecker an einer langen Tafel und präsentierte seinen Plan, der natürlich bereits ein Beschluss war, die Prager Flüchtlinge, die da so unangenehm Rabatz machten, über das Territorium der DDR in die BRD zu verfrachten. Damit kehre Ruhe ein. Hat ja großartig funktioniert, wie man sehen konnte. Am Tag nach der Linden-Oper-Sache stand im Neuen Deutschland ein Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur zu Honeckers Order, in dem es über die Abgehauenen hieß: «Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.» Na, bravo, im Volk ist das seitdem der absolute Empörungs-Ohrwurm geworden, haste schon gehört: Keine Träne! Bessere Werbung für die ganzen Betvereine und Bürgerinitiativen kannst du nicht machen. Effektiver jagst du die Leute nicht nach Prag.

 

Heute Morgen war Honeckers Blick genauso leer wie der Schreibtisch, vor dem er saß. Schabowski zögerte, dann sagte er dem Generalsekretär, dass viele Genossen wegen des Kommentars verärgert seien, weil er ihre Arbeit erschwere. Honecker wurde schmallippig und meinte nur: «Ich werde sehen, was sich noch machen lässt.» Schabowski hat erst am Nachmittag gehört, dass dieser verdammte Tränen-Satz noch eigenhändig von Honecker neben das Manuskript des Kommentars gekritzelt worden war im Apollo-Saal. Peinlich.

Auf der ersten von vielen Festveranstaltungen zum Staatsbesuch redete Gorbatschow zuerst. Nur von der Sowjetunion, aber jeder verstand, was er meinte. Honeckers Kopf wurde wieder so gefährlich rot. «Demokratisierung, Offenheit, sozialistischer Rechtsstaat, freie Entwicklung aller Völker und ihre gleichberechtigte Mitbestimmung in den Angelegenheiten, die das ganze Land betreffen, würdige Lebensbedingungen für die ganze Bevölkerung und garantierte Rechte für jeden – von diesen Zielen lassen wir uns leiten», sagte Gorbatschow und einige aus dem Politbüro hatte Schabowski noch nie so engagiert klatschen sehen. Die dreißig Schreibmaschinenseiten, die Honecker dann verlas, waren – keine Überraschung – frei von jedem Selbstzweifel. Es macht keinen Unterschied mehr, was man dem sagt. Der tut, als sei nichts. «Unsere Probleme allerdings lösen wir selbst mit unseren sozialistischen Mitteln», sprach Honecker. Gorbatschows Leute schielten ungläubig rüber. Habt ihr den Schuss nicht gehört?